Adam Müller-Guttenbrunn: Der große Schwabenzug. Roman
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Carl Wilhelm Hübner, Abschied der Auswanderer von ihrer Heimat, 1846
ISBN 978-3-8430-6536-8
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8430-9398-9 (Broschiert)
ISBN 978-3-8430-9399-6 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: Leipzig, Staackmann, 1913
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Der Ulmer Bote hatte einen Brief ins Haus gebracht. »Der ehrsamen Wittib Theresia Scheiffele gehört er!« rief der Schalk hinter der jungen Magd her, die ihn übernommen. »Und ein' Schoppe Söflinger hätt' ich mir wohl verdient. Mit der Landposcht wär' er erscht am Sonntag 'komme. Er ischt gar weit her, der Brief.«
»Werd's ausrichte«, sagte die Gretel und nickte ihm lächelnd zu.
Er keuchte weiter unter seiner Last und beteilte das ganze Städtchen mit Gaben. Dem hatte er dieses, dem jenes mitgebracht aus der freien Reichsstadt Ulm, wo Handel und Wandel blühten und einfach alles zu haben war, was man sich in Blaubeuren nur wünschen konnte. Sogar Kaffee. Die genäschige junge Prälatin hatte heimlich solchen bestellt bei ihm, und richtig bekam er ein halbes Pfund. Aus Wien brachten ihn die Ulmer Schiffer. Und einen Kronentaler hat er gekostet. Na, wenn das Seine Ehrwürden erfährt ... Ja, die Frauen, die Frauen. Kaum war in der Augsburger Zeitung gestanden, daß jetzt in Wien die Mode wäre, türkischen Kaffee zu trinken, machen sie es in Ulm nach. Und noch haben dort nicht alle Frauen vom Großen Rat Kaffeebohnen gesehen, muß schon die Prälatin von Blaubeuren auch welche haben. Geschieht ihm recht, dem geistlichen Herrn. Was holt er sich eine Frau aus der Fremd', just eine genäschige Mainzerin hat's sein müssen. Gibt's denn in Württemberg keine Pfarrerstöchter mehr?
So stritt der wackere Ulmer Bote, der Peter Fischer, mit sich und der Welt, während er von Haus zu Haus ging und jedem zutrug, was er bestellt hatte. Er war kein einfältiges Lasttier, der Peter, er dachte sich sein Teil bei jeder Bestellung, die man bei ihm machte. Und als er in den krummen Gassen reihum war, kehrte er zurück zum »Schwarzen Adler«, wo er den ersten Brief abgegeben.
Lachend brachte ihm die Gretel seinen wohlverdienten Schoppen Söflinger Wein. Es können auch zwei werden, ließ ihm die Frau Theres sagen.
»Herr Gott von Frankfurt, seit wann tragt die Frau Theres Spendierhose?« rief der Peter.
»Pscht«, machte die Gretel, »dort sitze se doch.«
Ja, dort saßen sie in der Ecke der halbdunkeln holzgetäfelten Wirtsstube, die von Marktleuten angefüllt war. Das hatte der Peter gar nicht gemerkt. Die ganze Familie war um den Brief, den er gebracht, versammelt, und der Adlerwirt buchstabierte ihn zusammen. Die Frauen konnten damals noch nicht lesen und schreiben, es war noch nicht Sitte bei den Bürgersleuten, daß vorwitzige Mädchen sich auch um die Wissenschaften der Männer kümmerten, sie hatten etwas anderes zu tun in Haus und Hof und Küche.
Als der Peter sah, wie schwer es dem Adlerwirt fiel, den Brief vorzulesen, goß er seinen Schoppen hinab und näherte sich langsam dem Familienkreis. Nicht bloß aus Neugierde. Er war ein besserer Leser, hatte mehr Umgang mit geschriebenen und gedruckten Sachen als andere Leute, vielleicht konnte er aushelfen. Und er stellte sich auf die Paß.
Aber der dicke Adlerwirt winkte ihn fort. »Bleib' Er uns vom Leib jetzt!« rief er dem Peter hochmütig zu und las weiter. Die Frau Theres aber, seine Schwester, suchte diese Abweisung zu mildern. »Laß Er sich noch ein' Schoppe gebe, Peter«, sagte sie und zwinkerte ihm zu. Er verstand das. Später rief sie ja doch ihn oder einen Hilfslehrer und ließ sich den Brief noch einige Male vorlesen. Das war jetzt in zwei Jahren der dritte. Ob er wieder von dem Konstabler Pleß war, dem Ulmer Taugenichts, der zu den Kaiserlichen gegangen, als er sein Groß-Mütterliches durchgebracht hatte? Die schöne Theres vom Adlerwirt in Blaubeuren hätte dem Mosje gefallen, aber sie war schon an den Sohn vom »Blauen Hechten« in Ulm versprochen, er hat sie nicht gekriegt. Weiß der Kuckuck, wie der erfahren haben mag, daß die Theres jetzt als Wittib wieder in ihrem Vaterhaus sitzt. War er doch mit dem Prinzen Eugen nach Hungarn gezogen gegen die Türken und bis nach Belgerad gekommen. So schön hat er das der Frau Theres beschrieben in den früheren zwei Briefen. Das ganze Städtle hat sie gelesen. Was mag in dem neuen stehen?
Der Peter retirierte. Er nahm Platz bei ein paar Bauern von der rauhen Alb, bei Männern aus dem Blautal und von weiter her. Sie waren seine guten Bekannten von der Landstraße, er begegnete dem und jenem hundertmal im Jahr. Und der Ulmer Bote war wohlgelitten bei allen. Er wußte immer etwas Neues, sie hatten oft ihren Spaß mit ihm.
Und er hatte ihnen schon manchen Bären aufgebunden. Heut führten sie ein ernstes Gespräch, klagten über allerlei Nöte der Zeit. Der hatte fünf Söhne, jener vier und ein anderer gar sechs. Wo soll der Mensch Grund und Boden hernehmen für sie? Das Stift gibt keine Scholle her, der Graf weiß nicht, wieviel Robottage er verlangen soll, wenn ein Bauer ein Stück Feld pachten will. Handwerker mußten die Buben werden und Soldaten, in die Fremd' mußten sie alle. Dem sein Ältester diente in der Schweiz, jener hatte zwei Söhne als Handwerker in Wien, einen als Soldaten in Paris. Und dem Nikolaus Eimann waren schon zwei Söhne zu den Kaiserlichen gelaufen und einer zu den Holländern. Soldaten wurden sie auf Lebenszeit, weil die Steuern zu hoch und das Land zu klein war. Wo diesem und jenem die Kugel bestimmt sei, wisse nur Gott.
Der Peter Fischer horchte auf. Und er lächelte überlegen. »Hab ich euch nicht oft gesagt, daß ihr zu viel Kinder habt? Aber laßt's gut sein, 's wird alles anders werde, die Schwabe, die kein Platz mehr habe daheim, die gehe in Zukunft uff Amerika. Die neue Welt g'hört uns, wenn eure Weiber so fruchtbar bleibe. Laßt's gut sein!«
Sie lachten und wollten mehr wissen von der neuen Welt. Und der Peter war nicht sparsam mit Worten. Er hatte manches gelesen im Blättle. Die ganze Rheinpfalz sollte schon seit Jahren unterwegs sein nach Amerika. Und das Auswanderungsfieber falle immer mehr Leute an.
