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Alle Personen sind selbstverständlich frei erfunden
und sämtliche Situationen an den Haaren herbeigezogen.
1. Auflage
Copyright © 2014 beim Albrecht Knaus Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-09154-5
V002
www.knaus-verlag.de
Meinen geplagten, geliebten Eltern
Kapitel 1
Cromwell Jordan war ein weiches Kind, das viel träumte, nie krank war und weder Gott noch Keuchhusten fürchtete. Damit hätte seine Entwicklung zu einem ebenso prachtvollen wie angstlosen Menschen gebongt sein können. Weil aber so dies und das dazwischenkam, entwickelte Cromwell sich letztlich zu einem brüchig-besonnenen Erwachsenen, der zwar noch manchmal träumte, aber ansonsten mit Kinderkrankheiten beschäftigt war. Und seine Besonnenheit war brüchig, weil sie eine chemische war. Denn eines Tages beschloss er, wann immer ihn Gott, Keuchhusten oder Angst zu zerreißen drohten, Tabletten en gros zu sich zu nehmen. Und schon wurde aus dem Aufgeriebenen ein friedfertiger Phlegmat, der es liebte, sich so weit wie möglich aus der Realität zu entfernen und im Schlaf selbst loszuwerden. Doch auch die Methode mit den Tabletten half nur etwa ein Jahr. Zwar ging Cromwell nicht der Stoff aus, denn er hatte inzwischen sage und schreibe sieben Hausärzte am Start, die nichts voneinander wussten und von denen ihm jeder einmal im Monat reinen Gewissens eine Monatspackung verschrieb.
»Das geht schief«, warnte ich. Aber ein angstfreier, gelöster Cromwell gab chemisch-besonnen zu bedenken, dass es sich bei ihm schließlich nicht um einen charakterschwachen Alkoholiker handle, er kenne da so manche. Immerhin fügte er, bevor ich betroffen aufjaulen konnte, hinzu: »Ich habe nichts gegen charakterschwache Alkoholiker. Mein bester Freund ist einer.«
»Danke. Aber das geht trotzdem schief.«
Ich behielt recht, und bald zirpte in Cromwell die alte biochemische Leier: Mehr nehmen, mehr vertragen, noch mehr einwerfen, nichts mehr spüren und den achten Hausarzt ins Rennen schicken. Schließlich kam der Moment, da Cromwell nach siebzig Stunden der Schlaflosigkeit bereit gewesen wäre, für ein Nickerchen zu töten. Trotz verschärfter Einnahme seiner hochpotenten Mittelchen wollten sich seine Lider nicht in die Ruheposition drücken lassen – er blieb glockenwach. Und als die achtzigste Stunde der Wachheit nahte und noch immer weit und breit kein Hahn krähen wollte, beorderte Cromwell aus Sorge um seinen Geisteszustand unseren Freundeskreis zu sich.
Wir sind das, was eine Marketing-Nutte mit dem Begriff »praktischer Dreierpack« bewerben würde. Cromwell und ich sind alte Kriegskameraden; wir haben uns im Krankenhaus kennengelernt und gemeinsam im Schützengraben der Psychiatrie gelegen. Auf derselben Station unter therapeutischem Beschuss, stellten wir aneinander überraschende Ähnlichkeiten fest, was Humor, Geschmack und Vollmeise angeht. Und so wurden wir einander zu Stütze, Beichtvater, Gouvernante und Consigliere. Eine im Vollsuff vollzogene Blutsbrüderschaft bescherte uns nicht nur den Rauswurf aus besagtem Institut (Therapeuten mögen es gar nicht, wenn sich ihre Klientel mit anderen Drogen als den verordneten andröhnt – und wenn dabei auch noch kichernd mit Rasierklingen hantiert wird), sondern besiegelte eherne Freundschaft und Treue. Später, während eines Urlaubs, stieß Mendelssohn zu uns; er hat zwar keinerlei psychiatrischen Schaden, dafür ist er blind und teilt unsere beinahe pathologische Neugierde an Menschen und den Szenen, die Menschen so fabrizieren. Dieser uns dreien gemeinsame Voyeurismus führte auch zu dem Plan, eine Privatdetektei zu gründen. Denn Mendelssohn ist der geborene Spitzel mit seinem hochempfindlichen Gehör und dem harmlosen Aussehen; nicht nur, dass er in der Lage ist, in einer überfüllten U-Bahn Gespräche aus der letzten Reihe herauszufiltern, auch benehmen sich wildfremde Menschen ihm gegenüber extrem aufgeschlossen, wenn nicht schamlos: Die Gewissheit, dass er sie niemals auf der Straße wiedererkennen könnte, löst ihre Zungen, und ehe er es sich versieht, hat ihm jemand zwischen zwei roten Fußgängerampeln seine ganze Lebensgeschichte erzählt, inklusive intimer Details. Sein gerne zitiertes Paradebeispiel für die Offenherzigkeit des Normalbürgers gegenüber einem Blinden ist das Lebensresümee einer alten Dame, die ihm zwischen zwei Verkehrsinseln anvertraute: »Ich hatte es ja auch nicht leicht: Zweimal ausgebombt und der Mann impotent.« Außerdem besitzt Mendelssohn eine Villa in bester Gegend, die als Headquarter eine Menge hermacht. In unserem Trio nehme ich die Rolle des Pragmatikers ein, oder wie Cromwell sagt: »Du bist der geborene Grobmotoriker.« Cromwell hingegen soll eigentlich als unser Zentralrechner, als koordinierendes Superhirn fungieren. Aber dafür sollte das Superhirn klar sein. Unbenebelt. Einen tablettenabhängigen Chef mit Zuckerwatte im Oberstübchen kann sich kein Geheimdienst leisten.
