Zieh dich aus, wir müssen reden!

© Copyright 2020 Sookie Hell

Alle Rechte liegen bei der Autorin.


Widmung

Dieser Band ist all meinen Autorenkolleginnen gewidmet, die abseits des Mainstreams neue Ideen mit intelligentem Witz veröffentlichen!

Haut rein, Mädels, wir rocken den Buchmarkt!

 

Wozu sind Freunde da?

Anna schnäuzte sich, zerknüllte das Taschentuch und warf es im hohen Bogen vom Bett aus neben den Papierkorb. Schon wieder kein Drei-Punkte-Wurf, Liebeskummer war einfach zu nichts gut. Sie kontrollierte mal wieder ihr Handy auf dem Nachttisch neben ihrer Kissenburg, obwohl sie genau wusste, wie sinnlos das war.

John hatte ihre Nummer gar nicht gehabt, als er sich mit einem »Vielleicht rufe ich dich mal an« verabschiedet hatte und vielleicht für immer nach New York verschwunden war. Jedenfalls war er schon seit über zwei Wochen weg und sie hatte noch kein Wort von ihm gehört. Noch niemand in der WG hatte ein Wort von ihm gehört und langsam fragten sie sich, ob er jemals wieder auftauchen würde, oder ob er sein kurzes Gastspiel in Ostfriesland längst vergessen hatte.

Anna wischte sich schniefend über die Augen, dann steckte sie sich ein Stück Schokolade in den Mund und widmete sich wieder der Arbeit. Heute durfte sie wenigstens mal etwas anderes machen, als an ihren eigenen Erotikschnulzen zu schreiben, denn sie hatte mit ihrem Mitbewohner Lothar Texte getauscht zum gegenseitigen Korrekturlesen. Lothar arbeitete tatsächlich gerade an einem ostfriesischen Roadmovie und verbriet gnadenlos den Lokalkolorit, den er auf seinen Radtouren aufsaugte wie ein Schwamm.

Als Anna den nächsten Tippfehler entdeckte, musste sie lachen. Gestern hatte sie Lothar gedroht, dass sie anfängt zu schreien, wenn sie noch einmal das Wort »ostfiersich« lesen würde und jetzt hatte er ihr eine Textpassage geschickt, in der er das Wort »ostfriesisch« konsequent durch »ostpfirsich« ersetzt hatte, nur, um sie zu ärgern. Leise kichernd bemühte Anna die »Suchen und Ersetzen«-Funktion, um allen Pfirsichen aus dem Osten gnadenlos den Garaus zu machen, als es an ihrer Tür klopfte.

Anna rief die übliche Formel »Ist offen!«, und sah auf die Uhr. Hatte sie schon wieder die Teezeit vergessen? Aber es war gerade erst Mittag. Steffi quetschte sich mit dem aufgeklappten Laptop im Anschlag durch die Tür und schoss ihre Hausschuhe weg, um sich sofort zu Anna auf das große Bett zu werfen. »Oh, Schokolade!«

Anna schob die Schokolade näher zu Steffi heran. »Tee?«

Steffi winkte ab. »Später! Erst müssen wir die Sensation des Tages bequatschen!«

Anna seufzte tief. »Ist das Fusselsieb in der Waschmaschine schon wieder verstopft, weil Keno die Plektren nie aus den Hosentaschen räumt?«

Steffi kicherte. »An solche Musikerdramen musst du doch gewöhnt sein!«

Anna rollte mit den Augen. »Hör bloß auf! Hab ich dir schon erzählt, wie Sven und ich mal eine Stunde lang die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt haben, weil wir die neuen Gitarrensaiten einfach nicht finden konnten? Und dann waren die Dinger im Kühlschrank!«

Steffi prustete los. »Wie sind die denn da rein gekommen?«

Anna zuckte die Schultern. »Sven hatte den Käse in den Kühlschrank getan und dann einfach die Saiten gleich mit, weil er die sowieso gerade in der Hand hatte!«

Steffi seufzte dramatisch. »Versteh einer die männliche Logik!«

Anna schüttelte milde den Kopf. »Männer haben keine Logik, versuch gar nicht erst, da was zu verstehen!«

