Meinen Kindern,
der Mutter meiner Kinder
& meinen Eltern
Einführung
Eins_
Warum Väter so bedeutsam sind
Die unterschätzte Rolle des Vaters
Vom Wochenendpapa zur gleichberechtigten Bezugsperson
Persönliche und gesellschaftliche Folgen der »Vaterlosigkeit«
Zwei_
Wie das eigene Vaterbild ins Heute wirkt
Vom Vatersein in der eigenen Familiengeschichte
Die Mutter als erste Bezugsperson
Wenn die eigenen Eltern Großeltern werden
Drei_
Was im Leben mit Kindern wirklich zählt
Beziehungs- und bedürfnisorientiert erziehen für Väter
Bindung entsteht durch liebevolle Führung
Jeder Mensch braucht Wertschätzung
Grenzen setzen ohne Schimpfen, Erniedrigen und Gewalt
Verhalten und Person trennen
Alternativen zu Strafen und Konsequenzen
Vier_
Auf der Suche nach der guten Vater- Kind-Beziehung
Wir müssen nicht die besseren Mütter werden
Begleiten statt erziehen
Gemeinsame Lösungen finden
Entschuldigen als echter Back-up-Plan
Bedürfnisorientierung beginnt bei uns selbst
Verantwortung, Präsenz und Verlässlichkeit als Haltung
Jungen + Mädchen = alles gleich?
Achtsamkeit und Social Media
Partnerschaftlich Eltern sein
Jenseits von Rollenklischees
Gute Betreuung ist das A und O
Fünf_
Bewusst Vater sein
Eigene Wege finden
Das Ziel: Familienleben selbstbestimmt gestalten
Weniger ist mehr
Halb perfekt ist gut genug
Mental Load teilen – aus Vätersicht
Zeit ist das schönste Geschenk
Grenzen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie
Sklaven fremder Erwartungen?
Sechs_
Selbstfürsorge: mehr als Wellness für Männer
Mit dem Kind lernen
Wie geht es mir wirklich?
Schlaf gut! Routinen und Rituale, die stärken
Leichtigkeit, Humor und Spiel
Der Junge in mir muss Heimat finden
Die eigene Gefühlspalette
Ich und die Welt da draußen
Sieben_
Getrennt Vater sein
Respekt und Achtsamkeit
Allein- vs. getrennterziehend
Das Wechselmodell
Was die Vater-Kind-Beziehung stärkt und erhält
Acht_
Meine Vision für das Vatersein im 21. Jahrhundert
Nachwort
Dank
Anmerkungen
Literatur
Adressen und Links
Über den Autor
Das Leben mit Kindern kann wundervoll sein, inspirierend und herausfordernd, ehrlich.
Als ich die Möglichkeit bekam, ein eigenes Buch zu gestalten, war mir eine Frage sofort präsent: Warum noch ein weiteres Buch zu Vätern? Gibt es nicht Dutzende da draußen? Gibt es nicht Hunderte Erziehungsratgeber und Eltern-Blogs? Haben wir nicht, wenn wir wollen, mehr als genügend Unterstützung da draußen?
Ich stellte fest: Ja, das haben wir. Aber die meisten sind technische Ratgeber, eine Art Gebrauchsanweisung für den Umgang mit dem Kind, vor allem in den ersten Lebensjahren. Diese Ratgeber sind wichtig, keine Frage, und einige richten sich auch unmittelbar an uns Väter. Doch mir geht es um einen Begleiter hin zu einer neuen inneren Haltung, einem größeren Gefühl dafür, was Erziehung eigentlich mit uns zu tun hat, und um eine Sammlung an Impulsen, die unser Verständnis von Eltern-Kind-Beziehung erweitern soll.
Dieses Buch soll den Versuch wagen, eine »männliche« Position auf die Anforderungen und Grenzen des Vaterseins im 21. Jahrhundert zu formulieren. Auf der Grundlage aktueller Forschung möchte ich meinen Beitrag zur aufrichtigen Reflexion herausfordernder Themen im Vatersein leisten. Ich bin ziemlich sicher, dass ich mit 20 Jahren Abstand und wesentlich mehr Zeit einiges anders und neu sehen würde. Doch dieses Buch ist nicht der Versuch, unumstößliche Ratschläge für die Ewigkeit zu geben. Es ist mein Versuch, inmitten der täglichen Betroffenheit, der Freude und Überforderung Gedanken und Impulsen nachzugehen, die für Väter in ähnlichen Situationen hilfreich sind. Im Grunde ist es auch ein Versuch, die bestmögliche Basis für meine eigenen Kinder zu legen. Wohl wissend, dass ich in vielen Bereichen unzulänglich und begrenzt bin.
Mein Buch soll eines dieser Bücher sein, bei denen wir uns gewünscht hätten, unsere Eltern hätten sie gelesen. Eine Sammlung von Perspektivwechseln, Hintergründen und Erfahrungen anderer Väter sowie meiner eigenen Beratungsarbeit und meiner persönlichen Auseinandersetzung mit meiner Rolle als Vater.
Die Kernbotschaft ist, dass wir Väter wesentlich für die Entwicklung unserer Kinder sind und dass wir, die Väter im 21. Jahrhundert, diese Rolle sehr viel bewusster ausfüllen können als Väter früherer Generationen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn wir lernen wollen, selbstreflektiert und achtsam unsere Kinder zu begleiten.
So adressiert das Buch zentrale Elemente der – momentan für Mütter noch deutlich präsenteren – Haltung der Bindungs- und Beziehungsorientierung. Auf dieser Grundlage möchte ich Möglichkeiten aufzeigen, wie Väter eine stabile und liebevolle Beziehung zu ihren Kindern aufbauen und halten können.
