Für Melanie,
Frau und Freundin zugleich
Ist es möglich, dass man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich, dass man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, sodass sie aussieht wie die Salonmöbel in den Sommerferien?
Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Einleitung
1. Teil
Selbstverlust im Zeitalter der Ablenkung
1. Kapitel
Warum wir anwesend abwesend sind
2. Kapitel
Von Informationsterror und durchwachten Nächten
3. Kapitel
Multitasking als innere Spaltung
4. Kapitel
Gefangen im Netz?
5. Kapitel
Das Selbst im Dschungel der Möglichkeiten
2. Teil
Heikle Kompensationen
6. Kapitel
Identität oder künstliches Selbst?
7. Kapitel
Narzissmus: Ein Star sein, um gesehen zu werden
8. Kapitel
Starre statt Stärke: Das künstliche Selbst des Fundamentalismus
9. Kapitel
Schwarmverhalten: Das künstliche Selbst in der Masse
10. Kapitel
Ich leiste, also bin ich: Funktionalismus und Burn-out
3. Teil
Zu uns selbst zurück – Irrwege und Wege
11. Kapitel
Warum Achtsamkeit allein nicht genügt
12. Kapitel
Warum Selbststeuerung allein nicht genügt
13. Kapitel
Warum AD(H)S nicht nur krank ist
14. Kapitel
Einladung, uns neu kennenzulernen
15. Kapitel
Zehn Wege zu einem neuen Selbst
Anmerkungen
1. Kapitel: Warum wir anwesend abwesend sind
2. Kapitel: Von Informationsterror und durchwachten Nächten
3. Kapitel: Multitasking als innere Spaltung
4. Kapitel: Gefangen im Netz?
5. Kapitel: Das Selbst im Dschungel der Möglichkeiten
6. Kapitel: Identität oder künstliches Selbst?
Kapitel 7: Narzissmus: Ein Star sein, um gesehen zu werden
Kapitel 8: Starre statt Stärke: Das künstliche Selbst des Fundamentalismus
Kapitel 9: Schwarmverhalten: Das künstliche Selbst in der Masse
10. Kapitel: Ich leiste, also bin ich: Funktionalismus und Burn-out
11. Kapitel: Warum Achtsamkeit allein nicht genügt
12. Kapitel: Warum Selbststeuerung allein nicht genügt
13. Kapitel: Warum AD(H)S nicht nur krank ist
14. Kapitel: Einladung, uns neu kennenzulernen
15. Kapitel: Zehn Wege zu einem neuen Selbst
Literatur
Danksagung
Sie sollten gut auf sich achtgeben. Sie sind nämlich der einzige Mensch, mit dem Sie garantiert Ihr ganzes Leben verbringen.
Was witzig klingen könnte, ist ernst gemeint. Ziemlich ernst sogar. Denn das Buch, das Sie gerade zu lesen beginnen, hat ein wesentliches Ziel: Ihre Aufmerksamkeit wieder zu Ihnen zurückzuführen und zu bewirken, dass Sie sich selbst und denen, die Ihnen wichtig sind, künftig mehr Aufmerksamkeit schenken.
Unsere gegenwärtige Epoche, so abenteuerlich und an Möglichkeiten reich sie auch ist, hat nämlich durchaus ein paar Nebeneffekte. Der vielleicht bedeutendste ist der, dass wir immer weniger die Herren unserer eigenen Aufmerksamkeit sind. Die Vielfalt der auf uns eindringenden Reize, die Masse der Werbebotschaften, die Unzahl an Kommunikationswünschen über soziale Foren, Chats und die gute alte E-Mail – sie alle bewirken, dass das moderne Bewusstsein in einem beständigen Reiz-Reaktions-Modus befangen ist und dabei zunehmend das Gefühl für das Wesentliche verliert. Eine Vielzahl an Reizen hat unsere Aufmerksamkeit auf das Außen gelenkt und so von unserem Inneren abgezogen. Vereinfacht könnte man sagen: Je mehr wir nach draußen schauen, desto weniger nehmen wir uns selber wahr. Wir stellen uns zwar mehr dar, aber wir erleben uns weniger. Unsere heutige Zeit lockt uns in einem Maß in die äußere Welt, das ziemlich einzigartig sein dürfte.
Ich glaube, dass wir gegenwärtig viel zu sehr mit dem beschäftigt sind, was uns an Reizen umgibt. Das ist leicht nachvollziehbar. Denn in einer Kultur, für die es normal ist, ständig etwas zu posten und sich immerfort zu zeigen, bleibt für die Wahrnehmung des eigenen Selbst, bleibt für das Selbstgefühl wenig Raum.
Warum aber fällt das so wenigen auf? Fällt es überhaupt irgendwem auf? Ja, das tut es. Aber leider meist zu spät. Dann nämlich, wenn einschneidende Krisen zeigen, dass es an Selbstgefühl fehlt. Wenn wir, wie immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene, keine Ahnung haben, was wir mit uns anfangen sollen. Wenn innere Unruhe und Getriebenheit uns das Gefühl vermitteln, niemals irgendwo anzukommen. Wenn wir tiefe Sinnkrisen erleben, in denen alles, was wir uns erarbeitet haben, mit einem Mal wertlos erscheint. Weil man eben auch Champagner nicht genießen kann, wenn man den Geschmack an allem verloren hat.