Steffi grinste Anna zerknirscht an und richtete auf ihrem Schoß den Laptop aus. »Dann hab ich also ganz umsonst versucht zu verstehen, wieso John mir eine Mail geschickt hat?«

Anna setzte sich angespannt auf. »Er lebt?«

Steffi nickte wichtig, dann flüsterte sie geheimnisvoll: »Ich glaube jedenfalls nicht, dass die Mail von einem Bot geschickt wurde, dafür ist sie zu sehr John.«

Anna sah Steffi unsicher aus dem Augenwinkel an. »Okay?«

Steffi nickte bestimmt und setzte sich mit wichtiger Miene zurecht. »Hör zu! Hallo Steffi! Achteinhalb Millionen Einwohner und ich treffe nur Idioten! Gestern hat mein Agent mich mit vorgehaltener Waffel«, Steffi unterbrach sich selbst, »da steht tatsächlich Waffel, mit vorgehaltener Waffel gezwungen, an einem Essen teilzunehmen. Massenvernichtungswaffeln sind übrigens gerade der letzte Schrei in New York, alle stopfen sich voll damit, weil die Dinger allesfrei sind. Glutenfrei, laktosefrei, zuckerfrei und ich glaube auch geschmacksfrei, ich habe mich noch nicht getraut, einen Selbstversuch zu wagen. Jedenfalls musste ich in dieses Restaurant, von dem ich immer dachte, es sei eine Erfindung der Filmindustrie, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass es Menschen gibt, die sich so etwas tatsächlich freiwillig antun. Da schlage ich mich schon so lange allein durch New York und mache immer einen Bogen um Manhattan, weil ich Stahl, Beton und Glas hasse und jetzt das. Ich musste also in dieses Restaurant. Allein die Anreise mit dem Fahrstuhl ist so anstrengend und angstauslösend, dass Eugen danach bestimmt erst mal Tee serviert hätte. Du rast ungefähr den halben Tag in einem gläsernen Fahrstuhl durch ein Gebäude, das von innen aussieht wie die Schubladenschränke, in denen ich meine Skizzen aufbewahre, und fühlst dich dabei wie eine Amöbe im Schleudergang. Wenn dir davon vor dem Essen noch nicht schlecht genug ist, erledigt das Muster des Teppichbodens im Restaurant, das sinnigerweise ›The View‹ heißt, den Rest. Der Lärmpegel ist albtraumhaft und das Schönste kommt erst noch. Das Ding dreht sich um sich selbst. Innerhalb einer Stunde fährst du einmal im Kreis und siehst das ganze Elend der Zivilisation an dir vorbeiziehen. Zum Glück hatte ich keine Zeit, die Aussicht zu genießen, weil mich drei Geld scheißende Japaner mit ihren Miet-Mätressen erwarteten, die sich gedacht hatten, dass sie sich den Trip ins alte Europa sparen können, wenn sie John O’Molloy haben können. Der Ostfriesland-based irish lad erobert jetzt also den asiatischen Markt, we had a whale of a time und ich habe den Herren mehrfach versichert, dass ich kein Terrorist bin. Urgroßonkel Ciaran würde im Grab rotieren, wenn er wüsste, dass ich die Verbindungen der O’Molloys zur Old IRA nach dem Ersten Weltkrieg verleugnet habe. Auf der Flucht habe ich dann auf dem Times Square eine Mini-Mouse gesehen, die einen Kopf größer war als ich und ein Kleid in Pink trug. Ich bin nur noch verstört und hab Sehnsucht nach den grünen Marschen rund um meinen Bauwagen. Manchmal schließe ich die Augen und stelle mir vor, dass ich mit meinem Kaffeebecher auf der Treppe sitze und kein Geräusch höre außer dem Rauschen des Windes in den Bäumen und dem Blöken der Schafe. Das Blöken? Des Blökens? Folgt auf ›außer‹ der Genitiv? Wessen dem sein Schaf? Des Blökens? Anna wüsste das. Ich verlerne Deutsch und will nach Hause, John.«

Steffi sah Anna atemlos an und wartet ihre Reaktion ab. Anna runzelte verwirrt die Stirn. »Wieso schreibt er dir das? Und woher hat er deine Mail-Adresse?«

