Roy Rockwood

Bomba am großen Katarakt

Band 3

 

 

 

1 Der plötzliche Angriff

Es war noch nicht lange her, dass sich Bomba von seinen Urwaldfreunden verabschiedet hatte. Leichtfüßig eilte er durch den Dschungel, um bald zu seinem alten Gefährten Casson zurückzukommen. Lange Zeit war er unterwegs gewesen, und Besorgnis und Sehnsucht beschleunigten seinen Schritt.

Trotzdem war seine Aufmerksamkeit wach. Überall konnten Gefahren lauern. Im grünen Gewirr der Äste über seinem Haupt mochte eine Anakonda liegen, dicht an einen Zweig gepresst, um sich auf den Vorübergehenden hinabzuwerfen und ihn in ihrer tödlichen Umklammerung zu erdrücken.

Oder ein Jaguar konnte plötzlich auf dem Pfad vor ihm auftauchen. Dann siegte der, der um einen Sekundenbruchteil schneller zu handeln verstand. Wenn das Raubtier sich zum Sprunge duckte, musste der Pfeil schon von der Sehne schwirren. Die Hand durfte nicht zittern – das Auge musste sicher sein.

Wer den etwa vierzehnjährigen Jungen durch den Dschungel gleiten sah, erkannte bald, dass Kraft, Gewandtheit und Schnelligkeit seine besten Waffen waren.

Er war nicht anders als ein Eingeborener gekleidet – mit einem Lendentuch, der Mendijeh, und einem erbeuteten Pumafell – und es sah auf den ersten Blick so aus, als ob Bomba zu einem der im Amazonasgebiet lebenden Indianerstämme gehörte.

Diesem ersten Eindruck widersprach allerdings der Anblick des Gesichtes – die gerade, kurze Nase, die hellbraunen, freundlichen Augen und das gewellte, kastanienbraune Haar. Wenn auch das Antlitz bronzefarbig getönt war und wenn Bomba auch handgeflochtene Sandalen an den Füßen trug und mit Pfeil und Bogen und Machete umzugehen verstand wie ein Indianer – er war doch ein Kind weißer Eltern.

Gerade kehrte Bomba von einer Reise zum ‚Laufenden Berg’ zurück. Dort hatte er von Jojasta, dem bösartigen Medizinmann, etwas über das Geheimnis seiner Herkunft erfahren wollen. Aber der tyrannische Priester der Götzen hatte ihn vor seinem Tode nur an Sobrinini verwiesen, eine Frau, die beim ‚Großen Wasserfall’ lebte. Trotz aller Bemühungen hatte Bomba immer noch nicht erfahren können, wer sein Vater und seine Mutter waren.

Plötzlich hielt der Junge an. Sein Ohr hatte ein Geräusch vernommen. Unwillkürlich griff die Hand zum Buschmesser. Es raschelte in den Zweigen, und Bomba trat einen Schritt zurück. Dann jedoch schallte sein helles, gutmütiges Lachen durch den Wald.

„Doto!“, rief er und trat an den Baum heran, aus dessen Gezweig das Affengesicht zu ihm herunterschaute. „Was ist mit dir los? Wir haben uns doch vorhin verabschiedet! Musst du mir nachspionieren und mich erschrecken?“

Der Affe ließ sich auf den Boden gleiten und blieb dicht vor Bomba stehen. Seine langen Arme machten aufgeregte Bewegungen. Unablässig kam ein leises, eifriges Schnattern aus seinem Maul, und in den braunen Affenaugen glimmte Angst.

Es war sicher, dass er Bomba vor einer Gefahr warnen wollte. Der Junge spähte umher und lauschte, aber er vermochte nichts Verdächtiges zu entdecken. Vom dichten Laubdach gedämpft, fiel das Tageslicht spärlich in den Dschungel, und die Luft war heiß und feucht. Von einem nahen Wasserloch stiegen Schwaden verdunstenden Wassers auf. Das hohe Summen der Insekten lag wie ein gleichbleibender singender Ton in der Luft, und hin und wieder drang ein helles Papageienkreisdien durch die Stille.