Ich werde in diesem Buch deutlich machen, dass in unserer Zeit die Aufmerksamkeit für uns selbst und für das, was uns wesentlich ist, Stück für Stück weniger geworden ist. Dass die Werbe- und Warenwelt im Informationszeitalter zu einer Infiltrationsmaschinerie geworden ist, die unausgesetzt daran arbeitet, uns vom eigentlich Bedeutsamen abzuhalten. Und dass wir, ihrem Wertmodell folgend, zugleich begonnen haben, uns an etwas zu orientieren, was niemals unsere Orientierung sein dürfte: an den Maschinen mit ihrer scheinbaren Unfehlbarkeit. Ihrer ständigen Arbeitsbereitschaft. Und ihrem gänzlichen Mangel an Selbstgefühl. Maschinen aber bekommen keine Sinnkrisen. Wir schon.
Aufmerksamkeit ist der heißeste Stoff unserer Zeit. Begehrter als jede Droge, wesentlicher als jeder materielle Gewinn. Jeder will sie, keiner kommt ohne sie aus. Sie ist die Währung, in der heute Gewinn und Verlust gemessen werden. Aufmerksamkeit ist aber noch mehr. Sie ist die primäre Ressource unserer Beziehungen; etwas, ohne das wir verdorren wie weggeworfene Blumen in der Mittagssonne.
Als Beziehungswesen kommen wir auf die Welt. Und hören nicht auf, es zu bleiben. Wir wissen, dass ein Baby, dem niemand Aufmerksamkeit schenkt, stirbt. Und ein Erwachsener? Nun, er stirbt nicht, das nicht. Aber er verödet allmählich und beginnt schleichend, seine Freude am Leben zu verlieren.
Aufmerksamkeit: Sie ist es, um die alle ringen und die jeder will. Und es sind nicht nur Menschen, die diesen Kampf führen. Sondern mehr denn je Geschäfte, Marken, Unternehmen, Konzerne. Sobald ich meinen E-Mail-Account öffne, sind sie da: der Weinversand und das Hotelportal, der Indie-Club und das rührige Antiquariat, die Klatschreportage und das Angebot für ein heißeres Sexleben. Und auch wenn ich medienabstinent wäre, käme ich nicht davon. Wer heute in eine beliebige Stadt einfährt, auf den dringt gleich nach der Autobahn eine Vielzahl von Werbebotschaften ein; manche in Plakatform, manche von leuchtenden Screens.
Was geschieht, wenn ich denen, die diese Reize setzen, gebe, was sie möchten? Wenn ich lese und anschaue, hineinhöre oder hindurchscrolle, das Geschäft betrete, prüfe und konsumiere? Nicht viel, außer dass ich Zeit verliere. Zeit. Lebenszeit. Meine Zeit. Und zurück bleibt ein flaues Gefühl.
Will ich das? Will ich meine Zeit dafür opfern? Interessiert mich das wirklich, oder vermag ich nur nicht wegzusehen? Denn indem ich mich diesen Reizen zuwende, bekommt in diesem Moment etwas anderes meine Aufmerksamkeit nicht. Mein Kind oder meine Liebste, meine Arbeit oder meine Leidenschaft. Weil meine Aufmerksamkeit nämlich beim Hotelportal kleben geblieben ist, beim Weinhandel oder bei den neuesten Nachrichten aus dem Privatleben des amerikanischen Präsidenten.
Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich mir um die Verteilung unserer Aufmerksamkeit Sorgen mache. Immer häufiger bekommen nicht die unsere Aufmerksamkeit, die sie verdient hätten: unsere Liebsten, unsere Kinder und unsere Freunde. Und auch wir selbst gehen oft leer aus.
In den letzten Jahren ist mir ein Phänomen aufgefallen, das es in diesem Ausmaß früher nicht gegeben hat. Ich praktiziere seit gut 25 Jahren als Therapeut, und wenn man so einen Zeitraum überblickt, fallen einem manche Veränderungen auf. Die Veränderung, die ich meine, ist die, dass Menschen sich immer weniger wahrgenommen fühlen. Nicht etwa unverstanden oder schlecht angesehen, das wäre vertraut, das haben Menschen wohl immer empfunden, die mit ihrem Leben in einer Krise steckten. Aber dass so viele Menschen sich gar nicht mehr gesehen fühlen, das ist neu. Und noch dramatischer ist: Sie sehen sich selbst nicht mehr, sie verlieren das Gefühl für sich selbst.
Als Therapeut beobachte ich, dass immer mehr Menschen die Selbstkompetenz und das Selbstgefühl fehlen. Selbstkompetenz ist die Fähigkeit, die wesentlichen Bedürfnisse in sich wahrzunehmen und auf harmonische Weise für ihre Befriedigung zu sorgen. Ihr Fehlen erkennt man zum Beispiel an einem Verlust an seelischer Tiefe, einem Mangel an Sinn sowie dem Fehlen einer tragfähigen seelischen Basis. Die Symptomträger dieses Leidens sind: Jugendliche, denen anscheinend alles offensteht, und die doch unendliche Schwierigkeiten haben, sich für einen Berufsweg zu entscheiden. Gut verdienende Leistungsträger, die sich mit gedrückter Stimmung, Antriebslosigkeit, körperlichen Beschwerden und gelegentlichen Ausbrüchen von Aggressivität herumschlagen, um nach eingehenden Gesprächen zu dem Schluss zu kommen, sie seien ausgebrannt. Daneben finden sich Menschen, die den Eindruck haben, für andere nicht interessant zu sein – und die sich auch selbst kaum für sich interessieren. Menschen, denen ihr Leben davonläuft und die von der Hoffnung getrieben werden, es vielleicht einholen zu können. Menschen, die nicht mehr zur Ruhe kommen.