Steffi zuckte die Schultern. »Ich nehme an, er hat meinen Online-Shop gegoogelt. Aber wieso er mir diese verwirrende Geschichte schickt, weiß ich auch nicht, du kennst doch John!« Steffi lachte unsicher. »Er weiß es sicher selbst nicht!«

Anna zog so fest die Augenbrauen zusammen, dass sie sich fast in der Mitte trafen. »Was will uns der Künstler damit sagen?«

Steffi neigte grübelnd den Kopf. »Ich weiß nicht, vielleicht hat er einfach ein Mitteilungsbedürfnis? Hat er in New York jemanden zum Reden?«

Anna nagte sich angespannt am Fingernagel. »Ich will gar nicht wissen, wen er in New York alles hat!«

Steffi seufzte tief, dann leuchtete ihr Gesicht auf. »Weißt du, was ich denke? John möchte bestimmt gerne endlich Kontakt zu dir aufnehmen und weiß nicht, wie er es anstellen soll! Aber direkt zu fragen, ob er deine Nummer haben kann, traut er sich bestimmt nicht, dazu ist er zu schüchtern! Ich schreibe ihm einfach zurück und schicke ihm so ganz nebenbei die Liste mit unseren ganzen Kontaktdaten, das ist extrem diplomatisch, oder?«

Anna wandte den Kopf ab, weil ihre Unterlippe schon wieder zitterte. »Ich hatte gerade aufgehört zu heulen, da schickt der einfach eine Mail!«

Steffi setzte sich auf. »Aber, hey, das ist doch gut! Endlich meldet er sich!«

Annas Augen liefen über. »Aber er hat ja noch nicht mal nach mir gefragt!«

Steffi stöhnte leise. »Er hat deinen Namen erwähnt, das zeigt doch, dass er an dich denkt!«

Es klopfte wieder und Anna riss hektisch ein Taschentuch aus der Box, während Steffi flötete: »Ist offen!«

Lothar steckte den Kopf durch die Tür. »Habt ihr einen Moment?«

Anna schniefte und musste lachen. »Lothar hat wieder eine geniale Idee, ich seh das magische Leuchten in seinen Augen!«

Lothar grinste breit und machte einen Satz aufs Bett. »Das wird unfassbar swaggy, Alter!«

Steffi seufzte dramatisch. »Was zur Hölle ist swaggy?«

Anna musste lachen. »Heiß im Sinne von cool, also ein Paradoxon. Vulgär verwendet bedeutet es schwul!«

Steffi schüttelte seufzend den Kopf. »Wo holt ihr solche Wörter immer her und wann googelt ihr die ganzen Synonyme?«

Lothar nickte rigoros. »Anna liebt Synonyme! Sie betet sie geradezu an!«

Anna brummte: »Yäp! Ich wollte mir immer mal einen Altar bauen, dann kann ich mich abends in meinen Herrgottswinkel knien und die schönsten Synonyme anbeten!«

Lothar grinste nur und warf Anna ein Küsschen zu. Steffi rollte mit den Augen. »Autoren! Es wird wirklich Zeit, dass John wiederkommt, dann bin ich nicht mehr der einzige malende Mensch im Haus!«

Lothar zupfte an seiner allgegenwärtigen Hipstermütze. »Hat der Maler sich jetzt eigentlich mal gemeldet?«

Steffi streifte Anna mit einem prüfenden Blick. »Ja, hat er. Er hat eine lange Mail geschrieben, nur gesagt hat er irgendwie nichts!«

Lothar tätschelte Anna mitfühlend das Bein. »Übermorgen kommt ja dein Freund endlich mal zu Besuch, dann hast du keine Zeit, um über den Maler nachzugrübeln!«

Anna kräuselte unglücklich die Mundwinkel. »Ich hoffe nur, Sven muss den Besuch nicht noch mal verschieben!«

Steffi rieb sich freudig die Hände. »Ich freu mich riesig drauf, deinen mysteriösen Sven endlich mal kennenzulernen, ich bin schon ganz aufgeregt! Ich glaub, ich backe einen Kuchen, oder?«