Nun erinnerte sich Bomba daran, dass er am Morgen auf die Spuren von Kopfjägern gestoßen war. In dieser Gegend wohnten friedliche Indianerstämme, aber gelegentlich machten die Kopfjäger vom ‚Großen Wasserfall‘ einen Raub- und Jagdzug in dieses Gebiet. Bomba hatte schon einige Erfahrungen mit diesen bösartigen und mordgierigen Wilden, und im Augenblick hatte er kein Verlangen danach, mit ihnen in Berührung zu kommen.

„Was willst du mir sagen?“, fragte er seinen Urwaldfreund. „Hast du etwas gesehen? Meinst du die bösen Männer mit den schrecklichen, gelben Zeichen auf der Brust?“

Mit Gesten unterstrich und verdeutlichte Bomba seine Fragen.

Der Affe hüpfte erregt vor Bomba auf und nieder, als wollte er seine Zustimmung bekunden. Der Junge sah sich unschlüssig um und ging ein paar Schritte in seiner Wegrichtung weiter. Jetzt aber klammerte sich Doto an seinen Arm und schnatterte beschwörend auf ihn ein.

„Wo ist die Gefahr?“, fragte Bomba. „Wohin darf ich nicht gehen?“ Er wies geradeaus.

Doto zog ihn noch kräftiger am Arm, als wollte er ihn darauf aufmerksam machen, dass er in diese Richtung auf keinen Fall gehen dürfte. Ungewiss schaute Bomba seinen Affenfreund an. Hatte er sich vielleicht geirrt? Oder verstand er nicht, was der Affe meinte?

Der Umweg, zu dem Doto ihn zwingen wollte, würde bedeuten, dass er noch später zu Casson heimkehren konnte. Trotzdem beschloss er, Dotos Warnung nicht zu missachten. Er änderte also seinen Kurs, verließ den Urwaldpfad und bahnte sich seinen Weg quer durch das Unterholz.

Doto begleitete den Jungen. Mitunter schwang er sich in die Äste empor und glitt über das zähe Unterholz dahin. Es war ein schönes Bild zu beobachten, wie Bomba es ihm gleichtat. Auch der Junge schwang sich mit panthergleicher Geschmeidigkeit auf den Baum und ließ sich von Ast zu Ast schnellen. Unter seiner braunen Haut spielten die Muskeln. Hin und wieder traf ein Sonnenstrahl sein Gesicht und überhauchte die Züge des Jungen mit bräunlich goldenem Schimmer.

Als der Dschungelwald ein wenig lichter wurde, eilten die beiden ungleichen Gefährten auf dem Boden weiter. Bomba beschleunigte seinen Schritt noch, um die verlorene Zeit einzuholen. Im Laufen redete er leise mit Doto. Er erzählte ihm von seinen Abenteuern am ‚Laufenden Berg‘ und mit den Kopfjägern. Wahrscheinlich verstand der Affe kaum ein Wort. Aber für Bomba bedeutete es Trost und Freude, über seine Erlebnisse und Enttäuschungen berichten zu können.

„Ich werde also zu Sobrinini vom Stamme der Pilati wandern müssen, sobald ich Casson besucht habe“, erzählte Bomba unter anderem. „Du siehst, Doto, ich habe nicht das erreicht, was ich erreichen wollte. Ich bin traurig. Aber ich werde nicht rasten, ehe ich nicht weiß, wer meine Mutter und mein Vater waren.“

Mit leisen Klagelauten gab Doto sein Mitgefühl zu verstehen. Aus dem Tonfall der Worte hatte er wohl herausgehört, dass der Junge ihm von seinem Kummer berichtete.

Plötzlich blieb Doto stehen und packte Bomba mit kräftigem Griff am Arm. Im nächsten Augenblick riss er den Jungen mit sich zu Boden.

Keinen Augenblick zu früh! Ein Pfeil zischte knapp über Bombas Kopf hinweg. Kaum eine Sekunde später sauste ein zweiter Pfeil über die beiden schräg in einen Baumstamm. Der Schaft zitterte, und sein Ende wies nach oben. Der Feind saß über ihnen!

2 In Todesnot

Sobald sich Bomba erhoben hätte, wäre er eine Zielscheibe für die heimtückischen Baumschützen gewesen. Wie eine Schlange wand er sich daher lautlos durch das hohe Gras. Kein Geräusch verriet seine Bewegungen.

Doto, der Affe, hatte die Geste des Jungen richtig verstanden. Er sprang lautlos zu einem Ast hinauf und verschwand im Gewirr der Blätter. Dort war er sicher.

