Rabindranath Tagore: Gitanjali. Sangesopfer. Hohe Lieder
Übersetzt von Marie Luise Gothein
Vollständige Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Rabindranath Tagore in Kalkutta, 1909
ISBN 978-3-8430-6258-9
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8430-5207-8 (Broschiert)
ISBN 978-3-8430-5209-2 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck in Bengalisch 1910. Englischer Titel: Song Offerings. Übersetzt von Marie Luise Gothein, Leipzig, Kurt Wolff, 1914.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.
Du machtest mich endlos – so
ist dein Belieben. Dies schwache Gefäß
leertest du wieder und wieder und
fülltest es immer mit neuem Leben.
Du trugst diese kleine Rohrflöte über
Hügel und Täler und hauchtest durch sie
ewig neue Melodien.
Bei dem unsterblichen Druck deiner
Hände verliert mein kleines Herz seine
Grenze in Freude und gebiert unaussprechliche
Worte.
Deine unendlichen Gaben empfange
ich nur auf diesen meinen sehr kleinen
Händen. Zeitalter vergehn und immer
gießest du aus, und immer ist Raum, um
erfüllt zu werden.
Wenn du mir befiehlst zu singen,
scheint mir das Herz vor Stolz brechen
zu wollen; ich schau in dein Antlitz, und
Tränen kommen mir in das Auge. All das,
was hart und mißtönig ist mir im Leben,
zerschmilzt in eine süße Harmonie – und
meine Anbetung breitet die Schwingen
gleich einem frohen Vogel im Fluge über
die See.
Ich weiß, mein Singen macht dir Freude,
ich weiß, nur als Sänger werde ich vor
dich gelassen.
Ich rühre mit dem Saume der weitausgebreiteten
Schwinge des Sangs deine
Füße, die nie zu erreichen ich streben
könnte.
Trunken von Freude des Singens vergeß
ich mich ganz und nenne dich Freund,
der du mein Herr bist.
Ich weiß nicht, wie du singest,
mein Meister, ich lausche immer in stillem
Staunen.
Dein Licht der Musik erleuchtet die
Welt. Der Lebenshauch deiner Musik
läuft von Himmel zu Himmel. Der heilige
Strom der Musik durchbricht alle Hindernisse
von Stein und stürzet fort.
Mein Herz ersehnt, deinem Sang sich
zu einen und ringt umsonst nach Stimme.
Ich wollte sprechen, doch Sprache fügt
sich dem Sang nicht, da schrei ich getäuscht
auf! O du hast mein Herz gefangen
in deines Liedes endlosen Maschen, mein
Meister.
O du meines Lebens Leben! Immer
werd ich mich mühn, rein meinen Leib
zu erhalten, wissend, daß auf meinen
Gliedern lebendig dein Hauch ist.
Immer werd ich mich mühn, Unwahres
mir fern vom Denken zu halten, wissend:
du bist die Wahrheit, die mir im Geiste
das Licht der Vernunft entzündet.
Immer werd ich mich mühn, von meinem
Herzen die Übel zu treiben und meine
Liebe in Blüte zu halten, wissend: du
thronest im Allerheiligsten meines Herzens.
Und es soll immer mein Streben sein:
dich offenbaren in meinem Tun, wissend,
daß deine Macht mir Kraft gibt zum Handeln.
Ich bitte nur um ein wenig Geduld,
um an deiner Seite zu sitzen, das Werk,
das ich wirke, wird später vollendet.
Ferne dem Schaun auf dein Antlitz,
kennt mir das Herz nicht Ruhe noch Rast;
und mein Werk wird endloses Mühn am
uferlosen Meere der Mühe.
Heut kam der Sommer ans Fenster
mit seinem Summen und Surren, die
Bienen singen von Minne am Hofe des
blühenden Haines.