Ich radelte durch die feuchte Dunkelheit bis zur Kieler Straße, die einem etwa mississippibreiten Strom gleich Eimsbüttel von Altona trennt. Schwerlaster zogen asphaltbetäubend vorbei, nach Stunden wurde die Ampel grün, und ich überquerte diese dröhnende Grenze, fuhr die Große Bahnstraße entlang, vorbei an deplatzierten Einfamilienhäusern, die da rumstehen, als hätte sie jemand aus einem Dorf gestohlen und hier zwischen Stadt und Restindustrie abgesetzt. Städtische Industrie in nasser Herbstnacht ist mir das Größte: Gerade noch ein Vorgarten, eine Mülltonne, ein verprügelter Bungalow mit Imbiss-Schild, dann plötzlich eine schwarze Halle mit Leitungen und Gestänge von innen nach außen. Ein riesiger Organismus, den jemand angeschlossen hat an Kabel, Infusionen, Schrittmacher und Sirenen; mit einem bösartig aufgerissenen Eingangstor, vor dem bei Tag Azubis rauchen und von Montag bis Freitag über Wochenenden schwatzen. Dann mit Anlauf auf die Überführung, unter mir eine Brache mit Wasserstellen – es sieht aus, als ob es in Hamburg Büffel gäbe; alles gesäumt von aufsässigen Birken und schmutzigem Schilf. Vom Zenit der Überführung mit Schwung hinunter in einen Tunnel, wo es immer und zu jeder Jahreszeit aus dem Mauerwerk tropft und wo sich Pfützen und Pisse und Schall so sammeln, dass man jedes Mal überrascht aus ihm auftaucht: Überrascht, dass er überhaupt ein Ende hat und dass es an seinem Ende plötzlich normale Luft gibt mit normalem Sauerstoff. So strampelte ich durch Zeit und Raum in die Schleswiger Straße und klingelte Sturm. Es war vier Uhr am Morgen.
Zur gleichen Zeit hielt dort ein Taxi, dem Mendelssohn entkletterte. Gemeinsam traten wir zur Nachtwache bei unserem inzwischen extrem launischen Kompagnon an: Cromwell öffnete aufgekratzt die Tür, gleich darauf fühlte er sich »wie ein durchgesessenes Sofa«. Gegen fünf Uhr bereitete er laut pfeifend und mit energischen Handgriffen ein überwürztes Gyros zu, doch gleich nachdem er Mendelssohn und mir die Riesenportionen aufgenötigt hatte, versank er in dumpfen Groll. Gegen sich selbst grollte er, gegen die Natur des Hirnstoffwechsels, gegen die aktuelle politische Lage, und gleich darauf lag er den Tränen nahe im Bett. »Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich will schlafen. Ich will sterben.«
Mendelssohn, der in der Lage ist, zu jeder Tages- und Nachtzeit mit großem Appetit ein überwürztes Tellergericht zu sich zu nehmen, legte passend zum Wort »sterben« mitfühlend Messer und Gabel beiseite. Ich beobachtete unseren gefräßigen Freund mit wissenschaftlichem Interesse: »Wie kann sich ein Mensch im Morgengrauen und innerhalb von acht Minuten etwa drei Kilo Geschnetzeltes reindrehen? Hat das mit deinem fehlenden Hell-Dunkel-Rhythmus zu tun? Könnt ihr Blinden eigentlich immer essen?«
»Mumpitz! Ich habe einen Tag-Nacht-Rhythmus wie jeder normale Mensch auch! Bloß dass ich nun mal seit Kindertagen sehr gesegneten Appetits bin«, sagte Mendelssohn und versuchte, seinen leeren Teller auf einem Bücherstapel neben Cromwells Bett zu justieren. Ich nahm ihm den Teller weg: »Scheunendrescher. Aber euch über die Straße helfen lassen, das könnt ihr.« Mendelssohn weiß zwar immer, wann Tag oder Nacht ist, aber nicht immer, wann ich ihn hochnehme. »Wir können uns jetzt gerne über den kalorischen Grundumsatz eines Blinden unterhalten!«, hob er empört an. Doch Cromwells Winseln stoppte ihn: »Willst du es nicht noch mal mit Tabletten versuchen? Ich denke, dein Arzt hat dir solche Extrakracher verschrieben.«
»Das ist es ja!«, wütete Cromwell aus seinen Kissen. »Die wirken nicht mehr! Mein Körper ist schon völlig abgestumpft! Genauso gut könnte ich – Schokomandeln einwerfen! Das hätte denselben Effekt!«
»Hmhm!«, machte Mendelssohn, und es war nicht zu erkennen, ob aus Sorge um den Freund oder wegen der Schokomandeln.
»Auf wie viel pro Tag bist du denn jetzt?«, fragte ich professioneller Suchtberater.
»Hm, auf, etwa, bis zu – sechs oder sieben.«
Ich nahm eine leere Tablettenschachtel: »Von denen hier? Sechs bis sieben à zehn Milligramm?«
»Hm, ja, so circa. Können auch zehn bis zwölf sein.«
»Mein Lieber …«
»Ich weiß.«
Inzwischen lagerte Cromwell nur noch und sah aus wie frisch gekreuzigt.