Nicht weit von Bomba entfernt war ein riesiger Urwaldbaum umgestürzt. Er lag quer zu seinem Weg, und ein undurchsichtiges Gewirr von Ästen und Laub bildete ein gewaltiges Hindernis. Dorthin kroch der Junge. Er musste die geringe Zeitspanne ausnutzen, in der die Wilden noch vorsichtig in ihrem Baumversteck blieben. Wären sie sofort herabgekommen, hätten sie ihn leicht überwältigen können. Doch die Kopfjäger hatten bei Zusammenstößen mit Bomba schon empfindliche Verluste gehabt, und sie waren daher vorsichtiger geworden.

Jetzt war Bomba bei dem gestürzten Baum angekommen. Er tauchte in das Gewirr von Ästen und Blättern ein und bahnte sich unhörbar seinen Weg. Bald fand er ein natürliches Versteck, das für ihn sehr günstig war.

Der Baum war über eine Erdhöhle hinweggefallen, und der Stamm bedeckte dieses Loch fast ganz. Dort verbarg sich Bomba. Eng zusammengekauert hockte er in der Höhlung. Selbst wenn der Schutzvorhang von Zweigen zur Seite gezogen wurde, war sein Körper kaum zu entdecken.

Während Bomba im Versteck kauerte, hörte er, wie die Kopfjäger auf die Lichtung stürmten. Laute des Zornes und der Enttäuschung tönten zu ihm herüber. Ihr Opfer war verschwunden, und die Wilden begannen die nähere Umgebung sorgfältig abzusuchen. Es war sicher, dass sie über kurz oder lang auch bis zu dem umgestürzten Urwaldriesen kommen würden.

Mit Kummer und Wehmut dachte Bomba an seinen alten Freund und Beschützer, an Casson, mit dem er jahrelang in einer Hütte im Urwald gewohnt hatte. Der Alte war sein Lehrer und einziger Freund gewesen. Als Bomba noch klein war, hatte er von dem alten Naturforscher vieles über die Pflanzen und Tiere des Urwaldes gelernt. Dann hatte allerdings eine Gewehrexplosion den Naturforscher am Kopf verletzt. Seither litt er an Gedächtnisstörungen. Alle Fragen Bombas, die seine Eltern betrafen, beantwortete der Alte mit einem mürrischen Schweigen oder mit hilflosen Versuchen, sich an etwas zu erinnern, was die Vergangenheit betraf. Doch die Bemühungen waren bisher vergeblich gewesen. Nur daran hatte sich Casson noch erinnert: dass Jojasta, der Medizinmann vom ‚Laufenden Berg’, etwas von Bombas Herkunft wusste.

Im Augenblick hatte Bomba keine Zeit, sich an seine vergebliche Reise zu diesem geheimnisvollen Priester zu erinnern. Er dachte nur daran, dass Casson hilflos bei der alten Eingeborenen Pipina Zurückbleiben würde, wenn er im Kampf mit den Kopfjägern unterläge.

Dieser Gedanke verdoppelte seine Willenskraft. Er durfte nicht unterliegen! Casson brauchte ihn, und er selbst fühlte sich auch noch zu jung und viel zu lebenslustig, um als Trophäe der Kopfjäger ein vorzeitiges Ende zu finden.

Die Suchenden waren noch ziemlich weit von seinem Versteck entfernt. Sie verständigten sich mit wütenden, kehligen Zurufen, und es klang so, als ob sie sich augenblicklich sogar noch weiter von dem umgestürzten Baum entfernten.

Doch ein anderes Geräusch fesselte die Aufmerksamkeit des Jungen, und er wurde unruhig. Da war ein Laut, der ihm sehr missfiel. Es raschelte, als bewege sich ein langer, geschmeidiger Körper durch das Gras. In kurzen Abständen erklang ein rasselndes Zischen, und dieser Laut war es, der Bomba atemlos und starr vor Schreck aufhorchen ließ.

Ein Zweifel war nicht möglich: dort kam eine Schlange direkt auf ihn zu, und zwar eine Jaracara – die todbringende südamerikanische Klapperschlange. Schon die leichteste Verletzung durch ihre giftspeienden Fangzähne konnte den Tod bedeuten.

