Arthur Schopenhauer

Die Kunst, Recht zu behalten

 

 

 

Arthur Schopenhauer: Die Kunst, Recht zu behalten

 

Vollständige Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Arthur Schopenhauer, Radierung von 1901 nach der "Ersten Schäferschen Photographie" von Rogelio de Egusquiza (1845-1915)

 

ISBN 978-3-8430-5211-5

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-1480-9 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-1481-6 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Zu Lebzeiten unveröffentlichtes Manuskript aus Schopenhauers Nachlass. Der Text entstand im Herbst 1830 in Berlin und wurde 1864 von Julius Frauenstädt neben zahlreichen anderen Manuskripten aus dem Nachlass veröffentlicht.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Vorwort des Herausgebers

Schopenhauer bestritt, dass die Welt einem für den Menschen nachvollziehbaren Prinzip folge. So war es gegen Ende des Jahres 1830 durchaus nicht seine Absicht, ein Verfahren zu entwerfen, das geeignet wäre, die Wahrheit über ein Ding an sich herauszufinden. Vielmehr formulierte er 38 sogenannte Kunstgriffe, mit deren Hilfe sich – unabhängig von der Richtigkeit des eigenen Standpunktes – die Oberhand in einem Streitgespräch gewinnen und behalten lassen sollte. Vergleichbar mit der Fertigkeit eines Fechters wird taktisch pariert und listig attackiert, um schließlich zu siegen – allein um des Siegens willen, der Wahrheit gänzlich ungeachtet. Seine »Kunst, Recht zu behalten« ist eine brillante rhetorische Anleitung für Rabulisten aller Zeiten. Entstanden ist sie als ironische Vorführung der von Schopenhauer verachteten Diskurskultur seiner Zeitgenossen.

Wie rund 2000 Jahre zuvor die Sophisten von Sokrates und seinen Schülern als effekthaschende Schwätzer geschmäht wurden, fühlte sich der 42-jährige Schopenhauer von den rhetorischen Gepflogenheiten der akademischen Welt seiner Zeit abgestoßen, die ihm beharrlich ihre Anerkennung versagte. Sein früh verfasstes Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« war von der Fachwelt weitestgehend unbeachtet geblieben. Den berühmten Streit mit Hegel an der noch jungen Berliner Universität, die später den Namen ihres Initiators »Humboldt« tragen sollte, hatte er gründlich verloren, als er im Herbst vor der großen Choleraepidemie in Berlin die 38 rhetorischen Strategeme zusammenfasste und unter der Überschrift »Eristische Dialektik« die kleinen Kriegslisten entlarvte, derer sich seine Zeitgenossen bedienten. Eris ist die kleinwüchsige, hässliche Göttin der Zwietracht. Der goldene Apfel, den sie in eine Hochzeitsgesellschaft warf, zu der sie nicht eingeladen war und damit schließlich den Trojanischen Krieg anzettelte, ist uns heute noch als der berühmte Zankapfel geläufig. Homer wusste über Eris, dass sie, sobald sie Neid und Hass zu erwecken vermochte, zu gigantischer Größe und Schönheit empor wuchs.

In der Befassung mit solcher Fertigkeit, die verlangt wird, um in einer Welt zu bestehen, in der es auf Tricks und Kniffe ankommt, sieht Schopenhauer ein – wenngleich notwendiges – Übel und kann sich zu Lebzeiten nicht zu einer Veröffentlichung seiner Eristik entschließen. 1851 distanziert er sich sogar von dem Ansatz. Erst 1864 – über dreißig Jahre nach der Entstehung und vier Jahre nach Schopenhauers Tod – gibt Julius Frauenstädt den Text neben vielen anderen aus dem Nachlass heraus.

Die Aktualität des beinahe 200 Jahre alten Leitfadens ist ungebrochen. Auch heute erscheint die Kunst, Recht zu behalten allzu oft entscheidend für das Bestehen in der Welt.

Nach der Fertigstellung seiner eristischen Dialektik floh Arthur Schopenhauer übrigens aus seiner Wohnung in der Berliner Dorotheenstraße nach Frankfurt – vor der Cholera, an der der in Berlin gebliebene Hegel kurz darauf starb.

 

Adrian Wegeler

Berlin, im Januar 2015

 

Einleitung: Logik und Dialektik
[Fragment gebliebene Einleitung]
I.

