Ida Boy-Ed: Charlotte von Kalb. Eine psychologische Studie
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Johann Heinrich Schmidt, Charlotte von Kalb, 1785
ISBN 978-3-8430-8840-4
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8619-9300-1 (Broschiert)
ISBN 978-3-8619-9301-8 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: Eugen Diederichs. Jena, 1912.
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»Das heißt: Ich bin kein ausgeklügelt Buch
Ich bin ein Mensch in seinem Widerspruch«
Wenn ein Windhauch nur ganz leise die Perlenschnüre eines japanischen Vorhangs bewegt, wird sein zartes Muster unklar, und Linien und Farben verlieren ihren bestimmten Zusammenhang. So hat mancherlei Atem das sehr schwebende und nicht leicht fest zu umzeichnende Bild der Charlotte von Kalb angehaucht und die Werte ihres Wesens zu einem unsichere Durcheinander von Licht und Schatten, von lieblichen und grellen Tönen vermengt.
Ganz und gar schien sie das Geschöpf ihrer Zeit, und es sah aus, als ob die geistigen Strömungen und die Gemütsbewegungen ihrer Umwelt so recht eigentlich die Elemente seien, die sie trugen, die ihre Bedingtheiten ausmachten. Und dennoch darf man sagen, daß sie inmitten des ganzen Kulturlebens, mit welchem sie in Beziehung war, einsam stand. Ihre ganze Weibpersönlichkeit hatte jenen Zuschnitt des Einfügens niemals und nirgendwo völlig ermöglicht. Wir erst, von der heutigen Stufe psychologischen und physiologischen Erkennens aus können versuchen, Charlotte richtig zu sehen. Noch wagte kein Literarhistoriker sich daran, sie in der Totalität ihrer Erscheinung darzustellen. Vielleicht hat dies einen tiefen Grund. Ich denke mir, wenn ein Mann versuchen würde, sich dieser Gestalt zu nähern, müßte ihm rasch die Erkenntnis kommen: nur eine Frau könne diese Frau verstehen. Indem ich es unternehme, von Charlotte zu sprechen, will ich mich nicht neben zünftige Literarhistoriker stellen, sondern ich will nur eben als Frau aussagen, was ich, ihr Leben nachempfindend, von ihrem Wesen erkannt und verstanden habe.
Charlotte selbst hat, als sie fast achtzig Jahre alt war, ihre Erinnerungen diktiert, denn sie war blind und konnte nicht mehr selbst die Feder führen. Das Diktat einer sehr phantasievollen Frau kann niemals zuverlässige Quelle sein. Nicht nur, weil das Gedächtnis phantasievoller Menschen schöpferisch ist und deshalb jede Erinnerung neugestaltet und ein wenig umzeichnet. Auch das Diktat errichtet zwischen dem Erlebten und seiner Wiedergabe eine Schranke seelischer Scham. Das laute Denken vor einem Zeugen ist zu unkeusch, als daß die verborgensten und feinsten Wahrheiten sich in gesprochenem Worte ausdrücken könnten. Besonders eine Frau wäre keineswegs immer fähig sich sagen zu hören, was sie still niederzuschreiben vermöchte. Zu dieser, ich möchte sagen natürlichen Unzuverlässigkeit von Charlottens Erinnerungen kommt noch das Fragmentarische: die Schrift umfaßt nur das Jugendleben und die Verknüpfung von Charlottens Dasein mit dem Schillers.
So muß man aus vielerlei Farbenkästen die Tuben mühsam zusammentragen und sorgsam prüfen und mischen, damit die möglichste Porträtähnlichkeit erzielt wird. Solche Ähnlichkeit kann immer nur von der Art sein, wie die Porträts gewisser Meister: dieser oder jener kleine Zug ist vielleicht ungenau, und dennoch offenbart das Bild das ganze Wesen des Dargestellten.
