Sandra, Armin und Mario,
ihr CodeName ist SAM !

Das ZUSATZMATERIAL am ende der Geschichte
verrät dir Wissenswertes und Geheimnisvolles.

SCHRÄG GEDRUCKT
sind Sicherheitsratschläge von Experten.

Stadt der Masken
Von Martin Selle

Stadt der Masken ist die erweiterte und überarbeitete Fassung des Selle-Krimis Die Rache der weißen Schnabelgesichter (SAM 1)

1. Digitale Auflage, 2015
www.ggverlag.at
ISBN E-Book
ISBN Print 978-3-7074-1057-0
In der neuen Rechtschreibung 2006

Illustration: Martin Weinknecht

© 2008 G&G Verlagsgesellschaft mbH, Wien
Alle Rechte vorbehalten. Jede Art der Vervielfältigung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe sowie der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme, gesetzlich verboten.

INHALT

1. Die Toteninsel

2. Die Gestalt im Nebel

3. Verfolgt

4. Ein schwerer Fehler

5. Der verbrannte Pilot

6. In der Falle

7. Das gefährliche Vermächtnis

8. Die weiße Maske

9. Unheimlich!

10. Die Entdeckung

11. Ein flüchtiger Toter

12. Gejagt!

13. Die WC-Bombe

14. Die Rufe der Toten

15. Diebe!

16. Tante Patricia

17. SOS

18. Fliegerangriff

19. Ein Außerirdischer?

20. Gespenstisch ruhig

21. Tania

22. Ein übler Geselle!

23. In der Höhle des Löwen

24. Jetzt oder nie

25. Die Toteninsel

26. Sesam, öffne dich!

27. Das Geheimnis

WISSENSWERTES ZUSATZMATERIAL

Sandra, Armin und Mario sind SAM.

Sandra Wolf

Toll finde ich: Bücher, Schlagzeug spielen, Theater und Kino (spiele gerne im Schultheater, Schauspielerin wäre ein cooler Beruf)

Nicht mag ich: unwirkliche Computerspiele mit Schießen und so, Angsthasen

Talent: Alles rund um Sprachen fällt mir leicht.

Hobbys: Musik (ich ärgere mit meinem Schlagzeug oft die Nachbarn), mein Kater Mozart, Gruselbücher, Pferdegeschichten

Besonderes Merkmal: Habe immer zwei Maschen im Schuh (mit zwei Schuhbändern hintereinander passen die Schuhe besser).

Mein Motto: Mit etwas Fantasie gibt es immer eine Lösung.

Armin Hauser

Toll finde ich: Sport, Lesen und Menschen, Tieren helfen

Nicht mag ich: Tierquäler, Sprücheklopfer und wenn man seine Zeit am Computer verplempert.

Talent: Hab ich eins? Sicher nicht Mathe, das fällt mir schwer.

Hobbys: Tiere, Rad fahren, Fußball spielen, Krimis

Besonderes Merkmal: Kann meine Freunde gut nerven!

Mein Motto: Gemeinsam sind wir stark.

Mario Klein

Toll finde ich: Wissen, rätselhafte Phänomene, den Weltraum, unsere Erde

Nicht mag ich: Faulpelze, Angeber, Gemeinheiten

Talent: Verstehe Technik ganz gut.

Hobbys: Sachbücher, Wissensspiele am Computer, Quiz

Besonderes Merkmal: Hab einen ganz leichten Sprachfehler.

Mein Motto: Abenteuer sind tolle Lehrer!

1 DIE TOTENINSEL

Das kleine Boot mit dem 25-PS-starken Außenbordmotor kämpfte wie ein hilfloser Zwerg gegen die übermächtigen Wellen an. Eine Sturmböe um die andere peitschte Sandra, Armin und Mario, den drei Detektiven, die unter dem Decknamen „CodeName SAM“ ermittelten, das salzige Wasser um die Ohren.

Wo noch vor wenigen Minuten die Sonne prall auf die Gassen von Venedig geschienen und die prunkvollen Bauten erhellt hatte, die neben dem Dunkelgrün der Zypressen weiß leuchteten, hatte sich binnen Minuten ein vernichtendes dunkles Gewitter ausgebreitet.