1 Logik und Dialektik wurden schon von den Alten als Synonyme gebraucht, obgleich λογίζεσθαι, überdenken, überlegen, berechnen, und διαλέγεσθαι, sich unterreden, zwei sehr verschiedene Dinge sind. Den Namen Dialektik (διαλεκτική, διαλεκτικη πραγματεία, διαλεκτικος ανήρ) hat (wie Diogenes Laertius berichtet) Plato zuerst gebraucht: und wir finden, daß er im Phädrus, Sophista, Republik Buch VII usw. den regelmäßigen Gebrauch der Vernunft, und das Geübtsein in selbigem darunter versteht. Aristoteles braucht τα διαλεκτικά im selben Sinne; er soll aber (nach Laurentius Valla) zuerst λογική im selben Sinne gebraucht haben: wir finden bei ihm λογικας δυσχερείας, i. e. argutias, πρότασιν λογικήν, απορίαν λογικήν. – Demnach wäre διαλεκτική älter als λογική. Cicero und Quintilian brauchen in derselben allgemeinen Bedeutung Dialectica [und] Logica. Cicero in Lucullo: Dialecticam inventam esse, veri et falsi quasi disceptatricem. – Stoici enim judicandi vias diligenter persecuti sunt, ea scientia, quam Dialecticen appellant, Cicero, Topica, Kap. 2. – Quintilian: itaque haec pars dialecticae, sive illam disputatricem dicere malimus: letzteres scheint ihm also das lateinische Äquivalent von διαλεκτική. (So weit nach Petri Rami dialectica, Audomari Talaei praelectionibus illustrata, 1569.) Dieser Gebrauch der Worte Logik und Dialektik als Synonyme hat sich auch im Mittelalter und der neuern Zeit, bis heute, erhalten. Jedoch hat man in neuerer Zeit, besonders Kant, »Dialektik« öfter in einem schlimmern Sinne gebraucht als »sophistische Disputierkunst«, und daher die Benennung »Logik« als unschuldiger vorgezogen. Jedoch bedeutet beides von Haus aus dasselbe und in den letzten Jahren hat man sie auch wieder als synonym angesehn.

 
II.

Es ist Schade, daß »Dialektik« und »Logik« von Alters her als Synonyme gebraucht sind, und es mir daher nicht recht frei steht, ihre Bedeutung zu sondern, wie ich sonst möchte, und »Logik« (von λογίζεσθαι, überdenken, überrechnen, – von λόγος, Wort und Vernunft, die unzertrennlich sind) zu definieren, »die Wissenschaft von den Gesetzen des Denkens, d. h. von der Verfahrungsart der Vernunft« – und »Dialektik« (von διαλέγεσθαι, sich unterreden: jede Unterredung teilt aber entweder Tatsachen oder Meinungen mit: d. h. ist historisch, oder deliberativ), »die Kunst zu disputieren« (dies Wort im modernen Sinne). – Offenbar hat dann die Logik einen rein apriori, ohne empirische Beimischung bestimmbaren Gegenstand, die Gesetze des Denkens, das Verfahren der Vernunft (des λόγος), welches diese, sich selber überlassen, und ungestört, also beim einsamen Denken eines vernünftigen Wesens, welches durch nichts irregeführt würde, befolgt. Dialektik hingegen würde handeln von der Gemeinschaft zweier vernünftiger Wesen, die folglich zusammen denken, woraus sobald sie nicht wie zwei gleichgehende Uhren übereinstimmen, eine Disputation, d. i. ein geistiger Kampf wird. Als reine Vernunft müßten beide Individuen übereinstimmen. Ihre Abweichungen entspringen aus der Verschiedenheit, die der Individualität wesentlich ist, sind also ein empirisches Element. Logik, Wissenschaft des Denkens, d. i. des Verfahrens der reinen Vernunft, wäre also rein apriori konstruierbar; Dialektik großen Teils nur a posteriori aus der Erfahrungserkenntnis von den Störungen, die das reine Denken durch die Verschiedenheit der Individualität beim Zusammendenken zweier Vernünftiger Wesen erleidet, und von den Mitteln, welche Individuen gegeneinander gebrauchen, um jeder sein individuelles Denken, als das reine und objektive geltend zu machen. Denn die menschliche Natur bringt es mit sich, daß wenn beim gemeinsamen Denken, διαλέγεσθαι, d. h. Mitteilen von Meinungen (historische Gespräche ausgeschlossen) A erfährt, daß B's Gedanken über denselben Gegenstand von seinen eigenen abweichen, er nicht zuerst sein eignes Denken revidiert, um den Fehler zu finden, sondern diesen im fremden Denken voraussetzt: d. h. der Mensch ist von Natur rechthaberisch; und was aus dieser Eigenschaft folgt, lehrt die Disziplin, die ich Dialektik nennen möchte, jedoch um Mißverstand zu vermeiden, »Eristische Dialektik« nenne will. Sie wäre demnach die Lehre vom Verfahren der dem Menschen natürlichen Rechthaberei.

 

Fußnoten

 

1 (Dies ist der rechte Anfang der Dialektik.)

 

Eristische Dialektik

Eristische Dialektik2 ist die Kunst zu disputieren, und zwar so zu disputieren, daß man Recht behält, also per fas et nefas.3 Man kann nämlich in der Sache selbst objective