In der Landschaft, die »Im Grabfeld« heißt und von der stillen Lieblichkeit eines silberschuppigen Flüßchens, der fränkischen Saale, ein gewundenes, blankes Schmuckband erhält, das zwischen ihren waldreichen Hügeln und fruchtbaren Geländen liegt, steht das Schloß Waltershausen. Ein Feudalbau, der Sitz eines reichsunmittelbaren, fränkischen Rittergeschlechts, der Marschalk v. Ostheim – damals noch, als Charlotte dort am 25. Juli 1761 geboren wurde. Ihr Vater, Herr Ägidius Marschalk v. Ostheim, brauchte sich nicht der Furcht hinzugeben, daß er der letzte seiner Linie sein würde. Seine Frau, eine geborene v. Stein, hatte ihm schon ein Söhnchen geschenkt. Fritz, den Stammhalter; ein schöner, temperamentvoller Knabe. Aber es schien beinahe, als habe die Großmutter ein dumpfes Vorgefühl davon, daß es für das Haus besser sei, wenn seine Fortblüte im Mannesstamm gesicherter werde, als es durch einen einzigen Namensträger sein konnte. Charlottens Geburt wurde von ihr mit ausgesprochenem Mißfallen begrüßt, und der Ausruf, der das kleine Mädchen empfing, war dieser: »Du solltest nicht da sein«. Der Wunsch der Familie nach einem zweiten Sohn erfüllte sich auch später nicht; Charlotte bekam noch zwei Schwestern: Wilhelmine und Leonore.
Es schien beinahe, als habe der unfrohe Ruf Charlotte von vornherein angekündigt, daß sie ein ungern gesehener Gast an den Tafeln des Lebens sei, nur eine Brosamenempfängerin, der voller Mitgenuß nicht zusteht. Sie war von früher Kindheit an von einer sehr merkwürdigen, fast krankhaften Gesteigertheit in ihren Empfindungen; veranlagt, auch das Unbedeutendste vor sich, in ihrer raschen Vorstellungskraft so auszugestalten, daß es ein Erlebnis wurde. Schon die Psyche des Kindes sträubte sich gegen das Alltägliche. Sie war ihren Eltern mit einer leidenschaftlichen und doch demütigen Liebe ergeben. Als ihr der Vater einmal, mit einer ganz einfachen liebkosenden Geste die Hand auf den Kopf legte, brach sie in Tränen aus und sagte: »c'est une benediction, mon père«. Wie hätte sie diesen Ausruf deutsch tun sollen! Die Erziehung der Kinder war einer Lothringerin anheimgegeben, wobei das Wort »Erziehung« einen durchaus unbestimmten Begriff von ein wenig äußerlicher, französischer Kultur umfaßte. Charlotte lernte nicht deutsch schreiben. Und ebensowenig wie dem Unterricht ein sicherer Plan zugrunde lag, ebensowenig dachte man daran, das erregbare Gemüt des Kindes mit liebevoller und fester Klarheit zu lenken. Das Leben auf dem Lande brachte es mit sich, daß die Kinder viel in der Natur herumstreiften. Daraus hätte dem Wesen des phantasievollen Mädchens viel Gesundes zuwachsen können. Die Natur konnte zu ihr sprechen, Nüchternheiten heilsam aufstellen, Traumgebilde einschränken, durch die Realitäten der Erscheinungen den Überschwang bändigen. Als klare Lehrmeisterin ihr zeigen: so ist das Dasein! Die Beobachtung des heilig-einfachen Lebens in Wald und Feld und Stall und Garten konnte Charlotte vorbereiten, sich dereinst dem schwierigeren und zusammengesetzteren Leben in der Kultur mit mehr Gefaßtsein gegenüber zu stellen.
Aber sie vermochte nichts zu beobachten, und die Natur durfte ihr nur all die unruhevollen und mystischen Vorstellungen vermehren, von denen ihre Seele überfüllt war. Denn Charlotte litt an einer angeborenen Schwäche der Augen – diese schönen, großen Augen konnten von der ganzen Außenwelt nur ein Bild aufnehmen, das immer wie von Fernduft umschleiert war, das in undeutlichen Linien verschwamm. Und das Gewölbe des Himmels über ihr war für sie nie durchfunkelt vom anheimelnden Glanz zahlloser Sterne; der Mond hatte für sie kein schmunzelndes Großvatergesicht, das nachsichtig und wohlgefällig auf das bißchen Erdentorheit herunterlächelt. In verwischter, geheimnisvoller Unsicherheit drohte ihr die Natur entgegen, dunkel lastete die Unendichkeit der Nacht sternenlos auf ihr, und der weiße Mond war ihr eine harte Scheibe.