Anna lachte gerührt. »Sven liebt Kuchen. Am liebsten Tigerkaka.«

Steffi prustete los. »Wie bitte was? Tigerkacke?«

Anna stöhnte. »Tigerkaka! Das ist das schwedische Wort für Marmorkuchen!«

Anna wartete gereizt knurrend, bis ihre Lieblingsmitbewohner fertig waren mit Lachen, dann setzte sie sich auf. »Jetzt erzähl, Bärchen, welche geniale Idee hast du diesmal?«

Jetzt rieb Lothar sich die Hände. »Eine neue Sparte für unseren Video-Kanal! Land und Leute! Wenn der NDR davon leben kann, ständig Dokus über das Leben an der Küste zu produzieren, dann können wir das schon lange, nur eben auf unsere Art! Denk doch mal nach! Was für virale Effekte wie erzielen, wenn wir hier rumfahren und Leute interviewen und jeder von denen teilt doch dann unser Video auf seinen Profilen! Das geht voll ab, Alter!«

Steffi nickte trocken und wiederholte tonlos: »Alter.«

Anna musterte Lothar misstrauisch. »Und wer soll die Leute interviewen?«

Lothar neigte nur bittend den Kopf, dann ließ er sich fallen und drückte den Kopf an Annas Knie wie ein kuschelnder Kater. »Ich muss hinter die Kamera!«

Anna stöhnte. »Oh, nee! Und dann soll ich davor oder was? Worüber soll ich denn mit den Leuten reden?«

Lothar setzte sich ruckartig wieder auf. »Schildkröten!«

Anna und Steffi echoten synchron: »Schildkröten?«

Lothar lächelte geheimnisvoll, dann zog er seine Mütze gerade und rappelte sich auf. »Morgen Mittag geht’s los! Das wär ja gelacht, wenn du weiter hier hocken und diesem Maler hinterher heulen würdest! Ab morgen haben wir wieder Spaß!«

Steffi sah zu Lothar auf, dann stellte sie trocken fest: »Voll swaggy, Alter!«


Ein Ire in New York

John schob das Fenster hoch, um frische Luft hereinzulassen und beobachtete, wie ein Obdachloser einen Einkaufswagen durch die enge Gasse schob und die Mülltonnen durchsuchte. Der Straßenlärm und das ewige Jaulen der New Yorker Polizeisirenen klangen hier etwas gedämpfter, gingen ihm aber immer noch unfassbar auf die Nerven.

Dietmar tauchte neben ihm mit einem Flachmann auf und hielt die halb volle Flasche einladend hoch, aber John winkte ab. »Lass mal.«

Dietmar legte ihm traulich den Arm um die Schultern und grinste ihn selbstgefällig an. »Der kleine Johnny Handsome! Ist ja ein Ding, dass du dich mal wieder an deine alten Freunde erinnerst!«

John trat einen halben Schritt zur Seite und sah Dietmar viel abfälliger an, als geplant, aber er hatte den Geruch von Menschen, die mehr Alkohol als Blut in den Adern haben, noch nie gut ertragen. »Keine Spitznamen, keine Berührungen, und wir kommen klar, okay?«

Dietmar zog den Arm zurück und hob dann übertrieben entschuldigend die Hand. »Uhuhuhu, ich hatte ganz vergessen, wie empfindsam unsere kleine Diva immer war!«

John wandte den Kopf ab. Er hätte gern tief durchgeatmet, aber nicht, solange Dietmar neben ihm stand. Er hatte Dietmar nie ausstehen können, schon auf der Akademie nicht. Dietmar war einer von diesen Typen, die sich »Künstler« nannten, um zu saufen und sich interessant zu machen, aber keinen Kreis aus der freien Hand zeichnen konnten.

Aber Dietmar war Johns letzte Hoffnung, Sonja zu finden. Dietmar und Sonja hatten sich immer wunderbar verstanden, wahrscheinlich, weil sie die Leidenschaft teilten, nichts zu leisten, aber dafür Lorbeeren zu erwarten. Wenn John eins nicht ausstehen konnte, dann waren das Maulhelden und Schaumschläger, aber er musste da jetzt durch. »Darf ich mich ein bisschen umsehen?«

Dietmar breitete einladend die Arme aus. »Nur zu! Aber nicht meine Ideen klauen! Man hört ja, unser Wunderkind wäre ziemlich ausgebrannt!«

