Sophienlust, wie alles begann
– 9 –

Auf den Schwingen der Sehnsucht

Eine neue Liebe für Denise?

Marietta Brem

Impressum:

Epub-Version © 2021 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74098-693-3

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Die Gedanken stürmten auf sie ein wie hungrige Wölfe, und sie wusste nicht, was sie tun, wie sie sich Stefanie gegenüber verhalten sollte. So verwirrt hatte sich Denise schon lange nicht mehr gefühlt. Marcels Geständnis, er hätte sich in Stefanie verliebt, stürzte sie in solch einen Gewissenskonflikt, dass alle anderen Probleme mit einem Mal an Bedeutung verloren.

Wie sehr hätte sie ihren beiden besten Freunden gegönnt, dass sie zusammen glücklich werden konnten, denn es war ihr aufgefallen, dass auch Stefanie Marcel sehr gern sah. Doch würde diese Liebe eine Zukunft haben? Immerhin erwartete Stefanie ein Kind von einem anderen Mann.

Sollte sie es ihr trotzdem sagen, oder würde sie die Freundin damit nicht noch mehr in Verwirrung stürzen, da sie schon jetzt nicht mehr ein noch aus wusste? War es grausam, es ihr zu sagen, oder vielleicht noch grausamer, es zu verschweigen?

»Ein Königreich für deine Gedanken, liebste Freundin«, sagte Stefanie, die unbemerkt das Esszimmer betreten hatte. »Was ist los? Du hast doch hoffentlich keine Geheimnisse vor mir?« Die Frage sollte scherzhaft klingen, doch im Nachgang konnte man ziemlich gut den besorgten Unterton hören, wenn man dafür sensibel genug war.

Denise besaß diese Sensibilität, für die sie dankbar war, weil sie auf diese Weise möglichen Problemen manchmal schon auf die Spur kam, ehe sie überhaupt entstanden. Gleichzeitig jedoch machte ihr diese Gabe das Leben deutlich schwerer, denn es konnte geschehen, dass sie selbst ihren Gefühlen nicht vertraute und deshalb noch bedeutend aufmerksamer war, um nichts zu übersehen.

Sie drehte erschrocken den Kopf herum und schaute der Freundin direkt ins Gesicht. »Wie kommst du darauf?«, fragte sie vorsichtig.

»Du kannst mir nichts vormachen, Liebes. Wir sind seit Jahren beste Freundinnen, schon vergessen? Also raus damit, was ist los?«

»Setz dich.« Denise deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. Sie wollte Stefanie ins Gesicht sehen, während sie mit ihr redete. Spontan hatte sie sich für die Wahrheit entschieden und hoffte, dass dies kein Fehler war.

»Du musst gar nichts sagen, Denise, ich weiß es ohnehin, und ich verstehe es. Ihr seid zu dem Entschluss gekommen, dass ich gehen soll. Ihr habt selbst genügend Eigenes um die Ohren, da passe ich mit meinem hausgemachten Kummer nicht rein. Ich weiß, ich jammere auf hohem Niveau. Welches Mädchen hat schon das Glück, einen Millionärssohn zum Freund und jetzt sogar zum Vater ihres ungeborenen Kindes zu haben?«

Denise schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht«, antwortete sie zögernd. »Ich freue mich an jedem Tag, den du hier bei uns bist. Und meine Eltern sind begeistert von dir. Ich hatte nie richtige Freundinnen, dazu war keine Zeit, außerdem ist meine Familie ziemlich groß, sodass ich nichts vermisste, bis wir uns trafen.«

»Wo ist dann das Problem?«

»Es geht um … um Marcel. Er hat bei mir sein Herz ausgeschüttet, und ich denke, du solltest es wissen.«

»Wenn Marcel gewollt hätte, dass du es mir sagst, dann hätte er das auch selbst tun können«, widersprach Stefanie verwirrt. »Vielleicht ist es besser, du sagst nichts, und ich hoffe darauf, dass er es mir sagt.«

Denise schüttelte den Kopf. »Da denke ich anders«, widersprach sie. »Er wird nichts sagen. Und außerdem ist nicht mehr allzu viel Zeit, um zu handeln.«