Gab es einen Fluchtweg? Unmöglich! Bombas Hand tastete zum Griff des Revolvers. Diese Waffe war sein stärkster Schutz. Er hatte sie von weißen Gummisuchern vor einiger Zeit geschenkt bekommen, als er den Männern bei einem nächtlichen Angriff von Jaguaren das Leben gerettet hatte.

Aber wenn er jetzt das Reptil erschoss, würde er sofort die Aufmerksamkeit seiner Verfolger auf das Versteck lenken. So durfte er von der Waffe keinen Gebrauch machen. Auch die Machete, das Buschmesser, war kein geeignetes Mittel zur Verteidigung. Die Giftzähne der Schlange würden sich in seinen Arm graben, bevor die Messerschneide den Kopf vom Rumpf des Reptils getrennt hätte.

Nah und deutlich ertönte jetzt das Rascheln der Jaracara. Der schmale Kopf schob sich langsam durch die Zweige. Die starren Augen blickten Bomba bösartig an, und der schillernde Körper des Reptils zog sich sofort in Ringen zusammen. Aus dieser Lage erfolgte dann immer der Angriff, wenn der Oberkörper und der Kopf sich vorschnellten, um das Opfer zu treffen.

Bomba ergriff einen dünnen Ast und riss ihn vom Stamm. In einem Augenblick hatte er sich seinen Angriffsplan zurechtgelegt. Als die Jaracara zustieß, hielt ihr der Junge blitzschnell den Stock entgegen. Sofort änderte die Schlange ihre Angriffsrichtung und biss wütend auf den Stock ein.

Bomba ließ dem Reptil keine Zeit, seinen Irrtum zu erkennen. Er warf seinen Oberkörper vor und packte mit beiden Händen fest den Schlangenhals. Unter seinen Fingern drehte und wand sich mit mächtiger Muskelkraft der Schlangenleib. Der Schwanz peitschte den Boden.

Das Schlimmste an diesem Kampf war, dass er von Bomba in vollkommenem Schweigen geführt werden musste. Ein zähes, erbittertes Ringen in der Enge der Grube begann. Kein Laut davon drang nach außen, wo die menschlichen Feinde nach Bomba suchten.

Jetzt versuchte die Jaracara ihr Schwanzende um das Bein des Jungen zu winden. Sie konnte ihn damit zu Fall bringen und vielleicht den Griff der Finger am Hals lockern. Dabei drehte und wand sich der ekelhafte Kopf. Der Rachen war weit geöffnet, und die Fangzähne suchten nach einer Gelegenheit, sich in die Haut des Menschen zu bohren.

Doch die Finger des Jungen lockerten nicht den eisernen Griff. Wenn sich auch die glatte Schuppenhaut ihm zu entwinden versuchte – immer tiefer gruben sich die Finger in den Schlangenhals.

Bombas Atem ging keuchend. Wie lange würde der Kampf noch dauern? Er fühlte seine Kräfte schwinden, und immer noch bäumte sich die Schlange mit wilder Gewalt. Vielleicht dauerte der Kampf nur Sekunden – vielleicht waren Minuten vergangen! Die Zeit schien stillzustehen in diesen Augenblicken höchster Gefahr.

Endlich fühlte Bomba, wie die Kraft des Schlangenleibes erlahmte. Die Bewegungen wurden matter. Giftspeichel und Geifer flössen aus den Kiefern der Bestie. Noch einmal peitschte der Schwanz wild umher – dann erschlaffte der Körper.

Noch zwei volle Minuten lang verharrte Bomba mit zusammengepressten Fingern, ehe er den Griff lockerte und sofort mit einem sicheren Hieb den Kopf vom Rumpf der Jaracara trennte. Dann erst ließ er sich erschöpft zu Boden sinken und lehnte sich in sitzender Stellung mit dem Rücken gegen die Wand des Erdloches.

Noch war er zu matt, um sich über seinen Sieg zu freuen. Er wusste auch, dass über ihm andere Feinde lauerten und dass dem Sieg vielleicht eine tödliche Niederlage folgen würde. Doch für einen Augenblick durchzog ihn ein Gefühl von Stolz und Genugtuung. Er hatte eine der bösartigsten und angriffslustigsten Bestien des Dschungels zur Strecke gebracht, und das nur mit der Kraft und Geschicklichkeit seiner Hände.

Als sich Bomba ein wenig erholt hatte, säuberte er seine Machete und schob sie in den Gürtel zurück. Dann richtete er sich vorsichtig auf und lauschte.

