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Buch

Berlin 1952: Die junge Ärztin Marion Lichtenthal gibt ihre Stellung an der Charité auf, um in den Kosmetikkonzern ihrer Mutter einzusteigen. Ihre Idee ist es, verstärkt auf medizinische Kosmetik zu setzen. Damit tritt sie jedoch in direkte Konkurrenz zur Firma ihrer Tante Charlotte Rudorf. Da deren einziger Sohn unter einem Kriegstrauma leidet, möchte ihre Tochter Emma die Geschäfte leiten, was Charlotte ihr nicht zutraut. Emma würde gerne mit ihrer Cousine Marion kooperieren, um vereint den Markt zu erobern. Gemeinsam wollen sie die Unternehmen auf einen neuen Kurs steuern und sich damit der jahrelangen Feindschaft ihrer Mütter entgegenstellen …

Informationen zu Nora Elias sowie zu weiteren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

NORA ELIAS

Der
Schönheits-
salon

Der Triumph der Schwestern

Roman

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Originalausgabe Oktober 2021

Copyright © 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: © plainpicture/Frank Herfort; arcangel/Lee Avison; FinePic®, München

Redaktion: Regine Weisbrod

BH · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25604-3
V001

www.goldmann-verlag.de

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Teil 1

Mai 1952

»Fräulein Franziska Lichtenthal!«

Marion sah von ihrem Buch auf und ihre jüngere Schwester Fanny an. »Ich glaube, der Direktor ist gar nicht erst den Umweg über Mutter gegangen, sondern hat sich direkt an Vater gewandt.«

Fannys Blick huschte zur Tür. »Wenn er dafür extra nach Hause kommt, ist er wirklich sauer.«

»Was hast du erwartet?«

Zu einer Antwort kam Fanny nicht mehr, denn nun stand ihr Vater in der offenen Tür des Salons und taxierte das sechzehnjährige Mädchen, das auf dem Boden saß, den Hund auf dem Schoß, die Augen in gespielter Arglosigkeit geweitet. »Ja, Papa?«

»Oberstudiendirektor Wendt hat mich gerade angerufen. Kannst du dir denken, warum?«

»Hat ihn vielleicht ein Missgeschick ereilt?«

Um Marions Mundwinkel zuckte es, was ihrem Vater nicht entging, denn sein strafender Blick traf sie, ehe er sich wieder auf die Jüngere richtete. »Ich kann das wahrhaftig nicht komisch finden, junge Dame!«

Fanny schwieg und warf die blonden Locken zurück, sah ihren Vater auf eine Weise an, die nicht anders als aufsässig zu bezeichnen war.

»Ich habe dir den Umgang mit diesem Kerl verboten!«

Dieser Kerl war der achtzehnjährige Lukas von Buchwald, in den sich Fanny rettungslos verliebt hatte und den ihr Vater für einen Taugenichts hielt.

»Du hast zwei Wochen Hausarrest«, beschied er ihr.

»Das kannst du nicht machen!«

»Ich trete dir umgehend den Beweis an.«

»Und der Reitstall?«

»Dort wird man eine Weile ohne dich auskommen müssen. Ein solches Verhalten, wie du es derzeit an den Tag legst, dulde ich nicht.«

Fanny presste die Lippen zusammen, sah ihren Vater an, dann wandte sie sich ab, streichelte wieder den Hund, der die Augen wohlig geschlossen hatte.

»Du hast mir sonst also nichts dazu zu sagen?«, fragte er erneut.

Schweigen.

»Also gut.« Ihr Vater wandte sich ab und verließ den Salon.

»Und das ist es dir wirklich wert?«, fragte Marion. »Was hatte er überhaupt in deiner Schule zu suchen? Hat er selbst keinen Unterricht?«

»Er hat geschwänzt, um mich zu sehen.«

Marion ersparte sich einen Kommentar darauf. Sie wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, aber sie wollte sich nicht zu offen gegen den Jungen aussprechen, da sie befürchtete, Fanny könnte sich ihr sonst künftig nicht mehr anvertrauen. Nachdem Lukas von Buchwald sich in die Schule geschlichen hatte, wären die beiden beinahe zusammen erwischt worden, und so waren sie schnell in den erstbesten Raum geschlüpft, der sich ihnen geboten hatte – das Direktorenzimmer. Dort war Fanny gegen ein Tintenfass gestoßen, dessen Inhalt sich über die Schreibunterlage und die darauf liegenden Papiere ergossen hatte. Die Schulsekretärin hatte dem Herrn Direktor Kaffee bringen wollen und Fanny prompt erwischt. Daraufhin war Wendt umgehend in seinem Büro erschienen, hatte Fanny eine kräftige Ohrfeige verpasst und Lukas am Ohr aus der Schule gezogen.

»Du hättest Vater sagen sollen, dass er dich geschlagen hat.«

»Das hätte ja nichts geändert.«

»Du weißt, dass er das nicht duldet.« Ein Lehrer hatte es einmal gewagt, Marion mit dem Zeigestock auf die Hände zu klopfen, als sie zehn Jahre alt gewesen war. Ihr Vater war daraufhin in die Schule gegangen und hatte dem Lehrer angedroht, dass er ihn mit seinem eigenen Stock verprügele, wenn er das jemals wieder wagen sollte. »Meine Tochter wird nicht geschlagen«, hatte er gesagt. »Geben Sie ihr Strafaufgaben auf, lassen Sie sie nachsitzen, aber erheben Sie nie wieder die Hand gegen sie.«

»Ist doch jetzt auch gleich.« Fanny stand auf. »Komm, Mortimer.« Mortimer war ein kleiner Mischlingsrüde, der seit sieben Jahren bei ihnen wohnte und Fanny nur selten von der Seite wich. »Gehen wir in den Garten, das darf ich ja gewiss noch.«