»Handeln?«, wiederholte Stefanie gedehnt. »Jetzt machst du mich aber neugierig. Was ist los?«

»Kannst du es dir denn nicht denken? Nicht ein kleines bisschen?«

Stefanie schüttelte den Kopf. »Ich bin keine Hellseherin. Außerdem sind meine Probleme im Augenblick sehr im Vordergrund und verlangen nach einer Entscheidung.«

»Dann sag ich es dir.« Denise holte tief Luft. »Marcel ist in dich verliebt.« Erleichtert lehnte sie sich zurück, ohne die Freundin dabei aus den Augen zu lassen. Sie erwartete jetzt einen Schrei des Entsetzens, einen überraschten Gesichtsausdruck, abwehrendes Heben beider Hände oder ein aufgeregtes Lachen. Doch nichts dergleichen geschah.

»Ich hab mir bereits so etwas Ähnliches gedacht«, murmelte Stefanie vor sich hin. »Genau das wollte ich verhindern, deshalb hatte ich für heute meine Rückfahrt geplant. Dir zuliebe hab ich es um einen Tag verschoben, und dann passiert so etwas.« Sie schaute etwas finster drein.

»Du hättest mit deiner überstürzten Flucht heute nichts mehr aufhalten können. Ich weiß es bereits seit Mittwoch, heute ist Freitag. Du siehst, es hätte dir nichts gebracht.«

»Nein, nein, nein.« Stefanie schüttelte den Kopf. »Warum jetzt? Warum kommen die guten Sachen immer erst, wenn es dafür zu spät ist?«, fragte sie traurig, ohne eine Antwort zu erwarten. »Als ich Marcel das erste Mal mit dir zusammen sah, dachte ich noch, wie kann sich meine Freundin in so einen Schnösel verlieben. Aber das ist er gar nicht. Ich habe noch nie so einen warmherzigen, mitfühlenden Mann erlebt wie ihn. Er hat mir zugehört, versucht, mich zu trösten und mir mit gutem Rat zur Seite zu stehen. Warum nur, Denise, musste mir das mit dem Baby passieren?«

»Das Baby kann nichts dafür«, antwortete Denise leise. »Wir werden gemeinsam einen Weg suchen und auch finden, den du gehen kannst.« Im Moment glaubte sie selbst nicht so ganz an ihre aufmunternden Worte, doch sie konnte die Freundin auch nicht allein lassen in ihrem Kummer.

»Es gibt nur einen einzigen Weg«, murmelte Stefanie traurig. »Ich werde Jens heiraten, und es wird der größte Fehler meines Lebens werden. Hätte ich gewusst, wie alles kommt, dann hätte ich mir damals Marcel genauer angeschaut. Doch ich war der Meinung, er ist dein Freund, und du wirst ihn irgendwann heiraten. Ich versuch doch nicht, meiner besten Freundin den Freund auszuspannen.«

»Außerdem war er damals für dich ja ein Schnösel«, versuchte Denise einen Scherz. »Ich glaubte dich ja auch bis vor kurzem in festen Händen«, fuhr sie nachdenklich fort. »Es ist traurig, dass die Menschen so wenig miteinander reden. Wer weiß, vielleicht hätten wir etwas verhindern können. Doch ich hatte keine Ahnung, genau wie du.«

Stefanie nickte vor sich hin. »Was mache ich bloß? Ich gebe zu, dass Marcel mir ebenfalls nicht gleichgültig ist. Doch es ist ihm nicht zuzumuten, dass er das Kind eines anderen Mannes aufzieht.«

»Solltest du diese Entscheidung nicht dem überlassen, den es betrifft?«

»Ach, Denise, grundsätzlich hast du recht. Doch ich kann mir gut vorstellen, dass, wenn die erste Verliebtheit vorbei ist, mein Kind immer wieder ein Streitobjekt sein könnte. Ich weiß, das klingt ziemlich herzlos, doch ich denke, so etwas gibt es öfter, als man denkt. Ich möchte nicht einen weiteren Menschen unglücklich machen, und damit meine ich nicht Marcel. Er ist erwachsen und wird darüber hinwegkommen. Doch so ein kleines Wesen verdient ein intaktes Elternhaus, in dem es behütet aufwachsen kann.«

