Ludwig Thoma

Moral

Komödie in drei Akten

 

 

 

Ludwig Thoma: Moral. Komödie in drei Akten

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Wilhelm Leibl, Die Dorfpolitiker, 1877

 

ISBN 978-3-8430-8401-7

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-7542-8 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-7552-7 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: München (Langen) 1909. Uraufführung am 20.11.1908 in Berlin, Kleines Theater.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Erweiterte Neuausgabe. Textredaktion: Albrecht Knaus, München: Piper, 1968.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Personen

 

Fritz Beermann, Rentier.

 

Lina Beermann, seine Frau.

 

Effie, beider Tochter.

 

Adolf Bolland, Kommerzienrat.

 

Klara Bolland, seine Frau.

 

Dr. Hauser, Justizrat.

 

Frau Lund, eine alte Dame.

 

Hans Jakob Dobler, Dichter.

 

Frl. Koch-Pinneberg, Malerin.

 

Otto Wasner, Gymnasiallehrer.

 

Frhr. von Simbach, herzogl. Polizeipräsident.

 

Oskar Ströbel, herzogl. Polizeiassessor.

 

Madame Ninon de Hauteville, eine Private.

 

Freiherr Botho von Schmettau, genannt Zürnberg, herzogl. Kammerherr und Adjutant.

 

Josef Reisacher, ein Schreiber.

 

Betty, Zimmermädchen bei Beermann.

 

Zwei Lohndiener.

 

Ein Schutzmann.

 

Ort der Handlung: Emilsburg, Hauptstadt des Herzogtums Gerolstein.

 

Der erste und dritte Akt spielen im Hause des Rentier Fritz Beermann, der zweite Akt spielt im Polizeigebäude.

 

Zeit: Von Sonntag mittag bis Montag abend.[314]

 

Erster Akt

Rauchzimmer bei Rentier Beermann. Im Hintergrunde links Flügeltür, die in den Speisesaal führt. Rechts eine kleinere Türe zum Musikzimmer. An der Seite links eine Türe, die in den Gang führt. Links vorne ein kleiner Erker, in dem ein Spieltisch steht. Rechts vorne ein Sofa, bequeme Stühle; gegen den Hintergrund ein Tisch, auf dem Kaffee serviert ist; ein zweiter Tisch, auf dem Zigarrenkisten stehen.

 

Erste Szene

Ein Lohndiener ist am Kaffeetisch beschäftigt; ein zweiter öffnet die Flügeltüre links. Man hört Stimmengewirr, Stühlerücken. Dann kommen durch die Flügeltüre Bolland mit Frau Beermann, Beermann mit Frau Bolland, Dr. Hauser mit Effie, Wasner mit Frl. Koch-Pinneberg; Dobler. Allgemeines: Mahlzeit! Wasner teilt nach allen Seiten turnerische Händedrücke aus; geht zu Frau Beermann: Ich wünsche gesegnete Mahlzeit! Die Diener servieren Kaffee. Beermann ist mit Bolland nach vorne gegangen.

 

BOLLAND. Sie kriegen zweitausend Stimmen mehr als der Sozialdemokrat. Das ist sicher.

BEERMANN zweifelnd. Na – na!

BOLLAND. Wenn das ganze liberale Bürgertum mit den Konservativen zusammengeht? Ich bitte Sie!

BEERMANN vom Diener eine Kaffeetasse nehmend. Wenn ...

BOLLAND. Der Zusammenschluß ist da. Er ist die natürliche Entwicklung. Glauben Sie einem Praktiker: die Zeit für Nüancen ist vorbei; es geht um den Besitz.

WASNER ist hinzugetreten. Und ganz Deutschland schart sich um die nationale Fahne.

BEERMANN. Aber wir haben doch überall Widersprüche. Ich merke es am besten an dem, was ich nicht sagen darf.

BOLLAND. Wieso?[315]

BEERMANN. Zum Beispiel übermorgen im freisinnigen Wahlverein. Da darf ich doch nicht das gleiche reden wie gestern bei den Konservativen?

BOLLAND. Im Detail natürlich nicht. Aber im Grunde genommen ist es dasselbe.

BEERMANN trinkt. Ist es dasselbe? Wissen Sie, ich bin schon ganz konfus von dem Lavieren.