Marion sah ihr nach, dann schlug sie das Magazin zu und stand auf. Es war gleich zwei, Zeit, sich für den Dienst im Krankenhaus umzukleiden. Sie hatte im Vorjahr ihr letztes Examen absolviert und somit ihr Medizinstudium mit Bestleistungen beendet. Nur war ihr schon während des Studiums aufgefallen, dass sie zwar die Medizin liebte, nicht jedoch den Alltag als Ärztin. Ursprünglich hatte sie mit der Pharmazie geliebäugelt, aber letzten Endes hatte ihr Interesse an der Medizin gesiegt, insbesondere an der Dermatologie. Conrad Rudorf, der im Krieg gefallene Ehemann ihrer Tante Charlotte, war Dermatologe gewesen, und gemeinsam hatten sie ein Unternehmen gegründet, das sich auf medizinische Kosmetik spezialisiert hatte. Dabei war Charlotte zugutegekommen, dass sie sich als Pharmazeutin mit Wirkstoffen gut auskannte. Dieses Tätigkeitsfeld faszinierte Marion, und obwohl ihre Tante und ihre Mutter kein gutes Verhältnis zueinander hatten, kam Marion mit ihrer Cousine Emma recht gut aus, ebenso mit ihrem Cousin Leopold, dem Haupterben von Dr. Rudorf Kosmetik.

In ihrem Zimmer zog Marion sich um, sah ein weiteres Mal auf die Uhr und seufzte. Den Entschluss, sich auf ein anderes Betätigungsfeld zu konzentrieren, hatte sie schon vor Monaten endgültig gefällt, bisher hatte sie es nur noch niemandem erzählt. Ihr Vater war so stolz auf sie gewesen, als sie als Ärztin an die Charité gegangen war. Würde er enttäuscht von ihr sein? All die Arbeit und das Geld, das in ihr Studium geflossen waren, ins Feld führen, um sie von ihrem Entschluss abzubringen? Sie hatte lange gezögert und die Entscheidung gut durchdacht. Den Mutigen gehört die Welt, sagte man doch. Nun, Marion würde sehen, ob das auch für sie galt.

Das Haus in der Friedrichstraße, wo alles begonnen hatte, hatte Helena behalten, und sie betrieb den Schönheitssalon dort weiterhin, wenngleich sie vor dem Krieg einen zweiten Standort mit großzügigeren Räumlichkeiten eröffnet hatte. Aber an diesem Haus hingen so viele Erinnerungen, da hatte sie es nicht übers Herz gebracht, sich davon zu trennen. Aber baulich verändert hatte sie es, hatte innen die Wände durchbrechen lassen, sodass man vom Verkaufsraum durch einen Türbogen in den angrenzenden Raum kam, der früher die Fertigung enthalten hatte. Hier war jetzt ein weiterer Raum für Kosmetikbehandlungen entstanden, ebenfalls durch einen Durchbruch mit dem Raum dahinter verbunden, wo sich der ursprüngliche Schönheitssalon befand. Früher einmal hatte Helena auch die Wohnung oben, in der sie und ihre Schwester in ihren Anfängen gewohnt hatten, in Räumlichkeiten für Kosmetik und Schönheitsbehandlungen umwandeln wollen, doch dann waren durch den Krieg so viele Menschen heimatlos geworden, dass es ihr dekadent erschienen wäre, intakten Wohnraum auf diese Art zu nutzen. Es war ja nicht so, dass sie das Geld nötig hatte, das Kosmetikunternehmen Rosenberg war schon während der Dreißigerjahre groß geworden und warf viel Geld ab. Zu jener Zeit war der Schönheitssalon lediglich eine weitere Einkommensquelle gewesen.

Zunächst hatte sie die Wohnung kostenfrei zwei heimatlosen Familien überlassen, die jeweils zwei Räume bewohnten und sich Küche sowie Bad teilten. Es war Helenas bescheidener Beitrag gewesen, das Gefühl, endlich etwas tun zu können, und wenn es nur das war, Menschen vorübergehend ein Zuhause zu geben. Mittlerweile hatte sich die Situation entspannt, aber Wohnraum wurde nach wie vor benötigt. Dominik hatte die Wohnung renovieren lassen, und seither wurde sie vermietet.

Das Unternehmen Rosenberg hatte sich rasant entwickelt, inzwischen wurde Helenas Kosmetik in einem eigenen Werk hergestellt, in dem sie eine ganze Reihe an Angestellten beschäftigte. Sie selbst war zwar Eigentümerin, hatte aber einen Geschäftsführer sowie Mitarbeiter für Buchhaltung und Finanzen. Da Helena sich nach wie vor am meisten für die Entwicklung und Forschung interessierte, war das der Bereich ihres Unternehmens, in dem sie sich vorzugsweise aufhielt.

An diesem Nachmittag verließ sie das Werk etwas früher, denn Dominik hatte ihr am Telefon von dem Vorfall in Fannys Schule erzählt. Das war wieder so typisch. Ging es um Dinge wie ein Kuchen für den Schulbasar oder das Abholen eines Kindes, weil ihm unwohl war, dann rief man Helena an, obwohl Dominik von seinem Werk in Charlottenburg Nord schneller an der Schule sein konnte als Helena aus Tegel. War aber etwas vorgefallen, das laut Meinung des Direktors dringend einer Sanktion bedürfe, wendete er sich direkt an Dominik. Helena hätte längst aufhören sollen, sich darüber aufzuregen, denn schon zu Marions Schulzeiten war es nicht anders gewesen, aber dennoch ärgerte sie sich jedes Mal von Neuem darüber.

Als Helena die Tür zu ihrer in Berlin-Grunewald gelegenen Villa öffnete, kam ihr Hund Mortimer in die Eingangshalle gelaufen, sprang um sie herum, drehte eine Runde durch die Halle, kam wieder zu ihr und stellte sich auf die Hinterbeine – das hatte Fanny mit ihm geübt. Helena ging in die Knie und kraulte den Hund, dann erhob sie sich und sah Fanny an, die Mortimer gefolgt war und in der Tür zum Salon stand.

»Lukas von Buchwald?«

Fanny nickte schweigend.

»Dir hätte doch klar sein müssen, dass das unweigerlich zu Ärger führt.«

»Ich wusste ja nicht, dass er kommt.«

»Und trotzdem hast du dich darauf eingelassen, dich mit ihm in der Schule zu verstecken.«

»Wo er doch schon mal da war …«

»Und wie haben seine Eltern reagiert?«

Fanny zuckte mit den Schultern.