Es ist leicht, diese Leiden in Diagnoseschubladen einzusortieren. Natürlich leben wir in einem narzisstischen Zeitalter, selbstverständlich haben Burn-out-Diagnosen etwas mit Depression zu tun. Aber Zuschreibungen wie diese fassen die Wurzel nicht, die dem zugrunde liegt, was sich hier kulturell in verschiedener Gestalt offenbart.
Die Wurzel, von der ich spreche, ist ein Mangel an Selbstaufmerksamkeit und ungeteilter Zugewandtheit. Was ist die Folge dieses Mangels? Nun, ein Mensch, der sich weder wahrgenommen fühlt noch sich selbst wahrnehmen kann, wird wie ein Kätzchen in der Steinwüste veröden. Gewiss, es gibt Surrogate. Man kann natürlich in alle möglichen Chats eintreten, seine Zeit auf Pornoseiten verbringen und zu allem und jedem seinen Datensenf dazugeben. Oder man geht shoppen, arbeitet 24/7, treibt Sport bis zum Umfallen. Unsere Welt bietet unendlich viele Möglichkeiten, sich nicht mit sich selbst zu beschäftigen.
Aber will man das? Sieht so ein gelingendes Leben aus? Oder wäre es nicht an der Zeit, so etwas wie eine neue Innerlichkeit zu begründen und dafür zu sorgen, dass wir mit uns – uns als besonderen und liebenswerten Wesen – wieder mehr in Kontakt treten? Dass wir uns tiefer wahrzunehmen vermögen, um zu erfahren, wer wir eigentlich sind und worum es uns in unserem Leben eigentlich geht?
Die Antwort ist: Ja, unbedingt. Denn es geht gar nicht mehr anders, wenn wir nicht möchten, dass die Gefühle von Ödnis und Sinnleere, die jenseits der bunten Angebotswelt weiter um sich greifen, immer mehr werden. Dass Menschen bereuen, ihre Zeit in die falschen Dinge zu investieren, dass Jugendliche lange Zeiten bei Facebook zubringen, obschon sie wissen, dass das ihre Stimmung nach unten zieht, dass Eltern ihren Kindern weniger Anteilnahme schenken als eingehenden Nachrichten oder als der Notwendigkeit, die ganze Familie schick einzukleiden, das richtige Auto zu fahren und den passenden Urlaub zu buchen. Dass erfolgreiche Geschäftsleute einem Burn-out-Syndrom erliegen, weil sie ahnen, dass sie an irgendetwas vorbeileben. Oder dass schöne alte, aber doch nicht mehr jugendliche Menschen einer Verführung von Jugendlichkeit folgen, die ihnen die besonderen Erfüllungen ihres Lebensalters verwehrt.
Ihnen allen fehlt vor allem eins: Selbstaufmerksamkeit. Denn Selbstaufmerksamkeit ist die Basis für fast alles, was das Leben ausmacht: Eine reife Persönlichkeit zu entwickeln ist ohne Selbstaufmerksamkeit und Auseinandersetzung mit sich selbst nicht möglich. Auch die Selbststeuerung, die in einer Zeit medialer und kommerzieller Aufrüstung immer wichtiger zu werden scheint, braucht Selbstaufmerksamkeit, um gelingen zu können. Denn wie will ich steuern, was ich nur unzureichend kenne? Wo banaler Daten- und Warenaustausch an die Stelle echter Anteilnahme treten und seelische Verödung die Folge ist, da wird endlich auch das Ziel jedes gelingenden Lebens, die Selbstfindung, zu einer Unmöglichkeit.
Ich stelle mit diesem Buch unserer Zeit und unserer Lebensform eine Diagnose, die dazu dienen soll, eine neue Form der Selbstfindung zu begründen. Diese Diagnose wird möglich machen, sowohl das Zustandekommen des Selbstverlusts als auch seine Konsequenzen für unser Lebensgefühl zu ermessen. Andere Epochen haben sich mit den Fragen beschäftigt, wie man sich selbst finden und wie man sich selbst verwirklichen kann. In unserer Zeit sind diese Fragen zwar nicht verschwunden, sie werden aber von anderen Fragestellungen überlagert. So wird in einer Zeit, in der Aufmerksamkeitsstörungen mehr denn je verbreitet zu sein scheinen, der Ruf nach Modellen, die eine bessere Steuerung des eigenen Selbst ermöglichen, lauter.
Selbststeuerung ist wichtig, ohne Frage. Doch wer nur nach Modellen sucht, die die Selbststeuerung verbessern, der lässt die Fragen außer Acht, wer oder was denn hier eigentlich steuern soll und wohin.
Als Hypnotherapeut und Hypnoanalytiker bin ich es gewohnt, Aufmerksamkeit zu bündeln, zu halten und auch zu steuern. Indem meine Arbeit davon geprägt ist, macht sie freilich auch besonders sensibel dafür, wenn etwas kollektiv mit der Aufmerksamkeit nicht stimmt. Was aber ist zu tun, um einer Entwicklung gegenzusteuern, bei der in mächtigem Ausmaß eine der kostbarsten Ressourcen verschwendet wird, die wir einander zu geben vermögen?