Der Eimann zahlte dem Peter einen dritten Schoppen, um von ihm zu erfahren, wie man am leichtesten und ungefährlichsten da hinüber käme in das vielgelobte Neuland. Er hätt' die Kurasche, sich's einmal anzusehen. Heißt es doch, daß man dort um einen Gulden Ulmer Münz zehn Morgen Land bekomme. Der Peter bestätigte das. Leiser fügte er hinzu: »Und keine Herre! Keine Pfaffe und keine Grafe habe dort was zu schaffe.«
Der Adlerwirt war vorgekommen aus der Familienecke beim Hoffenster, in der sich die Seinen versammelt hatten. Trotz dem Widerstreben der Schwester, die es nobler haben wollte und sich gern in das Herrenstüble nebenan zurückgezogen hätte, hielt er an der alten Überlieferung fest: Der Wirt und seine Familie gehörten in die Wirtsstube, unter die Gäste. Alle sollten glauben, sie wären bei ihm eingeladen, sagte sein Vater wie oft. Und der war ein guter Leutgeb.
Er begrüßte den und jenen, erkundigte sich nach den Marktpreisen, nach der Familie, nach der Gemeinde. Da saßen ein paar kernhafte Erzbauern, die wie die Könige auf ihrem Grund und Boden lebten und vom Markt immer mit vollem Beutel heimkehrten auf die Alb. Sie sonderten sich gern ab von den Kleinbauern und Häuslern. Aber mit halbem Ohr hörten sie doch auf das laute Gespräch an dem Tische des stattlichen Eimann aus Gerhausen. Jetzt schüttelte der Wirt auch diesem die Hand. Und der hub gleich einen Diskursch mit ihm an. Was der Adlerwirt von Amerika halte, wollte er wissen. Dort säßen schon die Engländer, meinte der Wirt. Und die vergunnen keinem Schwaben einen guten Bissen. Von den Pfälzern seien viele als Bettler wieder heimgekehrt. Er wisse jetzt ein besseres Land, und dahin könne man von Ulm auf der Donau fahren. »Hungarn?!« rief der Peter. »Das kann nur Hungarn sein.« – »Der Bote weiß es schon«, sagte der Wirt lachend. »Der spioniert alles aus.« Und er setzte sich zu den Leuten und erzählte ihnen, was seine Schwester Theres wieder für einen Brief bekommen habe. Der Jakob Pleß – der aus Ulm – habe ihr geschrieben, das ganze Hungarn wäre jetzt gesäubert vom Türken, und es sei Friede. Der Eugenius habe viele Soldaten entlassen und es jedem freigestellt, sich dort drunten anzusiedeln im Banat, rings um die Festung Temeschwar. Nicht einen Kreuzer kostet das. So viel Land einer bebauen könne, so viel bekäme er. Gleich könnte der Jakob, wenn er Landwirtschaft verstünde, fünfzig Joch haben und Haus und Hof. Der Kaiser habe dem Prinzen Eugenius und seinen Feldherrn große, herrenlose Güter geschenkt zur Belohnung. Mancher hat zwanzig bis dreißig Dörfer. Aber die seien menschenleer. Man brauche überall Ackerbauern und Handwerker. Und der Jakob meint, die überzähligen Schwaben sollten halt kommen, wenn sie Kurasche haben.
»Umsonst?« – »Ganz umsonst Grund und Boden?« – »Fufzig Joch?« riefen einige durcheinander. Und sogar die Erzbauern spitzten die Ohren.
»So schreibt der Jakob«, erwiderte achselzuckend der Adlerwirt. »Und es wird wohl wahr sein.«
»Des stinkt«, sagte einer. »Wird sein' Hake habe«, brummte ein anderer.
»Na, ja«, warf der Peter ein, »manchmal ischt halt die Pescht dort zu Gascht. Aber sunscht is die Gegend g'sund.«
»Davon schreibt der Pleß nix«, sagte der Adlerwirt verweisend. »Der wird ein reicher Mann dort.«
Eimann hatte einen roten Kopf bekommen. Der Gedanke an seine sechs Söhne und diese gute Gelegenheit, sie zu versorgen, machte ihm heiß. »Da sollt mir doch glei ufbreche – glei uf der Stell'!« rief er.
»Abwarte! Abwarte!« sagte der Adlerwirt. »Der Jakob meint, es werd' die Zeit komme, wo der Kaiser die Leut' rufe muß.« Und er ging weiter, zu anderen Gästen.
Frau Theresia Scheiffele, die blonde junge Wittib vom »Blauen Hechten« in Ulm, saß mit einer Handarbeit still in ihrer Ecke und bedachte den Inhalt des Briefes, den sie erhalten hatte. Die Schwägerin war in die Küche geeilt und die anderen verliefen sich auch, sie saß allein ... Wer hätte gedacht, daß der Jakob so treu sein könnte. Sie war schon Braut, als sie einmal nach Regensburg hinab fuhr mit einer Pleßzille, und da hatte der Jakob sie gesehen. Ein Glück, daß die Mutter mit dabei gewesen. Auch er gefiel ihr in seiner kleidsamen Schiffertracht. War ein strammer Bursch, der Jakob. Und so verliebt. Zwei Wochen später war er in Blaubeuren und wollte um sie anhalten. Nicht glauben konnte er's, daß es zu spät wär'. Und als sie dann nach Ulm heiratete und die Wirtin vom »Blauen Hechten« war, da packte es ihn mächtig. Unter die Soldaten lief er und ließ jahrelang nichts hören von sich. Freilich sagte man, daß es andere Gründe waren, die ihn den Werbern in die Arme getrieben, aber sie wußte es besser ... Und jetzt möchte er sie wohl wieder haben. Warum schreibt er ihr so oft? Und er erzählt ihr, daß er frei sei und wisse, wie man reich und angesehen werden könne. Warum schickt er ihr sogar Soldatenlieder, die sie dort drunten auf den Prinzen Eugenius gemacht haben? Wenn der Herr Kantor wieder auf einen Schoppen kommt, muß sie ihm das neueste Lied doch zeigen, ihr Bruder hat es nicht recht lesen können. Stehen auch Notenköpfe unter den ersten Zeilen, und die kann doch nur der Herr Kantor lesen. Überhaupt wird sie erst erfahren müssen, was eigentlich hinter dem neuen Brief steckt, wenn ihn wer anderer vorliest. Sie traut ihrem Bruder nicht recht; er hat gegen den Schluß hin, wie es schien, manche Zeile breitgeschlagen. Der hat seine Pläne mit ihr. Aber sie wird die Augen aufmachen; sie läßt sich kein zweites Mal einen Mann einreden. Hat genug an dem ersten gehabt, der ein Säufer gewesen. Gott hab' ihn selig. Wenn der Jakob, der Narr, in Ulm geblieben wär', hätt' alles anders kommen können. Sie säße jetzt nicht wieder daheim. Wär' vielleicht seine Frau Schiffmeisterin.
Zum Konstabler hat er's gebracht bei den kaiserlichen Kanonieren. Und zweimal war er blessiert. Ist er am End' ein Krüppel? Schreiben tut er nichts davon, aber das müßt' man doch wissen. Für einen halben Mann ist sie sich zu gut mit ihren achtundzwanzig Jahren ... Wie alt kann denn er jetzt sein? Dreißig; mehr nicht, sagt sie sich.
