Buch
In Frankfurt herrscht drückende Hitze, als ein enger Freund von Kriminalhauptkommissar Fuchs an ominösen Verbrennungen stirbt. Während Fuchs gemeinsam mit der jungen Fallanalystin Lara Schuhmann in dem rätselhaften Fall ermittelt, geschieht ein weiterer Mord. Der perfide Killer arbeitet mit ebenso ungewöhnlichen wie brutalen Mordwerkzeugen, doch die Taten erscheinen willkürlich. Bis eine Spur mitten in die Reihen der Polizei führt. Fuchs muss sich dem dunkelsten Kapitel seiner Vergangenheit stellen, um weitere Morde zu verhindern – und nicht selbst zum Opfer zu werden.
Autor
Frederic Hecker wurde 1980 in Offenbach am Main geboren. Er studierte Medizin in Frankfurt und hat nach seiner Promotion im Institut für Rechtsmedizin zwei chirurgische Facharztbezeichnungen erlangt. Heute lebt er mit seiner Frau und ihren beiden Hunden in Hannover, wo er als Plastischer Chirurg tätig ist. Seine Freizeit widmet er dem Schreiben.
Die »Fuchs & Schuhmann«-Thriller bei Blanvalet:
Band 1: Totenblass
Band 2: Rachekult
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Frederic Hecker
Rachekult
Thriller
Das Zitat von Hans Christian Andersen
stammt aus »Das Märchen meines Lebens«, 1847
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Redaktion: Ivana Marinovic
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Umschlagmotiv: plainpicture/Anja Weber-Decker
JB· Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-26390-4
V001
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Für meine Familie
Es gibt keinen anderen Teufel als den, den wir in unserem eigenen Herzen haben.
Hans Christian Andersen, dänischer Dichter
Kurz bevor Linda in einer Blutlache zusammensackte, hatte sie auf bessere Zeiten gehofft. Dabei war sie nicht so naiv gewesen, dies der Hoffnung zu überlassen, denn die war der Wille der Schwachen. Das Leben aber glich einer Pokerpartie. Ein Teil war Glück, der andere Strategie. Egal wie mies die Hände, die man erhielt, waren, man hatte immer die Wahl, welche man spielte. Ob man sie spielte. Nur Aussteigen war nicht so leicht wie am Pokertisch. So oft ihr der Gedanke daran in letzter Zeit auch gekommen war – sie hatte es einfach nicht fertiggebracht. Immer schien es einen Grund zu geben, warum man am Leben festhalten sollte. Selbst, wenn man ihn kaum erkennen konnte. Doch seit Kurzem gab es ihn wieder. Spürbar, sichtbar und hoffnungsgeladen.
Es war an der Zeit für eine Veränderung.
»Schneid sie ab«, sagte Linda schon zum zweiten Mal.
Die Frau im Spiegel legte die Stirn in Falten. Ihre Schere blitzte im Deckenlicht auf.
»Nun mach schon«, bekräftigte Linda.
Angelika ließ die Schere sinken und sah sich hilfesuchend im Raum um. Dann schnellte ihr Arm hoch. Ein manikürter Nagel deutete auf die Zeitschrift in der Hand der benachbarten Kundin. »So?«
Linda betrachtete das Cover, erkannte Cameron Diaz mit einem modischen Bob an der Seite ihres neuen Lovers. Matt Dillon hieß er doch. Ja, die Welt drehte sich weiter. Bei ihr selbst zwar in einer Abwärtsspirale, aber bei Cameron schien wie immer alles in bester Ordnung zu sein. Dieses Lächeln. Kleiner Breitmaulfrosch. Trotzdem bezaubernd. Und die Augen. Strahlend wie blaue Topase. Als sie zwei Jahre zuvor an der Seite von Jim Carry in Die Maske gespielt hatte, war sie für Linda die schönste Frau auf Erden gewesen. Und jetzt? Selbst dieser dämliche Bob stand ihr. Natürlich, was sonst? Leider war die Haarfarbe das Einzige, was Cameron mit ihr teilte.
Lindas Blick streifte den der anderen Kundin. Die Silberfolie auf ihrem Kopf erinnerte an einen Alu-Hut, als sollte er die Frau vor Gedankenklau schützen. Dabei waren ihre Gedanken ebenso leicht zu lesen wie die von Angelika. Sie standen beiden mit riesigen Lettern in ihre dummen Gesichter geschrieben.
Bist du noch ganz bei Trost?
Wieso um Himmels willen willst du dir dein schönes Haar abschneiden, Kind?
Linda betrachtete sich im Spiegel. Seit Jahren kam sie in diesen Salon. Stets zum Quartalsende, fast immer samstags. Immer derselbe Stuhl, immer dieselbe Friseurin. Immer derselbe Schnitt. Nur, dass eben nichts mehr so war wie die Jahre zuvor. Alles hatte sich verändert. Die Blicke der Menschen sowie ihr eigener Blick auf die Menschen. Selbst die Frisur von Cameron Diaz. Ihr war, als hätte sich mit dem Vorfall vor einigen Wochen ein Schleier gehoben, der bis dahin die wahre Sicht auf die Welt verhängt hatte. Auf einmal schien sie imstande, hinter die Masken der Leute zu schauen.