Mit diesem Buch möchte ich dazu beitragen, unsere Aufmerksamkeit wieder denen zuzuführen, die sie verdienen. Was hierfür zu tun ist, beginnt mit einer einfachen Fragestellung wie dieser: Wüssten wir, dass Aufmerksamkeit eine begrenzte Ressource ist, wem würden wir sie schenken? Unseren Liebsten? Den Kindern? Einem Tier? Überhaupt der Natur? Uns selbst? Oder doch eher der Yellow Press, den Jingles im Supermarkt und den Banalitätensammlungen im Internet?
Kein seelisch intakter Mensch würde hier antworten, dass die Hauptaufmerksamkeit den Celebrity-Blättchen und dem Internet gelten sollte, während die meisten wohl darin übereinstimmen würden, dass die Hauptaufmerksamkeit diejenigen bekommen sollten, die uns besonders wichtig sind.
Und wir selbst? Wie viel Aufmerksamkeit stünde uns denn wohl zu? Viel, müsste die Antwort lauten, zumindest aber erheblich mehr, als es im Augenblick der Fall ist. Jedenfalls, wenn wir in unserer lauten Konsum- und Maschinenwelt mehr sein wollen als willige Mitläufer einer Entwicklung, die in zunehmendem Maß ohne unsere Einflussnahme abrollt.
Ich habe dieses Buch so aufgebaut, dass jedes Kapitel eine spezielle Fragestellung untersucht. Das macht möglich, dass man auch einzelne Kapitel herauslösen und einzeln lesen kann. Folgen Sie dagegen der Schrittfolge des Aufbaus, so wird in Teil 1 zunächst gezeigt, wie es dahin kommen konnte, dass jene Entfremdung eingetreten ist, die das Kernthema dieses Buches bildet. Ich werde zeigen, in welchen Formen der Selbstverlust, der unsere Zeit prägt, auftritt, worin er im Einzelnen besteht und woran er zu erkennen ist. Und ich werde die wesentlichen Störfaktoren für eine gelingende Aufmerksamkeitssteuerung anhand von Beispielen herausarbeiten. Dabei wird erkennbar werden, wie sehr unsere Maschinenwelt uns seit der Industrialisierung von uns selbst entfernt hat. Anstatt kompensatorisch neue Wege der Bewusstseinsbildung zu suchen, blickten viele von uns entsetzt auf das, was diese Maschinen mit uns anrichteten. Und blieben gleichzeitig so fasziniert von diesen Möglichkeiten, dass sie kaum mehr begriffen, was schon mit ihnen geschah. Die Digitalisierung hat diese Tendenzen noch einmal verschärft.
Teil 2 wird zeigen, wie es zu den Ausformungen dessen kommt, was ich ein »künstliches Selbst« nenne. Dieses entsteht da, wo entweder die wertschätzende, stärkende Aufmerksamkeit wesentlicher Bezugspersonen fehlt, oder aber da, wo die Selbstaufmerksamkeit so sehr geschrumpft ist, dass es zur Herausbildung eines echten Selbst – einer gereiften und weiter reifenden Persönlichkeit – überhaupt nicht mehr kommt. Gegenwärtig gibt es vier Formen eines künstlichen Selbst, die versuchen, den Selbstverlust zu kompensieren: Sie heißen Narzissmus, Fundamentalismus, Schwarmorientierung und Funktionalismus.
Welche Wege aus dem Aufmerksamkeitsverlust gangbar sind und wie eine Überwindung des künstlichen Selbst möglich wäre, eröffnet eine Reihe von Fragestellungen, die im dritten Teil des Buches behandelt werden. So wird ein skeptischer Blick auf die Achtsamkeitspraxis zeigen, dass diese zwar kompensatorische Ansätze bereithält, zur Lösung des Dilemmas aber nicht ausreicht. Dagegen werden wir ausgerechnet in einem Störungsbild, der Aufmerksamkeitsdefizit-/(Hyperaktivitäts-)Störung, kurz AD(H)S, etwas finden, was unserer Selbstregulation auf unerwartete Weise zuarbeitet. Schlussendlich werden Kapitel über Formen der Selbstentdeckung und Wege zu einem neuen Selbst Anregungen geben, uns neu zu finden und im Alltag zu erfahren.
Die seelischen Störungsbilder unserer Zeit zeigen, dass wir, obschon am Leben, doch von uns entfernt sein können. Wie eine durchscheinende Kopie, die neben uns herläuft und für all das steht, was wir hätten sein können. Ich habe mein Buch geschrieben, um diese durchscheinende Kopie wieder mit dem zu vereinen, was wir in Wahrheit sind.
1. Teil
1. Kapitel
Reize, überall. Reize, auf die wir reagieren; Reize, die uns zu steuern beginnen. Denn in unserer Zeit bekommt alles Mögliche unsere Aufmerksamkeit. Nur nicht die, die sie am meisten verdienen. Und am wenigsten oftmals wir selbst.
Denn als Folge der gewaltigen Reizmengen, die tagtäglich auf uns eindringen, verlieren wir zunehmend das Gefühl für das, was in uns vorgeht. Und mehr noch: Alle diese auf uns einströmenden Reize führen untereinander einen Konkurrenzkampf, so als würde eine gewaltige Zahl gieriger Heuschrecken auf ein lächerlich kleines Feld zusteuern, jede Einzelne von der Absicht geleitet, dieses Feld zu ihrem zu machen und es ratzeputz leer zu fressen.