Und wie ihr Bruder wieder in ihre Nähe kommt, verlangt sie, daß er ihr den Brief noch einmal lese. Er ist brummig. Morgen sei auch ein Tag. Nun ja, heute ist Markt, das Geschäft geht vor, es kommen immer neue Leute. Und es schickt sich wohl, daß sie der Gretel und dem Bruder hilft. Verlangen tut's niemand von ihr, aber sie ist eine Wirtstochter und weiß, was zwei Hände mehr wert sind im Geschäft.
»Eine Maß Ulmer Bier schafft der Herr Pfarrer von Kirchheim? Ja? Und ein Paar Wiener Würstel? Ja?«
Mit ihrem schönsten Lächeln hatte die Frau Theres den neuen Gast begrüßt und ihn mit seiner Begleiterin in das Herrenstüble nebenan gewiesen. Jetzt griff auch sie ein; die Mittagsstunde war gekommen und der Markt zu Ende. Mancher trank einen Schoppen mehr, nur um von ihr bedient zu werden. Dem Peter Fischer aber steckte sie heimlich den Brief zu. Er möchte ihn genau durchbuchstabieren und ihr dann vorlesen. Später, in ihrer Stube.
Der alte Fuchs strich sich mit der flachen Hand über seinen grauen Scheitel, und sein Zöpfchen wackelte vergnügt im Nacken. Das trägt noch ein Trinkgeld heute. Und die Neugierde brannte ja auch lichterloh in ihm. Er verzog sich aus dem Gastzimmer und suchte ein stilles Plätzle, wo er sich in den langen Brief einlesen konnte. Es möchte dem groben Adlerwirt vielleicht nicht recht sein, wenn er merkte, daß der Ulmer Bote den Brief jetzt doch hatte. Vielleicht gibt es da was aufzuschnappen; der Eimann wär' gewiß erkenntlich für einen guten Rat. So ein Feldhungriger war ihm noch nicht vorgekommen. Der läuft zu Fuß nach Hungarn, wenn ihm dort wer eine Elle dürres Land schenkt.
Also, was schreibt denn der Ulmer Spatz aus Temeschwar?
In die Scheune hatte Peter Fischer sich begeben, wo sein Wägelchen eingestellt war, und dort las er den Brief des Jakob Pleß. Er redete laut mit und polterte in jeden Satz hinein, so daß niemand klug geworden wäre, was in dem Brief stünde, wenn er ihn belauscht hätte.
»Ei, ei, ei! Nicht mehr Soldat? Friede von Passarowitz geschlossen. Das Wort wird sich der Mensch merken müssen. Prinz Eugen nach Wien, Regimenter auf Friedensstand, General Mercy kommandiert jetzt im Banat, ein hitziger Lothringer, der es dem Eugenius zuvortun will ... Schau, schau ... Er sucht alle entlassenen Soldaten im Land zu behalten ... Schöne Entlassung! – Gibt uns, was wir wollen ... Ach so! Die Schwaben hat er gern ... Brav, brav ... Wer ein Handwerk kann, ist sein Mann ... Mit uns will er aus dem elenden Türkennest eine neue schöne Stadt aufbauen, – so wie Ulm ... Warum nicht wie Paris? ... Ich bin ein halber Ingenieur geworden bei ihm, baue Forti... Fortifikationen – hol' dich der Satan! – und Häuser ... Weiß aber etwas viel, viel Besseres, wenn wir fertig seind. Dazu gehört nur ein braves Weib, die das Wirtsgeschäft versteht ... Ahan! Ahan! Eine neue Stadt, eine Festung, in der oft viele große Herren logieren müssen, und nirgends ein ordentlicher Wirt ... Alle sind sie jetzt fort mit dem Eugenius, die deutschen Sieger, der Markgraf Ludewig von Baden, der Kurfürst Max Emanuel von Bayern und mancher Held aus Schwaben; aber tausende Soldaten sind als freie Männer allhier verblieben und haben keine deutschen Mädchen ... Hahahaha! ... Beim Markgrafen Ludewig haben sie vor Jahr und Tag eine Bittschrift submissest unterbreitet vor seiner Abreise, er möchte ihnen deutsche Mädchen schicken. Da hat der Markgraf gelacht; er werde dieser Not abhelfen, werde es in Stuttgart austrommeln lassen, sagte er. (Der Peter lachte laut auf.) Aber das ist lange her, und die Schwabinnen kommen nicht. Ich soll euch fragen, ob ihr nicht erfahren könnt, wann der Markgraf Ludewig sein Versprechen erfüllen tut, oder ob er schon gestorben ist ... Man redet allhier viel davon, daß der Graf Mercy ein Referendum nach Wien gemacht habe, worinnen er die Hofkammer bittet, das öde Land Hungarn zu bevölkern mit allen Nationen von Europa. Bauern will er, Ackerbauern. Es sei Platz für Hunderttausende im Land. Ich bin ein Stadtmensch und verstehe davon nicht viel. Aber wenn der Kaiser ruft, dann sollen nur viele Landsleute kommen, sie kriegen alles umsonst. Aber, liebwerte Frau Theres, wenn Ihr einen einschichtigen Ulmer Spatzen direktement glückselig machen wollt, überdenkt einmal, ob eine Donaufahrt von Ulm bis Peterwardein nicht eine schöne Weltreise wär'. – Nehmt Brautjungfern mit, so viel Ihr wollt, wir verheiraten sie hier alle an Männer mit Haus und Hof und fufzig Joch Feld. Mein Vater wird Euch seine schönste Zille geben, und in drei Wochen seid Ihr hier, wo der ewiglich treue Jakob in Liebe wartet. Der Pfarrer ist schon bestellt. Sagt nicht nein, wenn meine Brautwerber kommen. Ich bin ein ehrlicher Bursch gewesen all mein Lebtag. Vertrauet mir, vielteure Theres ... Ah, um die Zeit is! Der Gickel möcht' balzen!« rief der Peter.
So hatte er langsam aus dem schwer leserlichen Brief den Kern herausgeschält, und er las ihn noch einmal, um sich dann vor der Frau Theres auszeichnen zu können. Es glückte ihm denn auch. Sie war sprachlos über den Schluß, den ihr der schlaue Bruder nur so hudelig vorgelesen hatte, daß sie nicht gescheit daraus wurde. Ganz wirblig war ihr zu Mut. Hatte sie sich's doch gleich gedacht, daß ein Schwab, der in zwei Jahren drei Briefe schreibt, ernste Absichten haben mußte. Sechs Ulmer Batzen gab sie dem Boten für die Vorlesung, die er zweimal wiederholen mußte, bis sie jedes Wort auswendig kannte und wußte, wo dies und jenes stand. Der Bruder sollte sich wundern, wie jetzt sie ihm den Brief vorlas.
Man sprach nicht nur im Herrenstüble des Schwarzen Adler vom Brief des Konstablers Pleß, die ganze Stadt redete davon.