»Du musst davon los. Du musst entgiften.«
»Ich weiß. Aber ich will nicht.«
»Wir begleiten dich. Du bist nicht allein.«
»Das hab’ ich befürchtet.«
»Willst du in diesem Leben noch mal schlafen? Willst du in diesem Leben noch mal Ruhe haben? Dann sprich mir nach: Ja, ich will.«
»Ich hab’ Angst.«
»Hätte ich an deiner Stelle auch. Aber es nutzt ja nix: Du musst da runter.«
»Okay.«
Auch Cromwells Wohnung sah aus, als hätte sie seit Wochen kein Auge mehr zugetan: Von der üblichen Cromwell’schen Grundordnung war nichts mehr übrig. Auf dem Schreibtisch, dem Esstisch, in der Spüle hatten sich die Sedimente vieler unsortierter Alltage abgelagert. Teller mit angetrockneten Essensresten wackelten auf Aktenordnern, schmutzige Tassen lungerten unter dem Bett, dreckige Wäsche stapelte sich im Bad. Ungeöffnete Post hatte Cromwell direkt neben der Eingangstür auf den Boden geworfen; unter dem Stromzähler lagen Fensterbriefe von amtlich-gewichtigem Aussehen, auf dem Sicherungskasten hockten mehrere Streifbandzeitungen sowie ein halbleeres Gurkenglas. In quasi jeder Wohnungsecke stand ein voller Aschenbecher parat. Und aus unerfindlichen Gründen ruhte eine sich mählich wölbende Pizza auf einer Fensterbank. Überall lag Kleingeld. Es sah beinahe so aus wie in meiner Einraumbutze kurz nach einem Rückfall. Fehlten nur die Batterien von leeren Flaschen. Und dieser trostlose Wodkadunst.
»Aufräumen, packen, anmelden«, schlug ich vor. »Wir bringen ein bisschen Grund rein, packen dir ein Köfferchen, und sobald deine Hausärztin öffnet, holen wir eine Einweisung.«
Cromwell schnorchelte in seine Kissen. Es klang nach einem »Okay« sowie einem »LecktmichamArsch«.
Mendelssohn begann mit einer Predigt über das Leben und die Lebensfreude unter besonderer Berücksichtigung von Depression und Liederlichkeit, und ich knöpfte mir Cromwells Wohnzimmer vor. Auf Grund eigener leidvoller Erfahrungen bin ich inzwischen sehr geschult in der zügigen Beseitigung von Verwahrlosung. Nach zehn Minuten waren Ess- und Schreibtisch wieder zugänglich und in der Küche weichte das Geschirr ein. Post und Geld drapierte ich sorgsam auf Cromwells Schreibtisch. Dort fand ich auch sein Telefon, eine runzlige Bockwurst, einige Haribo-Tütchen sowie zwei Fotos.
Das eine zeigte Heike und versetzte mir gleich zwei Stiche auf Herzhöhe: Erstens versetzt Heike mir grundsätzlich einen Stich auf Herzhöhe, und zweitens wusste ich gar nicht, dass wir ein Foto von Heike besaßen! Scharfes Nachdenken ergab, dass Cromwell damals, bei unserem Ausflug ins Hochgebirge, tatsächlich eine Kamera dabeigehabt hatte. Und mir offensichtlich einen Abzug vorenthielt! Im Hintergrund türmten und dräuten Massive, weiße Endlosigkeit, finsterste Tannen, im Vordergrund saß Heike an einem wurzeligen Holztisch und schien gerade das zu machen, was wir so an ihr lieben: Gesprächspartner filetieren. Von den heikeschen Opfern sah man nur verschattete Hinterköpfe, Heike davor in voller Pracht und Aktion, sprechend, leichte Gestik, und dann ihr spezieller Blick. Heikes Blick ist eine scharfe Waffe. Alles pulverisierend; ein Blick wie ein Laserstrahl. Einmal hat sie – und da bin ich Zeuge! Das habe ich miterlebt! – einen Menschen am anderen Ende eines Saales, also einmal quer durch eine große, mit lauten Partygästen gefüllte Halle hindurch, allein durch zielgerichtetes Anschauen zum Schweigen gebracht. Wenn ich mich recht entsinne, zuckte der derart Angeblickte sogar zusammen, als hätte ihm Heike gerade eine geschallert. Ebenfalls zu ihrem Handwerkszeug gehört eine so präzise wie aufrichtige verbale Deutlichkeit, dass es schon manchmal an Tourette grenzt. Ihre Auffassungsgabe plus das dazugehörige bordeigene Verwertungssystem ist von nicht minderer Schärfe als die Skalpelle, mit denen sie in ihrer Chirurgie Tag für Tag beherzt in Menschen reinschneidet.
Oft habe ich daran denken müssen, dass die einzigen Menschen auf Erden, die offiziell in ihre Mitmenschen hineinschneiden dürfen, entweder die Berufsbezeichnung »Chirurg« oder »krimineller Psychopath« haben. Ob es da denn wirklich keine Schnittstellen gibt?
Seltsamerweise hatte dieses menschliche Geschoss Cromwell und mich damals ins Herz geschlossen – obwohl wir beide uns während dieser Bergsause nicht gerade von unseren psychisch attraktivsten Seiten gezeigt hatten: Cromwell im Begriff, hartherzig eine seiner zahlreichen Teilzeitverlobten abzustoßen, ich mal wieder schlingernd in depressiver Verdunklung, als würde ein heulendes Kind in einer schwarzen Seifenkiste gen Abgrund rollern … Seitdem telefonierten wir regelmäßig, und immer sprang mich dabei der Moment von Heikes Abreise an – ich saß einsam, schief und verkrümelt im erwachenden Tag, und bevor Heike ihr Auto bestieg, küsste sie mich, dass die verdammten Alpen glühten …
Zur Strafe für etwaige Heimlichkeiten zwischen Cromwell und Heike stahl ich das Foto und steckte es in die Hosentasche. Zur Rechenschaft würde ich ihn zu einem späteren Zeitpunkt ziehen.
Das zweite Foto zeigte Cromwells Exgattin Mick. Ich ging damit ins Schlafzimmer und hielt es anklagend hoch: »Sag mal, du elendes Rapunzel! Warum umgibst du Masochist dich mit solchen Fotos? Da ist es ja kein Wunder, dass du kein Auge zumachst!«
»Was für Fotos?«, fragte Mendelssohn. Seine Stimme bekam dabei ein durchaus sensationslüsternes Timbre.