Um euch, liebe Väter, auf dem Weg in ein erfüllendes Vatersein zu begleiten, möchte ich gemeinsam mit euch folgende Fragen beantworten:
Welche Auswirkungen haben meine Prägung und meine Haltung auf mein Vatersein?
Wie gelingt es mir, eine authentische Vaterpräsenz und eine gute Bindung zu meinem Kind zu etablieren?
Wie halte ich meine eigenen Grenzen und Bedürfnisse im Blick, um wertvoll in Partnerschaft und Vater-Kind-Beziehung zu sein bzw. zu bleiben?
Nun könnte ich so ein Buch mit 20 Jahren Abstand schreiben, ich könnte aus der Perspektive eines Großvaters beschreiben, was im Leben als Vater wirklich zählt. Aber ich habe mich für dieses Buch entschieden zu einer Zeit, in der meine Kinder noch verhältnismäßig klein sind. Nach wie vor fühle ich jeden Tag die Belastungen, die Unsicherheiten, aber auch die tiefe Freude und Nähe, die mir meine Kinder ermöglichen. Täglich vor neuen Herausforderungen zu stehen, an meine Grenzen zu kommen, die Entwicklung meiner Kinder zu beobachten, schien mir entscheidend für die Realitätsnähe meines Buches.
Durch die intensive Arbeit mit Vätern, vor allem in Krisen, habe ich gemerkt, dass meine eigenen Erfahrungen nicht so einzigartig sind, wie ich dachte. Vieles, was mich beschäftigt und an Grenzen gebracht hat, beschäftigt auch andere Väter. Viel Schmerz, viel Hilflosigkeit und viele Ansprüche bleiben unartikuliert und ohne Resonanz, wenn ich mich nicht mit anderen Vätern austausche. Wie auch in meinen Vätergruppen und -seminaren möchte ich mit diesem Buch dazu beitragen, dass es einen Austausch zwischen bewussten Vätern gibt, bei dem ich in der Lage bin, offen über meine eigenen Begrenzungen, Prägungen und Irrwege zu berichten. Mit meiner eigenen Geschichte, aber auch mit vielen Stimmen aus meinen Vätercoachings will ich Väter dabei unterstützen, den Mut für einen eigenen Weg zu finden, ihn jeden Tag weiterzuentwickeln und ihre eigene souveräne Haltung zur Erziehung zu entdecken.
*
Durch meinen Entschluss, mich in diesem Buch ausschließlich mit Vater-Kind-Themen zu beschäftigen, hatte ich die wunderbare Möglichkeit, einen sehr schnellen, sehr tiefen Einstieg in die vielen relevanten Themen zu finden, die das Leben mit Kindern mit sich bringt. Auch durch meine Arbeit mit Vätern und Familien und auf meinem eigenen Weg zum bewussten Vatersein wurde mir klar, dass es neben den unzähligen großartigen Expertinnen auch viele hervorragende männliche Autoren gibt, die mich zutiefst inspiriert und beeinflusst haben. Hier möchte ich stellvertretend für alle Jesper Juul nennen, der vor allem durch seine vier Werte für mich die Möglichkeiten meiner Vaterschaft erweitert, den Fokus verändert und mich dabei unterstützt hat, Gleichwürdigkeit, Integrität, Authentizität und Verantwortung zum Alltag meiner Vater-Kind-Beziehung und meiner Arbeit mit Männern und Familien zu machen. Die Stimmen von Jesper Juul, Gerald Hüther, Mathias Voelchert, Nicola Schmidt und vielen weiteren großartigen Autor*innen und Referent*innen werden an vielen Stellen in diesem Buch hörbar. Ihnen allen gebührt mein großer Dank.
Dennoch: Auch wenn ich in den letzten Jahren Dutzende Erziehungsbücher lesen konnte, war nichts so entscheidend wie die unmittelbare Resonanz und Erfahrung mit meinen Kindern. Sie ist es auch, die meine Suche leitet: das Gefühl »Es fühlt sich gut an!«. Hinzu kam die existenzielle Krise unserer familiären Trennung, das Eingeständnis, dass ich, wir gescheitert waren und dass es vieles gibt, was ich »bearbeiten« muss, um wirklich präsent, liebevoll und zufrieden Vater sein zu können. Dazu gehörte für mich vor allem die Erkenntnis, dass ich gerade nicht alles bereits weiß, dass mein Umgang mit herausfordernden Situationen nicht dazu geführt hat, Verbindung herzustellen, sondern eher dazu führte, mich mehr von mir selbst und den Menschen in meiner Familie zu entfernen. Ich begann zu ahnen, wie hilfreich es ist, von der möglicherweise männlichen Perspektive, immer irgendwelche Lösungen finden zu wollen, in eine Perspektive des Beobachtens und des Fühlens zu kommen. So ist vieles, was ich in diesem Buch formuliere, als Anregung gedacht, als Möglichkeit, sich selbst zu positionieren, als Orientierung zur Selbstreflexion. So kann er gelingen, der Weg hin zu einer bewussten, liebevollen und authentischen Vater-Kind-Beziehung.
Gerade durch die Erfahrung meiner Trennung und durch entscheidende Impulse in der Beziehung zur Mutter meiner Kinder habe ich Perspektiven gewinnen können, die mir noch kurze Zeit vorher undenkbar schienen. Schmerzvoll habe ich erkannt, dass viele der Konflikte, die ich in Beziehungen hatte, sehr viel mit mir selbst zu tun hatten. Dass vieles, was mein Leben bestimmt, sehr viel mehr mit meinen eigenen Bindungs- und Beziehungserfahrungen sowie Lebensentscheidungen zu tun hat, als ich das wahrhaben wollte.