»Nein«, sagte Linda, »ab.«
»Okay …«, kam es gedehnt von Angelika, »… wir können uns ja rantasten. Ich fange mal hiermit an.« Mit Zeige- und Mittelfinger umklammerte sie zehn Zentimeter von den Spitzen entfernt eine Strähne.
»Was genau an ab hast du nicht verstanden?«, fragte Linda.
Angelika sah sie erst überrascht an und legte dann eine Mitleidsmiene auf. »Ich weiß nicht … Du hast so schönes Haar. Ich bringe das einfach nicht übers Herz.«
Linda stand auf, riss sich den Umhang vom Hals und warf ihn über die Stuhllehne. »Dann vergiss es.« Sie schnappte sich ihre Tasche von der Ablage und verließ den Salon.
Draußen auf dem Bordstein blieb sie kurz stehen, um zu verschnaufen, ging aber weiter, als ihr der Schweiß ausbrach. Sie sah in den Himmel. Keine einzige Wolke. Die Sonne erschien ihr wie die Öffnung eines riesigen Schneidbrenners. Sie trat in den Schatten unter dem Vordach einer Konditorei. In der Auslage drängten sich quietschbunte Fruchttörtchen unter glibbrigem Tortenguss, die mit schokoglasierten Krapfen, Baiserhäubchen und sahnegefüllten Windbeuteln um die Kundschaft wetteiferten. Linda watschelte weiter, denn unter dem Vordach war es kaum kühler. Zudem wurde ihr beim Anblick des Süßkrams bloß schlecht.
Zu Beginn, als sie nicht gewusst hatte, woher die Übelkeit kam, hatte sie morgens nicht mal die Zahnbürste im Mund ertragen. Vom Löffel fürs Müsli ganz abgesehen. Also hatte sie eine Weile aufs Frühstück verzichtet. Dann waren die beiden Striche auf dem Teststäbchen erschienen, und nach dem ersten Schock hatte zaghafte Freude ihr Leid verdrängt. Bis das ständige Erbrechen folgte. Kaum etwas war dringeblieben, sodass sich bald Ängste hinzugesellt hatten. Eine allumfassende Sorge um das, was da in ihr heranreifte. Ein Kind, das sie im Grunde ebenso wenig kannte wie all die Fremden, die in diesem Moment an ihr vorübergingen. Trotzdem spürte sie diese unglaubliche Verbundenheit. Das also war das sagenumwobene Band zwischen Mutter und Kind. Ein Geniestreich für den Artenerhalt, gefertigt in der göttlichen Schmiede, aus der auch der Überlebenstrieb stammt.
Wie als Antwort auf ihre Gedanken nahm sie ein Ziehen im Unterleib wahr. Einmal. Zweimal. Großer Gott! Sie blieb stehen, krümmte sich, vergaß zu atmen. Waren das Tritte, oder hatte der Kleine sich inzwischen bewaffnet? Es fühlte sich an, als wäre er mit einem Messer in ihr zugange. Doch ebenso schnell, wie die Schmerzen gekommen waren, verschwanden sie wieder.
Linda richtete sich auf, blies Luft durch die Lippen. Was war das? Hatte er sie gekratzt? War das überhaupt möglich? Konnten Fuß- oder Fingernägel von Föten so lang werden, dass sie die Gebärmutter verletzten? Sie versuchte, sich an den Nachwuchs ihrer Freundinnen zu erinnern, an deren winzige Fäustchen, wenn die sich mit beachtlicher Kraft um ihren Zeigefinger geballt hatten. Die waren doch immer kurz und absolut sauber gewesen. Wie frisch getrimmt. Ab wann musste man Babys die Nägel schneiden? Darüber hatte sie noch gar nichts gelesen. Bestimmt gab es auch zu diesem Thema etwas in einem der Ratgeber, die sich in ihrer Wohnung stapelten. Sie war mit der Lektüre bloß nicht so weit gekommen. Doch sie hatte ja noch etwas Zeit. Wenn die Ärztin mit ihrer Berechnung richtiglag, gute vier Monate. Genauer gesagt, einhundertsiebenundzwanzig Tage. Einhundertsiebenundzwanzig Tage inmitten von Menschen, die ihr zwar das Gefühl gaben, nicht alleine zu sein, aber dennoch nichts gegen die Einsamkeit in ihrem Innern ausrichten konnten.
Sie kam an der Blumenhandlung der Wittigs vorbei, in der ihre Mutter über zwanzig Jahre lang Kundin gewesen war. Vermutlich die beste, die das Geschäft bisher erlebt hatte. Deko, Sträuße, Gestecke, Kränze … Ihre Mutter war wirklich für jeden Anlass in diesen Laden gerannt, und wäre sie nicht letztes Jahr im Urlaub bei einem Erdbeben gestorben, hätte sie ihn wohl auch vor acht Wochen aufgesucht, um die Liegesträuße und Trauergestecke zu holen. Doch wenigstens Mama war dieser Tag erspart geblieben, dachte Linda und erkannte durch die Glasfront, wie Frau Wittig einer alten Dame ein Gesteck überreichte. Wahrscheinlich würde die Alte es gleich zum Friedhof tragen und auf das Grab eines geliebten Menschen legen. Was sonst.