Das Feld, um das es dabei geht, sind wir. Nicht wir als komplexe Personen, sondern unsere Aufmerksamkeit. Um sie ist ein Konkurrenzkampf entbrannt, der in der Menschheitsgeschichte seinesgleichen sucht.
Natürlich sind es keine wirklichen Wesen, die da auf uns zuströmen. Aber reine Datensätze sind es auch nicht. Hinter nahezu allem, was heute unsere Aufmerksamkeit zu erlangen heischt, stehen Vorsatz und Planung, Zielsetzung und Kalkül. Nicht immer mit böser Absicht. Aber immer häufiger mit bösen Folgen.
Ein Kind auf dem Spielplatz. Es möchte zur Rutsche hinüber, die neu lackiert und in schönem Schwung lockt. Der Vater nickt zustimmend und folgt dem vielleicht Zweijährigen durch den Sand hin zur Rutsche. Er weiß, dass das Kind noch zu klein ist, um allein zu rutschen. Behutsam hilft er ihm, die Stufen emporzuklettern, die für seine kurzen Beinchen noch ein bisschen zu weit auseinanderstehen. Endlich ist das Kind oben. Während es sich setzt, hält der Vater seine Hand.
»Los«, sagt das Kind und stößt sich ab. Im selben Augenblick geht ein Signal auf dem Smartphone des Vaters ein. Kurz nur schaut er nach unten, zur Manteltasche hin, und für einen Augenblick lässt er sein Kind los, um nachzusehen, was da eingegangen sein mag. Der Moment, in dem der Vater das Handy zückt, genügt: Das Kind, nicht sicher sitzend, hat sich gleichfalls dem Ton zugewandt, dabei sein Gewicht verlagert und stürzt nun kopfüber über den niedrigen Rand der Rutsche nach unten.
Ein vermeidbarer Unfall? Ohne Zweifel. Eine Ausnahme? Leider nicht mehr. Seit dem Jahr 2007, als der Verkauf mobiler Endgeräte zu boomen begann, haben sich Kleinkindunfälle in dramatischem Maß gesteigert, nachdem sie vorher rückläufig gewesen waren. Als Ursache wird mit großer Sicherheit die mentale Abwesenheit von Eltern angenommen, die mit ihrem Tablet oder dem Smartphone beschäftigt sind.1
Aktuell ist zu erfahren, dass die Unfallrate an Klettergerüsten auf Spielplätzen weiterhin ansteigt, weil die Eltern, die Sicherheitsstellung geben sollten, nicht genügend bei der Sache sind. Sie checken einmal eben eine eingehende Nachricht, machen ein Foto – und schon ist das Unglück passiert.2
Wir denken bei Aufmerksamkeitsstörungen an Kinder, deren Aufmerksamkeit scheinbar rasend hin und her springt. An Jugendliche, die sich außerstande sehen, an einem ungeliebten Thema mehr als nur ein paar Minuten dranzubleiben. Aber denken wir auch an Erwachsene, die nach wenigen Gesprächsminuten nervös auf ihr Smartphone blicken, in der Annahme, sie könnten womöglich etwas verpasst haben? Wir sollten damit anfangen. Denn Aufmerksamkeitsstörungen sind vielleicht das gravierendste in einer ganzen Reihe zeittypischer Störungsbilder, die nicht nur Kinder und Jugendliche betreffen, sondern uns alle.
Die Spielplatzereignisse schockieren deshalb so sehr, weil hier anscheinend einer unserer wesentlichsten Instinkte außer Kraft gesetzt werden kann: der, der uns zur Sorge um unsere Nachkommen treibt.
Tatsächlich ist die Elternperson, der ihr Kind im entscheidenden Moment aus der fürsorgenden Aufmerksamkeit gleitet, auf zwei Weisen in ihrer Aufmerksamkeit gestört. Einmal natürlich hinsichtlich des Kindes, das gesichert werden muss. Sodann aber ist die Elternperson auch von sich selbst entfremdet. Sie nimmt nämlich nicht mehr wahr, wie jene biologisch verankerten Mechanismen, die wir »Instinkte« nennen, in ihr Alarm schlagen. Man könnte daher sagen, eine Mutter oder ein Vater, der/dem so etwas widerfährt, hat einerseits keine hinreichende Selbstwahrnehmung mehr. Und dann ist ihnen auch das verloren gegangen, was ich »erweiterte Selbstaufmerksamkeit« nenne: die Aufmerksamkeit für jene Personen, die uns die liebsten und wichtigsten sind.
Eigentlich sollte es ganz einfach sein. Unsere Instinkte müssten uns warnen vor dem, was uns gefährdet. Doch ganze Industrien arbeiten daran, diese Schutzmechanismen auszutricksen. Am bekanntesten sind hierbei die Methoden der Lebensmittelindustrie. Methoden, die bewirken, dass wir eine Tüte voll leicht und lecker daherkommender Kartoffelchips verdrücken und erst hinterher merken, wie viel Fett wir da geschluckt haben. Dann nämlich, wenn das Völlegefühl einsetzt und wir womöglich ahnen, dass die hauchdünn geschnittenen Scheibchen uns über das, was sie eigentlich sind, durch ihre zarte Gestalt hinwegtäuschen sollen.