Bei weiblichen Kindern nimmt die Vorstellungskraft eine übernatürliche Stärke an, wenn sie sich den Entwicklungsjahren nähern. Beschäftigung mit religiösen Fragen, vor denen man unreif, hilflos und doch leidenschaftlich erregt steht; Furcht vor grauenhaftem Scheintod; phantastische Erwartungen außerordentlicher Schicksalswendungen – diese Dinge martern den Geist der zwölf- bis vierzehnjährigen Mädchen. Bei Charlotte aber traten diese Zustände schon so früh auf, daß man von einer beginnenden Hysterie sprechen darf, um deren Anzeichen sich aber niemand kümmerte. Ihre Nerven befanden sich in einer beständigen, vibrierenden Erregung. Damals bewegte die Freimaurerei alle Köpfe und Zungen; Charlotte hörte am Tische ihrer Eltern viel davon sprechen, und da ihre Seele von unbestimmten Unruhen erfüllt war, hingen sich nun ihre Gedanken an dieses Wort. Es klang ja nach Geheimnissen, nach großem, menschenfreundlichem, priesterlichem Gebaren.
Aus diesem Stilleben voll unaufhörlicher, unterdrückter Gemütsbewegungen, denen rechter Anlaß und jede Entladung fehlte, die deshalb ungesund waren, wie alle gegenstandslose Beschäftigung es ist, wurde Charlotte hinweggeführt durch eine Schwester ihres Vaters. Diese war auf Waltershausen zum Besuch gewesen, floh aber von dort, weil die Pocken im Grabfeld ausbrachen, und nahm Charlotte mit sich auf ihre Besitzungen ins Itzthal. Das war die erste Reise des Kindes. Und sie war der Beginn einer merkwürdigen Unruhe in diesem jungen Leben, einer ahasverischen Unruhe, in bestimmten geographischen Grenzen. Wandern, wandern, wandern wurde Charlottens Los ... Nie hat sie eine rechte Heimat gehabt, nie lange an einem Herd gesessen ...
Die große Beweglichkeit der adeligen Gesellschaft damals scheint erstaunlich. Aber die vielen Pferde, die man halten konnte und die wenig kosteten, die Gastfreundschaft, die man unterwegs überall fand und die Inanspruchnahme von Wirtshäusern vielfach unnötig machte, das erleichterte das Reisen und ließ es nicht kostspielig werden.
Mit froher Neugier wäre jedes andere Rind in die Ferne gezogen; aber für Charlotte konnte die Reise eigentlich keine Wandelbilder voll reizvoller Überraschungen zeigen. Die Welt außerhalb der Wagenfenster war für ihre kurzsichtigen Augen überall von der gleichen Verschwommenheit. Und ihr leidenschaftliches Herz hing auch so innig an den Ihren, vor allem an dem Vater.
Bald peitschte das Heimweh die immer geängstigt umherschweifende Phantasie. Charlottens Unruhe wuchs, je länger die Trennung dauerte, bis zu einer Art von Verfolgungswahn. Und in dieser schmerzlichen Exaltation steigerte sich in ihrem Gehirn die Reizbarkeit in einem unheimlichen Grade. Sie hatte Visionen und sah ihren Vater tot ... Wenige Zeit darnach traf die Nachricht seines Todes ein. Die hellen Augen, die mehr die eines liebevollen Herrschers als die eines einsichtigen Pädagogen gewesen waren, hatten sich geschlossen ... In den Jammer um den Verlust mengte sich ihr ein nervös-schauriges Gefühl, eine Furcht vor der eigenen Seele, die den Tod eines teuren Menschen vorauszusehen vermocht hatte.
Die Epidemie schien abzuebben, und die verwitwete Frau rief sehnsüchtigen Herzens nach ihren Kindern. Charlotte wurde nach Waltershausen zurückgebracht, wo die Halbwaisen, ein halbwüchsiger Junge und drei zarte Mädchen, sich traurig an die Mutter schmiegten.