Frau Wittig geleitete ihre Kundin zum Ausgang, hielt ihr die Tür auf und winkte ihr nach. Lange hat die Oma nicht mehr, dachte Linda, und bemerkte dann, wie sehr auch die Floristin in die Jahre gekommen war. Der Zahn der Zeit hatte ihr tiefe Furchen ins Gesicht genagt. Sie kannte Frau Wittig schon seit ihrer Kindheit, aus einem Alter, als sie gerade so über die Ladentheke hatte schauen können. Nun trafen sich ihre Blicke wieder. Linda hob eine Hand zum Gruß. Etwas geschah mit dem Lächeln auf dem Gesicht der Floristin. Als erstürbe die Herzlichkeit, um einer Mischung aus Mitleid und Skepsis zu weichen. Inzwischen erkannte Linda so etwas. Es folgte ein förmliches Nicken. Dann wandte Frau Wittig sich wieder ab und verschwand hinter Blumenampeln mit Grünzeug und Hängebegonien im Laden.
Linda ging weiter. Die Blumenfrau konnte ihr mal am Arsch vorbeigehen. So wie der Rest dieser einfältigen Dorfbewohner. Der Rest der verdammten Menschheit!
Sie steuerte auf das Parkhaus zu, wo ihr Wagen stand. Zwischendurch blieb sie einige Male stehen, um zu verschnaufen. Wie sollte das erst in den kommenden Monaten werden, wenn sie sich jetzt schon so anstellte? Bei der letzten Voruntersuchung hatte das Baby gerade einmal zehn Zentimeter gemessen und laut Schätzung der Ärztin höchstens einhundert Gramm auf die Waage gebracht. Daran konnte es also kaum liegen. War heute vielleicht einfach nicht ihr Tag? Genauso wenig wie der gestrige. Und der davor. Was würde wohl morgen sein? Daran wollte sie gar nicht erst denken.
Linda wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Hitze hatte sich zwischen den Häuserreihen gestaut, sodass selbst das zarte Lüftchen, das wehte, null Erleichterung brachte. Sie fühlte sich wie in einem riesigen Ofen, die Regler auf zweihundert Grad und Umluft gestellt. Als sie den Durchgang zum Parkhaus betrat, legte sich eine erfrischende Kühle auf ihre Haut, und der typische Geruch nach Abgasen schlug ihr entgegen. Doch was war das? Sie schnüffelte, sah sich um und bemerkte den feuchten Fleck an der Wand. Hatte doch tatsächlich jemand hier in die Ecke gepisst, obwohl überall Kameras hingen. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss, und fast in derselben Sekunde stach ihr Sohn wieder zu. Nur dass er scheinbar auf ein größeres, grobzackiges Messer umgestiegen war. Linda krümmte sich erneut unter Schmerzen, spürte, wie etwas Warmes ihre Schenkel hinablief. Fiel auf die Knie, hob ihr Kleid, erblickte das Blut. Vor ihrem inneren Auge sah sie den Fötus, der seine Klauen in ihre Gebärmutter schlug wie ein wild gewordenes Tier. Aus Lindas Kehle drang ein erstickter Laut. Was um Himmels willen passierte mit ihr? Wieder und wieder stach ihr Sohn zu. Linda kippte zur Seite, spürte den kalten Beton an ihrer Wange, roch den Gestank der Urinlache keine Armlänge von ihr entfernt. Mit letzter Kraft rollte sie sich zusammen, lag nun selbst da wie ein Embryo. In ihrem Kopf eine einzige Frage: Fühlt es sich so an zu sterben?
»Sie sind von der Kripo, nehme ich an?« Der Polizist stand breitbeinig vor dem Gebäude und erinnerte Hauptkommissar Fuchs an einen Türsteher, der erklärte, dass Einlass nur für geladene Gäste war.
Er nickte, hob eine Hand. »Joachim Fuchs.«
»Jens Arnold. Sind Sie allein?«
Fuchs sah sich um. »Meine Kollegin kommt mit dem Rad. Sie hat es nicht weit. Ich dachte, sie wäre schon da.«
Arnold schüttelte den Kopf. »Nein, hier sind nur wir drei.« Fuchs grüßte den zweiten Beamten, der trotz der warmen Sommernacht nervös von einem Bein aufs andere trat, als würde er frieren. »Der Notarzt ist schon wieder weg. Da war nicht mehr viel zu machen. Zeugen gibt’s keine. Wenn man die Leiche sieht, erübrigt sich die Frage nach der Todesart. Also haben wir Sie verständigt. Dennoch wollte ich Ihnen mit den weiteren Schritten nicht vorweggreifen. Manche Ihrer Kollegen hassen es ja, wenn die Spurensicherung schon herumwuselt. Die wollen sich lieber erst mal selbst ein Bild machen.« Er wies mit dem Daumen über die Schulter. »So was haben Sie noch nicht gesehen. Garantiert.«
Fuchs folgte dem Fingerzeig zu einer hellblauen Tür. Lack blätterte davon ab, als würde sich das Metall häuten. Auf Höhe der Klinke war das Türblatt verbogen. Vermutlich war dort mal ein Brecheisen angesetzt worden. Da die Stelle verrostet war, musste der Einbruch aber länger zurückliegen.
»Der Schließzylinder fehlt«, bemerkte Fuchs.