Im Fall der von den Smartphones ausgehenden Reizmengen wird der arterhaltende, zur Brutpflege und zur Sicherung aufrufende Instinkt gleich auf mehrere Weisen gehindert. Zunächst durch den Umstand, dass eingehende Informationen uns erst einmal als potenziell wichtig erscheinen. Sodann dadurch, dass unser Vernetzungsgrad abnorme Züge angenommen hat und uns immer weniger erlaubt, zwischen wichtig und unwichtig zu differenzieren. Hier spielt auch die Geschwindigkeit, mit der die Reize eingehen, eine wichtige Rolle. Und endlich hat die Welt der Bilder und der visuellen Stimuli insgesamt eine Tendenz, uns vom Nach-innen-Fühlen und damit von tieferen Gefühlsebenen abzukoppeln.
Ich werde in den folgenden Kapiteln zeigen, wie wir durch alle diese Phänomene begonnen haben, uns von uns selbst zu lösen. Und ich werde sichtbar machen, was dabei mit uns selbst passiert. Denn der Verlust der Selbstaufmerksamkeit bedeutet nicht bloß Fahrigkeit; er ist kein Problem, das sich isoliert betrachten ließe. Vielmehr stellt dieser Verlust unsere ganze Identität infrage, indem nämlich die Ausbildung eines »reifen Selbst«, einer gefestigten Persönlichkeit also, zunächst ans Wahrgenommenwerden und dann an Selbstwahrnehmung und Selbstauseinandersetzung geknüpft ist.
Die modernen Medien haben etwas Ungeheures vollbracht: Sie haben Millionen Menschen miteinander vernetzt, die sonst ohne jede Kenntnis voneinander geblieben wären. Andererseits: Man kann nicht behaupten, dass der Kontakt zwischen den Völkern oder auch nur den Volksgruppen sich hierdurch nennenswert verbessert hätte.
Was jedoch unzweifelhaft gewachsen ist, ist das Bedürfnis, wahrgenommen zu werden. Doch dieses Bedürfnis bleibt oftmals unerfüllt oder wird nur in unzureichendem Maß gestillt. Denn ein Selfie, über Facebook oder Instagram verbreitet, oder tausend What’s-App-Nachrichten stellen unseren »Freunden« zwar ein Bild von uns vor, führen in der Summe aber eher von uns weg.
Was entsteht, ist lediglich eine vermehrte, ja übermäßige Hinwendung an das Außen, der das Selbstgefühl schleichend verloren geht. Ein Bedürfnis, wahrgenommen zu werden, dem aber sein Gegenstück fehlt: der Wunsch, auch andere wahrzunehmen.
So ist eine frappierende Schere entstanden. Denn einerseits begegnen wir Menschen an anderen Enden der Welt mit einer Leichtigkeit, die faszinierend ist. Andererseits aber treffen wir den einzigen Menschen, der für uns wirklich lebenswichtig ist, immer seltener an: uns selbst.
Tatsächlich hat die moderne, schnelllebige, technisierte und an den Erfordernissen des globalen Kapitalismus ausgerichtete Welt eine Selbstentfremdung möglich gemacht, die erschreckt. Diese Selbstentfremdung ist nicht überall akut, und sie betrifft nicht jeden. Aber das ist bei Epidemien auch so und macht diese nicht weniger gefährlich. Entscheidend ist nur, dass die Problematik ganz offenbar immer weitere Kreise zieht und hierdurch den Status einer gesellschaftlich relevanten Problematik bekommt. Gesellschaftlich relevante Krankheitsbilder lassen erkennen, was im Unbewussten einer Lebensform gärt und arbeitet. Sie verweisen auf die Fehler dieser Lebensform, die von den Betroffenen nicht beachtet werden oder sie in ihrem Handlungsspektrum überfordern. Auf das, was eben krank macht an dieser Lebensform. Das bedeutet zwar, dass jede betroffene Person zunächst einmal individuell leidet. Es bedeutet aber auch, dass ihr Leiden nicht ihr Privatproblem ist.
Jede Zeit bringt spezifische Störungsbilder hervor, die sich aus den Lebensbedingungen ergeben. Diejenigen, die die Psyche und unser Verhalten betreffen, sind dabei oft besonders faszinierend. Denn in ihnen spiegelt sich gewissermaßen der Untergrund, das Verdrängte der jeweiligen Epoche. Zu Freuds Zeit war die so genannte hysterische Lähmung ein verbreitetes Phänomen. Diese bestand in einer Unfähigkeit, sich zu erheben beziehungsweise zu gehen, obwohl die Person körperlich vollkommen gesund schien. Die Muskeln der Beine blieben schlaff, die Erkrankten – immer Frauen – blieben in ihren Betten oder auf ihren Chaiselonguen liegen und konnten so auch nur mit Hausbesuchen behandelt werden.
Freud und sein Kollege Josef Breuer konnten zeigen, dass die Lähmung, mit der sie es hier zu tun hatten, auf unerfüllten sexuellen Wünschen beruhte. Diese Wünsche durften nicht an der Oberfläche wahrgenommen, geschweige denn artikuliert werden, sie durften nicht bewusst sein. Denn Freuds Zeit war die Epoche des Viktorianismus, eine Zeit, in der die Sexualität in heute kaum vorstellbarer Weise verdrängt wurde. Insbesondere die weibliche Sexualität schien eine Terra incognita, ein nicht zu betretendes Land, während der männliche Sexus sich in Bordellen oder in außerehelichen Affären erging.