Schon überall hörte man, daß ähnliche Soldatenbriefe neuestens nach Schwaben und Württemberg und Baden gekommen waren, von wo schon seit einigen Jahren ab und zu Leute nach Hungarn auswanderten. In den Blättern von Frankfurt, Augsburg und Stuttgart war sogar davon zu lesen. Doch angeraten ward die Auswanderung nicht. Jetzt war von Hungarn mehr die Rede als von Amerika, wohin man ja drei Monate fahren mußte und nicht drei Wochen, wie nach dem Banat. Die Donau aber verdiente doch mehr Vertrauen als das tückische Meer. Zwar erzählte man sich auch von dieser gar erschreckliche Dinge. Der kleine Strudel bei Aschau und der große bei Grein sollten lebensgefährlich sein. Und über Wien hinunter war noch niemand gekommen, den man kannte, die Ulmer Schiffe gingen nur bis zur alten Kaiserstadt. Aber da viele deutsche Regimenter in Hungarn kantonierten, konnte es so unmenschlich dort nicht sein. Auch ging die Rede, daß dort seit den Urzeiten überall Deutsche wohnen sollen, von denen man nur nichts Rechtes wisse. Ob sie alle die Türkenzeit überdauert hätten, sei unbekannt. Aber warum nicht? Was ein anderes Volk aushalte, das hält der Schwabe doppelt aus, sagte der Kantor zur Frau Theres. Wie ein Wunder habe sich die Wiedereroberung Hungarns von Bataille zu Bataille vollzogen, was seit hundertsechzig Jahren dem Türken gehörte, war jetzt kaiserlich. Der Karl von Lotharingen, der Ludewig von Baden, der Carl Alexander von Württemberg, der Max Emanuel von Bayern – sie haben die kaiserlichen und die deutschen Reichstruppen von Wien bis gegen Belgerad geführt, und ihr großer Schüler, der Prinz Eugenius, habe das Werk jetzt vollendet. Er habe den Frieden diktiert nach einem dreißigjährigen Befreiungskrieg. Glaube man nur ja nicht, sagte der Kantor, daß der Friede von Passarowitz uns im alten römischen Reich nichts angehe. Hat nicht der Franzose die Schwäche des Kaisers benutzt, der bis in seine Residenz Wien von den Türken bedroht war, und Straßburg geraubt und das Elsaß? Jetzt seien viele gebundene Kräfte wieder frei, und wer weiß, ob der Prinz Eugen uns nicht Straßburg wieder bringt. Schon beinahe vierzig Jahre ist es französisch.
Mit Begeisterung las der Kantor das wunderliche neue Soldatenlied vor, das der Pleß mitgeschickt hatte, und summte auch gleich die Weise.
Prinz Eugenius, der edle Ritter,
Wollt dem Kaiser wied'rum kriegen
Stadt und Festung Belgerad.
Er ließ schlagen einen Brucken,
Daß man kunnt hinüberrucken
Mit der Armee wohl vor die Stadt ...
»Das ist ja himmlisch!« rief er. »Wie ein Kirchenlied. Wie das Tedeum laudamus vom heiligen Ambrosius.«
Er sang es der Frau Theres und den Stammgästen des Herrenstüble vor, so gut er's vermochte. Und zuletzt stand es fest bei ihm: »Der Eugenius bringt uns Straßburg wieder! Das Lied müssen wir alle lernen.«
Der Hilfslehrer Wörndle stimmte ihm lebhaft bei. Er war ein Elsässer und erzählte gern von seiner Heimat. Es sei schandbar, wie es die Franzmänner dort getrieben, wie sie ihre von Eugen vernichteten Regimenter mit deutschen Soldaten wieder aufgepäppelt hätten nach Malplaquet. Von den Ackerfeldern und den Erntearbeiten weg haben sie die deutschen Knaben gefangen und fortgeschleppt. »Auswandern!« sei dort schon lange die Losung. Zum Kaiser hinunter wollen alle. Waren sie doch immer gut österreichisch ... Auch die Teuerung steige von Jahr zu Jahr, fuhr er fort, es sei schwer zu leben im Elsaß. Vieles wäre noch ärger als hier. Die Großen breiten sich aus, und die kleinen Besitzer werden durch ihren Kinderreichtum immer kleiner. Und katholisch soll auch wieder einmal alles werden. Dem Kaiser haben sie's übel genommen, der Franzmann befiehlt jetzt dasselbe.
Die Herren rieten dem Wörndle, er möge doch hinschreiben und den Elsässern exemplifizieren, was der Pleß über Hungarn berichte und das neue kaiserliche Land, das Banat.
Ja, das wollte er tun. Und er sagte der Frau Theres, daß er ihr sehr oblischiert wäre, wenn sie ihm den Brief leihen wollte, er würde etwas davon in eine Gazette von Straßburg setzen lassen. Man könne von dorther vielleicht auch den Türkenlouis, so wurde der Markgraf Ludwig von Baden, der Sieger von Slankamen, allgemein genannt, an das Versprechen erinnern, das er seinen Soldaten im Banat gegeben.
Man lachte. »Ja, so wird's am beschte ausgetrummelt!« rief einer.
Frau Theres wurde abgerufen. Mit hochgeröteten Backen war die Gretel hereingestürzt, die Frau Theres soll kommen, es sei wer da.
»Wer denn? Wer denn?«
»Zwa Herre aus Ulm!« rief die Gretel und riß die Augen weit auf, als Frau Theres sich jetzt erhob. So schön hatte die sich gemacht heute? Es war also Ernst?
Auch die Stammgäste steckten die Köpfe zusammen, als die schöne Frau sich jetzt errötend beurlaubte.
Sie wollte also doch? Sie traut sich? So lange hatte sie's geleugnet. Der Bruder war so scharf dagegen. Aber vielleicht gerade darum ... Man war einig darüber, daß das nur die Brautwerber für den Jakob Pleß sein konnten.
Ob die Gretel vielleicht auch mitgehe »in de Terkei«, fragte der Kantor.
Wenn sie die Frau Theres mitnimmt, gleich auf der Stelle sei sie bereit. Wo es Not habe an Mädeln, da könne man sich doch den rechten Mann aussuchen.
»Ja, bischt denn du nit verschproche?« rief Wörndle und drohte mit dem Finger.
»Was nutzt's?« sagte Gretel trotzig. »'s Stift verlaubt dem Josef das Heirate nit.«
»Und's Warte hat sie wohl satt, die Gretel?« fragte Wörndle. Sein aufleuchtender Blick umfaßte die Gestalt des drallen Mädchens, und er verstand vollkommen ... Sie sagte nichts und ging, frisches Ulmer Bier holen. Dabei warf sie die Hüften und trat auf, daß die Diele zitterte.
Der Kantor aber räsonierte über die Heiratswut der Frauenzimmer. Es sei ganz gut, daß die Obrigkeit das viele Heiraten verbiete; wären ohnedem zu viel Leut' auf der Welt. Wer kein eigen Haus habe, soll kein Weib nehmen dürfen. Was brauchen wir Ehen zwischen einem Gärtnerburschen und einem Schankmädel?