Noch immer suchten die Kopfjäger in größerer Entfernung. Aber sie gaben die Menschenjagd nicht auf. Weit konnte sich ihr Opfer noch nicht entfernt haben. Mit lauten Rufen gaben sie einander Anweisungen, und dann wurde auch das Knistern der Schritte allmählich deutlicher.

Ein Trupp der Suchenden näherte sich dem Baum. Sie unterhielten sich, und ihre Stimmen waren deutlich voneinander zu unterscheiden. Mit schussbereitem Revolver kauerte sich Bomba nieder.

Jetzt waren die Kopfjäger am Baum. Sie schoben Äste zur Seite und brachen sie ab. Das Gezweig unmittelbar über der Höhle bewegte sich. Die Blätter glitten zur Seite, und ein Lichtstrahl fiel in die Grube.

3 Um Sekundenbruchteile

Flüchtig erkannte Bomba die Umrisse von etwa einem halben Dutzend brauner Gestalten. Er ließ sich noch tiefer in den Schatten zurücksinken und wartete. Sie waren in großer Überzahl, das hatte er jetzt festgestellt. Nur ein Teil der Suchenden war in unmittelbarer Nähe. Wenn es zum Kampf kam, konnte er sich vielleicht zutrauen, zwei oder drei der Wilden zu überwältigen. Die übrigen würden sich auf ihn stürzen und ihn fesseln. Sein Ende würde Qual und Tod sein.

Doch Bombas tapferes Herz kannte kein Aufgeben vor dem Kampf. Sollten ihn die Kopfjäger angreifen! Sollten sie versuchen, gegen seine kleine Festung vorzugehen. Vorerst hatte er den Vorteil der günstigen Lage für sich.

Bomba hörte, wie die Wilden sich vorwärtsarbeiteten. Sie waren noch einige Yards von seinem Versteck entfernt. Ihre Stimmen klangen verdrossen. Das lange Suchen hatte sie ermüdet. Sie erkannten nicht die geringe Bodenunebenheit, die den Anfang der Grube verriet. Für ihre Augen lag der Stamm flach auf der Erde, und sie machten sich nicht die Mühe, sich niederzukauern, um den schmalen Eingangsspalt zu entdecken.

„Er ist verschwunden wie ein Geist!“, hörte Bomba die wütende Stimme eines der Wilden sagen.

„Kein Wunder!“, rief ein anderer. „Es war dieser Teufelsjunge, der mit dem weißen, alten Zauberer in der Hütte zusammengelebt hat. Meine Augen sind gut. Ich habe ihn deutlich gesehen! Er ist mit bösen Geistern im Bunde. Vielleicht haben sie ihn schon längst durch die Lüfte fortgeführt, und wir suchen hier noch am Boden herum.“

„Er ist nicht hier“, grollte ein dritter. „Das ist sicher! Gehen wir!“

Bomba lauschte mit angehaltenem Atem. Freude wollte sich in sein Herz schleichen, aber im nächsten Augenblick wurde er enttäuscht. Eine gebieterische Stimme rief:

„Geht weiter hinein! Sucht genau!“

Murrend gehorchten die Krieger. Ihre Schritte näherten sich noch weiter dem Versteck. Ihr keuchender Atem verriet, wenn sie ein Hindernis von Zweigen zur Seite schoben und sich hindurchzwängten. Bombas Hand spannte sich um den Revolverkolben.

Mit einem Male erscholl dicht bei seinem Versteck ein entsetztes Geschrei. Einer der Kopfjäger stieß einen schrillen Warnruf aus, und die Zweige krachten und knackten bei der eiligen Flucht.

„Schlangen!“, wiederholte sich der Entsetzensruf wie ein Echo. „Schlangen! Schlangen!“

In kopfloser Flucht verließen die Wilden das Gebiet des umgestürzten Baumes. Sie eilten über die Lichtung davon, und das Geräusch ihrer Füße wurde leiser.

Bomba lächelte matt. Er wusste mit einem Male, wovor die Kopfjäger geflüchtet waren: vor dem Leib der toten Jaracara. Zuvor hatte er den Körper über den Rand der Grube geworfen, und nun musste wohl einer der Suchenden auf den Schlangenleib getreten sein. In der Angst hatte er nicht näher hingeschaut, und seine Panik hatte alle mitgerissen.