Als junger Vater, der plötzlich damit konfrontiert war, dass sich sämtliche Freiheiten reduzierten, realisierte ich, dass ich einiges ändern muss, damit ich zufrieden, liebevoll und achtsam meine Kinder begleiten kann. Dazu gehörte die Erkenntnis, dass ich in Beziehungen, besonders zu meinen Kindern, nur gut und präsent sein kann, wenn es mir selbst gut geht, und wenn ich die wesentlichen Themen in mir präsent und »im Griff« habe.
Eine Erfahrung, die viele Väter früh machen, ist, dass sie unter Stress in Muster geraten, die sie für zutiefst unangebracht halten, die gewaltvoller sind, als sie je gutheißen würden. Dennoch fehlt es ihnen, und da ging es mir sehr ähnlich, an dem Bewusstsein, woher diese Reaktionen kommen und wie sie besser damit umgehen können. Als Männer werden wir schon in frühen Jahren dazu gebracht, unsere Emotionen nicht ernst zu nehmen, sie nicht auszuleben und uns selbst dadurch als falsch zu erfahren. Oftmals verlieren wir dadurch den Kontakt zu unseren »wahren« Gefühlen. Wir haben keine Möglichkeit, Gefühlsausbrüche angemessen wahrzunehmen, auszudrücken, zu regulieren. Wir spüren, dass die alten Muster, die oft Strafen und Gewalt beinhalteten, nicht mehr passend sind. Nicht für unsere eigene Gefühlsregulation und auch nicht für die unserer Kinder.
Vater sein ist nie ein abgeschlossener Prozess. Jeden Tag kann ich neue Dinge an mir selbst, an meinen Kindern, in meiner Partnerschaft erkennen. Wenn ich dabei Entwicklung nicht als einseitigen Prozess meiner Erziehung des Kindes sehe, sondern als gemeinsamen ständigen Lernprozess, werde ich im Verlauf meines Elternseins ein besserer Vater, ein besserer Partner, ein besserer Mensch werden.
Als Vater muss ich meine eigenen Stärken, aber auch meine Unsicherheit, meine Hilflosigkeit anerkennen und damit umgehen. Die meisten Schwierigkeiten in Beziehungen, besonders zu unseren Kindern, haben sehr viel mehr mit mir selbst zu tun als mit dem Fehlverhalten der Kinder. In diesem Buch geht es nicht darum, uns selbst, unseren Eltern, unseren Kindern, unseren Partner*innen Schuld zuzuweisen. Es geht darum, aus dem, wie die Situation jetzt ist, wie sie geworden ist, zu lernen und Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.
Dazu gehört auch, anzuerkennen, wertzuschätzen, was wir mitbekommen haben, was uns zu denen macht, die wir heute sind. Dazu gehört, neu und bewusster den Fokus auf unsere Beziehungen zu legen und nicht auf die permanente Bewertung von Verhalten. Erst wenn ich selbst eine klare Haltung zu meinem Vatersein habe, letztlich also zu mir selbst und zu meinen Kindern, kann ich eine liebevolle und entspannte Führung übernehmen. Erst dann kann ich die Entwicklung meines Kindes begleiten, ohne dabei seine Würde zu untergraben.
Dieses Buch soll dabei unterstützen, besser zu verstehen, wer wir sind, warum wir so reagieren, wie wir es tun, und wie wir zum besten Vater werden, der wir, mit all unseren Beschränkungen, sein können. Damit sich unsere Kinder so entwickeln können, wie wir uns das vielleicht auch für uns selbst gewünscht hätten.
Die Zeit mit unseren Kindern geht so viel schneller vorbei, als wir erwarten würden. Die Tage sind so kostbar, so unwiederbringlich – die Geschenke, die wir empfangen können, so wesentlich. Nutzen wir sie! Die Zeit, gerade mit kleinen Kindern, ist nicht zu wiederholen. Natürlich wissen wir das alle, und doch denken wir oft genug: Später nehme ich mir die Zeit für dich! Sobald es entspannter ist, geht es los! Sofort danach ändere ich was! Nach der nächsten Stressphase wird es besser …
Wer kennt das nicht? Ernüchternd ist dann für viele von uns der Moment, in dem wir merken, dass es zu spät ist. Dass wir vieles so gern noch getan hätten. So viel an uns selbst, unserer Lebenssituation und an unserer Beziehung zum Kind verändern wollten. Doch dann war es zu spät. Die Annäherung und der Aufbau einer tragenden Beziehung werden immer schwieriger.
Deshalb: JETZT ist die Zeit, uns mit unseren Kindern zu beschäftigen, sie wirklich aufmerksam und lernend zu begleiten. JETZT ist die Zeit, uns mit dem auseinanderzusetzen, was unsere Beziehungen belastet, was uns freier und zufriedener machen kann. JETZT ist die Zeit, klare Prioritäten zu setzen und radikale Schritte zu gehen.
Wir haben als Eltern die großartige Möglichkeit, Vergessenes wiederzuentdecken, uns emotional zu öffnen und als Mensch weiterzuentwickeln. Es gibt kein größeres Geschenk für uns und für unsere Kinder.
Eins_
»Väter schätzen die Bedeutung ihrer Beziehung zu den Kindern oft viel niedriger ein, als sie tatsächlich ist. Sie haben zu wenig Selbstbewusstsein.