Nun ist es Zeit, um stille zu sitzen von
Antlitz zu Antlitz mit dir und dir zu singen
des Lebens Widmung in dieser schweigenden,
überströmenden Muße.
Pflück diese kleine Blume und
nimm sie und zögre nicht, ich fürchte, sie
welkt und fällt in den Staub.
Sie wird keinen Platz in deinem Kranze
finden, doch ehre sie mit dem Schmerzensdruck
deiner Hand und pflücke sie
ab. Ich fürchte, der Tag könnt enden, eh
ich es merke und die Zeit des Opferns
vergehn.
Ist auch die Farbe nicht tief und ihr
Duft nur schwach, nütze die Blume für
deinen Dienst und pflück sie, solange es
Zeit ist.
Mein Lied hat seines Schmuckes sich
entäußert, es ist nicht stolz auf Kleid
und Zier. Der Schmuck könnt unsre
Einigkeit zerstören, er würde zwischen
dich und mich sich stellen; dein Flüstern
könnt ertrinken in dem Klingklang.
Mein Dichterhochmut stirbt in Scham
vor deinem Anblick, o Meisterdichter,
ich saß dir zu Füßen. Laß mich mein
Leben grad und einfach machen, gleich
einer Flöte, die du füllst mit Tönen.
Das Kind, dem ein fürstlich Kleid
man anzog, und das Juwelen um seinen
Nacken trägt, verliert alle Freude an seinem
Spiel, behindert vom Kleid bei jedem
Schritt.
Aus Furcht, es könnte zerreißen, vom
Staube befleckt sein, hält es sich fern von
der Welt und fürchtet beinah sich zu regen.
Mutter, es ist kein Gewinn im Zwang
deines Putzes, wenn er uns ausschließt
vom heilsamen Staube der Erde, wenn
er des Rechts uns beraubt, hinzuzutreten
zum großen Markt des gemeinen menschlichen
Lebens.
Narr, der du suchst, dich auf eignen
Schultern zu tragen; o Bettler, der du
kommst, an eignen Türen zu betteln!
Leg deine Lasten in seine Hände, der
alles trägt und schaue nicht zurück in
Bedauern.
Deine Begierde löschet sogleich das
Licht der Lampe, die sie mit ihrem Atem
berührt. Unheilig ist sie – nimm nicht
deine Gaben aus ihren unreinen Händen.
Nimm nur, was heilige Liebe dir bietet.
Hier ist dein Schemel, dort ruhn
deine Füße, wo die Ärmsten und Niedersten,
wo die Verlorenen leben.
Wenn ich versuche, mich dir zu neigen,
kann mein Haupt nicht die Tiefe erreichen,
wo deine Füße ruhen unter den Ärmsten
und Niedersten, den Verlorenen.
Stolz kann niemals sich nähern, wo du
umher gehst in den Gewändern der Demütigen
unter den Ärmsten und Niedersten,
den Verlorenen.
Mein Herz findet nie seinen Weg dorthin,
wo du Freundschaft hältst mit den
Freundlosen unter den Ärmsten, den Niedersten,
den Verlorenen.
Laß dies Stimmen und Singen
und Sagen des Rosenkranzes! Wen betest
du an in diesem einsamen, dunklen Winkel
des Tempels, in dem verschlossenen
Tor?
Öffne die Augen und sieh, dein Gott
ist nicht vor dir.
Er ist dort, wo der Pflüger den harten
Grund pflügt, wo der Steinklopfer Steine
bricht. Er ist mit ihnen in Sonne und
Regen und wo sein Kleid bedeckt ist mit
Staub. Leg ab deinen heiligen Mantel und
komme herab mit ihm auf den staubigen
Boden.
Befreiung? Wo ist die Befreiung zu
finden? Unser Meister hat freudig die
Bande der Schöpfung auf sich genommen;
er ist mit uns für immer gebunden.
Komm heraus aus deiner Betrachtung,
laß Blumen und Weihrauch beiseite! Was