Frau v. Ostheim war eine fromme, aufrechte Frau. Sie hielt sich zur Kirche. Aber sie hatte die vernünftige Vorsicht gehabt, der Kirche und insbesondere dem Abendmahl fernzubleiben, solange man nicht wissen konnte, ob man am Kelch oder an der Hostie sich etwa Ansteckung hole. Nun aber ward ihr Verlangen, Erhebung in Trauer, Trost und Mut für zukünftige Lebensaufgaben zu finden, übermächtig. Sie ging zum Abendmahl, um mit der schwersten Ansteckung infiziert heimzukehren. –
Und so legte sich auch die Mutter hin und starb den widrigen, schweren, schreckhaften Tod ...
Vier Waisen waren sie nun, vaterlos, mutterlos. Da war kein Herz mehr, das sich ihnen voll Wärme hingab. Da war keine Hand mehr, an die sich die Verängsteten halten konnten. Durch das zerstörte Elternhaus schlich die Furcht, und alle Räume schienen sich mit ihrem gespannten, zitternd-erwartungsvollen Wesen zu füllen. Wie umdroht von verderbenbringenden Schicksalen war die Jugend der Kinder.
Und in diesem dumpfen Gefühl, von irgend etwas Unbegreiflichem verfolgt zu sein, sich vom Unglück wie gezeichnet glaubend, verbarg Charlotte sich am liebsten in Einsamkeit. Ein Kind, das die Einsamkeit sucht Das ist Unnatur und Jammer. Wie überlastet war ihre Seele in diesen Stunden von den zugleich unklarsten und überreifsten Gedanken. Sie betrachtete sich unaufhörlich selbst, sann über ihre Empfindungen nach, über ihre Erlebnisse, und aus dieser Beschäftigung mit sich selbst erwuchs ihr eine Art von Wichtigkeit – sie gefiel sich in diesem Hang zur Einsamkeit. Als sei Erlesenheit und Vornehmheit darin, die sie über ihre Geschwister erhoben. Immer von neuem, mit einer Gesteigertheit des Schmerzes, der den Trost als etwas Herabwürdigendes fühlte, versenkte sie sich leidenschaftlich in ihren Gram, und in späteren Jahren, wenn sie ihrer düsteren Jugendtage dachte, sagte sie: Als Kind habe ich ausgeweint.
Und nun wurde dieses unkindliche Kind von der Heimat verjagt. Jenes trostlose Wanderleben begann, das innere Unruhe in ihr großzüchten mußte. Kaum hatte sie versucht, sich an eine Umwelt ein wenig heranzufühlen, Fäden zu knüpfen, Wärme zu gewinnen, so hieß das Schicksal sie weiterziehen. Und diese beständige Veränderung der äußeren Szene erweckte eine tief im Grunde ihres Wesens ruhende Begierde nach irgendeinem glücklichen, dauernden Zustand, nach einem Ziel, nach einer seelischen Heimat. Sie war wie ein Eremit, der sich durch den brausenden Strom des Weltlärms kämpfen muß und dessen Ohr zuweilen inmitten der geräuschvollen Unrast wie von einer Erinnerung benommen wird – der plötzlich die Stille zu erlauschen vermeint, die es irgendwo in der Welt geben muß, die Stille, die auf ihn wartet ... jene vollkommene, heilige, die so groß ist, daß man sie hören kann – wie man die Feierlichkeit Gottes in einsamen Kirchen hört ...
Und diese überempfindliche Seele, krank vor Sehnsucht, zitternd noch von allen eben empfangenen Wunden, ward nun dem Zufall und der Lieblosigkeit anheimgegeben. Denn für solche Seelen, die zu viel fordern, weil »Liebe« für sie eine Unendlichkeit der Hingabe bedeutet, die zu viel brauchen, weil ihr Bedürfnis nach Wärme unersättlich ist, kann wohlmeinende Verwandtenfreundlichkeit keine Erfüllung sein und keine Beruhigung.
Da die Stein und die Marschalk v. Ostheim mit dem ganzen fränkischen und thüringischen Adel verwandt und bekannt waren, fehlte es nicht an Obdach für die verwaisten und sehr begüterten Kinder. Sie hatten von ihrem Vater die Besitzungen Waltershausen, Dankelfeld, Marisfeld und Trabelsdorf geerbt, und wenn sie auch Almosen des Herzens empfingen, auf die finanzielle Hilfe ihrer Familie waren sie nicht angewiesen.