Oft ist da aber viel Substanz, vieles, was Väter ungeheuer
wichtig und wertvoll für ihre Kinder macht!« Väterzentrum Berlin1
Auch wenn ich aus vielen Familien höre, dass es einen Willen gibt, partnerschaftlicher und gleichberechtigter miteinander umzugehen, entsteht oft noch der Eindruck, dass Väter doch eher Mütter zweiter Klasse sind. Auch gesamtgesellschaftlich scheint es zwar angemessen, bewusste Väter stärker in die Öffentlichkeit zu bringen, dennoch werden selbstverständliche Dinge bei Vätern gelobt, während anderes, möglicherweise wenig Gelungenes, erwartungsvoll abgewertet wird, nach dem Motto: Na ja, ein Vater halt. Wo ist denn eigentlich die Mutter?
Immer noch wird die Frage gestellt: Können wir Väter überhaupt eine vergleichbare Bindung aufbauen, wie das (im besten Falle) Mütter tun? Ja, wir können!
Nun brauche ich wahrscheinlich niemandem, der dieses Buch liest, erklären, dass Väter das Recht darauf haben, eine enge Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen, und dazu auch ohne Weiteres in der Lage sind. Väter müssen dafür von Anfang an die Gelegenheit bekommen – und sie sich auch nehmen –, eigenverantwortlich Zeit mit ihren Kindern zu gestalten. Nur so erfahren sie sich selbst als wesentlich, kompetent und bedeutsam in ihrer Rolle. Nur so lernen sie eine eigene, tragende Beziehung aufzubauen und nehmen sich selbst als souveräne Bezugsperson wahr.
Dazu ist es wichtig, dass es nicht nur um »Abenteuer« geht, sondern um wirkliche Alltagsverantwortung. Nicht selten müssen sich Väter auch diese Gelegenheiten bewusst suchen. Manchmal lassen sie sich dabei von kleinen Hindernissen und Fehlern abschrecken. Stattdessen sollten sie immer mehr die Möglichkeiten nutzen, mit und von ihren Kindern zu lernen, sich mit ihnen weiterzuentwickeln. »Gerade die Tatsache, dass ein Vater anders mit seinem Kind umgeht, es anders tröstet und anders mit ihm spielt als die Mutter, ist ausschlaggebend für die kindliche Entwicklung«, schreibt Barbara Streidl in ihrer lesenswerten Streitschrift Lasst Väter Vater sein.2 Sie ist da sehr deutlich: Viele Väter wissen gar nicht, dass sie unverzichtbar sind. Diese Aussage deckt sich stark mit dem, was ich in meiner Arbeit wahrnehme: Männer mit Familienverantwortung sehnen sich nach einer gleichberechtigten Bedeutsamkeit für ihre Kinder, sehen sich aber oft genug noch in einer Rolle, die eher der des Versorgers, des Gehilfen und Babysitters entspricht. Wenn sie ihre Vaterrolle beschreiben, sind Worte wie »unklar«, »nachgeordnet« und »unsicher« keine Seltenheit.
Auch wenn unsere Kinder volljährig sind, hört unsere Vaterschaft nicht auf, sie kann sich immer noch stark transformieren, auch wenn zuvor dafür keine Perspektive bestand. Und selbst Kinder, die in ihren ersten Jahren keinen »präsenten« Vater hatten, entwickeln dann ein Vaterbild, das gerade durch den Kontrast lebenslang wirksam sein kann.
Anna Machnin hat sich der Herausforderung gestellt, Väter kulturübergreifend in verschiedensten Regionen anthropologisch zu untersuchen. Sie hat eine enorme Flexibilität in der Vaterrolle feststellen können, die zeigt, dass die eingebrachten Fähigkeiten und gemeinschaftlichen Vereinbarungen stark variierten und es immer noch tun. Sie beobachtete, auch in zahlreichen Interviews, dass die Bedeutsamkeit von genetischen Aspekten nach der Geburt für Väter schnell in den Hintergrund tritt und ihr Fokus hin zu Präsenz und Beteiligung geht. Ihr empfehlenswertes Buch Papa werden: Die Entstehung des modernen Vaters weitet den Blick auf das, was wir mit Vätern verbinden, und macht deutlich, dass unsere Generation nicht die erste ist, die ihren eigenen Weg mit dieser Rolle finden will. Anna Machnin geht davon aus, dass Väter prinzipiell dazu motiviert sind, sich zu kümmern und in ihre Vaterrolle zu investieren, unterstützt durch dasselbe Gemisch von Botenstoffen, Hormonen und beeindruckenden Gehirnveränderungen wie Mütter. Sie sieht den Vater nicht als eine männliche Mutter, sondern als jemanden, der einen einzigartigen Weg hat, das Kind zu begleiten, mit dem Fokus, es vor allem auf dem Weg in die Außenwelt zu unterstützen.
Auch wenn die Forschung über Väter, anders als über Mütter, lange Zeit vernachlässigt wurde, kommt dem Thema immer mehr Bedeutung zu. Die Entwicklungspsychologin und Bindungsforscherin Lieselotte Ahnert beschreibt in der Neuausgabe ihres Klassikers Wieviel Mutter braucht ein Kind?, was die Forschung über die Bedeutung der Väter für ihre Kinder weiß. Auch der amerikanische Journalist Paul Raeburn zeigt in Väter! Warum sie trotzdem wichtig sind, welch bedeutende Rolle die Väter für die Entwicklung ihrer Kinder spielen und wie sie sich von der Mutterrolle klar unterscheidet. Viele Erkenntnisse werden in Zukunft dabei helfen, Vaterschaft noch besser zu gestalten und Vätern auch wissenschaftliche Grundlagen zu liefern, ihren eigenen Weg zu gehen.
