Louise von François

Phosphorus Hollunder

Fräulein Muthchen

und ihr Hausmeier

Zwei Erzählungen

 

 

 

Louise von François: Phosphorus Hollunder / Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier. Zwei Erzählungen

 

Neuausgabe mit einer Biographie der Autorin.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Louise von François (Fotografie von Karl Festge in Erfurt, um 1881)

 

ISBN 978-3-8430-9347-7

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9509-9 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9510-5 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Phosphorus Hollunder

Erstdruck: In: Novellen-Zeitung, Leipzig (Spamer) 3. Folge, 3. Jg., 1857; erste Buchausgabe: Stuttgart (Spemann) [1881].

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Phosphorus Hollunder

Phosphorus Hollunder saß am Schreibtisch seines mit Komfort und Zierlichkeit ausgestatteten »Museums«, wie er es nannte – in der Apotheke zum Holunderbaum, die er neuerdings vom Keller zum Giebel modern hatte herstellen lassen. Er memorierte die Rede, mit welcher er heute, am Sylvesterabend, die Schwesternloge zu erbauen gedachte. Denn Phosphorus Hollunder war Maurer; – welcher Apotheker wäre in Herrn Hollunders jugendlicher Heldenzeit es nicht gewesen? – Er galt für den begeistertsten Sprecher in der Loge zur Feurigen Kugel, zumal an den Schwesternabenden, wo sein Vortrag kein schönes Auge trocken gelassen haben soll.

Er hatte laut gelernt und ein helloderndes Feuer in seinem Gemüt entzündet. Mit großen Schritten ging er nunmehr im Zimmer auf und ab. Der Strom der Phantasie war sicher in das Gedächtnis geleitet; ein Anstoß nicht zu befürchten; wenn aber ja, so ist Phosphorus Hollunder der Mann, der sich auf seine Inspiration verlassen darf.

Angeregt durch liebliche Bilder von Frauenhuld und Frauenwürde, welche naturgemäß den Stoff seiner heutigen Rede bilden, drängt ihn aus allgemeinen Regionen eine unwiderstehliche Macht in die Heimlichkeit seines Herzkämmerleins zurück und zaubert den Gegenstand seiner lange verschwiegenen Minne leibend und lebend vor den entzückten Blick. Da steht sie, die Hehre, die Cäcilia aller seiner zarten – leider nie veröffentlichten Lieder. (Den Zeitgenossen Hollunders brauchen wir kaum zu sagen, daß ›Urania‹ und ›Die bezauberte Rose‹ seine Vorbilder und Lieblingsdichtungen waren; das jüngere Geschlecht wird sich derselben aus der Literaturgeschichte erinnern.)[390]

Das Herz geht dem Redner über. Während er in starker Bewegung auf und nieder schreitet, ruft er aus:

»Verschmähst du mich, Blanka? Weisest mich von dir? O Mädchen, halte ein! Besinne dich, bedenke, ich bin ein gebildeter Mann, ein wohlangesehener Mann, – nicht auch ein wohlanzusehender Mann?«

Sein Blick fiel bei der letzten, nur gelispelten Frage in den goldumrahmten Trumeau zwischen den Fensternischen; errötend senkte er die Augen jedoch hastig zu Boden und fuhr mit weichen Tönen in seiner Selbstempfehlung fort: »Bedenke, ich bin ein guter Mann; oder wenigstens, ich könnte es werden, denn ich liebe dich, Blanka, und die Liebe macht gut.«

Die alabasterne Stutzuhr schlug in diesem Augenblick sechs und spielte die Melodie von »Wie der Tag mir schleichet, ohne dich verbracht.« Eine Mahnung an die Toilette; denn um sieben sollte die Versammlung ihren Anfang nehmen, und Herr Hollunder war an bedeutenden Tagen gern der Erste. Er zog daher den palmendurchwirkten Kaftan aus, der in Verbindung mit dem purpurfarbigen Fez ihm ein ausnehmend muselmännisches Ansehen gab, wennschon er in allem übrigen durch morgenländische Kennzeichen oder Neigungen je nachdem weder interessieren noch abstoßen konnte. Rauchte er doch nicht einmal und trank statt des Kaffees Schokolade. Auch war sein Haar von der Helle des Flachses, und sein Nasenbein schlug auch nicht entfernt einen orientalischen Adlerhaken.