Helena erfuhr es noch vor dem Abendessen, als Herr von Buchwald anrief und nach Dominik fragte.

»Sie werden mit mir vorliebnehmen müssen«, erklärte Helena kühl.

Daraufhin erklärte er ihr, Dominik persönlich habe dafür zu sorgen, dass seine Tochter seinen Sohn kein weiteres Mal zum Schuleschwänzen ermutigte. »Das kann ich nicht dulden!«, fuhr er fort und beendete das Gespräch brüsk.

»Papa hat mir zwei Wochen Hausarrest aufgebrummt«, beschwerte sich Fanny.

»Dann wirst du das wohl durchstehen müssen.« Eine Regel in ihrer Erziehung war, dass sie einander nicht in den Rücken fielen und sich nicht gegeneinander ausspielen ließen.

Fanny seufzte ergeben.

»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«

»Ja. Auch die Strafarbeit.«

Helena nickte und ging in die Küche, wo das Abendessen vorbereitet auf der Anrichte stand. Sie beschäftigten nach wie vor eine Haushälterin, die zudem gelernte Köchin war. Im Gegensatz zu früher kam die jetzige Haushälterin morgens um acht, ging um fünf und hatte am Wochenende frei. Außerdem hatten sie eine Zugehfrau, die einmal wöchentlich kam. Die Zeiten, da das Personal im Haus nächtigte und ständig zur Verfügung stand, waren vorbei. Dank der modernen Errungenschaften wie der elektrischen Waschmaschine ging die Arbeit mittlerweile schneller von der Hand, und die Zeiten, da man einen kompletten Tag für die Wäsche einplanen musste, waren vorbei.

Der Hund kam in den Vorraum, setzte sich auf die Hinterpfoten und sah Helena aus dunklen, glänzenden Augen an, den Kopf leicht schief gelegt.

»Ist schon Zeit fürs Futter?« Helena sah auf die Uhr. »Ein Stündchen musst du dich noch gedulden.« Sie ging zur Anrichte und zog eine Schublade auf. Mortimer, der wusste, was sich dort für Schätze verbargen, war ihr gefolgt und stand nun aufgeregt neben ihr. Wie Helenas erster Hund Estelle hatte auch er eine Schwäche für Rinderhaut, und so gab sie ihm ein gerolltes Stück und ging mit ihm in den Salon, der mittlerweile verwaist war. Helena zündete sich eine Zigarette an und rauchte, während sie den kleinen Hund beobachtete, der auf der Leckerei herumkaute.

Ihr damaliger Hund, Estelle, war im Alter von siebzehn Jahren – das schätzte Helena zumindest, denn sie hatte Estelle auf der Straße aufgelesen – gestorben. Sie war noch sehr jung gewesen, als Helena sie gefunden und adoptiert hatte. Nur ihre Kinder und ihre Mutter hatte sie mehr geliebt als Estelle, was Dominik recht konsterniert zur Kenntnis genommen hatte.

»Dich liebe ich anders«, hatte sie ihm erklärt.

Sie war glücklich darüber gewesen, dass Estelle ein so hohes Alter erreicht hatte, obwohl mit jedem Jahr die Angst näher rückte, dass der Moment des Abschieds nicht mehr gar so fern war. Eines Nachmittags war Estelle geschwankt, als hätte sie Schlagseite. Fanny, die damals erst sechs Jahre alt gewesen war, hatte geglaubt, der Hund mache Faxen.

»Guck mal, Mama, wie komisch Estelle läuft.«

Helena jedoch hatte es in diesem Moment gespürt, hatte gewusst, dass es nun so weit war. Den restlichen Tag über lag Estelle in ihrem Körbchen, wollte dieses auch nicht zum Fressen verlassen, verschmähte selbst ihre geliebten Leckereien, blickte nur hin und wieder auf und schaute Helena mit ihren lieben Hundeaugen an. In dieser Nacht hatte Helena das Körbchen in ihr Zimmer geholt, es neben ihr Bett gestellt und fast die ganze Nacht wachgelegen, eine Hand auf Estelles warmem Fell, sodass sie spürte, wie sich die Flanke hob und senkte.

Morgens war Helena in aller Frühe aufgestanden, während Dominik noch neben ihr schlief. Dann setzte sie sich neben das Körbchen auf den Boden und streichelte den kleinen Hund, der die Augen geschlossen hielt, aber noch atmete. Vielleicht, so dachte sie, blieb ja doch noch Zeit. Vielleicht brauchte Estelle nur Ruhe. Dann jedoch öffnete ihr kleiner Hund die Augen, sah sie an, versuchte, sich aufzurichten, aber Helena legte ihr beruhigend die Hand auf das Köpfchen, streichelte sie.

»Scht, meine Kleine, ist ja gut«, hatte sie gemurmelt. »Du darfst jetzt gehen.«

Estelle hatte die Augen wieder geschlossen, und irgendwann hatte sich die Flanke nach dem letzten Atemzug nicht mehr gehoben.

Danach wollte Helena keinen Hund mehr. Als Dominiks Schwester Ariana vorgeschlagen hatte, einen neuen zu kaufen, vielleicht würde man sogar einen finden, der aussah wie Estelle, wäre sie ihr fast ins Gesicht gesprungen. Aber Mortimer hatte sie gefunden, wie Estelle vormals. Nach dem Krieg war Helena durch die Stadt gegangen, hatte versucht, von ihren Lebensmittelmarken etwas zu essen zu bekommen, als sie den kleinen Hund bemerkte, der in den Trümmern nach etwas zu fressen suchte. Er war schmutzig weiß mit großen schwarzen Flecken und einem wolligen Fell, das ganz verfilzt war. Hoffnungsvoll hatte er sie angesehen, aber Helena war mit dem Korb im Arm weitergegangen.