»Du denkst, Jens wird ein guter Vater sein? Hattest du vor Kurzem nicht große Zweifel? Bitte versteh mich nicht falsch, Stefanie. Natürlich ist es für ein Kind das Beste, wenn es richtige Eltern hat, leibliche Eltern. Doch du selbst zweifelst es doch ständig an, dass Jens als Vater geeignet ist. Oder hab ich da was falsch verstanden?«

Stefanie schwieg. Sie starrte auf ihre ineinander verkrampften Finger und atmete schwer. Man konnte ihr deutlich den Kampf ansehen, der in ihr tobte. Nach einer Weile hob sie den Kopf und schaute Denise direkt in die Augen. »Ich werde nachher fahren«, sagte sie entschieden. Diese Worte kosteten sie sehr viel Kraft, doch sie spürte, dass dies die einzige Entscheidung war, die sich trotz allem richtig anfühlte.

»Ist das dein Ernst?«

Stefanie nickte. »Ich muss es zumindest versuchen. Heute Abend werde ich Jens sagen, dass er Vater wird. Dann wird es für mich kein Entrinnen mehr geben. Ade, Schwanensee, ade, Freiheit…« Plötzlich liefen ihr Tränen über die Wangen. »Ich weiß, dass es richtig ist. Warum fühlt es sich so falsch an?«

Mitleidig nahm Denise die Freundin in die Arme. »Ich hätte es dir nicht sagen sollen.«

»Was meinst du?«, schluchzte Stefanie.

»Das mit Marcel. Damit hab ich dich noch mehr in diesen Konflikt gestürzt. Ach, Stefanie, warum nur ist das Erwachsen-Werden so schwierig und mit so vielen Fallen und Stolpersteinen behaftet?«

»Das sind meistens die Steine, die wir uns selbst aussuchen«, antwortete Stefanie kläglich. »Ich wusste schon länger, dass das mit Jens keine Zukunft hat. Mal war er liebevoll und zärtlich, dann wieder abweisend, und manchmal sogar aggressiv. Ich dachte, es würde an mir liegen. Inzwischen fürchte ich die Zeiten, wenn er nett ist zu mir, denn ich weiß, dass er dann wieder eine Frau im Auge hat, um die er kämpfen will. Jens ist nur gut drauf, wenn es was zu gewinnen gibt.«

»Dann lass ihn um dich kämpfen«, schlug Denise vor, merkte jedoch im nächsten Moment, dass dieser Vorschlag nicht durchführbar war. Schon gar nicht jetzt, da er Stefanie so fest am Angelhaken hatte, dass es für sie so gut wie kein Entrinnen gab.

Stefanie lächelte traurig. »Du hast es selbst gemerkt, nicht wahr? Für mich ist die Geschichte gelaufen. Ich hab nur noch zwei Möglichkeiten, zu bleiben oder zu gehen. Gehen wäre in meiner Situation vermutlich nicht sehr klug, denn ich wüsste nicht, wohin. Bleiben wäre die Fortsetzung meiner bisherigen Probleme. Ich tausche also den Teufel gegen den Beelzebub. Es ist zum Davonlaufen.«

»Kann ich irgendetwas tun?«, fragte Denise ratlos und war nun ebenfalls den Tränen nahe. So hilflos hatte sie sich noch nie gefühlt.

»Du hast schon so viel getan, Denise«, antwortete Stefanie nach kurzer Überlegung. »Mehr kann niemand tun. Ich muss ganz allein den richtigen Weg einschlagen, und der führt mich nach Hause zurück. Ich bin schwanger von Jens, und dazu werde ich stehen. Mein Kind soll glücklich aufwachsen, notfalls ohne Vater, denn ich glaube nicht, dass Jens sich plötzlich ändern wird. Doch es soll wissen, wo seine Wurzeln sind.«

»Vielleicht ändert sich Jens doch noch. Sicher ist es fair, wenn du ihm zumindest eine Chance gibst.« Denise war erleichtert, dass nun endgültig die Entscheidung gefallen war, obwohl sie die Freundin lieber an Marcels Seite gesehen hätte.