„Lange halten wir das nicht mehr durch!“, brüllte Armin heiser. Aber der Lärm des tobenden Wassers war so laut, dass seine beiden Freunde ihn kaum hörten.

„Nun mach dir wegen der paar Blitze nicht gleich in die Hose!“, rief Mario zurück. Obwohl er genau wusste, wie gefährlich es war, während eines Gewitters auf dem Wasser zu sein, bemühte er sich, einen klaren Kopf zu behalten und einen Ausweg zu finden. Auf keinen Fall wollte er, dass Sandra die Gefahr unnötig bewusst wurde.

Sandra lag bäuchlings auf dem Boden des Bootes und krallte sich an den Dollen für die Ruder fest. Sie war völlig durchnässt, und die schulterlangen blonden Haare hingen ihr ins Gesicht. Sie schnappte nach Luft, als ob sie kurz vor dem Ersticken wäre.

„Achtung!!!“, schrie Armin. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen das Steuer und versuchte, das Motorboot direkt auf die heranpreschende Sturzwelle zuzusteuern, um sie frontal zu schneiden.

Aber es war bereits zu spät.

Die Woge erfasste das Boot samt seinen drei Insassen und warf es in die Luft. Der Motor heulte auf und verstummte sofort wieder, als das Ruderboot mehrmals um die eigene Achse gewirbelt wurde. Sandra, Armin und Mario wurden in den mörderischen Seegang des Lagunenmeeres geschleudert. Ihre nassen, bleischweren Kleider zogen sie sofort in die Tiefe.

Das ist unser Ende! Wir werden sterben!, dachten sie.

Mario schwamm so schnell er konnte nach oben. Als geübter Rettungsschwimmer ließ er dabei von Zeit zu Zeit Luft aus seinem Mund entweichen. Luftblasen steigen immer an die Oberfläche. So konnte er sicher sein, nicht in die falsche Richtung zu schwimmen.

Auf dem Weg nach oben stieß er mit Sandra zusammen. Er setzte alles daran, sie mit sich zu ziehen. Jetzt konnte er beweisen, dass seine Ausbildung nicht umsonst gewesen war. Endlich, als ihnen schon beinahe die Luft ausging, erreichten sie die Oberfläche. Völlig erschöpft schnappten sie nach Luft. Sandra blickte sich verzweifelt um.

„Armin!“, kreischte sie. Ihr Freund war nirgends zu sehen.

Mario versuchte, sich zwischen den hohen Wellen zu orientieren. Er brauchte einen Anhaltspunkt, um festzustellen, in welche Richtung sie abgetrieben wurden. Hoffentlich nicht aufs offene Meer hinaus, dachte er. Das wäre ihr sicheres Ende, denn vor der Lagune gab es Haie.

Plötzlich schnappte eine Hand aus der Tiefe nach Marios Hemdkragen und riss ihn wieder unter Wasser. Mühevoll konnte er sich befreien und umdrehen. Hinter ihm kämpfte Armin, der bereits ein bläuliches Gesicht hatte, mit dem Meer.

„Okay, nur keine Panik!“, rief Mario. „Wir klammern uns an eines der Bootstrümmer und warten, bis das Unwetter nachlässt, dann schwimmen wir Richtung Stadt zurück.“

„Ich habe gleich gesagt, dass es zu gefährlich ist. Warum müssen wir immer so neugierig sein! Diese ersteigerten Gegenstände gehen uns doch eigentlich gar nichts an“, keuchte Sandra.

„Sei still. Das hilft uns jetzt auch nicht weiter“, unterbrach Armin sie mit beiden Armen herumrudernd.

Erneut türmte sich hinter SAM eine riesige Sturmwelle auf und rollte wie eine tödliche Lawine auf sie zu. Verzweifelt versuchten sie zu entkommen, aber es war aussichtslos. Die Welle riss sie mit sich in Richtung San Michele, die schaurige Toteninsel vor Venedig. Die Richtungslichter waren längst erloschen und konnten nicht mehr als Wegweiser dienen. Wahrscheinlich hatte sie ein Blitz getroffen.

SAM erstarrten, als die Mauer von San Michele plötzlich direkt vor ihnen auftauchte. Mächtig wie die Klippen einer Steilküste ragte sie mit ihren Spitzbögen in den Regen auf.