»Es tut mir leid, mein Kleiner, es reicht kaum für uns.«

Er war ihr gefolgt und hatte Schritt gehalten, als Helena die ihren beschleunigte. »Es ist sinnlos«, hatte sie gesagt. »Such dir jemanden, der weniger Mäuler zu stopfen hat.«

Bis zum Eingangstor ihres Hauses war er ihr gefolgt und ließ sich nicht abwimmeln. »So, hier trennen sich unsere Wege«, sagte sie ihm, als könnte er sie verstehen. Aber er hob nur das Bein an der Mauer. »Damit machst du dich bei Dominik gewiss beliebt. So, und jetzt geh, unser Haushalt erträgt keine zwei Männer, erst recht nicht, wenn einer davon sein Revier markiert.«

Der Hund hatte sich auf die Hinterbeine gesetzt und sie angesehen. Als Helena sich abgewandt hatte, war der Hund ihr gefolgt und hinter ihr die Treppe hochgelaufen. In der Eingangshalle war ihr Dominik entgegengekommen.

»Mortimer wohnt jetzt hier«, hatte sie ihm erklärt, und dabei war es geblieben.

Der Hund war nur noch wenig gewachsen, ging ihr bis zur Mitte der Wade, war kompakter als Estelle und auch frecher. Zur Arbeit nahm Helena ihn nie mit, er verbrachte viel Zeit mit Fanny, sah auch jetzt auf, als sie den Salon betrat, die Leine in der Hand. Sofort sprang der Hund auf und lief schwanzwedelnd zu ihr, was mit dem kleinen Stummelschwanz immer sehr drollig aussah.

»Wir gehen noch eine Runde«, erklärte sie.

»Eine Runde«, betonte Helena. »Ohne Umwege oder heimliche Treffen.«

Ein Schatten flog über das Gesicht ihrer Tochter, und Helena hob eine Braue.

»Ja, eine Runde«, sagte Fanny so überdeutlich, dass man es schon fast patzig nennen konnte. Sie beugte sich zu Mortimer und befestigte die Leine am Halsband.

Fanny fand es in höchstem Maße anstrengend, dass ihre Eltern sie fortwährend wie ein Kind behandelten. Da war Lukas ganz anders, er behandelte sie wie eine junge Frau. Ihre Eltern hingegen bezeichneten Lukas, der immerhin im kommenden Jahr das Abitur machen würde, als Halbwüchsigen, kaum mehr als ein Knabe. Dabei würde er im Herbst achtzehn werden. Ihr Vater hatte ihn sogar als unverschämten Bengel bezeichnet, als sei er noch ein Kind.

Mit Mortimer an der Leine verließ sie das Haus und atmete auf, als sie draußen war. Zwei Wochen Hausarrest, das war doch nicht auszuhalten. Sie schritt rasch aus, atmete die frühlingsmilde Luft ein, in der schon die Vorboten des Sommers lagen. Mortimer blieb stehen, schnupperte, hob einmal das Bein und lief dann wieder forsch vorweg. Aufmerksam sah Fanny sich um, verlangsamte den Schritt, als sie auf die Straßenecke zuging. Und da stand er, wartete wie stets um diese Uhrzeit auf sie. Fannys Angespanntheit zerschmolz in einem Lächeln, und sie ging nun wieder schneller. »Ich hatte schon befürchtet, deine Eltern verpassen dir auch Hausarrest.«

Lukas hatte sich eine Zigarette in den Mund gesteckt und zuckte lässig mit den Schultern. »Mein Vater hat herumlamentiert, von wegen Schule und Verantwortung, und ich hab so getan, als würd’s mich interessieren, aber das war’s dann auch schon. Hier, magst du?« Er hielt ihr seine Zigarette hin, und Fanny nahm einen Zug, obwohl sie den Geschmack scheußlich fand. Aber sie gab sich lässig und zog noch ein weiteres Mal daran, unterdrückte dabei ein Husten.

Sie und Lukas trafen sich jeden Tag hier, wenn Fanny ihre Hunderunde drehte. »Ich kann heute nur kurz«, sagte sie. »Ein Wunder, dass meine Mutter mich überhaupt rausgelassen hat.«

»Immerhin hast du es geschafft. Schrecklich, dass sie dich so kontrollieren. Da ist es gut, dass du den Hund hast, da bietet sich immer ein Vorwand.« Lukas sah Mortimer an und blieb auf Abstand. Einmal hatte er den Versuch gemacht, den Hund zu streicheln, und Mortimer hatte nach ihm geschnappt. Das hatte Fanny erschreckt, denn an sich war er der liebste Hund, den man sich vorstellen konnte. »Das hat er noch nie getan«, hatte sie beteuert.

»Das ist ganz normal bei diesen Winzlingen«, hatte Lukas geantwortet. »Die sind immer so giftig, vermutlich, weil sie sich minderwertig fühlen. Ein echter Hund beginnt ab Kniehöhe.«

Das hatte Fanny ihm übelgenommen, aber er hatte sich entschuldigt und betont, Mortimer habe genau die richtige Größe für einen Mädchenhund.

Ihre Freundinnen beneideten sie glühend um diesen gutaussehenden Bankierssohn, nur ihre beste Freundin Nele mochte ihn nicht und nannte ihn einen großspurigen Angeber. »Vertrau dem Urteil deines Hundes«, hatte sie gesagt. Das blieb ein Streitpunkt zwischen ihnen, obwohl Nele in manchem, was sie sagte, durchaus richtiglag. Nachdem sie und Lukas in der Schule erwischt worden waren, hatte Nele gesagt: »Um was wetten wir, dass nur du den Ärger bekommst?«

Fanny fand das ziemlich ungerecht, denn schließlich hatte Lukas die Grenze überschritten und nicht sie. Während sie nebeneinanderher gingen, haderte sie mit dem harschen Urteil ihres Vaters über Lukas. Wenn er es ihr nicht ständig so schwermachen würde, ihn zu sehen, wären solche Eskapaden ja ganz und gar überflüssig. Bisher wartete sie immer noch vergebens auf den ersten Kuss, aber es ergab sich einfach nicht die Gelegenheit.

»Bei Franz Heikamp findet nächstes Wochenende eine Party statt«, erzählte Lukas. »Seine Eltern sind verreist. Gehst du mit mir hin?«

Ein heftiges Kribbeln stob in Fannys Bauch auf, gefolgt von dem Gefühl der Ernüchterung. »Das erlauben mir meine Eltern nie, und noch dazu habe ich Hausarrest.« Lukas stieß einen entnervten kleinen Pfiff aus, und Fanny befürchtete, seine Geduld mit ihr arg zu strapazieren. »Es tut mir leid«, fügte sie hinzu.