»Aktfotos«, sagte ich. »Sehr, sehr nackige junge Männer in eindeutig nackigen Positionen.«
Ich weiß doch, wie man einen Mendelssohn entflammt.
»Nein! Wirklich?!«, rief Mendelssohn angetan.
»Blödsinn!«, ächzte Cromwell. »Ich hab’ aus Versehen noch ein altes Foto von Mick gefunden. Du kannst es wegwerfen.«
Ich betrachtete das Foto. Mick sah so harmlos aus. Wie ein etwas verunsicherter und etwas trotziger Teenager sah sie in Cromwells Kamera. Nichts ließ ihre destruktiven Kräfte erahnen. Ihre soziale Stellung als dominant-gestörte Ehefrau mit der Lizenz zum Terror sah man ihr nicht an. Ich steckte Mick zu Heike in die Tasche und ging zurück zum eingeweichten Geschirr.
Vor dem Fenster kam Bewegung in die Finsternis. Die Dunkelheit schien zu Boden zu gleiten, während von oben etwas Dunkelgraues nachfloss. Dann kam Hellgrau, und im Haus gab es Geräusche. Eine Wasserleitung, ein Stapfen auf der Treppe, eine Tür. Auch die plattfüßige Mieterin über uns erwachte. Mein Gott! Dieses dumpfe Wummern durch alle Räume! Konnte dieser blöden Kuh nicht endlich jemand Einlagen schenken! In der langen Reihe ihrer Galane, mit denen sie oft einen so ohrenbetäubenden Geschlechtsverkehr ausübte, dass Cromwell behauptete, sie übe wahrscheinlich nur für die Wahl zur »Miss Vorgetäuscht« – also unter all diesen Stechern musste sich doch auch ein Orthopäde finden!
Die Küche war wieder reinlich, vor dem Haus starteten Autos. »Und jetzt wollen wir dem Onkelchen mal eine schöne Reisetasche packen! Ja, wo hat der Onkel denn seine Reisetasche?«
Cromwell zeigte auf seinen Kleiderschrank.
Auf Grund eigener leidvoller Erfahrung bin ich inzwischen sehr geschult im Packen eines Notkoffers, zumal eines Entgiftungskoffers: Das Wichtigste sind Zigaretten. Viele Zigaretten. Es gibt nichts Schlimmeres, als während einer mehrtägigen Ausgangssperre bei den Mitpatienten Zigaretten schnorren zu müssen. Man fühlt sich doch sowieso wie ein Penner. Aber sich dann auch noch sagen zu hören: »Kannst du mir eine Zigarette geben?« – das verleiht dem Selbsthass Flügel.
Sodann braucht man ein Lieblingsbuch, um sich aus der elendigen Situation wegbeamen zu können. Zu empfehlen ist hier ein Kinderbuch. Zum Beispiel »Das Pferd ohne Kopf«. Denn der ganze Ramsch für Erwachsene ist ja meist zu ernst und abstrakt, als dass man sich damit in eine andere Umlaufbahn schießen könnte. Oder hat man schon je davon gehört, dass sich jemand durch ernsthafte Lektüre aus einer ernsten Situation gerettet hätte? Oder dass jemand durch schwerblütigen Singsang aus seiner Schwermut erlöst wurde? Genauso wichtig wie ein das Gemüt erhellendes Buch ist ein gutes Deo. Wegen der zu erwartenden Schweißausbrüche. Was der Mensch auf Entzug so wegtranspirieren kann, ist schier übermenschlich. Auch nicht fehlen sollte ein Stofftier. Letzteres klein und unauffällig, so dass man es ohne größeren Gesichtsverlust in einer tränenreichen Minute kneten kann, bis dass sich wieder so etwas wie Lebensmut einstellt. Ein passables Stofftier ist sogar noch wichtiger als eine Zahnbürste oder Socken. Oder hat man schon je davon gehört, dass jemand Trost fand im Kneten von Socken?
In Cromwells Wohnung war kein Stofftier zu finden. »Sag mal: Du hast wirklich kein Stofftier? Auch kein kleines?«
Cromwell starrte mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. Dann wendete er sich resigniert ab: »Tut es auch so was?« Und zog hinter seinem Bett einen melancholisch blickenden Hasen hervor. Kurzer Rumpf, kleiner Kopf, aber Riesenohren über den waidwunden Knopfaugen. Angenehm kurzer Plüsch; in etwa wie der abgeschabte Vorkriegspersianermantel einer Trümmerfrau.
»Name?«
»Sieveking. Frag mich jetzt nicht, warum. Aber er heißt nun mal Sieveking.«
Ich hielt Cromwell das Telefon hin: »Und nachher hole ich die Einweisung ab. Sag schon mal deinem Hausarzt Bescheid.«
»Welchem denn?«, gackerte Cromwell.
»Dem nettesten. Dem sympathischsten. Dem, der möglichst hier um die Ecke wohnt. Nicht dem Bergedorfer, nicht dem Wandsbeker – sag einfach deinem Altonaer Arzt Bescheid.«
Danach rief ich auf der Entgiftungsstation meines Vertrauens an. Ja, ich hätte Glück und könnte noch heute Morgen vorbeikommen. Nein, nein, erwiderte ich stolz, es handle sich um einen Freund. Ich selbst sei so clean und trocken, dass es eine wahre Freude sei! Trocken und rissig wie das schlimmste Brachland, quasi!
Als ich mich auf den Weg zu Cromwells Arzt Nummer fünf machte, startete Mendelssohn eine Predigt zum Thema Berufsunfähigkeit: »Wir zählen auf dich! Wenn unsere Detektei richtig laufen soll, dann müssen alle Mitarbeiter im wahrsten Sinne des Wortes AUSGESCHLAFEN sein!«
»Guter Gott. Ich kann nicht mehr!«, sagte Cromwell.
Wir fuhren mit einem Taxi ins Krankenhaus. Cromwell stöhnte vor sich hin. Mendelssohn drückte seine linke Hand, ich seine rechte.