EFFIE ruft vom Kaffeetische her, wo sie bei den übrigen steht. Papa! Siehst du, Frau Bolland sagt auch, daß die indische Tänzerin so interessant ist.

FRAU BOLLAND. Rasend interessant! Man begreift mit einem Male das ganze Indien!

EFFIE. Warum sind wir noch nicht hingegangen?

FRAU BOLLAND. Aber Sie müssen hingehen! Mir hat Professor Stöhr gesagt, er hat noch nie so was Großartiges gesehen.

FRÄULEIN KOCH-PINNEBERG. Sie wirkt so als Fleck.

FRAU BOLLAND. Ich habe nicht geahnt, daß indisch so hübsch sein kann.

BEERMANN. Wir können sie ja mal ansehen.

EFFIE. Aber sie tritt nur noch morgen auf.

BEERMANN zum Zigarrentisch gehend. Schön. Dann erinnere mich morgen daran. Nimmt eine Kiste und bietet dem zunächststehenden Dobler an. Rauchen Sie?

DOBLER nimmt. Ja, aber Importen bin ich eigentlich nicht gewohnt.

BEERMANN wohlwollend. Das gute Leben lernt sich schnell.

BOLLAND zu Dobler. Sie sind noch nicht lange hier?

DOBLER. Seit zwei Jahren.

BOLLAND. Und vorher waren Sie in ... äh ...

FRAU BOLLAND. In Unterschlettenbach. Das weiß man doch ...

BOLLAND sich verbessernd. Natürlich. Aus der Literaturgeschichte. Es muß übrigens 'n sehr interessanter Ort sein.

DOBLER. Klein und sehr arm, Herr Kommerzienrat. Die meisten Leute sind Pfannenflicker.

BOLLAND. Sehen Sie mal! Das wußte ich gar nicht. So ... Pfannenflicker? Aber sagen Sie, wie kommt Ihnen dann das Leben hier vor? So ... Das großstädtische ... elegante?

DOBLER die Zigarre anzündend. Es gefällt mir gut. Aber es bleibt einem innerlich fremd.[316]

BOLLAND. Ungewohnt?

DOBLER. Es ist alles anders. Oft kommt es mir vor, als wäre ich nur rasch in ein prächtiges Haus gegangen, aber draußen wartet mein Kamerad, das alte Leben.

FRAU BOLLAND. Wun-der-voll! Das ist ganz wundervoll gesagt. Man sieht es förmlich. Überhaupt, Herr Dobler, ich muß Ihnen sagen, Ihr Roman! Mein Mann und ich, wir reden den ganzen Tag davon.

BOLLAND. Sagen Sie mal, der junge Mensch, der darin vorkommt; haben Sie sich da eigentlich selbst gezeichnet?

DOBLER. Es ist meine Jugend, ja.

BOLLAND. Aber doch mit dichterischer Phantasie ausgeschmückt?

DOBLER. M – ja.

BOLLAND. Zum Beispiel: Sie haben doch nicht wirklich gehungert?

DOBLER. Gewiß. Da ist nichts erdichtet.

BOLLAND. So wie Sie's geschildert haben? Daß Ihnen alles rot vorgekommen ist?

DOBLER. Daß mir alles rot vorgekommen ist. Ich habe einmal vier und einen halben Tag keinen Bissen gegessen.

FRAU BEERMANN bedauernd. Ach Gott!

FRAU BOLLAND. Das ist rasend interessant!

BOLLAND. Bitte, erzählen Sie uns genau. Es hat Ihnen geflimmert?

DOBLER. Ich sah alle Dinge wie durch einen Schleier, und alle Dinge hatten einen rosaroten Reifen. Und dann schwächte sich das Gehör.

BOLLAND. Soo? Das Gehör auch?

DOBLER. Ja. Wenn jemand neben mir sprach, das war so, als wenn es weit, weit entfernt wäre.

FRAU BOLLAND. Davon hat man nun eigentlich gar keine Ahnung!

BEERMANN. Und wie ging's weiter?

DOBLER. Wieso?

BEERMANN. Na, einmal müssen Sie ja doch wieder was gegessen haben?

DOBLER. Ich bin ohnmächtig auf einer Wiese gelegen und da hat man mich gefunden und ins Krankenhaus gebracht.