»Schon gut, ist ja nicht deine Schuld. Dann eben ein anderes Mal.«

Sie hätte sich gern bei ihm eingehakt, wagte es aber nicht, denn die Gefahr, dass ein Bekannter sie sah, war einfach zu groß, und dann konnte sie sich nicht mit einer zufälligen Begegnung herausreden. Auch so blieb ihr Blick stets wachsam auf die Straße gerichtet. Und so entdeckte sie ihren Cousin Erich, der im Auto an ihr vorbeifuhr, auch gerade noch, ehe er sie sehen konnte. Fanny unterdrückte ein Stöhnen. Konnte man so viel Pech haben?

»Mein Vetter«, sagte sie. »Wenn der uns sieht, erfährt mein Vater das sofort.«

Wieder verdrehte Lukas entnervt die Augen. »Wenn du nicht so ein tolles Mädchen wärst, würde mich das hier schwer nerven.«

»Es tut mir leid.«

»Schon gut.« Er ließ sich zurückfallen, schenkte ihr ein Lächeln, bei dem ihr die Knie weich wurden, dann drehte er sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung davon.

Erich war ihr Cousin väterlicherseits und Geschäftsführer im Pharmaunternehmen Lichtenthal, und da er sich mit ihrem Vater ausnehmend gut verstand, war sich Fanny sicher, er würde es ihm sofort zutragen, wenn er sie mit Lukas gesehen hätte. Seufzend ging Fanny weiter, und als sie zu Hause ankam, sah sie Erichs Wagen an der Straße stehen. Sie ging durch das Eingangstor auf die elterliche Villa zu, ließ Mortimer von der Leine, der begeistert über die Einfahrt tollte. In der Eingangshalle begegnete sie Erich. Er sah Fanny an, lächelte, hob leicht die Brauen, und unwillkürlich fragte sie sich, ob er sie nicht doch mit Lukas bemerkt hatte. Allerdings sagte er kein Wort dazu, grüßte nur und fragte, was die Schule mache.

Marion fuhr mit der Elektrischen ins Werk ihres Vaters. Nach und nach erhob sich Berlin aus den Trümmern, lebte und pulsierte. Ganze Straßenzüge waren verändert, ehemals Vertrautes wirkte fremd, und während die Erwachsenen damit beschäftigt waren, aus den Überbleibseln etwas Neues zu erschaffen, waren die klaffenden Ruinen für die Kinder ein riesiger Abenteuerspielplatz.

Berlin war nach dem Krieg von den Alliierten in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden, wurde von den Siegermächten Frankreich, England, USA und der Sowjetunion verwaltet und kontrolliert, und seither gab es Zonengrenzen – Schlagbäume, Farbmarkierungen an Bäumen oder weiß-gelbe Holzpfosten –, und wer von einer Zone in die nächste wollte, brauchte mancherorts eine Genehmigung. Für Reisen zwischen der Westzone und der sowjetischen Besatzungszone gab es Interzonenpässe, und es waren erste Grenzanlagen auf der Ostseite errichtet worden, Stacheldrahthindernisse in Waldgebieten, Sperren an Straßen, und dabei blieb es nicht, sondern es war im Jahr nach Kriegsende eine Grenzpolizei eingesetzt und sogar der Gebrauch für Schusswaffen geregelt worden. Die Abrieglung des Ostens war ein Schock für die Menschen in Berlin.

»Das kann doch nicht sein«, hatte sich Marions Mutter empört. »Es war ja ohnehin schon ein Aufwand, von einem Teil der Stadt in den anderen zu kommen, und jetzt soll man auch noch aufpassen, nicht erschossen zu werden?«

Was Marion jedoch weit mehr Sorge bereitete, war der Umstand, dass seit diesem Tag, dem achtundzwanzigsten Mai, West-Berlin durch die Regierung in der Sowjetzone vom Umland getrennt wurde. Schon an den beiden Tagen zuvor war die innerdeutsche Demarkationslinie nach Unterzeichnung des Bonner Deutschlandvertrags abgeriegelt worden, und es gab nun einen zehn Meter langen Kontrollstreifen, einen fünfhundert Meter langen Schutzstreifen sowie eine fünf Kilometer weite Sperrzone. Damit war der bisher geduldete kleine Grenzverkehr eingestellt worden. Selbst die Telefonverbindungen zwischen West- und Ost-Berlin waren von der Regierung gekappt worden.

Marion fragte sich, wie es jetzt mit dem Schönheitssalon weitergehen sollte, der in Berlin-Mitte lag und somit im Teil der Stadt, der nun von der Deutschen Demokratischen Republik verwaltet wurde. Da ihre Mutter das Geschäft zwar in Ost-Berlin betrieb, aber in West-Berlin ihren Wohnsitz hatte, war ihr – wie vielen anderen Gewerbetreibenden auch – die Gewerbeerlaubnis entzogen worden. Wer in West-Berlin lebte, aber in einem Betrieb in Ost-Berlin angestellt war – so wie Marion in der Charité –, wurde zum Umzug aufgefordert oder entlassen. Damit sparte Marion sich die Kündigung.

Die Straßen ins Umland wurden gesperrt, offen bleiben durften nur jene, die von den Alliierten als Zufahrtswege in die Bundesrepublik festgelegt worden waren. Für die Menschen in West-Berlin bedeutete das den Verlust ihrer Besitztümer im Osten. Natürlich wurden Passierscheine in Aussicht gestellt, aber das bedeutete nicht automatisch, dass diese genehmigt wurden. Auch der Anhalter Bahnhof war stillgelegt worden, es gab keine Züge mehr, die aus dem Osten nach West-Berlin fuhren.

»Mittlerweile liegt Italien für uns näher als Potsdam«, hatte Helena geschimpft.