Es gibt eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Beobachtungen zu männlichen Bezugspersonen: In Familien, wo sich der Vater aktiv an der Begleitung und Familiengestaltung beteiligt, sind die Kinder in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung tendenziell voraus, sie sind selbstständiger und weniger ängstlich.3 Weitere, vor allem amerikanische Studien haben ergeben, dass engagierte Väter sich sehr positiv auf die schulischen Leistungen von Kindern auswirken und dass eine funktionierende Vaterbeziehung dazu beiträgt, das Risiko für Drogenkonsum und Straffälligkeit zu reduzieren. Es wird außerdem beobachtet, dass Väter ähnlich intuitiv auf die Bedürfnissignale ihrer Babys reagieren, wie das Mütter tun, wenn sie dazu die Gelegenheit bekommen bzw. sich nehmen.
Eine Präsenz von Vätern ist ebenfalls entscheidend, wenn Kinder von transgenerationalen Traumata beeinflusst sind, also von existenziell bedrohenden Erlebnissen ihrer Eltern oder Großeltern. Diese können sich auf verschiedentliche Weise bemerkbar machen und nach neuestem Forschungsstand ihre Spuren in den Genen hinterlassen. Die Möglichkeit, solche Traumata (hier geht es um jene, die von der Seite des Vaters stammen, für Mütter gilt das natürlich genauso) als Ursache für möglicherweise unerklärbare Ängste des Kindes bis hin zu PTBS, Depressionen usw. zu erkunden, wird einfacher, wenn der Austausch mit dem genetischen Vater möglich ist. Dann ist die Chance größer, dass Wissen zum Aufwachsen und der Prägung vorhanden ist und gemeinsame Formen des Umgangs damit gefunden werden können.
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Für ihre Kinder sind Väter aber vor allem die erste männliche Bezugsperson, überhaupt die erste männliche Präsenz. Sowohl für Töchter als auch für Söhne prägen sie das Bild, wie ein Mann sein kann. Väter sorgen auf ihre eigene Art und Weise für Resonanz, sind Vorbild und Reibungsfläche. Für Jungen hat das Auswirkungen auf die Wahrnehmung der eigenen Männlichkeit und entscheidet maßgeblich darüber, wie spätere Partnerrollen angesichts der Erfahrung von Männlichkeit und Beziehungsfähigkeit bewertet werden. Auch Töchter prägt die väterliche Erfahrung für ihre Wahrnehmung des Männlichen sowie für ihr späteres Beziehungsleben.
Die beiden Weltkriege haben dafür gesorgt, dass wir im Grunde zwei Generationen haben, die keinerlei Vorbild für die nachfolgenden Generationen sein konnten: Das wilhelminische Ideal und die nationalsozialistische Diskreditierung fast aller elterlichen Bindungen boten so gut wie keinen Raum für gelingende, gleichberechtigte Beziehungen in der Familie. Bewusst Vater zu sein – dieser Anspruch spielte kaum eine Rolle, sodass die heutige Elterngeneration (ich meine hier besonders die Eltern, die zwischen 1970 und 1990 geboren wurden) immer noch Schwierigkeiten hat, auf solide Erfahrungen bauen zu können. Ein Rollenwandel vom meist distanzierten Versorger hin zu einem Vaterbild voll emotionaler und körperlicher Nähe, alltäglicher und nicht alltäglicher Präsenz ist noch lange nicht überall im Gange.
Weil bis vor nicht allzu langer Zeit Väter eher in der Arbeitswelt als in der Familienwelt zu Hause waren, hatten sie, wenigstens unter der Woche, zu Hause keinen richtigen Platz. Einige Väter haben erst im Corona-Lockdown 2020 gemerkt, dass es gar nicht so einfach ist, Alltag mit ihren Kindern zu gestalten. Sie haben vielleicht die Erfahrung gemacht, dass die Last im Familienleben weniger gerecht verteilt ist, als sie gedacht hätten. Und sie haben möglicherweise gespürt, dass alte Prioritäten nicht mehr die Kraft haben, die sie einst hatten, weil die Zeit mit den Kindern ihnen wichtiger geworden ist, durch die verbindende Erfahrung gemeinsamer Freude und der Entwicklung eigener Kompetenz. Doch auch vor Beginn des Lockdowns haben viele Väter bereits die Entscheidung getroffen, es anders zu machen, präsenter zu sein, zu lernen und ihre Rolle neu zu entwickeln. »Das, was vorher noch ein Auftrag etwa von der Frauenbewegung war, ist heute ein Wunsch der Väter. Der sich auch niederschlägt, zum Beispiel in der Akzeptanz der Elternzeit. In der Generation davor war der Vater da, wenn er weg war, also wenn er als Ernährer und Versorger funktioniert hat. Dieser Funktionswandel hat gerade stattgefunden«, sagt Reinhard Winter in Barbara Streidls Streitschrift Lasst Väter Vater sein.4
Es gibt enorme Entwicklungen in den letzten Jahren besonders in Deutschland, Österreich und in den skandinavischen Ländern, wo es mittlerweile Bedingungen für Väter gibt, sich Zeit für ihre Kinder zu nehmen, die sich anderswo nicht finden lassen. Leider auch nicht in der Schweiz, wo es erst seit kurzer Zeit 14 Tage (!) Väterzeit gibt. Theoretisch können wir Väter in den genannten Ländern uns weit über ein Jahr ausschließlich unserem Kind widmen. Doch die wenigsten tun das und bleiben bei den mittlerweile obligatorischen zwei bis vier Elternmonaten.