»Ja, wurde wohl schon vor geraumer Zeit ausgeschlagen. Seither ist das Gebäude für jeden frei zugänglich. Richtig widerlich da drin. Scheint ein Platz für Mittellose oder Menschen mit besonderen Vorlieben zu sein. Penner, Sprayer, Junkies oder Lost-Place-Touristen. Ist ja mittlerweile ein richtiger Hype geworden, solche verlassenen Orte auszukundschaften. Dabei hat dieser hier eigentlich nicht viel zu bieten. Wenn man mal von der Leiche da drin absieht.« Er lachte. Tatorthumor.
Fuchs sah auf die Uhr. Viertel nach neun. Wo zum Teufel blieb Lara? Er ließ seinen Blick über die angrenzenden Gebäude schweifen, den von Laternen in schwefelgelbes Licht getauchten Platz bis vor zur Straße jenseits des Stacheldrahtzauns, der das Grundstück umschloss wie ein Gefängnis.
Er wandte sich wieder um, legte den Kopf in den Nacken und sah an der Fassade empor. Versuchte, den geschwungenen Schriftzug daran zu entziffern.
»BonTex«, beantwortete Arnold die stumme Frage. »Früher wurden hier Leder und Textilien verarbeitet. Taschen, Portemonnaies, Möbelbezüge. Liegt aber schon ewig brach. Sind irgendwann pleite gegangen.«
»Wer hat Sie informiert?«
»Anonymer Anrufer. Schätze mal, einer der Meth-Männer, die hier abhängen. Aber wir waren schon drin, Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen. Momentan ist da niemand, bis auf … na ja, Sie werden es ja gleich sehen.«
Fuchs schaute sich noch einmal auf dem beleuchteten Platz um. Als er Lara immer noch nicht entdeckte, nickte er Arnold zu. »Na gut, gehen wir rein.«
»Und Ihre Kollegin?«
»Wird schon kommen.«
»Okay, dann los.« Er wandte sich dem Beamten neben ihm zu. »Du bleibst hier, Thomas. Ich will da drin keine Überraschung erleben, verstanden? Wenn seine Kollegin gleich kommt, bringst du sie rein.«
Der junge Polizist nickte wortlos, tippte sich an den Schirm seiner Mütze.
Militärischer Gehorsam par excellence, dachte Fuchs, während Arnold unter kreischenden Angeln die Tür aufzog.
Das Erste, was er wahrnahm, waren eine undurchdringliche Schwärze sowie ein modriger Geruch, der ihm entgegenströmte. »Ich hoffe, Sie haben eine Lampe dabei?«
Arnold zog eine Maglite von seinem Gürtel. »Klar. Da drin ist es dunkel wie in einem Bärenarsch.« Er knipste die Lampe an und ging mit großen Schritten voraus. »Folgen Sie mir.«
Fuchs hängte sich hinter ihn. Bei jedem Schritt knackte und knirschte es unter seinen Sohlen. Zudem stieg ihm ein beißender Gestank in die Nase. Der Strahl der Lampe schnitt wie ein Lichtschwert durch den Raum, huschte hektisch über den Boden und ließ zerbrochene Flaschen, Dosen sowie Einwegspritzen aufleuchten. Arnold hatte nicht zu viel versprochen. Widerlich war noch wohlwollend ausgedrückt. An einer der mit Graffitis verunzierten Wände lehnte eine schimmlige Matratze. Daneben stand ein Einkaufswagen, für eine Münze zur ewigen Leihgabe gemacht.
»Passen Sie auf, dass Sie nirgends reintreten!«, rief Arnold, der schon ein Stück weitergegangen war. Seine Stimme hallte von den Wänden wider wie in einer Kathedrale. »Vor allem vor den Pfützen sollten Sie sich in Acht nehmen. Aber Sie haben es sicher schon gerochen.«
»Allerdings«, brummte Fuchs und schloss zu ihm auf. Bei dem schmatzenden Geräusch seiner Sohlen verfluchte er sich, nur Turnschuhe angezogen zu haben. Auch eine eigene Lampe wäre von Vorteil gewesen. Doch als ihn die Meldung eine halbe Stunde zuvor erreicht hatte, war er aus seinem Fernsehsessel gesprungen, in Jeans und Hemd geschlüpft und aus dem Haus gestürzt, als hätte er nur auf diesen Anruf gewartet.
Seitdem Sophia vor zwei Wochen nach Afrika aufgebrochen war, um als Ärztin am Einsatz einer Hilfsorganisation teilzunehmen, schien eine Lethargie von ihm Besitz ergriffen zu haben, wie er sie seit der Trennung von seiner Ex-Frau nicht mehr erlebt hatte. Es machte den Anschein, als wäre er plötzlich nicht mehr imstande, allein etwas Sinnvolles mit seiner Zeit anzufangen. Als sei sämtliche Farbe aus seinem Leben gewichen. Trotzdem hätte ein bisschen weniger Eifer, dafür etwas mehr Vorbereitung nicht geschadet. Denn nun hechtete er wie ein Hündchen dem Lichtkreis von Arnolds Maglite hinterher und wünschte sich mit jedem Schritt mehr in seinen geliebten Chesterfield-Sessel zurück. Falls sich hier etwas in seine Fußsohle bohrte, würde er sicher binnen weniger Stunden an einer Sepsis krepieren.