Auch das Werksgebäude von Lichtenthal-Pharma hatte einen Treffer abbekommen, als eine Sprenggranate in einen Flügel eingeschlagen hatte. Der Bereich war nach wie vor eingezäunt, und die Bauarbeiten schritten stetig voran. Ihr Vater hatte die Gelegenheit genutzt und legte den Flügel etwas weiträumiger an, was dem Gebäude ein asymmetrisches Aussehen verlieh.

Marion warf dem Portier einen Gruß zu, wechselte ein paar Worte mit den Mitarbeitern an der Rezeption und fuhr dann mit dem Aufzug hinauf in die Chefetage. Die Tür zum Vorzimmer stand offen, und Marion sah, wie die Sekretärin ihres Vaters, Frau Weiller, sich gerade anschickte, mit einem Tablett, auf dem Kaffeekanne und Tasse standen, die Tür zum Büro ihres Vaters zu öffnen.

»Das übernehme ich«, bot Marion an und nahm der Frau das Tablett ab. »Ich möchte sowieso kurz zu ihm.« Während sie das Tablett in der einen Hand balancierte, drückte sie mit der anderen die Tür auf. »Bringen Sie mir bitte auch noch eine Tasse?«

»Natürlich, kommt sofort, Fräulein Lichtenthal.«

Ihr Vater saß an seinem Schreibtisch und sah auf, als sie eintrat. »Na so etwas. Planst du einen beruflichen Wechsel?«

»In der Tat, nur werde ich dann nicht deine Empfangsdame.« Marion stellte das Tablett ab und schenkte Kaffee ein. Im nächsten Moment trat Frau Weiller ein, brachte ein zusätzliches Gedeck und ein Milchkännchen.

»Ich weiß doch, dass Sie Ihren Kaffee nicht schwarz trinken«, sagte sie an Marion gewandt.

Nachdem sie gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, setzte Marion sich ihrem Vater gegenüber in einen der beiden Besucherstühle.

»Was meintest du damit, dass du in der Tat einen beruflichen Wechsel planst?«, fragte Dominik Lichtenthal.

Marion trank einen weiteren Schluck. »Ich hatte eigentlich vorgehabt, meine Kündigung bei der Charité einzureichen, wobei das ja nun nicht mehr nötig ist. Ich liebe die Medizin, doch der Alltag einer Ärztin ist nicht das Richtige für mich.«

Das traf ihren Vater vollkommen unerwartet, hatte er doch damit gerechnet, dass sie in der nächsten Zeit ihren Facharzt anstreben würde. »So plötzlich?«

»Ich denke da tatsächlich schon eine ganze Zeit lang drüber nach.«

»Und was willst du stattdessen tun? In die Pharmazie?« Offenbar erinnerte er sich gerade an die paar Semester Chemie, die sie nebenher studiert und während derer sie eine kurze Liaison mit einem Chemieprofessor gehabt hatte.

»Nein, auch das nicht.« Die Kenntnisse in Chemie waren indes durchaus zu etwas gut. »Ich möchte bei Mama mitarbeiten.«

Ungläubig sah ihr Vater sie an. »Du hast ein komplettes Medizinstudium mit hervorragenden Noten abgeschlossen, und dann sieht deine Berufswahl so aus, Frauen Farbe ins Gesicht zu malen?«

Marion musste lachen. »Lass das bloß nie Mama hören. Du weißt doch genau, dass Kosmetik mehr ist, als Frauen Farbe ins Gesicht zu malen. Mich interessiert medizinische Kosmetik. Wie du siehst, ist mein Studium nicht vergebens gewesen.«

»Du kannst doch in die Dermatologie gehen.«

»Ja, könnte ich. Ich könnte aber auch in die Forschung gehen und medizinische Kosmetik entwickeln.«

»Du könntest auch bei mir in die pharmazeutische Forschung gehen.«

»Das geht doch Hand in Hand, Paps. Ich weiß, dass du sicher enttäuscht bist, aber …«

»Nein«, fiel er ihr ins Wort. »Ich bin nicht enttäuscht. Es ging mir nie darum, dass du meine Erwartungen erfüllst, sondern stets nur deine eigenen. Ich gestehe, ich war glücklich, als du mir eröffnet hast, dass du Ärztin werden willst, aber letzten Endes ist mir am wichtigsten, dass du zufrieden bist mit dem, was du tust. Ich bitte dich nur, die Entscheidung zu überdenken.«

»Du kannst davon ausgehen, dass ich das getan habe. Ich habe lange und gründlich darüber nachgedacht.«

»Weiß deine Mutter bereits davon?«

»Nein, ich bin zuerst zu dir gekommen.«

Ihr Vater nickte, zog seine Zigaretten hervor und steckte eine an. »Sie wird sich freuen, dass du mit ihr zusammenarbeiten wirst. Und die Tätigkeit als Ärztin läuft dir ja nicht davon, du hast ein abgeschlossenes Studium und kannst jederzeit deinen Facharzt machen, wenn du merkst, dass das vielleicht doch nicht das Richtige für dich ist. Dir ist aber klar, dass du mit medizinischer Kosmetik in Konkurrenz zu deiner Tante Charlotte trittst?«

»Ja, durchaus. Aber wie sagst du immer? Konkurrenz belebt das Geschäft.« Mit ihrer Tante hatte Marion nur selten Kontakt. Auf Feiern lief man sich hin und wieder über den Weg, aber damit erschöpfte es sich auch schon. Im Grunde war das bedauerlich, denn Charlottes Tochter Emma war ganz reizend, und Marion hatte schon einige interessante Unterhaltungen mit ihr geführt, wenn sie sich denn mal begegnet waren. Auch Emmas Bruder Leopold war sehr freundlich und umgänglich, wenngleich er seit dem Krieg verschlossen und in sich gekehrt wirkte. Im letzten Jahr hatte er noch an die Front gemusst, der arme Kerl. Da war sein Vater gerade gestorben, und Leopold hatte nicht nur den Verlust zu verkraften gehabt, sondern war selbst in dem unheilvollen Mahlwerk des Krieges aufgerieben worden.