Dennoch, man(n) kann die Veränderung erahnen, auf manchen Spielplätzen und in Kindergärten auch schon sehen. Gleichzeitig ist auch für die meisten Väter offensichtlich, dass die Schritte in eine neue Richtung nicht einfach sind. Sie erleben, wie sehr die neue Verantwortung ähnliche Konflikte nach sich zieht, wie sie das seit Jahrzehnten für Mütter bedeuteten. Doch die »Effekte« dieser erweiterten Vaterrolle sind nicht mehr wegzureden: Teil im Leben ihrer Kinder zu sein, ohne überholte, gewaltvolle Mechanismen zu nutzen, ist ein Wert an sich geworden. Den meisten ist der Gedanke nicht fremd, dass wir Väter einen wesentlichen Einfluss auf unsere Kinder haben, aber die bewusste Entscheidung, welche Rolle wir in ihrer Entwicklung spielen wollen, haben viele noch nicht getroffen.
Für mich war von Anfang an klar, auch wenn die Startbedingungen nicht optimal waren, dass ich eine größere Präsenz im Leben meiner Kinder haben wollte, als das üblich war. Doch mir war völlig unklar, an welche Grenzen, durch welche Täler und auf welche Gipfel mich das emotional bringen würde. Ich hatte nur wenig Ahnung davon, wie entscheidend mein Verhalten und meine erzieherische Haltung für meine Kinder sein würden.
Ich wusste noch nicht so recht, wie ich anders mit meinen Kindern umgehen, wie ich mit mir selbst umgehen kann. So bleiben zu wollen, wie man ist, verhindert jegliche Entwicklung, das hatte ich irgendwann verstanden. Davon auszugehen, dass man ein Kind gut begleiten kann, das sich ständig weiterentwickelt, ohne selbst mitzulernen, ist eine Garantie für Unzufriedenheit, für Kampf statt Beziehung.
Eine naturgegebene Unterstützung wurde von der Forschung bereits klar identifiziert, um in unserer Vaterrolle zu wachsen: Auch bei Männern gibt es nach der Geburt des Kindes hormonelle Veränderungen, vor allem wird der Testosteronlevel gesenkt. Wir werden dadurch fürsorglicher und bemühen uns um eine stärkere Beziehung, die dann vor allem über das »Beziehungshormon« Oxytocin intensiviert wird, ein immenser Verstärker, wenn wir uns darauf einlassen. Doch um diese Vaterrolle wirklich bedürfnis- und bindungsorientiert auszufüllen, gibt es eine ganze Reihe von Hindernissen, die selten von allein verschwinden. Es führt nach meiner Erfahrung und der Einschätzung von Fachkolleg*innen kein Weg an ernsthafter Selbstreflexion vorbei, gerade und besonders für Väter.
Im 21. Jahrhundert eine Familie liebevoll und bindungsorientiert zu führen hat kaum noch Parallelen zu den Konzepten klassischer Erziehung.
Uns überholter Ansätze zu entledigen und auf unsere ganz eigene Weise Verantwortung zu übernehmen, statt die Probleme bei unseren Kindern, unserem Umfeld oder sonst wo zu sehen, macht aus meiner Sicht die Bedeutsamkeit reflektierter Eltern aus: Es ist die Basis dafür, das ernst zu nehmen, was wir tagtäglich erleben, daraus zu lernen und die Beziehungsqualität in der Familie vor alles andere zu stellen. Denn wenn wir diesen Fokus wählen, dann sind wir handlungsfähig, haben Einfluss auf die Entwicklung unserer Familiensituation und können eine ganz eigene Beziehungsqualität als Väter entwickeln.
Wie ich persönlich und auch in vielen anderen väterlichen Lebensrealitäten merken konnte, kann dieser Fokus, diese Suche nach neuen Ansätzen ein einsamer sein, der bei vielen (traditionellen) Elternhäusern auf wenig Euphorie trifft. Wenn ich selbst auf meinen steinernen Weg der letzten Jahre schaue, ist da viel passiert, vor allem in meiner Erkenntnis, dass ich meine anfänglichen Vorstellungen von Eltern-Kind-Beziehung heute nicht mehr für angemessen halte. Das hat aber einiges an Lernen und Scheitern gebraucht, viel Unterstützung und Impulse von außen.
Es gibt mittlerweile eine ganze Armada von Untersuchungen und Veröffentlichungen zur Vaterlosigkeit, die z. T. verheerende Folgen in den Nachkriegsgenerationen thematisieren. Neben der fehlenden Vorbildfunktion im individuellen Mannwerden gibt es zahlreiche Autoren, die das Thema in Beziehung zu gesamtgesellschaftlichen Phänomenen setzen, u. a. Hans-Joachim Maaz: Die Narzisstische Gesellschaft. Es lohnt sich, diesen Punkt näher anzugehen; hier kann er nur gestreift werden.
Doch was ist unsere jetzige Normalität?
Auch wenn wir in vielen kleinen Blasen beobachten können, dass sich vieles hin zu einer aktiveren Vaterschaft verändert, ist nicht zu leugnen, dass Väter überwiegend in sehr klassischen Rollen leben, ob sie es nun wollen oder nicht. Das Phänomen der abwesenden Väter ist heute vielleicht nicht mehr so offensichtlich, wie es in der Nachkriegszeit gewesen ist. Vielerorts ist Elternzeit für Väter zum Standard geworden, doch auch heute gibt es sehr viele Männer, die aus unterschiedlichsten Gründen aus ihren Familien herausgehen, die keinen Zugang zu ihren Kindern finden oder trotz physischer Präsenz durch allerlei Fluchtmechanismen letztlich abwesend sind. Ablenkung durch digitale Medien, Flucht in die Arbeit, verschiedenste Suchtmuster, emotionale Verschlossenheit, fehlende Priorisierung – es gibt viele Gründe, warum der Kontakt zwischen Vätern und ihren Kindern nachhaltig gestört ist.