Wörndle war anderer Meinung. Die Hörigkeit müsse endlich aufhören. Der gräfliche Amtmann da und der Klostervogt dort sollen nur acht geben, daß ihnen die Leute nicht alle eschapieren. Jeder Hase im Feld sei mehr geestimiert als ein Mensch. Sollen lieber Grund und Boden hergeben und glückliche Paare machen, die Vögte, als zwangsweise Keuschheit verbreiten. Das werde schlecht enden. »Kann doch keiner davon laufen, der nicht einen Losschein kriegt«, sagte der Kantor. »Wie käm' er über die Grenze? Nicht zum Ulmer Neutor lassen sie einen hinein, der ohne Paß kommt. Und in Bayern sei es noch ärger, sagen die Leute. Da stecke man jeden in den Soldatenrock, der keine Papiere habe.«
»Das ischt's ja, was ich sag«, rief Wörndle. »'s ischt zu viel G'walt in der Welt und zu wenig Recht.«
Indessen hatte sich Frau Theres in die Wohnung hinauf begeben, wo der Bruder mit den beiden Herren schon im Gespräch war. Die Schwägerin, die ihr in der Wirtsstube begegnete, sagte nichts als: »Tummel dich. Der eine hat ein' großmächtige Strauß!«
Und der mit dem Strauß redete zuerst, als die Frau Theres eingetreten war. Der kleine alte Mann verbeugte sich gar zierlich und stellte seinen Gevatter vor. Es war der ehrsame Ulmer Schiffmeister Ludwig Pleß, der Vater des kaiserlichen Konstablers Jakob Pleß. Und er selbst war dessen Gevatter, der Anton Specht. Er habe den Jakob vor dreißig Jahren aus der Taufe gehoben und es sei heute seines Amtes, der frei Erwählten des einstigen Täuflings diesen schönen Strauß zu überreichen. Er sehe wohl, daß seine roten Rosen von denen auf den Backen der Frau Theres übertroffen werden. Er sei also wohl auf dem rechten Weg und glaube keinen Fehlgang getan zu haben. Von Herzen bitte er um die Hand der ehr- und tugendsamen Wittib Theresia Scheiffele für den Sohn seines Gevatters, den braven und aufrechten Jakob Pleß, der Manns genug sei, ein Weib zu equipieren und einen Hausstand zu begründen.
Der Atem war dem Männchen beinahe ausgegangen bei dieser Anrede, die alle stehend mitangehört hatten, Frau Theres, ihr Bruder und Jakobs Vater. Ohne etwas zu antworten, lud sie die Männer zum Sitzen ein. Den Strauß übernahm sie mit einem Knicks und hielt ihn in der Hand, während sie von dem Platz auf dem Kanapee Besitz ergriff. Und jetzt begann Ludwig Pleß zu sprechen, der Schiffmeister. Er war ein gar stattlicher Mann in den Fünfzigern, und Frau Theres kannte ihn wohl. Er trank seinen Frühschoppen wie oft beim »Blauen Hecht« im Kreise anderer Werkmeister. Seine schönen hellen Augen hatte der Jakob von diesem immer fröhlichen Vater. Die Theres sah ihn nur damals arg verstimmt und verärgert, als sein Ältester davon gegangen und Soldat geworden war. Der Alte blieb ein Jahr fort vom »Blauen Hecht«, und ihr schwante, daß er etwas wisse ... Gar seltsam guckte er sie immer an, wenn er ihr begegnete. Sie aber fühlte sich schuldlos. Lieb war ihr der Jakob gewesen seit der Fahrt nach Regensburg, doch gesagt hatte sie es ihm nie. In allen Ehren und Züchten ging sie neben dem Scheiffele ihres Weges, den der Vater ihr erwählt, und der auch kein übler Mensch war. Das Trinken nur brachte ihn um. Und jetzt ist sie schon drei Jahre Wittib. Warum sollte sie diese Brautwerber nicht gut aufnehmen? Sie ließ es frank und frei merken, daß deren Botschaft kein ungebetener Gast war in ihrem Herzen, wenn sie der deutschen Heimat auch ungern Valet sagte.
Was brauchte Jakobs Vater der bräutlich Lächelnden noch zu sagen? Sein Sohn scheine ein rechter Mann geworden zu sein, aber nach Ulm wolle er nicht mehr kommen. Daß er die alte Heimat noch estimiere und sich von hier die Frau holen wolle, das freue den Vater. Und es sei ihm um die Zukunft solch eines Menschenpaares nicht bange. Was der Jakob schreibe, verrate viel guten Willen. Ein bißchen etwas kriege er auch noch von daheim; dreihundert Kronentaler jetzt, das andere nach seinem Tode. Damit könne er wohl beginnen, den Einkehrgasthof zu bauen, den er im Sinne habe. Er brauche nichts mehr als eine freundwillige Wirtin, die etwas vom Gewerbe verstehe.
»Die Wirtin will ich ihm sein«, sprach Frau Theres. »Grüßt ihn schön, und er soll nur die Hochzeit richten. An Kurasche zur Reise fehlt's mir nit. Werd' mir die Base aus Regensburg mitnehmen und noch eine oder zwei Weibspersonen für die Wirtschaft.« Da mischte sich der Adlerwirt in das Gespräch. »Was meine Schwester noch mitbringt, muß ich wohl sagen. Auch sie hat dreihundert Kronentaler. Und ich hab' ihr noch zweihundert vom Vaterhaus hinauszuzahlen. Sie liegen gut bei mir und tragen Zins. Wenn der Jakob sie braucht, soll er es ein halbes Jahr früher kundbar machen.«
»Das ist eine gute Aussteuer, und wenn Ihr wollt, machen wir nächstens den Ehekontrakt«, sagte Ludwig Pleß befriedigt. »Ich aber lasse der Braut eine neue Zille bauen mit zwei schönen Stübchen darauf und gebe ihr acht starke Ruderknechte und einen Steuermann mit, die die Donau bis Wien kennen. Ich hab' welche, die es auch nach der Fremde gelüstet, die sich dort drunten in Hungarn ansiedeln und selbständig machen möchten. So wird die Braut in guter Hut sein und, so Gott will, mag die weite Fahrt gelingen.« Der Gevatter Specht sagte »Amen«.
Der Adlerwirt ging nun, eine Kanne Rüdesheimer zu holen und seine Frau hereinzulassen, die gewiß schon vor Neubegier verging.
Nicht gern ließ er die einzige Schwester in die unbekannte Fremde ziehen, aber da es einmal ihr fester Wille zu sein schien, durfte er auch nicht länger widerstreben.