»Ich will künstliches Koma!«, sagte Cromwell. »Ich will Totenstarre, bis alles vorbei ist.«
Wir nickten wissend.
Kapitel 2
Wenn man auf einer Entgiftungsstation per Handschlag begrüßt wird, ist dies doch eine eher zweifelhafte Referenz. Aber leider verhält es sich so: Ich kenne sie alle, sie alle kennen mich; da ist kaum eine oder einer, der mir noch nie den Blutdruck gemessen oder den Tropf ausgewechselt hätte. Und sie alle sind – ungelogen und ohne Verklärung – prima Menschen. Geduldig, humorvoll, und ich wundere mich immer wieder darüber, dass es auch bei mehrmaligem Scheitern und solchen Beinahe-Drehtürpatienten wie mir niemals zu einer spitzen Bemerkung gekommen ist oder einem Vorwurf oder einem Verdruss. Im Gegenteil: Sie machen Mut. Wenn du auf die Schnauze gefallen bist – steh auf. Jeder Rückfall könnte der letzte sein. Sei achtsam. Kümmere dich um dich.
Unser Verhältnis hat – betrachten wir dieses Miteinander von verzweifeltem, zitterndem Schlomo und einem Pulk helfender, freundlicher Profis – eine bizarre Note: Entweder päppeln sie mich auf, von der Schnabeltasse hoch zum aufrechten Gang, oder ich bringe ihnen in meinen abstinenten Phasen Blumen aus meinem Garten oder backe ihnen Kuchen, weil ich das Bedürfnis habe, sie auch mal ohne Flattermann zu sprechen und ihnen immer wieder mal zu danken. Ich vermute, dass ich sie als eine Art Verwandtschaft adoptiert habe, und fühle mich hin und wieder wie eine Graugans, die den grünen Stiefeln von Konrad Lorenz hinterhereilt.
Wenn das mal gesund ist.
Wir übergaben Frau Gärtner und Herrn Wegner unseren geknickten Cromo wie ein gefleddertes Paket: »Können Sie ihn wieder heil machen?«, fragte ich. Herr Wegner antwortete launig: »Was für eine Frage! Wir haben ja sogar schon Sie wieder heil gemacht!«
»Apropos«, sagte Frau Gärtner, »ich habe bei Ihnen noch so viel gut – dafür dürfen Sie uns etwas Arbeit abnehmen und Ihrem Freund schon mal die Station erklären.«
Also setzte ich meinen Mister-Wichtig-Blick auf und begann mit der Führung.
Auf der Station war es still: Die Patienten befanden sich in ihren Gruppentherapiesitzungen, die Putzfrau schob ihren OP-Wagen voller Sprühflaschen, Lappen und Feudel von Raum zu Raum.
Die gesamte Entgiftung war letztes Jahr umgezogen. Vorher fanden die biochemischen Tragödien in einer Art Jugendherberge statt, im fünften Stock des großen Psychiatriegebäudes. Die Station bestand aus einem langen Schlauch; auf Höhe der Mitte war das Schwesternzimmer, dieser Glaskasten mit dauerhaft geöffneter Tür. Die Pflegerei musste nur den Kopf aus der Tür stecken, den Gang einmal hoch und runter schauen und war sofort im Bilde. Die Türen zu den Patientenzimmern standen – ganz anders als in der Somatik – fast überall offen. Man strolchte also über den Gang, sah Mitpatienten schlafen, lesen oder in ihren Siebensachen wühlen, grüßte hier, schnackte da, und am Glaskasten konnten wir jederzeit mit den Diensthabenden klönen, jammern oder auf sie einweinen. Es gab dann noch eine Küche und einen Speise-Aufenthalts-Fernseh-Raum mit Blick über Hamburg. Grindelberg, Dammtorbahnhof, Michel, Hafenkräne. Wie kommt es wohl, dass ein wunderbares Panorama die eigene schlechte Lage zusätzlich verschlechtert?
Ganze fünf ranzige, vollverpilzte Duschen sowie genau vier Toiletten des Teufels standen den vierundzwanzig Patienten seinerzeit zur Verfügung. Es war unhaltbar. Aber: eine Spitzenatmo.
Im Neubau nun kam Cromwell in eine Art Präsidentensuite: Großes Zimmer mit einem eigenen Bad! Mit Toilette! Und Dusche! Und Waschbecken inkl. Spiegel! Wow! Und überall Haltegriffe, und sogar ein Schemel für zum Hinsetzen unter der Brause plus (als Bonus quasi) ein diese Oase ständig wohltemperierender brummender Motor!
Mendelssohn und ich waren begeistert. Hier ging’s ja zu wie im Ritz! Von Cromos Fenster aus hatte man einen Logenplatz mit bestem Blick auf den Psychiatrievorplatz. Man konnte haarscharf verfolgen, wer gerade da unten rauchte oder taumelte oder psychiatrisch relevant tanzte. (In einer Psychiatrie gibt es ja mehr Eintänzer, als der gesunde Bürger glaubt.) Auch konnte man von Cromwells Residenz aus einwandfrei beobachten, wie der frische Nachschub von Krankentransporten angeliefert wurde, und man konnte Mutmaßungen über Diagnose und die dafür in Frage kommende Station anstellen: »Das ist was für die Geronto. Aber der da hinten: Der kommt auf die Geschlossene.«
»Woran willst du das erkennen?«, fragte Mendelssohn.