Barbara Streidl schreibt in diesem Kontext: »Den großen Bedarf an Papas bestätigt nicht zuletzt auch die statistische Häufung von Problemen von Kindern, besonders jungen, die ohne männliche Bezugsperson aufwachsen. Die Schuld an diesen Sorgenkindern tragen aber nicht ihre alleinerziehenden Mütter oder das zumeist weibliche pädagogische Personal aus Kita und Schule. Es ist vielmehr die hässliche Fratze der Ungleichheit der Geschlechter, die uns hier die Zunge rausstreckt: Wenn Väter als verzichtbar bezeichnet werden, dann sind sie eben auch nicht da. Das trifft am Ende meistens die, die gar nicht mitentschieden haben bei der Frage, ob Mama nun genug Eltern ist oder nicht: die Kinder.«5 Das bestätigt auch meine Erfahrung, dass alle Männer, die ich privat oder in meinem Beratungskontext kennenlernen durfte und die ohne Vater aufgewachsen sind, darunter leiden.
Zwei_
»Wenn der Vater fehlt, wird das Kind nach ihm suchen. Es braucht den
Vater, um sich selbst zu erkennen, weil es zur Hälfte von ihm abstammt.
Hier befindet sich eine seiner beiden Wurzeln. Es ist dieses Gefühl
der Vollständigkeit, wofür ein Kind seinen Vater braucht.« Victor Chu1
Wenn wir mit unserem eigenen Nachwuchs konfrontiert werden, bekommen wir vielleicht zum ersten Mal ein Gefühl dafür, was allumfassende Verantwortung für einen anderen Menschen bedeuten kann. Wir bekommen eine Vorstellung davon, wie viel Veränderung und Kraft für unsere Eltern nötig waren, um so für uns sorgen zu können, wie ihnen das möglich war. Es ist wesentlich für uns, welche Erfahrungen wir in der prägenden Zeit mit unseren Eltern gemacht haben. Wir sind neben der genetischen (und epigenetischen) Verbundenheit auch tief verwurzelt im Umgang unserer Eltern mit Konflikten, Vertrauen, Nähe und Gefühlen — oder vielmehr damit, wie wir diesen Umgang selbst wahrgenommen haben.
Auch wenn wir es nicht bewusst vor uns haben, die Präsenz und Haltung unseres Vaters hat unser Vaterbild geprägt. Auch die Haltung unserer Mutter zu unserem Vater hat in uns verinnerlicht, wie wichtig und wertvoll wir ihn wahrgenommen haben. Gerade in Familien, die wenig harmonische Trennungen erlebt haben und in denen die Zeit mit einem Elternteil sehr beschränkt war, ist das Bild des anderen einseitig und womöglich verzerrt.
Vieles, was heute im besten Falle therapeutisch aufgearbeitet wird und was Eltern-Kind-Beziehungen belastet, hat in dieser atmosphärischen Prägung ihren Ursprung. Es lohnt sich also, die Frage zu stellen: Wie habe ich meinen eigenen Vater erlebt? Und wie eigentlich meine Mutter? Wie entscheidend war die Beziehung meiner Eltern für meine grundlegenden Entwicklungsschritte? In welcher Atmosphäre bin ich, sind meine Geschwister und ich aufgewachsen? Wenn wir bereits mehr als ein Kind haben, haben wir wahrscheinlich schon sehr einprägsam erfahren, wie schwer es ist, mehreren Kindern angemessene Aufmerksamkeit zu schenken. Und das, obwohl wir möglicherweise wesentlich mehr Bewusstsein und Freiräume haben, als das bei unseren Eltern der Fall war.
Darüber hinaus können wir wesentlich besser verstehen, vielleicht auch unsere Last mit unserem eigenen Vaterbild reduzieren, wenn wir lernen, wie unser Vater aufgewachsen ist. In welcher Atmosphäre muss er groß geworden sein, mit welchen Herausforderungen, mit welchem elterlichen Verhalten und welchen Ängsten? Wir können daraus für uns Annahmen formulieren, welche Konsequenzen sein (früh-)kindliches Erleben möglicherweise für ihn hatte. Im besten Fall können wir mit ihm zusammen diese Vergangenheit rekonstruieren, auch uns selbst dabei besser verstehen lernen und ein Verständnis für Versäumnisse, aber auch Gelungenes bekommen. Ohne uns tiefergehend mit unserem Vatersein auseinanderzusetzen, sind die erlebten Möglichkeiten und Grenzen unseres Vaters möglicherweise auch die unseren.
Ob und wie sehr wir das wollen, hat entscheidenden Einfluss auf die Beziehung zu unseren Kindern und unsere eigene Zufriedenheit. Sich dem Thema zu stellen führt dazu, dass wir unsere Automatismen, unsere Muster gerade unter Stress, unsere oft gewaltvolle Sprache nach und nach wahrnehmen und neugestalten können. Es geht dabei um nicht weniger als die Frage, wer ich als Vater, als Elternteil sein will und sein kann.
Vermeintlich kleine Erlebnisse können die Erinnerung bilden, die den Blick auf die gesamte Kindheit zu bestimmen scheint. Dennoch sollten wir vorsichtig sein, eine völlig eindeutige Interpretation unserer Kindheit zu formulieren. Es lohnt sich, zusammen mit den Eltern sowie anderen Verwandten und nahestehenden Menschen zu erforschen, wie viel von unseren Erinnerungen Bestand hat und wie viel mehr wir vielleicht so sehen können, wie das unsere Eltern getan haben. So begrüßenswert er wäre, bleibt den meisten Vätern dieser Weg verschlossen, und so bietet sich die fruchtbare Alternative an, von der eigenen (damaligen und jetzigen) Wahrnehmung auszugehen.