Eine um die andere Welle brach sich an der Steinmauer. In Kürze würde eine Woge Sandra, Armin und Mario gnadenlos darauf zuschleudern.

2 DIE GESTALT IM NEBEL

Die Verzweiflung mobilisierte ihre letzten Kräfte. Sie versuchten gegen die Strömung anzuschwimmen. Zwecklos.

Immer weiter trieben sie auf die mächtige Wand zu. Sie konnten jetzt bereits die einzelnen Steine darin erkennen. Wieder zuckte ein greller Blitz über ihnen. Mit einem lauten Krachen schlug er in eine Zypresse auf der Toteninsel ein und spaltete sie.

Plötzlich glaubte Sandra zu wissen, warum San Michele die „Toteninsel“ genannt wurde.

Ein zweiter Blitz schlug nur wenige Meter neben SAM ins Meer und peitschte eine Riesenwelle auf.

„Neiiiiiin!“, schrie Sandra.

Die Welle erfasste sie alle drei und warf sie hoch in die Luft.

Sie stürzten durch Baumkronen. Nach einer Weile landeten sie auf etwas Weichem, Nassem.

Minuten verstrichen. Armin öffnete langsam die Augen und bemerkte, dass das Gewitter vorüber war. Sturm und Regen hatten sich gelegt. Die Erde rund um ihn dunstete. Nebel waren aufgezogen.

„Mario? … Sandra?“, krächzte er.

Ein Stöhnen war zu hören.

„Wo seid ihr? Seid ihr verletzt?“

Armin konnte im dichten Nebel nichts erkennen. Vorsichtig drehte er sich auf den Bauch und tastete seine nähere Umgebung ab. Er schien auf weichen Rasen gefallen zu sein. Zu seiner Linken fühlte er einen kalten Stein. Es war kein gewöhnlicher Stein. Seine Oberfläche wirkte glatt geschliffen, möglicherweise sogar poliert.

Ein Grabstein?, fuhr es Armin durch den Kopf. Hatte das Unwetter sie auf die Toteninsel geschleudert, die SAM ohnehin hatten erkunden wollen?

Wenige Meter von Armin entfernt krächzte Sandra etwas Unverständliches.

„Sandra, sag was! Ich kann dich nicht sehen!“, rief Armin und tastete sich vorwärts.

„Hier, hier drüben …“

Armin fand Sandra schließlich an einen Baumstamm gelehnt. Langsam lockerte der Nebel etwas auf.

„Wo ist Mario?“, fragte Sandra.

„Ist er nicht bei dir?“, erwiderte Armin.

Sandra antwortete nicht.

„Verdammt!“, fluchte Armin. „Mario! … Mario!“

Nichts. Keine Antwort.

Die Rufe verhallten ungehört.

„Er ist bestimmt nicht auf der Insel, sonst hätte er geantwortet“, war Sandra überzeugt.

„Du meinst, er … er ist … ertrunken!“

„Ich war immer dagegen, dass wir zu dieser verfluchten Insel fahren“, schluchzte Sandra.

Mit hängendem Kopf ließ sich Armin neben ihr in das nasse Gras sinken und überlegte, was er unternehmen könnte. Nach einer Weile rappelte er sich schließlich hoch und sagte: „Ich werde die ganze Insel nach ihm durchkämmen. Wenn wir hier sind, muss auch er irgendwo gestrandet sein.“

„Vergiss es“, antwortete Sandra. „Der Nebel ist noch immer viel zu dicht. Du verirrst dich höchstens oder dir stößt selbst etwas zu.“

Aber Armin war bereits vom Nebel verschluckt.

Nach wenigen Metern kam er auf kiesigen Untergrund, es schien ein Schotterweg zu sein. Er kämpfte sich trotz seiner Schmerzen vom Sturz vorwärts, bis er plötzlich vor einer tempelartigen Grabstätte stand. Er stemmte sich gegen die schwere Steintür, bis sie einen Spaltbreit aufging, und zwängte sich hinein. Auf dem Boden erkannte Armin einen Gedenkstein, auf dem nur noch schwach die Initialen J. R. zu lesen waren.

„Hilfe!“, hallte eine schwache Stimme wie aus dem Totenreich zu ihm herüber.