Ohne sich in seinen peripatetischen Ergüssen stören zu lassen, begann er darauf sich in den Gesellschaftsanzug zu hüllen, der fürsorglich auf dem Sofa ausgebreitet lag. Indem er die Weste von himmelblauem Moiré überstreifte,[391] durchzuckte es ihn aber plötzlich wie bei dem Stich eines giftigen Insekts, und es dauerte eine Weile, bis die grelle Dissonanz in elegische Molltöne überging.

»Was kann dir dieser Leutnant sein, Blanka?« fragte er. »O, fliehe ihn, fliehe ihn! Er wird dich verderben. Es ist nicht Sitte und Treue in ihm, und Sitte und Treue sind die Pfeiler, auf welche das Weib sein Glück zu bauen hat. Und doch lächelst du ihm, Geliebte! O, wohl sehe ich es, wie holdselig du lächelst, wenn er unter deinem Fenster vorübergaloppiert. Ich sehe es, und es schneidet mir durch das Herz. Was reizt dich an dem Leutnant, Blanka? Kann Reiten glücklich machen? Oder eine blitzende Uniform? Heißt das Bildung: über Hindernisse setzen, ein keuchendes Pferd zu Tode jagen? Das As in der Karte, den armen Vogel im Fluge treffen ohne Fehl? Er wird dein Herz treffen, Mädchen. Er ist ein roher Gesell. Ich habe ihn beobachtet am Pharotisch und bei der Bowle. Da offenbart sich des Mannes Natur. Ich spiele niemals, und beim Glase werde ich traulich und mache Verse, wie die Freunde sagen. Aber dieser Leutnant, o, o! Was elektrisiert euch Frauen, sobald er sich zeigt? Hat er Bildung? Hat er Geist? Hat er nur ein Herz? – Er trägt einen Orden, weil er, es ist wahr, einmal eine kühne, eine edle Tat getan. Aber es geschah in jachem Affekt, nicht aus besonnener Wahl. Das ist kein Wert, der dauernd ein zärtliches Weib beglückt. Er besitzt auch eine schöne Gestalt und – – –«

Wieder fiel Phosphorus Hollunders Blick in den Spiegel, und er lächelte nicht ohne Befriedigung, während er die Schleife des weißen Atlastuches breit zog. »Und – Schönheit ist allerdings ein Schlüssel, der uns die Pforten der[392] Menschenherzen erschließt. Das beweist dein Anblick, Blanka, dein allesbewältigender Anblick! Aber Schönheit des Leibes allein? Nein, Geliebte, wäre nicht auch deine Seele edel und hold, ich würde dich fliehen, wie eine Schlange.«

»Du bist arm, mein Kind«, fuhr er nach einer Pause fort, indem er die blitzende Diamantnadel in dem spitzengeränderten Jabot befestigte. »Du bist arm, mein Kind, und das beglückt mich; so werde ich dir manche Freude bereiten dürfen, die du jetzt nicht kennen lernst. Denn ich gebe so gern; und wem gäbe ich lieber als dir? Dein wäre alles, was mein ist, und ich nur dein Sklave.

Aber du bist ein Edelfräulein; bist du auch stolz, Mädchen? Blanka von Horneck, ein ehrwürdiger Name! Indessen auch der Hollunder Erinnerung reicht Jahrhunderte zurück. Betrachte über der Apotheke den Baum in grauen Stein gemeißelt, das Wahrzeichen unseres Geschlechts, und darunter die Jahreszahl 1530. Wir haben uns die schöne Sitte des Adels angeeignet in Bild und Schrift, das Andenken unserer Ahnen ehrfürchtig zu wahren. Drei Jahrhunderte blicken wir zurück auf Väter, die unserer Stadt zum Muster bürgerlicher Tugend und Treue gereichten, auf häusliche, züchtige Mütter, Vorbilder ihres Geschlechts. Drei Jahrhunderte lang vererbte die Apotheke auf einen Erstlingssohn, einen Phosphorus, das heißt Lichtbringer, Lichtmagnet, Morgenstern! Ein bedeutungsvoller Name! Ich habe ihn wieder angenommen statt des nüchternen ›Ernst‹, den meine Eltern ihm beigefügt hatten. Ernst Hollunder – wie unmelodisch, wie nichtssagend! – Die jüngeren Söhne unseres Geschlechts widmeten sich dem geistlichen oder gelehrten Stande. Es gibt manchen namhaften[393] Hollunder in den Annalen der Wissenschaft. Gern wäre ich ein jüngerer Sohn gewesen; aber ich bin der einzige. Ich befasse mich wenig mit meinem Geschäft; ich habe höhere Interessen; doch der Pflicht, welche solche Vergangenheit auferlegt, durfte ich mich nicht entziehen; ich mußte die Apotheke übernehmen. – Ich bin eine Waise, ohne Geschwister, ohne nahe Verwandte«, rief jetzt der gute Hollunder mit übergehenden Augen, »ach, liebe mich, Blanka, werde du mein alles!«