Bei der Betrachtung unseres Verhältnisses zu den Eltern bleibt immer auch ein Stück Schuldgefühl, die Angst vor Ungerechtigkeit, die Angst davor, seinen Erinnerungen nicht trauen zu können und ein Urteil zu bilden, das nicht gerecht ist. Manchmal ist der verborgene Schmerz über die Erkenntnis, was uns gefehlt hat, auch so groß, dass uns die Angst vor dem Fühlen lähmt.
An seinem 61. Geburtstag habe ich meinen Vater das allererste Mal bewusst weinen sehen. Ich spürte eine tiefe Verbundenheit in der großen Sehnsucht nach Freiheit, die ich nicht erwartet hätte. Mir wurde bewusst, dass wir Ängste und Bedürfnisse teilen, die vertrauter und intensiver nicht sein könnten. Es schien mir so zu sein, dass die tiefe Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung im elterlichen Hause nur wenig Platz hatte. Es berührte mich, meinen Vater so zu sehen, und doch war es ein sehr ungewöhnlicher Anblick, etwas, was mir wie aus einer fremden Welt schien. Ich kann mich an wenige emotionale »Ausbrüche« erinnern, die so etwas wie Verbundenheit und Vertrauen schaffen konnten – das, was wir heute als »in Kontakt sein« beschreiben. Am ehesten vielleicht noch bei den zahllosen Wanderungen und Ausflügen, die noch heute für viele Väter (auch für mich) die erste Idee für gemeinsame Freizeitgestaltung sind. Dennoch fühle ich mich meinem Vater sehr verbunden, wenngleich eine tiefe Sehnsucht nach seiner Anerkennung bleibt.
Bei einer Betrachtung unserer eigenen Eltern-Sohn-Beziehung sollten wir
im Blick behalten, dass alle Eltern, Väter und Mütter, versucht haben, in jedem Moment
das Beste zu tun, das sie konnten.
Und nun, da wir selbst Eltern sind, wissen wir um die zahllosen Herausforderungen, grenzwertigen Gedanken und Gefühle und um Verhaltensweisen trotz besseren Wissens.
Viele von unseren Eltern hatten nicht die Möglichkeit des Austausches, des Lernens und die Rahmenbedingungen, die wir im besten Falle heute haben. Ihre eigene Prägung und Erfahrung hat oft nur ein geringes Spektrum an elterlicher, besonders väterlicher Fürsorge vorstellbar gemacht. Der damalige Zeitgeist war der, dass ein »durchschnittlicher« Vater seine Kinder nur am Wochenende zu Gesicht bekam und sämtliche kinderbezogenen Aufgaben bei seiner Frau oder bei Betreuungsinstitutionen lagen. Noch heute spüren wir als junge Väter manchmal, wie wenig Männern in der Versorgung von Kindern zugetraut wurde und immer noch wird und wie unverhältnismäßig selbstverständliche Arbeiten herausgehoben und gelobt werden.
Und dennoch erlebe ich immer wieder, dass auch hier eine Generation – ich spreche hier von Männern, die zwischen 1945 und 1970 geboren wurden – im Grunde versucht hat, es anders, besser zu machen als die vor ihnen. In vielen Aspekten gelang das, möglicherweise ist es aber auch fundamental gescheitert. Die tiefe Not, die viele unserer Eltern in ihrer eigenen Kindheit gespürt haben, hat in den wenigsten Fällen ihren Platz gefunden, so dass viele von uns – als ihre Kinder – die Auswirkungen ihrer nicht selten traumatischen Erfahrungen im Alltag erleben mussten. Um hier sicher zu werden, welche Vorbilder gut für uns, unsere Kinder und unsere Partnerschaft sind und welche nicht, brauchen wir Achtsamkeit, echten Austausch und einen Grad an Selbstreflexion, der die meisten Männer aus der Generation vor uns vor den Kopf gestoßen hätte.
Reflexion
Der eigene Vater
Welche Kindheitserinnerungen kommen mir ins Bewusstsein, wenn ich an meinen Vater denke?
Welche Art von Vertrauen hatte ich zu ihm?
Wo war es eher Angst?
Was hätte ich mir damals von ihm gewünscht?
Wie hat er seine eigene Kindheit möglicherweise erlebt?
Wie war sein Verhältnis zu meiner Mutter und wie hat er über sie gesprochen?
Was möchte ich gerne von meinem Vater übernehmen in meiner eigenen Beziehung zu meinem Kind?
Was möchte ich definitiv anders machen?
Wofür kann ich meinem Vater dankbar sein?
Wir sollten uns bewusst sein, dass die Grenze einer Annäherung an die eigenen Eltern in der nüchternen Erkenntnis bestehen kann, dass wir nur Ausschnitte, Nuancen des anderen verstehen, nachvollziehen und nachfühlen können. Das macht demütig und zeigt, dass manche Dinge eben doch nicht so realisierbar sind, wie wir es gerne hätten. Und es muss uns am Ende bewusst sein, dass wir es sind, die für unsere Gefühle und unser Verhalten verantwortlich sind. Wir können nicht darauf warten, dass unsere Eltern ihre möglichen Versäumnisse in irgendeiner Weise wiedergutmachen. Es ist an uns, die möglicherweise einschränkenden und belastenden Gefühle aus unserer Kindheit ernst zu nehmen und Wege zu finden, trotzdem zufrieden und liebevoll Vater sein zu können. Es ist an uns, auf uns und unsere Kinder zu achten, Schmerz und Konfliktthemen zu reflektieren und die Gewissheit ankommen zu lassen, dass wir nur uns selbst ändern können.
Mag es noch so viel Bedauernswertes über die eigenen Eltern zu beschreiben geben, so sollten wir uns auch vor Augen führen, was wir wertschätzen können, wofür sie uns Antrieb gegeben haben, wofür wir letztlich dankbar sein können.