Die sexuelle Verkrampftheit der Viktorianer haben wir überwunden. Gleichwohl hat auch unsere Zeit Mechanismen ausgebildet, die krank machend sind. Und wie bei den Viktorianern werden sie unterschwellig gespürt, aber nicht beseitigt. Was so entstehen kann, sind Phänomene, die man als »kritische Leiden« ansehen könnte. Zu diesen kritischen Leiden gehört neben dem AD(H)S zum Beispiel die Burn-out-Problematik. Beiden sind schon viele eingehende Betrachtungen gewidmet worden, die aber die Tiefendimension dieser Problemfelder noch nicht vollständig ausgelotet haben. Wäre dies nämlich geschehen, so hätte längst deutlicher werden müssen, dass diese Störungsbilder nicht ganz so »gestört« sind, wie es den Anschein hat. Sondern dass sie vielmehr auf ein tieferes Bedürfnis nach Selbstaufmerksamkeit und innerer Stimmigkeit verweisen.
Das trifft auch auf die dritte seelische Problematik, die gegenwärtig als gesellschaftlich bedeutsames Leiden Raum gewinnt, zu. Ich spreche vom Narzissmus. Der in unseren Tagen viel diskutierte Narzissmus entspricht nicht mehr ganz dem, was die Psychoanalytiker des letzten Jahrhunderts darunter verstanden. Vielmehr kompensiert er vor dem Hintergrund der Medialisierung und der Funktionalisierung unseres Daseins jenes fehlende Wahrgenommenwerden, unter dem immer mehr Menschen zu leiden beginnen.
Allen dreien der hier benannten und später noch ausführlich behandelten gesellschaftlich bedeutsamen Störungsbilder ist eines gemeinsam: Sie sind vor dem Hintergrund unserer kulturellen Veränderung mehr als nur Krankheiten oder mentale Problemfelder. Vielmehr sind sie, wie es für gesellschaftlich relevante Krankheitsbilder typisch ist, zugleich ein Leiden und ein Hinweis auf das, was zu ändern wäre.
In meinem Buch Digitale Hysterie habe ich darauf hingewiesen, dass Selbstkompetenz heute wichtiger sein muss als Medienkompetenz. Die Dämonisierung von Computern und Videospielen als angeblich verdummende und krank machende Medien hat nämlich nicht nur keine der Entwicklungen auf dem digitalen Sektor verhindert. Sie hat sogar in sträflicher Weise dazu beigetragen, dass unsere Aufmerksamkeit, anstatt bei uns und unseren Kindern zu ruhen, an den technischen Gerätschaften hängen geblieben ist.3
Ich werde in den kommenden Kapiteln aufzeigen, wie unsere Angleichung an den Rhythmus der Maschinen fundamentale menschliche Prozesse außer Kraft setzt oder blockiert und die Herausbildung dessen, was wir ein »reifes Selbst« nennen, stört oder sogar verhindert.
Wichtig ist hierbei, dass wir den gegenwärtigen Zustand als etwas begreifen, was nicht plötzlich durch Smartphone & Co. aufgetreten ist. Die Aufmerksamkeitsprobleme der Digitalisierung anzulasten, gewissermaßen als Kollateralschaden, ist eine vertraute Denkfigur unserer Zeit. Sie ist jedoch ebenso simpel wie oberflächlich, denn sie ignoriert, dass hinter der Digitalisierung bereits Bedürfnisse standen: das Bedürfnis nach maximaler Vernetzung, nach permanenten Kontakten rund um die Welt, Neuigkeiten möglichst sofort erfahren zu wollen, einkaufen zu können, ohne sich vor der Tür zu begegnen – und am liebsten auch sonntags. Nur diese Bedürfnislage konnte hervorbringen, was dann zum Siegeszug der Digitalisierung führte. Und es ist heute vor allem die übermäßige Befriedigung dieser Bedürfnisse, die jede Menge Probleme hervorbringt. Aktuelle Probleme wie das Anwachsen der Spielplatzunfälle lassen sich zwar noch durch die Verbreitung von Tablets und Smartphones erklären. Doch wer meint, das Fehlen von Selbstaufmerksamkeit und Selbstkompetenz lasse sich ausschließlich mit diesen Geräten erklären, verkennt, dass das Problem in seinen Wurzeln viel älter ist.