Mühsam bewältigte er die weichmütige Anwandlung und trat nun, mit dem schwarzen Leibrock die festliche Toilette beendend, noch einmal musternd vor den Spiegel. Ein Blick genügte, ihm sein Selbstgefühl wiederzugeben. »Und dann, Blanka von Horneck!« rief er plötzlich, den Kopf stolz in den Nacken werfend, »Blanka von Horneck, was ist Adel heutigentages? Adel ist Bildung. Stelle mich dem Leutnant gegenüber in einem Turnier des Geistes, und er wird seinen Mann gefunden haben«, setzte er nach einer Pause, sie und sich selbst entschuldigend hinzu. – »Aber, nein doch, nein. In dir ist keine Schwäche, kein Vorurteil. Du bist rein wie eine Frühlingsblüte. Dein großes, demütig gesenktes Auge, die edle Humanität deiner Mutter sind mir Bürgen; du bist, deinem ritterlichen Namen zum Trotz, ein Kind deiner Zeit; du verschmähst nicht das bürgerliche Gewerbe eines Gatten unter dem Ehrenmantel der Bildung. Indessen – solltest du – fändest du – hättest du – o, nur ein Wort – Geliebte – nur einen Wink – und ich opfere dir meinen Stammbaum, ich verpachte die Apotheke, ich kaufe mir ein Rittergut; Blanka, ich mache dich zur Edelfrau.«[394]

Die Uhr schlug halb sieben; Herr Hollunder mußte sein Selbstgespräch beenden, soviel er noch auf dem Herzen hatte; doch fühlte er auch jetzt schon sich erleichtert und frei; seine Werbung war so gut wie angebracht, seitdem er ihre Berechtigung sich selbst klargemacht hatte. Blanka von Horneck, die er seit seinen Schuljahren im stillen verehrt, mußte ihn jetzt verstehen ohne Worte; er hatte eine sichere Stellung ihr gegenüber eingenommen. Nun nur noch ein Bürstenstrich durch die hochgelockte Tolle über seiner Stirn, ein Flakon Eau de lavande über das seidene Taschentuch gesprengt, die weißen Handschuhe angepreßt, den Karbonari übergeworfen und freudig bebenden Schrittes hinüber in die Loge zur Feurigen Kugel.

Im Vorsaal stieß er auf die alte Justine, die seine Kinderfrau gewesen war und nun das Hausregiment führte. »Was machst du hier auf dem zugigen Korridor?« fragte er gütig, »du wirst dich erkälten, liebe Muhme.«

»Ich stehe Wache, Herr Hollunder«, versetzte die Alte, mit weniger Freundlichkeit als ihr Herr.

»Du stehst Wache? Wache gegen wen?«

»Gegen die gottlosen Buben, die Lehrlinge unten.«

»Gegen meine jungen Herren?«

»Ja, gegen die ausverschämten jungen Herren, just gegen die.«

»Aber erkläre mir, Muhme – –«

»Nun, was ist da viel zu erklären? Der Herr Hollunder waren wieder einmal im Zuge mit einer Predigt; da laure ich dann auf, um die Schlingel fortzujagen, wenn sie auf dem Wege nach dem Kräuterboden hier am Schlüsselloche horchen und kichern, die nichtsnutzige Brut!«[395]

»Spreche ich wirklich laut, wenn ich allein und in Gedanken versunken bin, Justine?«

»Laut und vernehmlich wie von der Kanzel herab, mein Herr Hollunder. Aber nur nicht geniert; ich passe auf. Und was mich anbelangt, meine Ohren müssen in der letzten Zeit gewaltig schwach geworden sein; ich habe dicht am Schlüsselloch den Zusammenhang heute nicht unterscheiden können.«

Herr Hollunder lächelte. Das kommt vom Alleinsein, dachte er bei sich selbst. Man wird sein eigener Unterhalter, man wird am Ende noch ein Egoist. Übrigens glaube ich wirklich, daß ich zum Redner geboren bin! »Ärgere dich nicht, alte Seele«, tröstete er darauf mit freundlicher Würde seine alte Duenna, »ärgere dich nicht, wenn die jungen Herren mich einmal wieder belauschen sollten. Sie werden nichts Ungeziemendes aus meinem Munde vernehmen. Ein alter Römer hat einmal gesagt«, – so setzte er im Fortgehen mehr an sich selbst gerichtet hinzu, – »er möchte von Glas sein, daß seine Mitbürger jederzeit den Grund seiner Seele überblicken könnten. Es gibt auch deutsche Männer, die wie dieser Römer denken!«