»Was wirst du Marcel sagen, wenn ich weg bin?« Diese Frage fiel Stefanie unendlich schwer. Erst jetzt merkte sie, dass sie für ihn mehr empfand, als sie sich anfangs hatte eingestehen wollen.

»Die Wahrheit«, antwortete Denise nach kurzer Überlegung. »Was könnte ich ihm sonst sagen?«

»Warum gefällt mir deine Antwort nicht?« Stefanie war erneut den Tränen nahe.

»Weil du Marcel liebst.« Denise wusste selbst nicht, woher dieser Geistesblitz gekommen war. Doch an Stefanies Reaktion merkte sie deutlich, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

Betroffen starrte Stefanie die Freundin an. Sie sagte lange nichts, dann nickte sie. »Du hast recht. Und was mache ich jetzt mit dieser Erkenntnis?« Sie sah zu ihrer Reisetasche hin, die bereits gepackt an der Haustür stand.

»Nichts. Du kannst nichts damit machen. Ich bin sicher, Marcel würde dein Kind lieben wie sein eigenes, doch er ist nicht der Vater. Ich denke, du würdest immer ein schlechtes Gewissen Jens gegenüber haben. Wenn die Ehe schiefgeht, kannst du dich noch immer trennen«, schlug sie in ihrer jugendlich unschuldigen Art vor.

»Das würde nie passieren, denn dann verliere ich mein Kind. Du glaubst doch nicht, dass Jens oder seine Eltern mir bei einer Trennung mein Kind lassen würden! Wenn ich gehen will, dann nur allein. Sie würden Himmel und Hölle in Bewegung setzen und die teuersten Anwälte verpflichten, die mir nachweisen, dass ich unfähig bin, mein Kind großzuziehen. Das werde ich nie tun. Deshalb fällt mir diese Entscheidung ja so schwer«, jammerte Stefanie plötzlich und fiel Denise schluchzend um den Hals. »Was hab ich nur getan, Denise, was hab ich getan.« Hastig stieß sie die Freundin von sich. »Ich muss gehen, sonst überlege ich es mir noch einmal.«

»Stefanie, ich…«

Abwehrend hob die junge Frau beide Hände. »Sag jetzt nichts mehr. Ich hab während der Heimfahrt genügend Zeit zum Nachdenken. Ich werde noch mal in mich gehen und alle Möglichkeiten überlegen. Dabei kann mir niemand helfen, auch du nicht.« Sie streichelte kurz über Denises Wange, dann drehte sie sich um, griff nach ihrer Tasche und stürmte aus dem Haus.

Ehe sie das Grundstück verließ, drehte sie sich noch einmal zu Denise um. »Sag allen, dass ich dankbar bin für eure Freundschaft. Ich melde mich.«

Noch ehe Denise etwas sagen konnte, war sie auf der Straße, warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz ihres Sportwagens, schwang sich hinters Steuer, startete den Motor und gab Gas. Dann war sie weg.

Traurig ging Denise ins Haus zurück. Ihr graute bei der Vorstellung, was sie jetzt noch vor sich hatte. Marcel! Wie sollte sie ihm schonend beibringen, dass sich seine Träume in Nichts aufgelöst hatten, kaum dass er begonnen hatte zu träumen.

»Armer Marcel, arme Stefanie«, murmelte sie vor sich hin. Sie seufzte und ließ sich auf den Liegestuhl fallen, der vor dem Haus stand, vor neugierigen Blicken geschützt durch einen dichten Jasminstrauch, der gerade dabei war, die ersten Knospen zu öffnen. Sie schloss die Augen.

So sah Denise nicht den Mann und die Frau, die unten auf der Straße standen und angestrengt in ihre Richtung starrten. Die beiden konnten sie durch den dicken Busch nicht richtig sehen, doch ihnen schien der Gedanke zu genügen, dass sie da war. Der weißhaarige Mann lächelte ein wenig, und die Frau hakte sich mit einer vertrauten Geste bei ihm unter. Es sah ganz harmlos aus, und doch führten die beiden etwas im Schilde, das nicht gut sein konnte …

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