Emma Rudorf saß mit einem Buch in der Hand im Wohnzimmer und hörte ihren Bruder heimkommen. Den ganzen Tag war Leopold im Werk von Dr. Rudorfs medizinische Kosmetik gewesen, und an seinem schleppenden Schritt hörte Emma, wie erschöpft er sein musste. Vermutlich hatte er wieder mit Mutter gestritten, und bei dem Gedanken daran, wie diese ihm zusetzte, packte sie die Wut. Sie legte ihr Buch beiseite und stand auf, ging in den Flur, wo sich Leopold gerade die Schuhe auszog. Er sah ihrem Vater ähnlich, hatte zwar dunkleres Haar, aber seine Gesichtszüge, und er wirkte mit der Brille ein wenig professorenhaft.

Als er Emma bemerkte, lächelte er. »Wie geht’s?«, fragte er mit gespielter Munterkeit.

»Gut. Und dir?«

»Viel zu tun. Und bei dir? Wie war die Klausur?«

»Ich denke, ich habe bestanden.« Emma würde im nächsten Sommer ihr Chemiestudium abschließen.

»Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet.«

»Ich habe Abendessen gemacht. Kommt Mama auch gleich?«

»Nein, sie meinte, sie hätte noch viel zu tun.«

Wie immer. Für Charlotte Rudorf gab es seit dem Tod ihres Mannes nur noch das Werk, sie arbeitete wie besessen, als könnte das den Schmerz des Verlustes betäuben. Emma hatte sich so oft gewünscht, sie würde darüber nicht ständig vergessen, dass sie zwei Kinder hatte, und sich nur dann an sie erinnern, wenn es etwas auszusetzen gab. Vor allem Leopold war ihr ein fortwährendes Ärgernis.

»Du warst ein Jahr im Krieg«, pflegte sie zu sagen, »und du bist in einem Stück zurückgekommen. Wie lange willst du noch in Trübsal versinken, anstatt endlich wieder mit beiden Beinen im Leben zu stehen?«

Was ihre Mutter Trübsal nannte, war eine tiefe innere Wunde, die der Krieg geschlagen hatte, und Emma fragte sich, warum sie diese sehen konnte, nicht aber die Frau, die ihn geboren hatte. Dann kamen wieder diese Geschichten über all die Kriegsheimkehrer, die es auch schafften, ihr Leben in den Griff zu bekommen, obwohl sie deutlich länger im Krieg aufgerieben worden waren. Wie schlimm konnte da das eine Jahr schon gewesen sein. Einzig für Emmas Albträume durch die Bombardierung hatte sie Verständnis, denn diese war zu der Zeit gerade vierzehn Jahre alt gewesen. Da spielte wohl auch die Erinnerung mit hinein, wie Emma an sie geschmiegt im Keller gesessen und gewartet hatte, bis die Bombardierung vorbei war, während sie beide Angst gehabt hatten, dass Leopold vielleicht schon tot war.

»Isst du mit mir zu Abend?«, fragte er nun.

»Klar, ich habe auf dich gewartet.«

Leopold würde im Juli vierundzwanzig werden und hatte sein Pharmaziestudium im letzten Jahr abgeschlossen. Er hätte lieber Maschinenbau studiert, war schon seit Kindertagen davon fasziniert gewesen. Aber es war klar gewesen, dass er das Familienwerk erben würde. Allenfalls hätte er noch Arzt werden können, um die Praxis ihres Vaters zu übernehmen, die nun ein anderer Arzt gemietet hatte.

Da sie nur zu zweit waren, aßen sie zwanglos in der Küche, und Leopold deckte den Tisch, während Emma den Brotkorb, Butter, Käse und Aufschnitt hinstellte und alles in den Dosen beließ, was ihre Mutter stets als mangelnde Esskultur bezeichnete. Emma hingegen war es zu viel Aufwand, jetzt alles auf Tellern anzuordnen, nur um dann das meiste wieder zurückzufüllen und wegzuräumen und mehr zum Abspülen zu haben. Sie ließ sich ihrem Bruder gegenüber am Tisch nieder. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte Emma bislang keine großen beruflichen Ambitionen gehabt, sie studierte Chemie allein aus dem Grund, weil es sie interessierte, aber sie hatte keine konkreten Pläne darüber hinaus – ein ständiges Ärgernis für Charlotte Rudorf. Emmas Plan war gewesen, zum Zeitvertreib etwas zu studieren, das ihr Spaß machte, und danach zu heiraten. Im Laufe des Studiums hatte sich ihr Interesse allerdings gewandelt. In der Fakultät war sie hin und wieder ihrer Cousine Marion über den Weg gelaufen, die mit einem von Emmas Professoren ausgegangen war, und sie fand sie gleichermaßen interessant wie inspirierend. Sie hatte sogar kurz mit dem Gedanken gespielt, sich im Pharmakonzern Lichtenthal zu bewerben, aber da hätte vermutlich eine Andeutung gereicht, und ihre Mutter wäre die Wände hochgegangen. Mit ihrer Schwester Helena hatte sie sich schon vor Jahren entzweit, und eine Annäherung war nicht in Sicht.

Beim Essen plauderten sie über Allgemeines, Leopold zog sie mit einem Dozenten auf, von dem sie – seiner Meinung nach – verdächtig oft sprach. Daraufhin erinnerte sie an die Verkäuferin aus dem KaDeWe, mit der er fortwährend ausging, ohne dass die Sache von der Stelle kam. Später räumten sie zusammen ab, erledigten den Abwasch und wollten gerade ins Wohnzimmer gehen, um das Radio einzuschalten, als ihre Mutter die Wohnungstür aufschloss.

»Guten Abend.« Charlotte Rudorf sah müde aus, und Emma ging zu ihr, um ihr den Mantel abzunehmen und ihn an die Garderobe zu hängen.

»Soll ich das Abendessen wieder auf den Tisch stellen?«, fragte Emma.

»Nein, lass nur, ich habe im Werk eine Kleinigkeit gegessen.«

So war es fast jeden Abend, im Grunde genommen aßen sie nur noch am Wochenende regelmäßig zusammen und fanden sich ansonsten morgens zu einem raschen Frühstück in der Küche ein. Ihre Mutter wechselte einen kurzen Blick mit Leopold, aus dem klar ersichtlich wurde, dass die beiden noch vor gar nicht langer Zeit gestritten hatten – ganz so, wie von Emma vermutet. Nun jedoch zeigte sich ein zögerliches Lächeln auf den Lippen Charlotte Rudorfs, und auch das war typisch. Zum Abend hin legte sie Streit gerne bei, mochte es nicht, unversöhnt schlafen zu gehen.