»Ein paar Tretminen gibt es übrigens auch«, warnte ihn Arnold, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Zum Glück liegen die in den Ecken. Ich frage mich immer, was Menschen zu solchem Verhalten antreibt.« Er leuchtete nacheinander einige Haufen an wie ein Lichttechniker die Darsteller auf einer Bühne. »Nicht mal Hunde scheißen freiwillig in ihr Zuhause. Bin jedenfalls heilfroh, dass Thomas Wache hält, damit uns nicht hinterrücks eine dieser Kreaturen überrascht. Haben Sie mal so ein Meth-Opfer gesehen? Dagegen sehen die Zombies aus The Walking Dead wie Wellnessurlauber aus.« Er verlangsamte seine Schritte, wartete, bis Fuchs zu ihm aufgeschlossen hatte, und schien ihm dann mit der Maglite ins Gesicht. »Was ich Sie draußen schon fragen wollte – Joachim Fuchs sagten Sie? Dann ist Ihre Kollegin diese Profilerin, oder?«
Fuchs nickte. Er ahnte, was nun kommen würde. Diese Unterhaltung hatte er schon einige Male geführt und war immer wieder erstaunt darüber, wie wacker sich die offizielle Version der damaligen Ereignisse um die Ergreifung des Aderlass-Mörders selbst in den eigenen Reihen hielt. Die Medien hatten ihre Arbeit getan. Dabei war Fuchs nicht so naiv zu glauben, sie hätten bloß als argloses Sprachrohr fungiert. Die Story mit Lara als Heldin hatte sich schlicht besser verkauft. Doch die Sache war eine tickende Zeitbombe, die irgendwann hochgehen würde, da war er sich sicher.
»Ist nicht mal dreißig, Ihre Kollegin, oder?«, fragte Arnold.
»Doch, gerade geworden.«
»Und dann schon einen Serienmörder auf dem Kerbholz …« Arnold grunzte anerkennend. »Hut ab.«
»Ein Tipp«, bremste ihn Fuchs. »Sprechen Sie Frau Schuhmann lieber nicht darauf an. Sie ist diesbezüglich etwas eigen, empfindet Komplimente schnell als Lobhudelei und stößt den Leuten dann nur unnötig vor den Kopf. Und den Begriff Profilerin mag sie auch nicht besonders. Fallanalystin ist ihr lieber.«
»Klingt ja nach einer richtigen Zicke.« Abrupt blieb Arnold stehen. »Da vorne ist es.« Der Lichtkreis seiner Lampe glitt über den Boden, bis er auf einen reglosen Körper traf. Langsam ließ er den Schein von den Füßen der Leiche an aufwärts wandern. Sie lag auf dem Rücken, die Beine lang ausgestreckt. Bevor Arnold das Gesicht beleuchtete, hielt er inne wie für ein großes Finale. »Bereit?«
Fuchs spielte mit. »Bereit.«
Obwohl er vorgewarnt worden war, schreckte er bei dem Anblick zurück.
»Und? Was sagen Sie?«
»So was ist mir in der Tat noch nicht untergekommen. Das sieht ja aus wie …«, Fuchs trat einen Schritt näher, »… Der Schrei.«
»Wie was?«
»Das Gemälde von Edvard Munch.«
Arnold grunzte erneut, wobei Fuchs diesmal nicht wusste, wie er den Laut deuten sollte. Abfällig? Beeindruckt? Oder hatte Arnold schlicht keine Ahnung, wovon er sprach? War auch egal. Er ging in die Hocke und streckte den Arm nach hinten aus. »Geben Sie mir mal die Lampe.«
Arnold schlurfte heran und überreichte Joachim die Maglite, die er sogleich auf das Gesicht des Toten richtete. Die Züge des Mannes waren zu einer grotesken Grimasse verzerrt, als wären sie im Moment des größten Schmerzes erstarrt. Durch den weit aufgerissenen Mund waren die Lippen ganz schmal, sodass sie ihn an vertrocknete Würmer erinnerten. Doch nicht nur der Mund des Toten, auch seine Augen schienen zu schreien. Stumm schrien sie dem Betrachter das Grauen entgegen, das sie kurz vor dem Tod hatten mit ansehen müssen. Dieser Eindruck wurde durch die Hände verstärkt, die seitlich am Kopf anlagen. Fuchs kam es vor, als hielten sie das Entsetzen des Opfers selbst noch im Tode fest.
Er variierte den Einfallswinkel des Lichts. Unter diesen Umständen war es schwer zu sagen, aber der Mann durfte in seinem Alter gewesen sein. Vielleicht hatte er die fünfzig aber auch schon geknackt. Fuchs neigte den Kopf, stockte …
Was war das?
Der Lichtstrahl der Lampe fiel durch zwei Reihen gepflegter Zähne und wurde von etwas Glänzendem reflektiert. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein metallischer Gegenstand, doch dann erkannte er, dass diese spiegelnde Oberfläche den Mundraum vollständig ausfüllte. Selbst ringsherum war nicht der kleinste Spalt zur Schleimhaut zu erkennen. Handelte es sich um einen Flüssigkeitsspiegel?
»Mir war gleich klar, dass das hier kein gewöhnlicher Todesfall ist«, hörte er Arnolds Stimme hinter sich.