In der österreichischen Hofkanzlei, die in dem neuen Prachtbau von Fischer von Erlach zwischen dem Wiener Judenplatz und der Wipplingerstraße untergebracht war, häuften sich die hungarischen Akten. Die böhmische, die hungarische und die siebenbürgische Hofkanzlei hatten auch nicht annähernd so viele Geschäfte wie diese Zentralstelle des kaiserlichen Dienstes, der die anderen untergeordnet waren. Es regnete namentlich Gesuche um Verleihung von Besitzungen in dem eroberten Hungarn, jeder Feldobrist glaubte die gleichen Verdienste zu haben um die Vertreibung der Türken wie die Führer, die der Kaiser so reich begütert hatte. Der Hofkammerrat Stephany war oft in argem Gedränge, er stieß überall an, wenn er die Interessen des Landes vertrat gegenüber all den Günstlingen und Glücksrittern, die sich an ihn heranschlichen. Spanier, Italiener, Flamänder, Franzosen, Schotten, die nichts besaßen als ihren Degen, abenteuerten sich durch die kaiserliche Armee empor, wollten seßhaft werden im Lande. So wie die Haudegen aus der Wallensteinschen Armee einst in die Lücken einsprangen, die durch die Vergewaltigung des evangelischen, alten deutschen Adels in Österreich entstanden, so wollten jetzt viele die Vertreibung der Türken benützen, um sich in Hungarn festzusetzen. Was in den Erblanden heute nicht mehr möglich war, das sollte in der neueroberten großen Provinz gelingen. Und viele schöne Frauen waren hinterher, sie protegierten und intrigierten um die Wette. Aber Stephany war zäh. Und der Generalissimus stand hinter ihm, sein Gönner, Prinz Eugen. Mochte die mächtige Gräfin Maria Althan ihn noch so oft zu sich bescheiden, er ließ sich nicht abdrängen von seinem Standpunkt, daß man Hungarn nicht deshalb erobert habe von den Türken, um es jetzt an die Offiziere zu verschenken. Und er schob die hungarische Hofkanzlei vor, die mit ihren Berichten über die ungeklärten Eigentumsverhältnisse weit im Rückstand wäre. Zeit gewonnen, viel gewonnen. Vielleicht zog so mancher dieser Glücksritter wieder fort, da der Kaiser jetzt einen fünfundzwanzigjährigen Frieden geschlossen hatte mit den Türken. Manches wurde über den Kopf des starrsinnigen Hofkammerrates hinweg verfügt; sein Präsident erhielt dann von oben die Mitteilung, daß dem oder jenem ein Besitz verliehen worden sei. Da gab es keine Widerrede. Aber der Damm, den Stephanys Rechtsgefühl und des Prinzen Eugen Autorität aufgerichtet hatten, hielt doch stand. Und so konnten die in Preßburg, in Kaschau, in Fünfkirchen und Agram eingesetzten Kommissionen ruhig arbeiten und die Eigentumsverhältnisse, die durch die lange Türkenherrschaft in Verwirrung geraten waren, klarlegen. Wer wußte denn noch, wem dieser oder jener Besitz gehörte? Im Süden hatte die Türkenherrschaft hundertvierundsechzig Jahre gedauert. Im Zentrum des Landes, wo die Magyaren saßen, um nicht viel weniger. Die Familien, die nicht erschlagen wurden oder ausstarben, die wanderten aus in dieser langen Zeit, tausende Urkunden gerieten in Verlust oder waren vernichtet worden. Wer konnte da Recht schaffen? Mit List und Gewalt setzten sich viele Adelige sogleich nach dem Abzug der Türken in den Besitz weiter Gebiete, die ihnen gefielen. Sie mußten jetzt ihre Rechtsansprüche beweisen. Denn was herrenlos war, gehörte dem Eroberer, dem Kaiser. Und auch die, die den rechtlichen Besitz eines Gutes nachweisen konnten, hatten an den Kriegsfonds eine Befreiungstaxe zu leisten, denn die Kosten des langen Türkenkrieges waren unermeßlich. Da gab es amtliche Arbeit für viele Jahre ...
Joseph v. Stephanys Geschäftskenntnis und Rechtlichkeit waren erprobt, nur er konnte dieses schwierige Amt ausfüllen, nur er besaß das Vertrauen aller. Zehn Jahre hatte er sich ausbedungen für die völlige Klärung der Verhältnisse. Dann erst könne er Vorschläge erstatten, Anträge über Besiedlung der verödeten Landstriche mit neuen Untertanen. Wie groß die Bevölkerung Hungarns eigentlich war, ließ sich nicht feststellen, denn eine Volkszählung war unmöglich. Der magyarische Adel entzog sich der Zählung, weil er fürchtete, besteuert zu werden; das Volk flüchtete vor solchen Versuchen, weil es eine Konskription dahinter witterte. Man schätzte die Magyaren auf kaum zwei Millionen, alle übrigen Völker auf drei Millionen. Es war auch nach Stephanys Überzeugung für Hunderttausende Platz in dem weiten Lande.
Aber drängen ließ er sich nicht. Und es hatte auch niemand Eile mit diesem Werk der »Impopulation«, das man bei Hofe teils für undurchführbar, teils für höchst uninteressant hielt. Nur die waren ungeduldig, die auf die fetten Bissen für sich selber hofften. Waren doch auch die Nobilitierungen abhängig von dem Besitz adeliger Herrschaften. Diese vielen herrenlosen, verwilderten Grafschaften zu Kameralgütern zu machen und sie dann an fleißige Untertanen zu vergeben, das war eine Lebensaufgabe Stephanys, und er lugte nach Deutschen aus ...
Der Aktuar Franz Hildebrandt war eingetreten beim Herrn Hofkammerrat. Er hatte die Listen der Verleihungen zu führen und ständig zu erheben, wie die Herren, die der Kaiser derart ausgezeichnet hatte, mit ihrem Pfund wirtschafteten. Stephany wollte immer gewappnet sein. War es doch vorgekommen, daß einzelne ihre Güter um Spottpreise wieder verkauften, und Stephany lebte schon längst der Überzeugung, daß man viele hätte mit Geldgeschenken abfertigen sollen. Aber der Hof gab, was er besaß – Geld war rar.
Franz Hildebrandt hatte heute nur Gutes zu berichten. Die Grafen Veterani, Caprara, Batthyànyi und Breuner hätten mit Eifer zu kolonisieren begonnen, sagte er. Dreihundert deutsche Familien seien wieder untergebracht worden. Was der Generalissimus mit so viel Glück auf seiner Herrschaft Bellye im Barernyer Komitat und in Promontor bei Pest als erster getan, was Graf Schönborn bei Munkàcs nachgeahmt hatte, das tuen Batthyànyi und Kàrolyi in Szatmàr, das tuen die Bischöfe Nesselrode und Csàky rund um Fünfkirchen und bei Mohatsch, das tue auch des Prinzen Liebling, Graf Mercy. Er habe in aller Stille auch eine Schwabenansiedlung auf seiner Besitzung rings um Tevel geschaffen.
