Foto: Ingrid Kruse
Siegfried Lenz, 1926 im ostpreußischen Lyck geboren, zählt zu den bedeutenden und meistgelesenen Schriftstellern der Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Für seine Bücher wurde er mit vielen wichtigen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und mit dem Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte 2009. Seit 1951 veröffentlicht er alle seine Romane, Erzählungen, Essays und Bühnenwerke im Hoffmann und Campe Verlag. Zuletzt erschienen »Schweigeminute« (2008), »Landesbühne« (2009), »Die Maske« (2011) und »Amerikanisches Tagebuch« 1962 (2012).
Nein, in diese Gegend wollten wir nicht ziehen. Als wir die alte Wohnung verlassen mußten, suchten wir, nicht zuletzt wegen der Bücher, ein stilles Haus in der Vorstadt. Uns wäre jede Gegend in Hamburg recht gewesen – ausgenommen der Stadtteil, in dem wir heute wohnen. Othmarschen ließen wir bei unserer Suche links liegen. Hierher – und darüber bestand ein stillschweigendes Einverständnis –, hierher wollten wir nicht.
Warum? Wir fürchteten die Zwänge – Zwänge des Verhaltens, die man der hier wohnenden Gesellschaft nachsagte. Wir hatten keine Schiffe laufen. Wir waren weder im Export- noch im Importgeschäft zu Hause. Keine Mitgliedschaft im Golfclub, keine im Reiterverein, nicht mal Anwärter auf Mitgliedschaft in einem Yachtclub. Vor allem konnten wir nicht mitreden – und das ist schon Anlaß ausdauernder Abendunterhaltungen –, wenn man gemeinsam das europäische Hotel ausfindig machte, in dem der garantiert beste Martini serviert wird. Wir beide wurden nicht auf der Überfahrt zwischen Hamburg und London geboren. Wir beide »empfangen« sogenannte Lieferanten an der allgemeinen Tür und trinken einen Schnaps mit ihnen. Und wir waren auch nicht bereit, die mannigfachen Tribute zu entrichten, die man für eine sogenannte »gute Adresse« aufbringen muß – von peinlicher Gartenpflege bis zur diskreten Demonstration eigener Kreditwürdigkeit.
Doch dann fanden wir, gegen unsere Absicht, ein altes, sympathisch verwohntes Haus, das uns zu garantieren schien, was bei den anderen besichtigten Objekten fraglich geblieben war: Stille nämlich. Stille in der Stadt. Und dies Haus lag ausgerechnet hier, in der Nachbarschaft eines sahnefarbenen, prestigefördernden Senatorenbunkers, im Schatten repräsentativer Bäume, die in städtischer Fürsorge stehen, in der weiteren Nachbarschaft von Golf-, Reiter- und Segelclubs, deren Aufnahmestatuten sich wie der delikateste Kommentar zur Chancengleichheit lesen. Doch das Argument der Stille siegte. Huschende Eichhörnchen zerstreuten letzte Bedenken. Auch wilde Kaninchen im Garten, deren Sympathie wir uns mit Teltower Rübchen erkauften. Käuze und seltene Vögel, die wir uns mit Futter gewogen machten. Eine Viertelstunde vom Hauptbahnhof entfernt entdeckten wir gediegene Ländlichkeit, überraschendes Tierleben, tägliche und nächtliche Stille. Das gab den Ausschlag, wir wurden Bürger von Othmarschen.
1849