»An den beiden Bullen, die ihn begleiten.«
Dann erklärte ich den Freunden Speiseraum und die dahinter liegende kleine Küche. Dann den Aufenthaltsraum, in dem ab 18 Uhr TV geguckt werden durfte. Hier befand sich auch eine aus Spenden zusammengewürfelte Bibliothek. Vier Regalböden mit sämtlichen Schätzen des Abendlandes: Ludwig Ganghofer, Heinrich Böll, Konsaliks »Arzt von Stalingrad«, Frauenkrimis, schwedische Krimis, schwedische Frauenkrimis und die Memoiren von Fides Krause-Brewer. Mendelssohn ließ sich alle Titel vorlesen und war begeistert, denn Fides Krause-Brewer hatte er noch zu seinen sehenden Zeiten erlebt und geriet retrospektiv in erfreute Rage wegen der »riesigen Holzperlenketten«, die jedes ihrer Interviews klappernd begleitet hatten.
»Okay, okay!«, sagte Cromwell genervt. »Und wo ist das Raucherzimmer?«
»Raucherzimmer – gibt es nicht mehr. Sind abgeschafft.«
»Ja, und jetzt?!«
»Jetzt darfst du zum Rauchen für maximal fünfzehn Minuten nach unten auf den Marktplatz. Aber während der Sperre immer nur in Begleitung eines Mitpatienten! Falls du auf die Idee kommen solltest, umzukippen, zu krampfen oder zu delirieren. Dann weiß deine Begleitung, wohin man deinen Sarkophag bringen muss. Und du musst dich an der Tafel am Glaskasten namentlich und mit Uhrzeit AUSTRAGEN.«
»Dann machen wir das doch bitte sofort!«
Ich schrieb mit dem abwaschbaren Filzer Cromwells Namen und die akute Uhrzeit an.
»Ein guter Tipp: Wenn du um sagen wir mal 16 Uhr 30 nach unten gehst, dann schreibst du eine klare 16 und dann als Minutenangabe so eine Art Brezel. Oder so was wie ein @. Weil das lässt Raum zur Interpretation. Und so kannst du ungestraft auch mal zehn bis zwanzig Minuten länger unten bleiben.«
Wir nahmen den Fahrstuhl. In seiner Rundumbespiegelung sah ich, dass der hinter mir stehende Cromwell im Begriff stand, die erste Möglichkeit zum Ausbüxen zu sondieren.
Wir standen auf dem Platz vor der Psychiatrie, zündeten unsere Zigaretten an, Cromwell blickte so hastig um sich, als nähme er Maß: Da hinten der kleine Durchgang zur Martinistraße; zwei Minuten sind das nur bis zur Bushaltestelle Löwenstraße … direkter Bus zurück nach Altona.
»Was willst du denn jetzt zu Hause?«, fragte ich drohend.
Cromwell brummte und nahm weiter Maß: Nur dreihundert Meter und ein Ticket zu 2 Euro 80 – keine Entfernung zur Großen Freiheit!
Mendelssohn wurde böse: »Du setzt dich ja doch nur in dein Zimmer, schluckst weiter deine Tabletten – und wie lang soll das noch so gehen? Zieh einen Schlussstrich! Werde vernünftig! Ihr Suchtmenschen könnt einen in den Wahnsinn treiben! Dass ihr euch vor der Entgiftung immer so lange bitten lasst!«
Das war eindeutig an meine Adresse gerichtet: Als ich nach sechsstündiger Wartezeit in der Notaufnahme meinen zitternden Corpus wieder nach Hause tragen wollte, um ihn dort weiterhin beruhigend abzufüllen, hatte Mendelssohn sogar erbost mit seinem Blindenstock auf mich eingeschlagen, bis ich wieder zur Vernunft kam.
Cromwell brummte nicht mehr. Er stöhnte nur herzzerreißend.
»In ein paar Tagen bist du wieder im Lot«, sagte Mendelssohn milde.
Ich sah, wie Cromwell kapitulierte. Sein Blick brach. Er kam mir vor wie ein gestürztes Schlachtross.
»Du wolltest doch schon immer mal den ›Arzt von Stalingrad‹ lesen! Heitert dich das nicht auf?«
Wir brachten Cromwell ordnungsgemäß wieder zurück auf Station. Noch immer herrschte dort therapeutische Stille. Jemand musste Cromwell ablenken: »Schau mal!« Ich kramte in meinem Portemonnaie nach den Visitenkarten, die ich für die Detektei entworfen hatte; den Drucker hatte ich mit feinstem Karton gefüttert. Das Ergebnis sah hochseriös aus:
»Detektivbüro Mendel & Partner« – und dann nur vielversprechend-geheimnisvoll Straße und Telefonnummer. »Damit du immer weißt, wofür du das alles hier machst, gell!«
Ich legte ihm die Kärtchen auf den Nachtschrank. Mendelssohn ließ sich die Karten beschreiben und wurde bockig: »Über die grafische Gestaltung ist aber noch nicht das letzte Wort gesprochen!«
»So? Willst du vielleicht ein paar putzige Delfine drauf haben? Oder rosa Girlanden?«
Wir verabschiedeten uns zankend von Cromwell, und er sah uns aus der Tür seiner Präsidentensuite hinterher wie ein todunglücklicher Fünfjähriger, den man zur Entfernung seiner Mandeln in einem Buschkrankenhaus ausgesetzt hat.
Cromwell auf der Station zurückzulassen erzeugte bei mir einen merkwürdigen Emotionsbrei. Beruhigung, den Freund in guten Händen zu wissen. Mitleid wegen der kommenden Qualen. Erleichterung, diesmal ausnahmsweise nicht selbst das Wrack zu sein, das aufs Trockendock gehoben werden musste – und eine fast religiöse Dankbarkeit für die eigene schöne Nüchternheit und Abstinenz. Denn sogar ich stelle bei mir bisweilen eine gewisse Gläubigkeit fest. Ehrlich gesagt, rufe ich recht oft die Götter an – allerdings nur bei Kleinigkeiten. Man will ja nicht lästig fallen. Auch bedanke ich mich recht herzlich und artig bei den Göttern, wenn es mal wieder einen Glücksmoment gab, wobei ich zugegebenermaßen dabei etwas im Hinterkopf habe, was der Geschäftsmann und Lobbyist umreißen würde mit: »Wer gut schmiert, der gut fährt.« Auch so ein Gott will schließlich mal gelobt werden. Und technischer Fortschritt hin, Modernisierung der Welt her: Ich bin davon überzeugt, dass die Götter noch immer auf Opfer stehen. Diesbezüglich ist die Aufklärung gewiss an ihnen vorbeigegangen.