»Es sieht auch nicht nach einem gewöhnlichen Mord aus«, entgegnete Fuchs. »Haben Sie das hier gesehen?«
»Was meinen Sie?«
»Das in seinem Mund.«
Arnold schaute ihm über die Schulter. »Was ist das?«
»Ich habe da so eine Vermutung …« Fuchs wich ein Stückchen zurück, denn er erinnerte sich, wie ihm als Kind ein Fieberthermometer zerbrochen war. Das Quecksilber hatte sich auf dem Boden verteilt und wie von Geisterhand zu dicken Tropfen zusammengerottet. Durch Anpusten waren sie über den Teppich geflitzt wie winzige Hockeypucks auf dem Eis. Zum Glück hatte sein Vater dem ein Ende bereitet und ihm eine so detailreiche Standpauke über die giftigen Dämpfe dieses Schwermetalls gehalten, dass Joachim selbst heute noch einen Heidenrespekt davor hatte.
Er zog ein Paar Latexhandschuhe aus seiner Hosentasche, streifte sie über und schob einen Finger in den Mund des Toten. »Falsch gedacht«, sagte er mehr zu sich selbst.
»Was war Ihre Vermutung?«
»Quecksilber.«
»Woher wissen Sie, dass es keins ist?«
»Die Oberfläche ist fest. Quecksilber aber ist bei Raumtemperatur flüssig.«
»Okay. Was könnte es dann sein?«
»Blei. Silber. Arsen. Cadmium. Wobei ich glaube, dass nur Silber und Cadmium so glänzen.«
»Ist Cadmium nicht giftig?«
»Doch, ziemlich.«
Arnold trat einen Schritt zurück. »Sollten wir dann nicht besser auf die Kriminaltechniker warten?«
Fuchs sah zu ihm auf. »Ich habe kein Problem damit, wenn Sie draußen warten wollen – solange Sie mir Ihre Lampe dalassen.«
»Nein, nein, schon gut.«
Fuchs führte ein Auge an die Mundhöhle heran und entdeckte einen Saum aus verkrusteter Schleimhaut, die sich entlang der Metalloberfläche erstreckte.
Auf einmal waren andere Stimmen zu hören, die lauter wurden. Ein zweiter Lichtstrahl schnitt durch die Dunkelheit.
»Ich bringe Ihre Kollegin«, hallte die Stimme des anderen Polizisten durch den Raum.
»Falls Sie es noch nicht getan haben …«, rief Fuchs ihm entgegen, »… Sie könnten die Spurensicherung rufen! Die Staatsanwaltschaft werde ich informieren.«
»Wird erledigt«, gab der Beamte zurück, lieferte Lara bei ihnen ab und ging wieder nach draußen auf seinen Posten.
»Hübsch hier«, sagte Lara leicht außer Puste.
Joachim warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Wann kaufst du dir endlich ein Auto?«
»Ich weiß … Entschuldige.« Schuldbewusst kräuselte sie ihre etwas zu spitz geratene Nase. »Falls es dich beruhigt – ich habe mir neulich eins angesehen. Das wird es vielleicht.«
»Na, dann …« Fuchs stellte seine Kollegin Arnold vor, der ihre Hand einen Moment länger drückte als nötig.
»Übrigens – herzlichen Glückwunsch nachträglich«, sagte er.
Verdutzt sah Lara ihn an.
»Zum Geburtstag«, erklärte Arnold und schob sogleich hinterher: »Hat mir Ihr Kollege verraten. Er hat mich zwar auch gewarnt, Sie lieber nicht auf Ihren Job anzusprechen, aber man bekommt ja nicht jeden Tag die Gelegenheit, einer Fallanalystin über die Schulter zu schauen.«
Lara schielte ratlos zu Fuchs hinüber, doch der zuckte nur mit den Schultern.
»Dann will ich mal hoffen«, sagte sie zu Arnold, »dass ich Sie mit meiner Performance nicht enttäusche, denn so mystisch ist meine Arbeit nicht.«
Fuchs schmunzelte. Lara Schuhmann war keine Zicke, wie Arnold gemutmaßt hatte. Sie hasste nur den Umstand, dass sie wegen des spektakulären Aderlass-Falls immer wieder zum Lügen gezwungen wurde, und es die letzten Monate schon öfter zu ähnlichen Situationen gekommen war. Sie fühlte sich dabei jedes Mal schlecht. Geradezu schäbig.
»So, was haben wir hier?« Sie wandte sich von Arnold ab. Ein klares Signal, dass dieses leidige Thema beendet war.
Als Joachim das Gesicht des Opfers erhellte, entfuhr Lara ein verblüffter Laut. »Das … erinnert mich an etwas.«
»Vielleicht an Munchs Schrei?«
»Ja, könnte sein.«
»Hatten wir auch dran gedacht. Schau mal in seinen Mund.«
»Moment …« Lara, die das Haus nach dem Anruf offenbar ebenfalls überstürzt verlassen hatte, zog ein Haargummi aus ihrem Blouson und band sich rasch das glatte braune Haar zusammen, bevor sie sich tiefer über das erstarrte Gesicht des Toten beugte. »Was ist das?«
»Metall, schätze ich. Siehst du den geröteten Rand?«
»Ja. Eine Verbrennung?«
»Nehme ich an. Bei welcher Temperatur schmilzt Metall? Sechs-, siebenhundert Grad? Oder mehr?« Fuchs schluckte, da er sich vorzustellen versuchte, welche Schmerzen der Mann wohl hatte ertragen müssen.