„Mario!“

Plötzlich gingen Lichter an. Armin taumelte erschrocken einige Schritte zurück. Jemand versetzte ihm einen Schlag ins Genick. Er sank zu Boden. Armin wurde durch den Raum geschleift und wie ein nasser Sack fallen gelassen. Dann verkrallte sich eine Hand in seinem Haar. Gleichzeitig bohrte ihm jemand ein Knie in den Rücken.

Armin bemühte sich trotz der Schmerzen etwas zu erkennen. Da entdeckte er plötzlich Mario neben sich.

Sie waren umzingelt.

Armin erstarrte vor Schreck.

Eine finstere Gestalt, schwarz vermummt, mit weißer Schnabelmaske und rot glühenden Augen starrte ihn an. Die Maske hob drohend den rechten Arm. Ein langer weißer Stab kam zum Vorschein, an dessen Ende eine scharfe Metallspitze schimmerte. Armin wusste, dass die Gestalt nicht zögern würde zuzustoßen, falls er nicht gehorchte.

Sandra hockte noch immer im nassen Gras vor der Zypresse. Sie sah in die Richtung, in die Armin verschwunden war. Die Erschöpfung machte ihr jetzt ziemlich zu schaffen. Sie zitterte vor Kälte.

„Komm schon, Armin. Wo bleibst du denn?“, murmelte sie.

Der Nebel hatte sich inzwischen noch mehr gelichtet, und Sandra überlegte, ob sie Armin folgen oder hier auf ihn warten sollte.

Sie hatte sich soeben entschlossen, ihre Freunde zu suchen, als sie aus einigen Metern Entfernung Schritte vernahm. Sie wirbelte beängstigt herum.

„Armin? … Armin, bist du das?“

Da erblickte sie eine Gestalt. Sandra erschrak. Sie wusste, wer ihr da gegenüberstand.

„Was … was machen Sie hier?“ Sandra schluckte.

„Damit hast du wohl nicht gerechnet, was? Willkommen auf der Insel der Toten!“

Sandras Knie begannen zu zittern.

„Ich hoffe, du hast bei dir, was ich brauche. Dann habt ihr vielleicht eine kleine Chance zu überleben“, fauchte die Gestalt.

„Sie wollen den Geheimschlüssel, hab ich Recht?“

„Sieh an, sieh an. Du bist ja gar nicht so dumm“, flüsterte die Gestalt und kam näher.

Sandra wich zurück. Hätte ich doch Mario nicht zur Versteigerung gehen lassen!, dachte sie verzweifelt.

Doch wie hätten SAM ahnen sollen, in welche Gefahr sie sich durch ihre Hilfsbereitschaft begaben. Niemand hatte wissen können, welch dunkles Geheimnis sich hinter dem ersteigerten Objekt verbarg.

3 VERFOLGT

Es war vor neun Tagen geschehen. SAM waren soeben vom Markusplatz zurückgekehrt, wo sie den herrlichen Dogenpalast besichtigt und die zahlreichen Tauben gefüttert hatten. Vor dem Hotel wartete eine ältere Dame in einer schwarzen Gondel auf sie.

„He, ihr da!“, rief sie. Ihre Augen waren hinter einer viel zu großen Sonnenbrille verborgen.

Sandra, Armin und Mario reagierten nicht darauf. Ohne Höflichkeit war bei ihnen nichts zu machen.

„Hallo, ihr drei! Ja, euch meine ich! So wartet doch bitte einen Augenblick!“

Jetzt drehten sich die Detektive um und gingen der Dame, die gerade auf den Anlegesteg des Hotels kletterte, ein Stück entgegen.

„Entschuldigt bitte, dass ich so unhöflich war, aber ich hab’s eilig. Ich muss dringend ins Büro zurück.“

Aus der Nähe konnte man sehen, dass die Dame schon einige Falten hatte und üppig geschminkt war. Ihre langen schwarzen Haare glänzten seidig und fielen glatt über ihre Schultern. Sie trug ein enges Designerkleid, das sicher nicht billig gewesen war. Sie öffnete ihre Lederhandtasche und begann darin herumzukramen.

Marios Blick fiel auf die Gondel, die seitlich am Bug die Aufschrift ASSUNTA TOFFOLUTTI – NOTARIAT trug.