So war also die Giftschlange, die ihn mit dem Tode bedroht hatte, zu seiner Retterin geworden! Noch glaubte der Junge nicht an sein Glück. Er lag ganz still in der Grube und lauschte. Doch die Schritte näherten sich nicht wieder.

Lange verharrte Bomba noch in seinem Versteck. Sehr vorsichtig kroch er dann hervor und lugte durch das Gezweig. In nachmittäglicher Ruhe und Verlassenheit träumte der Dschungel. Wie fröhliche, bunte Farbtupfen gaukelten Schmetterlinge durch die zitternde Luft, und die nähere Umgebung bot ein Bild der Schönheit und des Friedens.

Da glühten farbenprächtige Orchideenblüten im Dickicht. Aus dem Grase ragten seltsame, schimmernde Lilienarten hoch empor, und die schlanken, spitzen Palmblätter neigten sich in sanften Bogenlinien dem Boden zu.

Als Bomba sich aufrichtete, sah er seinen Freund Doto von einem Baum herabhangeln. Von einem Wipfel aus hatte der Affe das Geschehen verfolgt. Jetzt konnte er sich nicht genug damit tun, seine Freude auszudrücken. Er rieb sich an Bomba, betastete ihn immer wieder mit seinen Händen und schnatterte fröhlich und zärtlich zu dem Jungen hinauf.

„Sind sie fort, Doto?“, fragte Bomba mit einer deutenden Geste. „Die bösen Männer – fort? Ja, Doto?“

Der Affe verstand ihn sofort. Mit beiden Armen machte er rudernde Bewegungen in der Richtung, in der die Kopfjäger verschwunden waren.

Bomba nickte zufrieden. Die Wilden waren jetzt hinter ihm. Jeder Schritt entfernte ihn mehr und mehr aus ihrer gefahrbringenden Nähe.

„Doto ist mein guter Freund“, sagte Bomba und streichelte den Kopf des Affen. „Wenn Doto mich nicht niedergerissen hätte, wäre ich jetzt tot. Der Pfeil des Kopfjägers hätte mich in den Rücken getroffen.“

Doto schlang beide Arme um den Jungen, als verstände er jedes Wort und als wollte er zum Ausdruck bringen, dass er jederzeit von neuem für Bomba sein Leben einsetzen würde. Mit einem sehr menschlichen, rührenden Ausdruck von Zuneigung schaute er zu Bomba auf, und seine Lippen murmelten Laute, die wie sanfte, zutrauliche Kosenamen klangen.

„Ich weiß es –“, flüsterte Bomba liebevoll. „Ich weiß, dass Doto mein bester Freund ist. Aber jetzt muss ich zu Casson. Ich darf mich nicht aufhalten. Der Nachmittag ist schon da. Verstehst du, Doto: ich muss gehen. Du wirst im Baumwipfel wachen, und wenn sich eine Gefahr nähert, dann warnst du mich!“

Als der Junge sich jetzt entfernen wollte, war Doto durchaus nicht einverstanden. Es bedurfte großer Überredungskunst, um ihn davon zu überzeugen, dass er nicht mitkommen konnte. Immer wieder deutete Bomba in die Zweige hinauf und wies dann in die Richtung, in der die Kopfjäger verschwunden waren.

Doto hatte ihn verstanden. Er nickte ernsthaft und klatschte in die Hände. Jetzt hatte er wenigstens eine Aufgabe; er musste darüber wachen, dass die Kopfjäger seinen Freund Bomba nicht überlisteten. Noch einmal umarmte er den Jungen. Dann schwang er sich auf einen Baum und verschwand in der Höhe.

Bomba hatte wertvolle Zeit verloren. Die Sonne senkte sich bereits dem westlichen Horizont entgegen, und er war noch ziemlich weit von seinem Ziel entfernt. Auf einem Pfad kam der Junge jetzt schnell voran. Er lief mit leichtem, unhörbarem Raubtierschritt und übersprang Hindernisse, ohne sich lange aufzuhalten.

Nach einer weiteren Stunde hatte er das vertraute Gelände in der Nähe seiner früheren Wohnstätte erreicht. Da waren die bekannten Dschungelpfade – das Wasserloch mit dem Baumstamm darüber – und dort drüben die Anhöhe, auf deren Gipfel ein morscher, ausgehöhlter Baumstamm stand. Das war Bombas Spielplatz als kleiner Junge gewesen.