Der Kunsthistoriker Jonathan Crary verortet den Ursprung der Aufmerksamkeitsprobleme in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In seinem Werk Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und moderne Kultur wies er nach, wie die Kultur eines angeblich freien Individuums und die beginnenden Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus mit ihrem beispiellosen Angebot an visuellen und auditiven Reizmechanismen zu einem Auseinanderdriften führten: Einerseits versprach das Maschinenzeitalter neuartige Chancen der Selbstpräsentation und des schnellen Geldmachens, andererseits schuf die ständig anwachsende Summe an Möglichkeiten eine neuartige Atmosphäre der Überreizung.4
Der Dichter T. S. Eliot beschrieb das Problem des modernen Menschen später als »abgelenkt von der Ablenkung durch Ablenkung«. Eliot gehörte damals zu denen, die die Insignien der Moderne – gesteigertes Tempo, verteilte Kommunikation, Auflösung der Grenzen der Person, Internationalität – als heikel erkannt hatten. Und die bemerkten, dass bei dem, was die Moderne mit sich brachte, der in sich ruhende Mensch auf der Strecke blieb. Dies hatte früh auch der Heidelberger Neurologe Wilhelm Heinrich Erb erkannt, dessen akademische Rede »Ueber die wachsende Nervosität unserer Zeit« dem modernen Menschen bereits 1893 ein »Hetzen und Jagen« bescheinigte.5
Doch nicht nur die nervöse Unruhe der Gegenwart begann sich damals schon abzuzeichnen. Auch die uns für das beginnende 21. Jahrhundert typisch scheinenden Herausforderungen standen bereits im Raum. Der Historiker Joachim Radkau hat darauf hingewiesen, dass die Themen, die uns heute die meisten Probleme zu bereiten scheinen, um 1900 alle schon da waren. Elektrifizierung und globaler Handel existierten bereits, und digitale Revolution und Globalisierung setzten bloß fort, was damals begann.6 Wer heute den Blick nur auf die zeittypische Technik richtet, verkennt daher, dass die von uns selbst wegdriftende Aufmerksamkeit Folge eines langen Entwicklungsprozesses ist. Und dass überdies aus einer Technologie nichts wird ohne eine ihr zugrunde liegende Bedürfnislage.
Wenn wir der schwindenden Selbstaufmerksamkeit nachgehen, könnten wir fragen, worin Aufmerksamkeit selbst denn eigentlich besteht. Der Psychologe Harold E. Pashler, Professor an der California State University in San Diego, befand einmal, dass wir über Aufmerksamkeit mit einer solchen Vertrautheit reden, als wüssten wir genau, was sie ist.7 Tatsächlich ist Aufmerksamkeit eine solch basale Funktion, dass sie keiner näheren Erkundung wert erscheint. Ohne sie würde es uns schlicht nicht geben. Warum also sollte man über sie nachdenken?
Vielleicht, weil es eine sehr bedeutsame Rolle spielt, wohin sich unsere Aufmerksamkeit richtet. Noch der scheinbar unaufmerksamste Mensch verfügt nämlich über Aufmerksamkeit. Nur ist diese Aufmerksamkeit anders gebunden, als wir das erwarten würden. Womöglich ist sie eher auf das Innere als auf das Äußere gerichtet. Und macht damit so wenig Kommunikation erforderlich.
Es liegt nahe, anzunehmen, dass Aufmerksamkeit irgendetwas mit Interesse zu tun hat. Aber was? Auch Phänomene, die kein positives Interesse wecken, bekommen ja Aufmerksamkeit. Unerwartete Störreize zum Beispiel oder auch provokativ eingesetzte Handlungen. Lautes Gähnen während eines Gottesdienstes wird das Interesse der Nachbarn vermutlich wecken. Aber geschieht dies aus positivem Interesse?
Interesse ist dort beteiligt, wo es sich um Aufmerksamkeit aus Neigung handelt. Aber es gibt auch deren Gegenstück. Eine Aufmerksamkeit, die nichts mit Neigung, Freude, Anteilnahme oder überhaupt irgendeiner Form von positivem Interesse zu tun hat. Sondern nur damit, dass es nicht gelingen will, die eigene Aufmerksamkeit zu steuern.
Das passiert zum Beispiel da, wo wir Lärm ausgesetzt sind. Lärm zu ignorieren ist ungemein schwer. Und in der Mehrzahl der Fälle gelingt es nicht. Wie also Aufmerksamkeit definieren? Man könnte sagen, Aufmerksamkeit bedeutet Hinwendung. Diese Hinwendung kann bewusst oder unbewusst sein, stärker oder schwächer ausgeprägt (wir sprechen dann davon, wie konzentriert jemand ist), sie kann flüchtig sein oder gehalten werden. Nicht immer ist wirkliches Interesse an ihr beteiligt (Beispiel: der Lärm), wo aber Interesse zur Hinwendung hinzutritt, da wird die Aufmerksamkeit dichter, wir sind konzentrierter.
Und Selbstaufmerksamkeit? Selbstaufmerksamkeit wäre, dieser Definition folgend, Hinwendung zu sich selbst. Eine Hinwendung, durch die wir uns wahrnehmen und fühlen können, durch die wir wissen, was in uns vorgeht, die uns ermöglicht, die wesentlichen Reize, die unser Organismus uns sendet, zu erkennen, und die uns die Chance gibt, unseren inneren Kosmos zu ergründen. Kurz: Selbstaufmerksamkeit macht, dass wir uns selbst ein Erlebnis sind.
Selbstaufmerksamkeit meint auch, ein Interesse an sich zu haben. Dies hat durchaus banale Seiten. Zum Beispiel, dass man auf seinen Körper achtgibt. Dass man nicht mehr trinkt, als dem Wohlbefinden nützt, ist noch eher selbstverständlich, aber wie viele von uns bekommen Kopfweh von Fehlhaltungen, die sie früher hätten spüren und korrigieren können, wenn sie nur eben – ja, selbstaufmerksam gewesen wären. Aufmerksam zu sein für das, was Erfahrungen in uns auslösen. Nachzuspüren, wie ein Bild, ein Film, eine Lektüre in uns weiterwirkt. Aber auch aufmerksam zu sein für das, was in uns selbst erscheint. Unsere Fantasien, unsere tieferen Wünsche. Erkundungen wie diese helfen dabei, das nur vordergründig Wichtige von dem zu unterscheiden, was uns eigentlich wichtig ist.