»Der ist doch im Banat über und über beschäftigt!«
»Er ist überall, Herr Hofkammerrat. Dies- und jenseits der Donau. Im Banat baut er die Festung Temeschwar und diesseits der Donau für sich selbst ein Schloß.«
»Wenn der Mann nur nicht so stürmisch wäre. Zwei Schlaganfälle hat er schon hinter sich. Der Generalissimus ist sehr besorgt um ihn; dieser Lothringer ist einer seiner besten Generale.«
Der Aktuar war überrascht von der Vertraulichkeit seines Chefs, so fand er ihn selten, und da wagte er ein Wort zugunsten Mercys: »Man darf ihm halt in Wien keine Schwierigkeiten bereiten, ihn nicht immer reizen und kränken durch Abstriche.«
»Und alles bewilligen, was er verlangt, was? Auf zehn Millionen war das Präliminario für den Bau der Festung Temeschwar gestellt, und zwanzig wird er kosten. Es ist sündhaft! Aber Er wollte noch etwas berichten. Er hat vorhin wohl nicht alles gesagt.«
»Nein, Herr Hofkammerrat. Ich halte es für meine ernste Pflicht, zu melden, daß unter den da und dort eingewanderten Schwaben auch augsburgische Protestanten sind.«
Stephany erhob sich rasch. Er knöpfte sich den Rock zu und ging zweimal auf und nieder in dem Saal, der ihm als Kanzlei diente. Dann blieb er vor Hildebrandt stehen. »Geht uns das etwas an? Nein, es geht uns gar nichts an. Hungarn ist groß. Warum rührt Er das auf? Verboten ist es nicht worden von oben. Das wird wohl erst kommen, wenn Staatsdomänen besiedelt werden. Was die Feldherren und die hungarischen Grafen, die ja selber zum Teil Kalviner sind, tun, kümmert uns vorläufig nicht. Fleißige Hände brauchen wir. Christen! Sind die Deutschen nicht alle Christen?«
Hildebrandt schüttelte den Kopf. »Sektierer!« brummte er. »Ich möchte nicht gerne die Verantwortung allein tragen ... Wie Temeschwar erobert war, hat der Generalissimus angeordnet, daß nur Deutsche katholischen Glaubens in die innere Stadt gelassen werden, da man nur ihnen vertrauen könne.«
»Das ist etwas anderes. Eine soeben eroberte Festung ist ein eigen Ding. Und dann wollte er rasch die Bildung einer einheitlichen deutschen Gemeinde möglich machen in der völlig verwahrlosten Türkenstadt. Das ist etwas ganz anderes.«
»Der Prinz hatte auf seinen Gütern in der Baranija und bei Ofen nur deutsche Katholiken angesiedelt«, entgegnete Hildebrandt hartnäckig, »keine Sektierer.«
»Das ist Privatsache.«
Hildebrandt schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Werden der Herr Hofkammerrat mir jederzeit bestätigen, daß ich das pflichtschuldigst gemeldet habe?«
»Ja, zum Teufel noch einmal ... Sei Er nicht so ängstlich. Österreich hat viel gutzumachen nach dieser Richtung. Sehr viel!«
Der Rat setzte seine Promenade noch lange fort in dem Saal, als der Beamte, ein wenig gekränkt, abgetreten war. Das paßte durchaus nicht in seinen Plan. Nie würde man das Werk der Besiedlung vollenden können, wenn man solche Grenzen aufrichtete. Davon war er überzeugt. Waren die Magyaren nicht zum Teil kalvinisch? Waren die Siebenbürger Sachsen und die Zipser Sachsen nicht auch evangelisch? Was schadete es, wenn noch ein paar tausend hinzukamen? Nur nicht reden davon! Nur keine Fragen aufwerfen. Der ungeschickte Mensch! Jetzt hat er ihm, dem Rat, richtig auch noch diese Sorge aufgehalst ... Sie wird sich tragen lassen. Kaiser Karl war ein frommer Katholik, aber er drückte beide Augen zu, wo es religiöse Gegensätze gab. Er stand als Regent über diesen Fragen, und Joseph v. Stephany blickte mit Verehrung zu ihm auf. Noch aus dem westfälischen Frieden hatten die deutschen Fürsten den mittelalterlichen Grundsatz heimgebracht, daß die Regenten die Religion ihrer Untertanen zu bestimmen haben (Cujus regio, ejus religio). Ja, wenn man den Kaiser vor die Gewissensfrage stellte ... Aber das muß eben vermieden werden. Noch haben die Jesuiten nicht ihre Hände in diesem Werke ... Und der Hofkammerrat hat seine ganz besonderen Pläne mit der neuen Provinz. Sie schienen ihm noch nicht völlig reif zu sein, er wollte sie noch nicht preisgeben. Vielleicht war es am besten, gewisse Grundsätze überhaupt nie auszusprechen, sondern still danach zu handeln. Es gab in der Maschinerie dieses patriarchalischen Staates hundert schlummernde Widerstände. Wer zu laut redete, weckte sie. Der Hofkammerrat war einer von den Klugen, die leise arbeiteten, bei dem es nie Streitfälle gab. Wie viel Macht er in sich vereinigte, merkte man gar nicht. Der Präsident der Hofkammer trug immer einen gräflichen Namen, aber es schien beinahe gleichgültig zu sein, wie er hieß, denn die führende Hand war Joseph v. Stephany. Das hohe Amt wollte nach außen repräsentiert sein, nach innen erforderte es eine kenntnisreiche, redliche Arbeitskraft mit einem weiten Horizonte. Je bescheidener diese Kraft sich gab, desto größer war ihr Spielraum.
Ein anderer Referent ließ sich melden. Es sei ein Akt aus der hungarischen Hofkanzlei herübergekommen, von dem niemand wisse, wohin er gehöre. Der Magistrat habe ihn in die Schenkenstraße geschickt, berichtete der junge Sekretär Gottmann.
»Was ist der Gegenstand, Herr Sekretario?«
»Er ist sehr diskordant, Herr Hofkammerrat, und hat zwei Teile. Pro primo eine Anklage gegen den Stadtkommandanten von Temeschwar von geistlicher Hand. Er habe den römisch-katholischen Stadtpfarrer gezwungen, ein evangelisches Brautpaar zu kopulieren. Widrigenfalls drohte er ihm mit der Ausweisung aus der Festung.«
»Ah! Und warum hat er so etwas getan?«
»Weil es keinen evangelischen Geistlichen dort gibt.«
»Also verlangt man von uns einen?«
»Im Gegenteil, Herr Hofkammerrat! Damit derartiges nicht mehr vorkomme und alle Einwohner der Stadt beizeiten zum rechtmäßigen Glauben bekehrt werden können, fordern zwanzig unterschriebene Katholiken pro secundo, daß die drei Moscheen in Temeschwar schleunigst an drei katholische Orden vergeben werden. Sie verlangen Jesuiten, Franziskaner und Piaristen. Es könne nicht geduldet werden, daß aus evangelischen Soldaten behauste Bürger gemacht werden, wenn sie nicht übertreten. Es sei gegen die Verordnung des Generalissimus.«
»Und wer sind die Kläger?« fragte der Hofkammerrat.
»Der zur Kopulation kommandierte Pfarrer und neunzehn Mitglieder der Kirchengemeinde. Unterstützt vom Notarius Erling.«
»Geht uns vorläufig nichts an«, sagte Stephany bedächtig. »Ist an den Grafen Mercy nach Temeschwar zu leiten. Er ist der Gouverneur des Banats, ihm untersteht der Stadtkommandant. Stellen Sie das Petitum an den Grafen um eine Relation über die Ordensfrage. Machen Sie aber eine Copia von diesem Akt und heben Sie sie gut auf. Sie kann wichtig werden.«
Der Beamte verbeugte sich und ging. Da rief der Hofkammerrat ihm nach: »Apropos, Herr Sekretario, lassen Sie doch noch einmal allen Amtsstellen, insonderheit dem löblichen Magistrat von Wien, invitieren, daß die Angelegenheiten des Banats und der Bacska und der Militärgrenze nicht an die hungarische Hofkanzlei gehören, sondern an die österreichische. Das sind kaiserliche Provinzen und werden von hier aus regiert. Wird man das endlich begreifen?«
Mit einem Lächeln verbeugte sich der Sekretär und zog sich zurück.
Der Hofkammerrat aber war sehr nachdenklich geworden. Da kamen die Fragen von selbst, die er nicht aufgeworfen sehen wollte. Und wenn Soldatenhände sie so derb anfaßten, wurden sie nur schlimmer.