Ansonsten habe ich in guten Zeiten die Götter tatsächlich lieb. Und sie existieren in meiner Seele im Plural, weil ich nicht nur Pantheist und Pankreationist bin und daran glaube, dass alles letztlich beseelt oder befühlt ist (selbstverständlich alles außer zum Beispiel einem Analogkäse oder einem Mettbrötchen oder dem Vatikan), nein, ich habe so viele Götter, weil ich mir dabei bessere Chancen ausrechne, dass mir einer aus diesem großen himmlischen Sauhaufen mal hilft. Um ganz auf Nummer sicher zu gehen, habe ich neben diesen Göttern auch noch den alttestamentarischen Gott. Denn erstens steht nach dem mosaischen Glauben der Messias noch aus – ganz meine Meinung. Und zweitens ist er ein Gott, mit dem man sich auch mal anlegen kann, einen Disput und Diskurs führen kann. Und drittens: Er ist genauso rachsüchtig wie ich. Auge um Auge. Und meine Rachsucht lasset nimmer nach; ich habe da noch ein paar Rechnungen offen, und jeder, der mir jemals etwas angetan hat, sollte mit offenen Augen schlafen! Irgendwann ist er da, mein Tag! Dann werden Köpfe rollen! Ich vergesse nichts! Ich bin ein Elefant, Madame!
Kapitel 3
Mendelssohn und ich wanderten untergehakt zur Bushaltestelle. »Er soll nicht meckern«, sagte Mendelssohn, »bald wird er wieder richtig schlafen.«
»Apropos!«, sagte ich, als wir uns in den 25er Bus hievten. »Ich muss mich vor heute Nacht dringend noch mal langmachen.«
»Gehst du wieder anschaffen?«, fragte Mendelssohn so deutlich und klar, dass die Fahrgäste einen diskreten hanseatischen Seitenblick auf mich warfen.
Wie fast jeder ehrliche Bürger des Prekariates kann ich von meinem eigentlichen Beruf nicht leben und muss daher einen Zweitjob bedienen, der zumindest die Miete einbringt. So dullere ich als 400-Euro-Mann durch die Nächte und schaffe in einem Hotel als Nachtportier an. Genauer gesagt: Als Aushilfsnachtportier; zum offiziellen Portier mit Wanst und Weste hat es bei mir noch nicht gereicht. Also binde ich mir an sechs Abenden im Monat meine gepunktete Krawatte um, säubere meine Fingernägel, setze mich in eine Portiersloge und gucke wie ein Generalschlüssel.
Unser Hotel »Sylter Gärtchen« liegt an einer dauerhaft donnernden Ausfallstraße, ist ein Haus der gepflegten Gastlichkeit und mittleren Preisklasse und lebt hauptsächlich von trübsinnigen Vertretern und Rudeln an Landbevölkerung, die einmal im Leben in der großen verruchten Hansestadt einen Lloyd-Webber-Schmarrn hören oder eine echte Nutte sehen wollen. Diese Menschen sind mir inzwischen ans Herz gewachsen. Ich nenne sie auch nie »Gäste« oder »Kunden«, sondern immer »Patienten«. Vermutlich spielt da meine pathologisch enge Beziehung zu Krankenhäusern ein freudsches Wörtchen mit.
Allein das Mienenspiel meiner Patienten beim Einchecken erzeugt bei mir eine Art von fürsorglichem Gluckeninstinkt fast äskulapscher Größe. Sie sind verschüchtert ob des auf »gediegen« getrimmten Foyers, gleichzeitig sind sie sich ihrer Rolle und Würde als zahlender König Kunde bewusst. Wie jetzt so selbstverständlich wie möglich mit dem Lakaien hinter dem Tresen reden? So selbstverständlich, als hätte man es dahaam im fernen Offenbach jeden Tag mit Untergebenen zu tun? Die Frauen überlassen grundsätzlich den Männern die Verhandlungen, während sie ihrem Blick etwas Offensiv-Hausfrauliches aufsetzen: »Na, ist hier denn auch alles, wie es sich gehört? Keine Ecke vergessen? Mir kann man da nix vormachen; ich kenne die Tricks! Der Portier hat immerhin saubere Fingernägel. Nur sein Blick über der getupften Krawatte ist etwas – aufsässig? Soll nur nicht so großstädtisch gucken! Man kommt ja nicht aus der Provinz! Unterschleißheim ist schließlich kein Dorf!«
Sobald alles eingecheckt und auch wieder ausgegangen ist (»König der Löwen«, »Cats«, Nuttengucken), kontrolliere ich alle Eingänge, schließe alle möglichen Hintertüren ab, stelle den Plasmabildschirm im Foyer auf »Kaminfeuer« und komme zu meinem Drittjob: Als flankierende finanzielle Maßnahme nehme ich nämlich an allen Preisrätseln teil, die das Internet zu bieten hat. Extra zu diesem Behufe habe ich eine Phantasieadresse eingerichtet und erhoffe mir, bei meinen wahllos gestreuten, ein paar wilden Schüssen aus einer Schrotflinte gleichenden Teilnahmen Unmengen von Sachpreisen zu gewinnen, die ich dann zu Wuchersummen zu veräußern gedenke. Dieses Geschäft lässt sich allerdings sehr langsam an: Bisher habe ich nur ein extrem marode gearbeitetes Quarzührchen gewonnen, dessen Batterie anderthalb Stunden funktioniert hat und das in einem so groben Pink gehalten ist, dass es auch die pinkeste Nutte der Reeperbahn nicht geschenkt nehmen würde. Dann gab es da noch eine extrem sinistre Reise: Ich hätte supergratis und kostenlos für nur circa 200 Euro »Kerosinzuschlag, Stand vom 10. 1. 2010« eine Woche in ein Doppelzimmer nach Antalya fliegen können; deutschsprechender Reiseleiter inbegriffen. Aber erstens will ich mir kein Doppelzimmer mit einem deutschsprechenden Reiseleiter teilen, zweitens wollte ich noch nie nach Antalya, und schon gar nicht für 200 Euro Brezel Kerosinzuschlag zum Stand vom 10. 1. 2010.