»Hast du mal Handschuhe für mich?«, fragte Lara.
Fuchs zog wortlos ein weiteres Paar aus der Tasche. Ein Glück für Lara, dass er die Dinger ständig in seinem Handschuhfach hatte und seine Kollegin zudem so gut kannte.
Lara schlüpfte hinein, umfasste den Arm des Toten und zog daran. Die Leichenstarre schien zwar gelöst zu sein, doch die Hand entfernte sich kein bisschen vom Kopf. Stattdessen folgte der Kopf der Bewegung, genau wie der andere Arm. »Die wurden festgeklebt!«
»Scheiße«, entfuhr es Arnold, »was soll der Mist?«
»Gib mir mal die Lampe«, sagte Lara.
Nachdem Fuchs ihr die Maglite gereicht hatte, richtete Lara sich auf, um sich einen Überblick zu verschaffen. Einige Male ließ sie den Strahl über den Körper wandern, zog dann ein Diktiergerät aus der Tasche und begann zu sprechen.
»Es ist der 13. Juli«, sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, »21:36 Uhr. Wir befinden uns auf einem stillgelegten Firmengelände am Rande von Bornheim, nahe der 661. Um diese Zeit eine ruhige Gegend. Innerhalb des Gebäudes ist es stockdunkel. Offenbar gibt es kein elektrisches Licht.« Sie hielt die Aufzeichnung an, sah mit der stummen Frage auf den Lippen zu Arnold hinüber.
Der schüttelte den Kopf. »Nein, kein Strom. Muss irgendwann abgestellt worden sein.«
Sie ging in die Hocke. »Das Opfer ist männlich und schätzungsweise um die fünfzig. Er sieht nicht aus wie jemand, der sich für gewöhnlich an einem solchen Ort aufhalten würde. Er trägt auffallend gute Kleidung und wirkt insgesamt sehr gepflegt. Segelschuhe, Bundfaltenhose, Poloshirt von Lacoste. Guter Zahnstatus. Kurz geschnittene, saubere Nägel. Auch wenn die Handflächen selbst nicht beurteilbar sind, macht es nicht den Anschein, als hätte das Opfer zu Lebzeiten schwere Arbeit mit den Händen verrichten müssen. Ich würde auf einen Akademiker oder zumindest jemanden in einer gehobenen Position tippen. Die Auffindesituation zeigt eine außergewöhnliche Inszenierung. So wurden die Hände des Opfers seitlich am Kopf festgeklebt und die Mundhöhle vermutlich mit erhitztem Metall ausgegossen. Der Mund ist weit geöffnet. Das sich hieraus ergebende Bild erinnert an das Gemälde Der Schrei. Ob diese Parallele beabsichtigt war oder nicht, bleibt zunächst offen. Der Fundort entspricht mutmaßlich nicht dem Tatort, es sei denn, der Täter hat all seine Utensilien hierher mitgenommen. Diverse Hinterlassenschaften von Leuten in dem Gebäude lassen aber vermuten, dass der Ort zur Ausübung einer solchen Tat wenig geeignet ist. Dann würde jedoch das Abladen der Leiche hier bereits eine gewisse Risikobereitschaft des Täters verraten.« Sie stoppte die Aufnahme.
»Lass uns mal nachsehen, ob er was bei sich hat, das uns bei seiner Identifizierung hilft«, nutzte Fuchs die Lücke in Laras Monolog und betastete bereits die vorderen Hosentaschen des Opfers. »Hier ist schon mal nichts. Sehen wir hinten nach.« Er packte die Leiche am Gürtel und rollte das Becken zur Seite.
Nachdem Lara das Diktaphon eingesteckt hatte, klopfte sie die Gesäßtaschen ab. »Hier!« Sie förderte ein braunes Lederportemonnaie zutage. »Das wird ja leichter als gedacht.« Sie klappte es auf. »Dann wollen wir doch mal sehen, wer …«
»Was ist?«, fragte Fuchs.
Kommentarlos hielt sie ihm die Geldbörse entgegen, sodass er den Ausweis darin sehen konnte.
Joachims Mund blieb offen stehen, wenn auch nicht so weit wie der des Mannes, der hier zu ihren Füßen lag.
Bis zu dem Moment, als ihr Mann brannte, war es ein herrlicher Julimorgen gewesen. Irene Kröll war vom Schein des Lichtweckers langsam aus ihren Träumen gehoben worden, bis sie das um sieben Uhr einsetzende Vogelduett geweckt hatte. Seitdem sie diesen Wecker besaß, fiel ihr das Aufstehen leichter. Nur bei Konrad brauchte es mehr als einen simulierten Sonnenaufgang. Selbst der Vogelgesang, der nach einer Weile in solch penetrantem Gezwitscher gipfelte, dass man eine Invasion durch die Vögel aus Hitchcocks gleichnamigem Film fürchten könnte, ließ ihn selig weiterschlummern. Da ihre Kinder für einige Tage außer Haus waren, hatte Irene sich spontan überlegt, Konrad mit einer Runde Morgensex zu überraschen.