Herr Hollunder stand schon unter der Tür, als er sich noch einmal zurückwendete, um seiner Wirtschafterin zuzurufen:

»Laß es heute, am Sylvester, den jungen Herren ja an nichts fehlen, liebe Muhme. Spare keine feine Zutat beim Heringssalat, weil ich ihn nicht mit verzehre. Der kleine Keller ißt so gern Kuchen. Sei mir beileibe nicht knauserig mit Stollen und Pfefferscheiben, hörst du, Alte. Du aber, treue Seele, bleibe mir ja nicht etwa auf, bis ich[396] zurückkehre. Schlafe gemächlich hinein in das neue Jahr, in welchem der liebe Gott dich erhalten möge frisch und kräftig wie bisher.«

Herr Hollunder ging; die alte Justine wischte sich eine lange Weile die Augen.

»Welch ein Herr!« schluchzte sie. »Der richtige Engel, mein Phosphorus! Und wenn ich dermaleinst vor Gottes Thron erscheine, werde ich sagen: Ich habe ihn aufgezogen! und voller Gnaden empfangen werden. Großmütig wie ein Löwe. Die ausverschämten Bengel soll ich noch extra traktieren!«

Währenddessen nahm Herr Hollunder den Weg durch seine Apotheke. »Ich kann diesen festlichen Abend nicht in Ihrem Kreise feiern, meine Herren«, sagte er, indem er seinem Provisor die Hand drückte. »Ich verlasse mich, wie in allen Stücken, auf Sie, mein lieber Speck. Machen Sie freundlich den Wirt an meiner Statt. Er versteht sich auf einen kräftigen Punsch so gut wie auf jedes andere heilsame Gebräu. Sie können ihm vertrauen, meine jungen Herren. Ich wünsche Ihnen allen einen fröhlichen Eintritt in das neue Jahr!«

Die jungen Herren wünschten desgleichen und aufrichtigen Herzens; denn niemals hatten Lehrlinge einen gütigeren Lehrherrn gehabt als die des kaum vierundzwanzigjährigen Herrn Hollunder. Einer wie der andere würde daher durchs Feuer für ihn gegangen sein, wenn er es sich auch nicht zur Sünde anrechnete, auf dem Wege nach dem Kräuterboden an seiner Tür zu horchen und seine Gemütsergüsse zu bekichern.

 

Über unseres Freundes Erlebnisse während der nächstfolgenden[397] Weihestunden müssen wir schweigen, da das Mysterium des königlichen Baues dieselben deckt. So viel darf ohne Treubruch indessen ausgeplaudert werden, daß Blanka von Horneck, die nebst ihrer Mutter, der Witwe eines ehemaligen Bruders, eine Ehreneinladung erhalten hatte, ihm niemals so holdselig erschienen war wie heute in ihrem weißen Gewande mit den lichtblauen Schleifen. »Blau, die Farbe des Himmels und Ihrer Augen, die Farbe der auserwählten Seelen«, wie er ihr während seiner Tischnachbarschaft zuflüsterte, indem er einen verschämten Blick auf sein blaues Gilet fallen ließ. Er fühlte sich in einer unbefangeneren Stimmung als sonst ihr gegenüber, trat mit seinen Ansprüchen kühner hervor, und als nach dem feierlichen Neujahrsgruße die Gesellschaft sich trennte, bot er, zu ritterlichem Geleit, beiden Damen von Horneck seinen Arm. Nur die Mutter nahm denselben jedoch an; das Fräulein hüpfte unter dem Vorgeben, daß die Schneebahn für drei Personen zu schmal sei, hinter der voranleuchtenden Laterne der Dienerin.