Im Wohnzimmer schalteten sie das Radio ein. Emma hörte nur mit halbem Ohr hin und hatte ihr Buch wieder aufgeschlagen, war aber auch hier nicht bei der Sache. Schließlich gab sie es auf und beschloss, noch ein wenig spazieren zu gehen.

»Um diese Uhrzeit?«, fragte ihre Mutter, die gerade mit einer Tasse Kräutertee ins Wohnzimmer trat.

»Es ist kurz nach acht.«

Nun blickte auch Leopold auf, sah sie an, als witterte er hinter ihrem Wunsch eine tiefere Wahrheit.

»Es ist nur ein Spaziergang«, sagte sie und hätte am liebsten die Augen verdreht. »Mir geht so viel im Kopf herum, und ich kann meine Gedanken beim Gehen am besten sortieren.«

»Wie war eigentlich deine Klausur?«, wollte ihr Mutter nun wissen.

»Gut, denke ich.« Emma ging in den Flur, nahm einen leichten Mantel vom Haken, legte sich einen Seidenschal um und warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel. Seit kurzem trug sie ihr hellbraunes Haar knapp schulterlang und in große Locken gelegt, die sie mit einer Spange seitlich zurückhielt. Jetzt zupfte sie ein wenig daran herum, bis sie schließlich zufrieden war, und verließ die Wohnung. Sie wohnten in der ersten Etage direkt über der Arztpraxis, die Wohnung im zweiten Stock stand derzeit leer. Früher einmal hatte Emmas Großmutter dort gewohnt, aber sie lebte bereits seit fast dreißig Jahren bei ihrer Tochter, erst in Hamburg und seit kurz vor dem Krieg in München, da der Ehemann von Emmas Tante dorthin versetzt worden war. Leider kam sie nur noch selten zu Besuch, da lange Reisen sie zu sehr anstrengten. Emma bedauerte das, denn sie mochte ihre Großmutter, die auch mit achtzig noch rüstiger und scharfsinniger war als manch junge Frau, die Emma kannte.

Es dämmerte bereits, und die langen Schatten des späten Nachmittags waren ineinandergekrochen, verdichteten sich langsam und entfärbten den Tag zu einem lichten Grau. Seit zwei Jahren stellte man die Uhren nicht mehr zur Sommerzeit um, und anfangs war es ungewohnt gewesen, dass die Sommertage nun um eine Stunde kürzer waren, aber man gewöhnte sich daran. Während des Krieges hatte es eine Zeit gegeben, in der fortwährend Sommerzeit gegolten hatte und man die Uhren überhaupt nicht mehr umstellte, irgendwann war ein konzeptloses Wechseln erfolgt. Dann war die Regelung durch die Besatzungsmächte wieder geändert worden, und sie bestimmten eine Umstellung auf die Sommerzeit – wobei diese in der sowjetischen Besatzungszone Berlins 1945 ganze zwei Monate länger gedauert hatte. Jetzt endlich hatte die Regierung sich auf eine einheitliche Zeit festgelegt, die für das gesamte Jahr galt – die Rückkehr zur Normalzeit. Emma hoffte, dass das so blieb.

Als sie durch die Straße spazierte, hier und da einen heimkehrenden Nachbarn oder Bekannten grüßte – die Tochter des Herrn Doktor kannte man im gesamten Viertel –, fiel ihr ein Mann auf, der gerade ein Haus verließ, sich noch einmal umdrehte, einem weiteren Mann, der in der offenen Tür stand, etwas sagte und dann durch den Vorgarten schritt und auf sein Auto zuging. Dominik Lichtenthal. Emma blieb stehen, sah ihn an, wusste nicht, ob sie zu ihm gehen und höflich grüßen oder ihn ignorieren sollte. Er nahm ihr die Entscheidung ab, als er sie bemerkte, kurz stutzte, als müsste er ihr Gesicht erst einem Namen zuordnen, und sie dann anlächelte.

»Guten Abend, Emma. Wie geht es dir?«

Sie ging auf ihn zu. »Sehr gut, vielen Dank.« Sie wusste nie so recht, ob sie ihn duzen sollte oder nicht, denn einerseits war er ein Fremder, andererseits aber der Ehemann ihrer Tante und damit praktisch ihr Onkel.

»Ich habe gehört, du studierst Chemie?«

»Ja, ich werde diesen Sommer fertig.«

»Und dann geht es in den Konzern deiner Mutter?«

Unschlüssig hob Emma die Schultern. »Ach, das weiß ich noch gar nicht.«

Dominik Lichtenthal schloss seinen Wagen auf. »Wenn du dich lieber auf dem freien Markt umsehen möchtest, sag Bescheid, ich kann fähige Chemiker immer gebrauchen.«

Es war schon fast skurril, dass Emma diesen Gedanken erst vor kurzem gehegt hatte und ihn nun ausgesprochen hörte. Da sie nicht rundheraus ablehnen wollte, dankte sie ihm, und nachdem sie ihm gesagt hatte, er möge seine Familie von ihr grüßen, stieg er in seinen Wagen und fuhr los. Im Grunde genommen war das doch albern, dass ihre Mutter immer noch nichts mit ihrer Schwester zu tun haben wollte. Emma kannte die alte Geschichte, und natürlich war es hart, auf einen Schlag sein gesamtes Erbe zu verlieren und die unvermittelt aufgetauchte fremde Schwester als einzige Gewinnerin in dieser Situation zu sehen, aber das Ganze war jetzt gut fünfundzwanzig Jahre her, irgendwann musste es doch mal gut sein. Und es war ja nun wahrlich nicht so, als würde der Besitz des Hauses in der Friedrichstraße noch einen nennenswerten Unterschied im Vermögen ihrer Mutter machen. Im Gegenteil – wäre sie dort geblieben, hätte sie es vielleicht nie so weit gebracht.