Mit einem Gefühl der Rührung und Trauer trat der Junge auf die Lichtung hinaus und eilte dorthin, wo von der Hütte nur noch verkohlte Balkenreste übrig waren. Hier hatte er mit Casson viele Jahre verlebt. Er war herangewachsen zu einem großen, kräftigen Jungen, der den alten Gefährten jetzt besser beschützen konnte als jeder andere.

Während Bomba bei den Überresten der Hütte stand, dachte er an die Angriffe der Kopfjäger. Einmal hatten die Wilden in der Nacht mit Brandpfeilen das Blockhaus anzünden wollen. Bombas Urwaldfreunde waren als Retter erschienen, und ein Tropenregen hatte den Brand gelöscht. Aber der Rachedurst der zurückgeschlagenen Kopfjäger hatte sie immer wieder in diese Gegend geführt. Schließlich musste Bomba seinen alten Gefährten an einen sicheren Platz bringen. Dann hatte sich seine Vorsicht als sehr richtig erwiesen, denn beim nächsten Besuch auf der Lichtung war die Hütte vollkommen zerstört und verbrannt gewesen. Die Kopfjäger hatten an dem Bauwerk ihre ohnmächtige Wut gestillt. Aber sie hatten Casson und Bomba nicht überlistet!

Während Bomba dastand und der Vergangenheit nachtrauerte, gelobte er sich im Stillen, die Hütte wiederaufzubauen, sobald die Gegend von den Kopfjägern nicht mehr unsicher gemacht wurde. Zu viele Erinnerungen verbanden ihn mit dem Platz, als dass er ihn für immer aufgegeben hätte.

Das Murmeln des Flusses drang leise an sein Ohr und erinnerte ihn an die Gegenwart. Er musste weiter! Es war nicht die rechte Zeit, um wehmütigen Gedanken nachzuhängen. Rasch eilte er zum Ufer hinunter.

Lange brauchte er nicht zu suchen. Das Kanu war noch in dem Versteck, wo er es vor seiner Wanderung zum ‚Laufenden Berg’ zurückgelassen hatte. Das war eine große Erleichterung für ihn, weil er sich sonst erst ein primitives Floß hätte Zusammenzimmern müssen.

Bomba löste das Kanu von der Vertäuung, stieß sich vom Ufer ab und trieb das Boot in die Mitte des schmalen Flusses. Die Strömung nahm das schlanke Fahrzeug auf und trug es schnell Flussabwärts. Mit kräftigen Paddelschlägen beschleunigte Bomba die Fahrt. Die Ufer mit dem hohen Schilf und den überhängenden Zweigen moosbehangener Bäume glitten rasch vorüber. Hin und wieder stieg ein exotischer Wasservogel aus dem Ufergras auf und flatterte über den silbern blinkenden Wasserspiegel dahin. An einer seichten Uferbank trank ein Tapir; beim Anblick des Bootes verschwand er schnell im Gebüsch.

Zum ersten Male hatte Bomba Muße, über seine zurückliegende Reise nachzudenken. Gefahren waren auf dem Wasser schnell zu erkennen, und während er dahinglitt, schweiften seine Gedanken in andere Gefilde.

Der sterbende Jojasta hatte ihn an die geheimnisvolle Sobrinini verwiesen. Sie wusste angeblich mehr von Bartow und Laura – den beiden Namen, die Casson immer nannte, wenn seine Erinnerung etwas deutlicher wurde und Bilder der Vergangenheit verschwommen in sein Gedächtnis traten.

Bomba fragte sich auch, ob der Name Sobrinini vielleicht in Casson eine versunkene Erinnerung wachrufen würde. Vielleicht gelang es dem alten Manne dann, selbst das Geheimnis von Bombas Herkunft zu lüften?

Das schlanke Boot glitt schnell über den Wasserspiegel. Der Oberkörper des Jungen schimmerte schweißnass im sterbenden Sonnenlicht. In gleichmäßigem Takt hoben und senkten sich seine Schultern. Die Muskeln am Oberarm spielten – der Rumpf beugte sich bei jedem Paddelzug etwas vor – und von der Anstrengung war der Mund leicht geöffnet; er legte zwei Reihen schimmernd weißer Zähne frei.