»Sie haben eine warme Schilderung von dem Werte und der Bestimmung des Weibes entworfen, Herr Hollunder«, sagte nach einiger Zeit die Majorin von Horneck, da sie es für angemessen hielt, ihren Beschützer durch ein anerkennendes Wort über seinen Vortrag zu belohnen. »Möchten Sie das Traumbild Ihrer Seele im Leben verwirklicht finden!« – »Ich habe es gefunden!« fiel Herr Hollunder rasch und feurig ein, stockte aber jählings, errötete dem nächtlichen Dunkel zum Trotz und setzte nach einer Pause mit innigem Klang hinzu: »Auch Sie, gnädigste Frau Majorin, sind mir solch ein erfülltes Traumbild der Seele. Ich habe meine selige Mutter nie gekannt;[398] sooft ich mir aber ein Bild von ihr zu machen suche, erscheint es mir unter Ihrer edlen, hochverehrten Gestalt.«

Was hätte ein junger Mann der Matrone Schmeichelhafteres sagen können. Frau von Horneck drückte schweigend seine Hand; er zog sie an die Lippen, und da sie just vor dem Hause standen, suchte er, sich empfehlend, die der Tochter zu gleicher Huldigung zu fassen. Blanka entzog sie ihm hastig und schlüpfte in die Tür. Dennoch ging unser Freund in einem Rausche von Seligkeit nach Hause. Der warme Handdruck der alten Dame deckte das frostige Ablehnen der jungen. Er träumte in der heiligen ersten Jahresnacht von seiner Mutter im Himmel und von den blauen Augen ihrer Nachfolgerin unter dem Wahrzeichen des Holunderbaums.

 

Frau und Fräulein von Horneck blieben dagegen in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer noch stundenlang wach. Das schöne Kind hatte sich, abgespannt von der langen Abendtafel mit ihren Reden und Liedern, alsobald niedergelegt; die Mutter setzte sich an der Tochter Bett und sprach:

»Der Rückblick aus dieser Nacht in ein abgelaufenes Jahr, in ein ablaufendes Leben, ein unwillkürlich banges Ahnen der Zukunft, hat je öfter je mehr etwas Herzbewegendes. Mir ist es nicht wie ruhen zumute. Ich möchte noch ein Weilchen mit dir plaudern, Blanka; vorausgesetzt, daß du nicht allzu ermüdet bist.«

»O, wenn du zu mir redest, du gute, kluge Mama, da werde ich wieder munter und wenn ich noch so müde bin«, versetzte die Tochter, sich zärtlich an die Mutter schmiegend. »Dir hörte ich zu die ganze Nacht; und wenn du mir erlaubst, liegen zu bleiben, verstehe ich dich noch einmal so[399] leicht und antworte dir viel klüger als beim Sitzen oder Gehen.«

»So laß dein Köpfchen ruhen, kleine Schmeichelkatze«, entgegnete die Mutter. »Denn du könntest dich nicht klar und ernst genug fühlen angesichts einer Entscheidung, die sich kaum über diese Nacht hinaus verzögern lassen wird.«

»Ich, ich mich entscheiden?« fragte Blanka erstaunt. »Über was denn, Mama?«

»Herrn Hollunders Absichten in bezug auf dich scheinen mir unzweifelhaft, Blanka. Es wäre ein großes Unrecht, dem redlichen Manne gegenüber eine Zweideutigkeit oder auch nur ein Hinhalten walten zu lassen. Du mußt dich zu einer Wahl entscheiden, liebe Tochter.«

»Zu einer Wahl? Gibt es denn hier eine Wahl, Mama?«

»Nach meiner Meinung: nein. Aber doch vielleicht nach der deinen. Oder wärest du bereits entschlossen, seine Hand anzunehmen?«

»Hollunders Hand, dieses Narren Hollunder, Mütterchen?«

»Hüte deine Zunge, Blanka. Ich kenne wenig bessere Menschen als Hollunder, keinen, der dir beglückendere Aussichten zu bieten hätte.«

»Als Hollunder? Du scherzest wohl, liebe Mutter?«

»Nein, mein Kind. Ich spreche im heiligsten Ernst, nach strengen Erfahrungen des Lebens. Oder schätzest du diese nimmermüde Güte, diese gleichmäßige Heiterkeit, schätzest du ein unschuldiges, warmes Herz so gering, um dagegen etliche lächerliche kleine Anhängsel in Betracht zu bringen, welche der erste beste Schicksalssturm abstreifen wird? Hollunders Geschmacklosigkeiten sind Auswüchse einer mühelosen Jugend, einer allzu bequemen Lage in[400] kleinstädtisch bürgerlichen Verhältnissen, eines Berufes, der zwischen Gewerbe und Studium die Mitte hält und dem er sich leider bis jetzt nicht mit ausfüllendem Ernste widmet. So verfällt er in Spielereien, in einen mitunter, ich gebe es zu, etwas läppischen Dilettantismus, während junge Edelleute, zumal im Militärstande, während einer langen Friedenszeit wie die unsere – – –«

»Aber, Mama, welch ein Vergleich! Unsere Offiziere – –«

[401]