Frau Toffolutti holte einen Briefumschlag aus der Tasche. „Das hier sollte ich im Namen eines Mandanten Herrn Renato Nardi übergeben, der in diesem Haus dort wohnt.“ Die Frau zeigte auf eine Villa am anderen Kanalufer. „Es sind Anweisungen für eine Auktion, die heute Abend im Teatro La Fenice stattfindet. Herr Nardi sollte dort das Objekt Nummer 13 ersteigern; das Geld dafür ist im Umschlag, es reicht sicher aus. Aber Herr Nardi ist nicht zu Hause, und bis zur Versteigerung sind es nur noch zwei Stunden.“

„Und was hat das mit uns zu tun?“, fragte Mario.

„Na ja, ich dachte … weil ihr so etwas wie seine Nachbarn seid, könntet ihr das für ihn erledigen und ihm das Objekt dann bringen. So eine Auktion ist doch sicher spannend. Du siehst mir aufgeweckt genug aus.“ Frau Toffolutti blickte Mario erwartungsvoll an. „Du machst das doch mit links.“ Fast flehend sagte sie: „Es ist wirklich sehr wichtig für meinen Mandanten, dass Herr Nardi den Gegenstand bekommt.“

Sandra, Armin und Mario sahen einander an. Aber noch bevor sie sich entschieden hatten, hatte die Notarin den Umschlag bereits auf den Steg gelegt und fuhr davon. Armin hob den Umschlag auf und bestaunte die vielen Geldscheine darin.

„Ich wünsche Ihnen eine schöne Auktion, während wir uns einen netten Abend in der Stadt machen, Herr Klein“, spöttelte er und drückte Mario mit einem Grinsen den Umschlag in die Hand. „Ich hoffe, Sie haben passende Kleidung dabei!“ Mario schnitt eine Grimasse.

Gegen 21 Uhr kehrte Mario von der Auktion zurück. Er trug eine Rolle, auf der die Zahl 13 aufgedruckt war. Der ersteigerte Gegenstand wog mindestens zwei bis drei Kilo. Was befand sich wohl in dieser gut verschlossenen Rolle? Allem Anschein nach war es etwas Wichtiges, da es mehrere Interessenten gegeben hatte.

Mario sah auf das heruntergekommene Haus auf der anderen Seite des Canale Grande. Lediglich das Erdgeschoss schien in einigermaßen gutem Zustand zu sein. Die Fassade hingegen erweckte den Eindruck, als hätte sie einen Bombenanschlag hinter sich. Die Fensterläden fehlten zum Großteil, die Spitzbögen und Verzierungen waren nicht mehr weiß, sondern präsentierten sich in schäbigem Grau, und die Fensterscheiben waren blind vor Schmutz.

Mario ging mit der Rolle unter dem Arm den Bootssteg entlang auf den Haupteingang des Hotels Paradiso zu.

Das Haus seiner Tante Patricia war eines der besten am Platz. Im Moment war es jedoch wegen der alljährlichen Renovierungsarbeiten vor der Saison geschlossen, und nur sie und der Küchenchef des Hotels, Paolo Ravelli, wohnten darin. Schon seit langem war es Marios Wunsch gewesen, seine Lieblingstante zu besuchen und sich die einzige schwimmende Stadt der Welt näher anzusehen.

Er blieb vor dem prunkvollen Hoteleingang stehen und zog seinen Schlüssel aus der Tasche. Es war kein gewöhnlicher, sondern ein Spezialschlüssel, mit dem die infrarotgesicherten Hoteleingänge geöffnet werden konnten, ohne dabei den Hoteldetektiv, der normalerweise auch hier wohnte, zu alarmieren. Zusätzlich wurde das gesamte Hotel von einer ausgeklügelten Kameraanlage überwacht.

Das hat man davon, wenn man reiche Leute beherbergt: hohe Zusatzkosten, dachte Mario und betrat die pompöse Halle. Es war niemand dort. Tante Patricia war zu einem Geschäftsessen in die Stadt gefahren, und Paolo ließ sich sicher mit ein paar Freunden in Harry’s Bar volllaufen oder war ins Casino gegangen.

Mario deponierte die Papprolle an der Rezeption. Am nächsten Tag wollte er seine Tante bitten, sie Herrn Nardi zu bringen, den sie als Nachbarn sicher persönlich kannte.