FRAU BEERMANN mit einem Seufzer. Daß es so etwas immer[317] noch geben kann!

FRAU BOLLAND. Ich bitte Sie, unter diesen Idealisten!

HAUSER. Die sind das nicht anders gewohnt.

BEERMANN. Wie haben Sie sich dann rausgemacht?

DOBLER. So nach und nach. Ich war Buchdrucker und habe Stellung gefunden.

BOLLAND. Das kommt auch im Roman vor. Aber, nicht wahr, das stimmt nicht, daß Sie als Handwerksbursch gereist sind?

DOBLER. Ich war dreiviertel Jahr auf der Walze.

FRAU BOLLAND. Walze! So was Echtes!

FRÄULEIN KOCH-PINNEBERG. Das stelle ich mir fein vor, als Handwerksbursch wandern.

DOBLER. Ja, wenn man soviel Geld hat, daß man sich wenigstens ein Stück Brot kaufen kann. Aber es kommt auch anders. Wir waren damals zu dritt und sind von Basel aufwärts, einmal links und einmal rechts über den Rhein. In Worms ging uns das Geld aus, und da war nichts zu machen, als fechten.

FRAU BOLLAND verständnislos. Was ist das? Fechten?

DOBLER pathetisch. Betteln, gnädige Frau. Betteln ums liebe Brot.

 

Alle schweigen. In die Stille tönt laut die Stimme des Dieners, der Liköre serviert: Cognac vieux! Fine Champagne! Chartreuse!

 

BEERMANN nimmt ein Glas. Einem gebildeten Menschen muß so was unangenehm sein. Was?

DOBLER nimmt ein Glas Kognak. Ja nu! Trinkt. Die Empfindlichkeit verliert sich. Das erstemal will's nicht gehen, aber dann lernt sich's. Einen heißen Tag auf der Landstraße, daß man jeden Nagel spürt. Und der Staub verklebt die Augen, und immer weiter und weiter. Dann kommt der Abend. Vor einem liegt das Dorf, aus allen Schornsteinen raucht es und heimelt an. Da zieht man den Hut und bettelt um die warme Suppe. Kleine Pause.

WASNER im tiefen Basse. Heimatkunst!

BOLLAND. Mich erinnert die Geschichte kolossal an meinen seligen Vater.

FRAU BOLLAND. Aber Adolf!

BOLLAND. Wenn ich dir sage ...

FRAU BOLLAND. Wie kann man so was vergleichen: Herr Dobler ist ein berühmter Dichter geworden.[318]

BOLLAND. Na, vielleicht kann man behaupten, daß es mein Vater auch zu was gebracht hat. Als er starb, standen über vierhundert Arbeiter an seinem Sarge.

FRAU BOLLAND ungeduldig. Das weiß man schon ... Herr Dobler, haben Sie schon als Handwerksbursche Gedichte gemacht?

DOBLER. Nein. Das kam später.

FRAU BOLLAND. Ich muß Ihren Roman gleich noch einmal lesen. Wo ich jetzt das Persönliche weiß ...

FRAU BEERMANN zu Wasner. Sie wollten doch singen, Herr Professor? Effie wird Sie begleiten.

WASNER. Wenn das gnädige Fräulein die Liebenswürdigkeit haben will ... aber ich weiß nicht, ob ich bei Stimme bin ...

FRAU BOLLAND. Sie singen so grrroß-artig!

WASNER im Abgehen. Aber die vielen Versammlungen jetzt! Die Politik ruiniert auch die Stimme.

FRÄULEIN KOCH-PINNEBERG. Machen Sie uns die Freude.

 

Frau Bolland, Frau Beermann, Wasner, Frl. Koch, Effie ab ins Musikzimmer.[319]

 

Zweite Szene

Herr Beermann. Herr Bolland. Dobler. Dr. Hauser.

 

BEERMANN. Schade, daß der Professor singt. Sonst könnten wir unsern Skat anfangen. Darf ich noch Kognak anbieten?

HAUSER. Nein. Danke.

DOBLER. Wirklich nicht.

 

Bolland hat sich auf das Sofa gesetzt; Hauser, Dobler setzen sich auf Stühle. Beermann nimmt sich eine neue Zigarre. Ein Lohndiener geht ins Musikzimmer; wenn er die Tür öffnet, hört man Töne eines Pianos.