Ein Sonnenstrahl fiel plötzlich in die Amtsstube. »Mademoiselle Charlotte« hatte der Diener gemeldet, und Stephanys blondes Töchterchen trat ein.
Die Lottel kam, um den Papa zu einem Spaziergang vor Tisch abzuholen. Sie trug einen Strauß Blumen in der Rechten und ließ Papa daran riechen. Auf der Schottenbastei sei es himmlisch, alles blühe schon, der Frühling war über Nacht gekommen, sagte sie. Und der Hofkammerrat ließ sich gerne entführen von seinem Liebling. Es war die Stunde, in der man die wenigsten Gesellschaftsmenschen auf der Promenade im Stadtgraben und auf den Basteien traf, und er nützte sie gerne zu seiner Erfrischung.
Joseph v. Stephany war ein Wiener, ein bürgerlicher Wiener, der sich seinen Beamtenadel selbst erwarb. Und er empfand den Stolz auf seine Vaterstadt so gut wie einer. Wie hatte sich das zerschossene Wien nach der letzten Türkenbelagerung prächtig entwickelt; Palast reihte sich an Palast, die Basteien und Wallgräben hatte man mit Alleen bepflanzt, und die Umwelt vor den Toren draußen war ein schöner Gottesgarten, aus dem die jungen Vorstädte gar freundlich hervorlugten. Handel und Wandel blühten, aus dem weiten Reiche strömte der Adel herbei, um sich an dem glänzenden Hof Karls VI. zu sonnen, und der Zufluß an Fremden aus aller Welt war beinahe zu groß für die enge, alte Stadt. Auch die Hofburg wurde als zu eng empfunden, seitdem alle Türkengefahr geschwunden. Die kaiserliche Familie baute sich Sommersitze vor den Toren draußen, und der hohe Adel folgte dem Beispiel. Ein Kranz von fürstlichen Villegiaturen schlang sich alsbald um das innere Stadtbild, dem indessen ein Luftraum von sechshundert Fuß gegönnt war. Dieser Gürtel, das Glacis, war mit dem Bauverbot belegt. Wie ein plastisches Gebilde von Künstlerhand stieg der vieltürmige Stadtkörper aus diesem landschaftlichen Rahmen zum Himmel empor, und die anmutige Riesenpyramide des Stephansdoms beherrschte ihn.
Joseph v. Stephany war erst drei Jahre alt zur Zeit der Türkenbelagerung, aber er erinnerte sich noch an das Bild seines Vaters in der Uniform der Bürgerwehr. Und er sah das neue Stadtbild aus dem alten emporwachsen, sah mit offenen Augen alles ringsum werden und gedeihen.
Sein eigenes Vaterhaus stand in der Renngasse. Und nebenan, auf dem Schottenfreythof, ruhten seine Eltern, lag seine Frau, die so jung hatte sterben müssen. Er und Lottel besuchten sie fast täglich. Jeder Weg nach der Schottenbastei führte an ihrem Grabe vorüber. Und so gewöhnt waren die beiden daran, daß sie von der Mutter wie von einer Lebenden redeten. »Warst du bei Mutti?« frug der Rat jeden Abend. Auch heute legte das Kind den Frühlingsstrauß, den es in der Hand trug, im Vorbeigehen still auf das Grab der geliebten Toten. Lottel machte das Kreuzeszeichen und hing sich schweigend wieder an den Arm Papas. Der hatte stumm den Hut gelüftet, um sein Weib zu grüßen. Sie ließ ihn allein mit dem damals kaum achtjährigen Töchterchen, und nun gehen sie beide schon sieben Jahre da vorüber und fühlen sich ihr nah. Ihre Lieblingsworte leben noch unter ihnen, ihre Lieblingsspeisen hat Lottel kochen gelernt von der Tante, die das Hauswesen führt, und die Lieblingsblumen der Mutter schmücken das ganze Jahr ihr Grab. »Es geht ihr besser als uns allen«, sagte einmal die Tante, man dürfe sie nicht beweinen. Und Lottel glaubte es. Sie weinte nie um die Mutter und tat ihr alles zuliebe. Den Hofkammerrat traf ihr Verlust schwer. Es gibt da ein Geheimnis für die Lottel, man hat ihr nie gesagt, daß die Mutter an der Pest gestorben war. Stephany wollte es nicht. Man durfte ihn nie erinnern an das entsetzliche Ereignis.
Innerhalb des Schottentores stiegen Vater und Tochter die Treppe hinauf auf den Wall. Der Tag war hell und warm, die Aprilsonne hatte schon große Kraft. Eine leichte Brise wehte vom Westen her, vom Wienerwald, und die Luft roch wie nach frischen Veilchen und dem kräftigen Duft der Ackerscholle.
Sie wandelten bis zur Burgbastei und weiter bis zum Kärntnertor, wo das erste steinerne Wiener Theater stand, das der Stadtmagistrat vor Jahren für italienische Operisten erbaut hatte. Aber jetzt saß der Stranitzky als Pächter darin, der lustige Hanswurst. Von ihren Fenstern hatten sie seine fliegende Bude einst auf der Freyung gesehen, und Mutti lachte so gern über ihn. Jetzt war er ein großer Herr, aber der Hofkammerrat mochte ihn nicht. Er war ihm zu roh. Stephany war als Sekretär des Prinzen Eugen einst mit in Frankreich und Italien gewesen, hatte das Beste gesehen, was es an theatralischer Kunst gab, und es schmerzte ihn, daß in der deutschen Kaiserstadt noch die derbe Stegreifkomödie blühte, daß sie sogar triumphierte über die italienischen Künstler, die der Hof begünstigte. Daß dies der beginnende Triumph der deutschen Kunst über den verwelschten Geschmack der Wiener werden sollte, das ahnte der Hofkammerrat noch nicht. Er fühlte nur, daß es die Kunst der Gasse war, die sich übel ausnahm in dem Rahmen eines Komödienhauses, das einst für die Oper gebaut wurde.
Während die beiden über dem Kärntnertor standen und sich wieder einmal an dem wundervollen Doppelblick weideten, der sich von hier nach dem Herzen der inneren Stadt und hinaus nach dem kaiserlichen Lustschloß Favorita und den zahreichen Adelssitzen öffnete, kam ein stolzes Viergespann die Kärntnerstraße herauf. Die Leute liefen aus den Kaufläden und den Haustoren herbei, schwenkten die Hüte und riefen: »Vivat! Vivat!«
Alle kannten die Isabellenschimmel des Generalissimus, und der Ruf »Vivat Eugenius!« pflanzte sich fort bis zu den Spaziergängern droben auf der Bastei. Und auch sie winkten und schwenkten die Hüte. Die Stadtguardia unter dem Tor trat ins Gewehr, und die Staatskarosse rasselte hinaus. Gespannt sah der Rat ihr nach ...
»Schauen Sie, Herr Papa – er fährt zur Favorita«, sagte Lottel.
»Jawohl, zu Hofe«, sprach der Rat gedankenvoll und wendete sich, um den Rückweg anzutreten.
»Er wird Seiner Majestät manches zu sagen haben. Solch ein Held! Solch ein Staatsmann! Und auch er hat Feinde.«
»Neider, Papa! Aber auf die hört doch der Kaiser nicht?«