Anschließend war sie ins Bad getaumelt, um sich frisch zu machen, und dann in die Küche gegangen, wo sie Kaffee gekocht und Müsli mit Beeren zubereitet hatte. Als Konrad rasiert und in seinem blauen Anzug dazugestoßen war, hatte ihn der hinreißende Duft ihres Parfums umweht. Wie schon so oft dachte Irene auch jetzt, was für ein Glück sie mit ihrem Mann gehabt hatte. Egal wohin sie sah – überall um sie herum Scheidungen oder in Trümmern liegende Ehen, die des äußeren Anscheins oder der Kinder wegen aufrechterhalten wurden. Doch sie war offenbar ein Glückskind.
»Gibst du mir mal den Zucker, Schatz?« Konrad streckte die Hand aus.
»Es ist schon genug drin.«
Er lächelte. »Bitte. Nur noch ein bisschen.«
Sie schob ihm die Dose über den Tisch. »Wenn du das immer so überzuckerst, kann ich auch gleich den Fertigkram aus dem Supermarkt holen und muss keine teuren Gojibeeren reinmachen.«
Konrad stand auf und trat hinter Irene, vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. »Du weißt doch, wie sehr ich auf Süßes stehe.«
Kichernd zog sie die Schulter zum Kinn, ließ ihn ihre Brüste massieren, schob seine Hände dann aber weg. »Guck mal auf die Uhr, du kommst noch zu spät.«
Er sah zum Ofen. Sie hatte recht. Es war schon kurz nach acht. Andererseits war er der Chef.
»Meinst du nicht auch, ich könnte es mir erlauben, wenigstens einmal zu spät zu kommen? Einige meiner Mitarbeiter sehen das mit der Pünktlichkeit jedenfalls nicht so eng.«
»Aber nicht heute.«
Siedend heiß fiel ihm der Termin wieder ein. Er küsste sie auf den Scheitel, ging zu seinem Platz zurück, klappte die Krawatte über die Schulter und schaufelte das Müsli in sich hinein.
»Wann kommen die Kinder wieder?«, fragte er, bevor er den Kaffee hinunterkippte.
»Morgen.«
»Okay, dann machen wir heute Abend da weiter, wo wir eben aufgehört haben.« Er zwinkerte ihr über den Rand seiner Tasse hinweg zu.
Sie lächelte.
Er stand auf, wollte sein Geschirr abräumen, aber Irene nahm es ihm ab.
»Geh schon. Ich mach das. Du musst los.«
Vor dem Spiegel in der Diele prüfte er den Sitz seiner Krawatte und verließ anschließend das Haus.
Während Irene die Müslischale unter dem laufenden Hahn abspülte, sah sie aus dem Fenster. Konrad war in der Einfahrt stehen geblieben, bückte sich und hob etwas vom Boden auf. Sie ahnte schon, um was es sich dabei handelte. Bestimmt wieder eine Schnecke, die zum Beet strebte, um sich über ihr Gemüse herzumachen. Sie klopfte an die Scheibe und drohte ihm spielerisch mit dem Finger. Konrad gab sich ertappt.
Schmunzelnd prüfte Irene die Schale im Licht der Morgensonne und sah sich nach einem Geschirrtuch um. Da sie keines entdeckte, war jetzt wohl der Moment für Konrads Mikrofasertücher gekommen, die er ihr neulich von einer seiner berühmten Einkaufstouren mitgebracht hatte. Für gewöhnlich vergaß er dabei die Hälfte von dem, was er eigentlich besorgen sollte, brachte dafür aber allerhand Krempel mit, den kein Mensch brauchte. Süßkram für die Kinder, magische Küchenhelfer für sie. Vermutlich waren die Teile bloß überteuert und konnten auch nicht mehr als die alten Lappen.
Nachdem sie den Schrank geöffnet hatte, fand sie die Tücher unter einem Berg zerknüllter Einkaufstüten. Sie riss das Zellophan runter und stopfte es in den gelben Sack. Als sie sich wieder aufrichtete, nahm sie im Augenwinkel etwas wahr. Sie richtete den Blick nach draußen und traute ihren Augen nicht. Gütiger Gott! Was war denn das? Eine Lichtspiegelung auf der Scheibe? Mit einer Hand schirmte sie das Sonnenlicht ab, das sich in Glasschlieren zu brechen schien und sie blendete. Es musste eine Spiegelung sein. Eine Art Fata Morgana. Anders war das nicht zu erklären. Sie näherte sich dem Fenster, schnappte nach Luft. Wünschte, sie würde träumen.
Doch dort in der Einfahrt stand eine Gestalt und wedelte mit den Armen. Flammen züngelten an ihr empor wie bei einer mystischen Erscheinung. Die Kreatur lief blindlings los, stieß gegen den Zaun der Nachbarn, fiel um, rappelte sich wieder auf …
Als Irene sich die Hand vor den Mund schlug, sank die Gestalt draußen auf die Knie und begann zu schreien. Ein animalischer Schrei, so gellend, dass er Irene selbst hinter der Dreifachverglasung des Fensters bis ins Mark fuhr. Und obwohl dieser Laut nichts Menschliches mehr hatte, wusste sie, dass es Konrad war, der sich dort in der Einfahrt krümmte, weil er lichterloh brannte.