Mendelssohn oder Cromwell wollten auch nicht mitkommen, denn obwohl sie sonst für praktisch jedes Gratisangebot zu haben sind, befürchteten sie dahinter eine »Butterfahrt«, während der man uns von früh bis spät deutschsprechend unter Druck setzen würde, bis wir ein paar Kühlkissen oder eine Beteiligung an einem Apartment-Rohbau erstanden hätten. Also ließ ich dieses Schnäppchen verfallen und warte nun auf einen iPod, einen Tankgutschein über 100 Euro oder wenigstens eine Sofortrente.
Wenn ich an mindestens zweihundert Ausschreiben teilgenommen und auch auf die Bestätigungslinks geklickt habe, ist es an der Zeit, die Bar zu eröffnen. Jetzt kommen die trübsinnigen Vertreter ins Spiel: Gegen 22 Uhr stellen sie die ersten Berechnungen an, bis zu welcher Uhrzeit sie wie viel tanken können, ohne am nächsten Tag noch eine Restfahne zu haben. Und wie viele Schoppen ihr Tankgutschein heute noch hergibt. Dazu reiche ich gesalzene Nüsschen aufs Haus; dies vor allem gegen mein schlechtes Gewissen wegen der gesalzenen Getränkepreise, die zu verlangen mich ein durch und durch skrupelloses Hotel-Schweinesystem zwingt. Wer kann sich denn heute noch 4 Euro 50 für eine 0,1-Pfütze Rotwein leisten? Und ich spreche hier von einem gesundheitsgefährdend lieblichen Rotwein! Ich spreche hier von der »Hausmarke«! Die eigentlich solche Namen tragen müsste wie »Niendorfer Nierenkrebs« oder »Eimsbüttler Hämaturie« oder »Hagenbecks Pavianpisse Cuvée«.
Deswegen trinken Vertreter meist auch nur Weizenbiere. Und kurz bevor sie auf ihren Handys ihre Wecker stellen, kommt noch Wodka hinzu, weil man den ja bekanntlich nicht riecht, höhö. Nebenher daddeln sie an unserem kostenfreien Patienten-PC oder seufzen einfach so vor sich hin.
Wenn die Brüder weg sind, muss ich alles Haltbare für das Frühstück aufdecken: Die Müslidosen, die Körbchen mit Süßstoff und Würfelzucker, die künstliche Blume pro Tisch, die Serviette pro Person, in der Küche werden die Thermoskannen parat gestellt, die Büchsenmilch wird aus dem Keller geholt, ich braue mir einen starken Kaffee, und dann kommen meine Patienten von der Nachtschwärmerei zurück. Manche haben Schlagseite, die Frauen schauen nicht mehr, ob auch in den Ecken gewischt ist, alle bekommen ihre Tabletten bzw. Schlüssel und ein nettes Wort – und dann ist es Zeit für die letzten, die verzweifelten Patienten, die bis jetzt noch keine Bettstatt gefunden haben. Meistens handelt es sich hierbei um ein junges deutsches Pärchen und einen volltrunkenen Briten. Der junge deutsche Mann, dem meist eine etwa 24-stündige Autofahrt anzusehen ist, akzeptiert erschlagen das letzte Zimmer, während unsereins anmerkt, es handle sich allerdings nicht um ein Doppelbett, sondern nur um zwei Einzelbetten, was den genervten jungen Mann nie stört, während seine Begleiterin immer ein enttäuschtes »Och!« ausstößt, was wiederum den genervten jungen Mann etwas nervt. Den darauffolgenden volltrunkenen Briten könnte niemand verstehen, mit oder ohne Reiseleiter. Im Zweifelsfall ziehe ich den Pappkarton mit den Euro-Universal-Steckdosen-Adaptern hervor und er sucht sich dann einen aus, dankt in einer mir unbekannten Sprache und segelt wie von Geisterhand geleitet und völlig irrtumsfrei auf sein Zimmer. Offenbar haben Briten Radar.
Dann kommt bei mir der tote Punkt. Ich zupfe noch halbherzig an Servietten und Tischläufern, räume die Bar ab, saufe Kaffee und warte auf die Frühschicht. Falls ich Trinkgeld bekommen habe, lege ich es korrekt und sorgsam in die kollektive Trinkgeldkasse. Manchmal juckt es mich zwar in den Fingern, aber ich habe zu viel Angst, dass auf unterschlagenem Geld kein Segen liegt und mein rachsüchtiger Gott nicht lange zögern, sondern mich bereits auf dem Heimweg strafen wird. Umgekehrt könnte er ja auf den Gedanken kommen: »Dieser Schlomo aber auch! Seine Krawatte ist zwar gar grauselig, aber er selbst: so eine ehrliche Haut! Wir sollten ihm vielleicht mal eine Sofortrente zukommen lassen. Oder wenigstens einen Tankgutschein.«
Manchmal leistet mir Mendelssohn während des Dienstes Gesellschaft. Er verhindert, dass ich ein Nickerchen mache, und labt sich mit unverhohlener Sensationslust an den Gesprächen meiner Patienten.