 

BOLLAND. Wie ich Ihnen sagte, Herr Dobler: Ihre Geschichte vorhin hat mich kolossal an meinen Vater erinnert.

HAUSER. An den Geheimen Kommerzienrat Bolland?

BOLLAND setzt sich zurück; schlägt ein Bein übers andere. Der aber nicht immer der reiche Kommerzienrat war. Sich zu Dobler wendend. Stellen Sie sich vor, eine Winterlandschaft. Strenge Kälte, alles in Schnee gehüllt, grauer Himmel. Es schneit und schneit, da geht, oder, besser gesagt, da wankt auf der Straße[319] von Perleberg, die durch den Perleberger Forst führt, ein junger Mensch. Ein halbverhungerter, junger Mensch.

 

Macht affektiert eine Pause und klopft die Asche von der Zigarre. Aus dem Musikzimmer kommt der Lohndiener herein, holt ein Glas Wasser und geht wieder hinaus. Während er die Türe offen läßt, hört man Professor Wasner singen. Tremolierender Baßbariton.

 

In deinen Augen hab ich einst gelesen

Von Lieb' und Glück – von Lieb'

und Glück den Schein ...

 

Die Türe fällt ins Schloß, man hört nichts mehr.

 

BOLLAND hat inzwischen weiter gesprochen. Die Flocken fallen dichter und dichter, und weil der junge Mensch par tout nichts im Magen hatte, bekommt er 'ne Schwäche und setzt sich auf ein Bündel Reisig und schläft ein. Zum größten Glück kommt ein Perleberger Bürger des Wegs und sieht den halb eingeschneiten Jungen und nimmt ihn mit heim. Pausiert. Und dieser Junge wurde späterhin mein Vater ...

HAUSER. Und Geheimer Kommerzienrat.

BOLLAND. Und Geheimer Kommerzienrat. Zu Dobler. Aber sagen Sie selbst, ist das nicht merkwürdig? Ist das nicht 'n Roman?

DOBLER. Ja, ja ...

BOLLAND. Das könnten Sie doch sehr schön verwenden! Denken Sie, der arme Junge, die Schneelandschaft ...

HAUSER. Das Bündel Reisig.

DOBLER. Das Leben hat originelle Einfälle und spielt gerne mit Kontrasten.

BOLLAND. Das ist das richtige Wort. Es spielt mit Kontrasten.

HAUSER. Aber originell? Die Geschichte wiederholt sich zu oft.

BOLLAND. Was wiederholt sich?

HAUSER. Die Geschichte vom armen Jungen, der Millionär wird. Jede große Fabrik hat so'n Papa.

BOLLAND. Glauben Sie?

HAUSER. Und er wird immer noch ärmer. Ihr Sohn wird den Jungen ganz erfrieren lassen.

BOLLAND. Ich gebe mein Ehrenwort, daß die Sache so war. Zu Dobler. Sie sollten sich den Stoff nicht entgehen lassen. Wie er das Geschäft gründete, und wie es allmählich wuchs und[320] wuchs ... Frau Beermann kommt aus dem Musikzimmer. Man hört den Professor tremolieren. »Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein.« Dann wieder still.

DOBLER. Eines ist sicher. Die Figur des self made man ist in Deutschland noch kaum literarisch verwendet.

BOLLAND eifrig. Das ist's ja, was ich sage. Immer diese Armeleutegeschichten! Aber daß 'n Mensch mal ordentlich verdient, daß 'n Mensch was wird, das ist doch auch poetisch!

HAUSER. Wissen Sie was, lassen Sie Ihr Hauptbuch drucken.

 

Von links kommt Frau Lund, hinter ihr das Zimmermädchen.[321]

 

Dritte Szene

Die Vorigen. Frau Lund.

 

FRAU BEERMANN ihr lebhaft entgegeneilend. Mama Lund! Das ist lieb, daß Sie kommen ...

FRAU LUND heiter. Immer gerne zu Ihnen. Guten Tag, meine Herren. Wo ist die kleine Effie?

FRAU BEERMANN. Im Musikzimmer. Zum Mädchen. Bitte, sagen Sie meiner Tochter ...