Zunächst wurde Charlotte zu Verwandten gebracht, deren Namen und Häuser sich die Greisin, als sie ihre Erinnerungen diktierte, wohl nicht mehr entsann, denn sie weiß nichts Näheres von ihnen zu berichten. Aber das wußte auch die Greisin noch, daß die Schwestern getrennt worden waren und daß die Verwaisten des tröstenden Glücks entbehrten, sich aneinander klammern zu dürfen. Erst in Meiningen, bei Frau v. Türk, konnte Charlotte sich für kurze Zeit des geschwisterlichen Beisammenseins mit ihren Nächsten, Liebsten erfreuen. Nur für kurze Zeit, denn sehr bald erschien es angebracht, daß Charlotte zu Herrn v. Stein, einem der Brüder ihrer Mutter, übersiedelte. Dort sollte sie geimpft werden – ein Vorhaben, das man damals noch mit Umständlichkeit umgab. Aber die Stimmung fehlte. In die Familie kam wieder einmal eine Trauerbotschaft. Der Tod hatte Charlottens Phantasie eine Weile geschont. Nun war er wieder da und ließ seine düsteren Bilder am Lebenshorizont der geängsteten Mädchenseele vorbeiziehen, diese Wandeldekoration in Grau und Schwarz, die der Hintergrund ihrer Jugendszene blieb.
Der Deutschherr v. Stein fiel vor Belgrad, um dessen Besitz sich damals die Österreicher mit den Türken in mehr als hundertjährigen Fehden herumschlugen, durch eine feindliche Kugel. Für ihn hatte Charlotte eine begeisterte Verehrung gehabt, er war von ihr ehrfürchtig angestaunt gewesen, hatte ihr vielleicht ein wenig so etwas wie ein erstes aus scheuer Ferne bewundertes Mannesideal bedeutet. Und nicht allein sein edles Wesen war hiervon die Ursache, auch sein Stand umgab ihn mit einem Nimbus. Er war Deutschherr! Ein weißer Mantel und darauf ein schwarzes Kreuz flatterten vor Charlottens Einbildungskraft. Und er schien über besondere, romantische, entsagungsvolle Geschicke, sie geheimnisvoll verhüllend, sich hinzubreiten. So erregte sein Tod sie schmerzlich – ein Tod in jenen Türkenkämpfen, die die Phantasie der Völker Europas mit unterhaltsamem Schrecken beschäftigten.
Herrn v. Steins Gastlichkeit hielt die Nichte nicht lange bei sich fest. Sie kam nach Meiningen zurück, aber nur zu einem ganz kurzen Aufenthalt. Denn ihre Einsegnung stand bevor, und es wurde für schicklich erachtet, sich dazu auf dem Lande in völligster Ruhe vorzubereiten. Und nun schien ihre Sehnsucht nach einem stillen, innerlichsten Besitz, nach einer eigensten Welt, darin ihre Seele Heimatfrieden fände, sich zu erfüllen. Sie warf sich dem religiösen Leben entgegen mit jener Ganzheit ihres Wesens, die immer das eigentlichste Merkmal ihrer Persönlichkeit blieb ... Sie versenkte sich völlig in Christus. Sie wurde ungesellig und störrisch gegen ihre Umgebung, als empfände sie alles, was sie in ihrer inbrünstigen Hingabe stören könnte, gleich einer Feindschaft.
Schon die nächsten Monate nach der Einsegnung forderten von ihr Proben des neugewonnenen christlichen Sinnes. Sie konnte am Krankenbette der Tante liebevollste Geduld beweisen. Auf einer mit Charlotten gemeinsam unternommenen Badereise fand Frau v. Türk keine Besserung; sie siechte dem Tode entgegen. In diesen ernsten Zeiten las Charlotte Stolbergs »Fülle des Herzens« – was ihre Schwester Eleonore, der es nicht an Witz fehlte, drollig übersetzte »la farce du coeur et les élans du sentiment«. Frau v. Türk war Charlotte teuer gewesen. Nun erlosch auch dieses Leben, das einigen Halt für die jungen Mädchen bedeutet hatte.