John scannte aus dem Augenwinkel Dietmars höhnisches Grinsen und fragte mit mildem Desinteresse: »Welches Wunderkind?«

Dietmar trank noch einen Schluck aus dem Flachmann. Für einen Moment fragte John sich, wieso Dietmar nicht auch in seinem Atelier die Flasche in eine braune Papiertüte steckte, für das klischeehafte New York Feeling. Hey, Leute, ich hab’s in den Staaten geschafft, ich bin am Kunstmarkt ganz oben und saufe aus einer Tüte wie die Statisten in einem Rocky-Film! Dietmar gab ein rotzendes Geräusch von sich, wischte sich über sein mickriges Künstlerbärtchen und lachte versonnen. »Ja, welches Wunderkind. Stimmt, du hast auch schon mal besser ausgesehen. Läuft wohl nicht mehr so gut mit den Weibern, jetzt, wo der zarte Schmelz dahin ist, was?«

John streifte Dietmar wieder mit einem kurzen Blick. Der Speckring um die Hüften war zumindest authentisch amerikanisch, die schlaff herunter hängenden Wangen und den zu einer Kinderportion Spagetti ausgedünnten Pferdeschwanz sah man aber auch bei selbsternannten »interessanten Typen« in jeder deutschen Kleinstadt. Dietmar war einfach so furchtbar deutsch.

John verkniff sich ein Grinsen und gönnte sich kurz den Luxus, nonverbal zu kommunizieren. Er wischte sich unter dem Vorwand, die Bilder anfassen zu wollen, die Hände an seinem flachen Bauch ab und fuhr sich dann lässig durch die dichten, schwarzbraun schimmernden Haare. Der frisch ausrasierte Nacken fühlte sich immer noch ungewohnt an, aber wenn er schon in Brooklyn rumhängen musste, hatte er sich auch gleich beim Hinterhof-Friseur seines Vertrauens den jährlichen Undercut abgeholt.

John unterdrückte ein Seufzen, dann zog er die Atelier-Show ab, die nun einmal von Kollege zu Kollege von ihm erwartet wurde. Er suchte sich eines der zu Recht erfolglosen Bilder aus, stellte es auf die Staffelei und trat dann zurück, um sich nachdenklich nickend das Kinn zu reiben. Das taten die Geldsäcke, die zu seinen eigenen Vernissagen strömten, auch immer, wenn sie sich den Anschein geben wollten, als wären sie an der Kunst interessiert, nicht an der Geldanlage, solange ein echter O’Molloy noch halbwegs bezahlbar war, aber weiter im Preis stieg.

John hätte fast gegrinst, als er sich fragte, was Anna wohl zu Dietmars Bild gesagt hätte. Wahrscheinlich sollte die zerhackte Schweinehälfte mit dem riesigen Geschlechtsorgan ein weiblicher Akt sein. John riss sich zusammen und schwafelte vollkommen sinnfrei drauflos. »Also, hier fasziniert mich wirklich die informelle Verneinung des Ideals, auch, wie du mit der strengen Stilisierung und der verhaltenen Farbgebung den Kontrast zu der überzüchteten Eleganz der Bildbühne setzt, das ist wirklich innovativ. In Europa tut sich im Moment längst nicht so viel.«

Dietmar trat neben ihn und sah die für Johns Empfinden vollkommen ruinierte Leinwand mit ganz neuen Augen. John sah Dietmars fiebrig glasigen Blick und stöhnte innerlich. Er hatte es übertrieben, Dietmar wollte jetzt über sein Bild reden. Dietmar kniff die Augen zusammen und flüsterte dann verschwörerisch: »Weißt du, was ich mir dabei gedacht habe?«

John zog fragend die Augenbrauen hoch und Dietmar vertraute ihm unter Malern an: »Ich wollte den Kapitalismus mal so richtig ficken!«

John nickte ernst und sah wieder auf die grobschlächtige Schmiererei. »Das ist dir auf jeden Fall gelungen!« Um vom Thema abzulenken, fügte er noch hinzu: »Wo stellst du dieses Jahr aus?«

Dietmar wanzte sich wieder an ihn heran und legte ihm den Arm um die Schulter. »Weißt du, im Moment ist das ein bisschen schwierig, ich würde gerne die Agentur wechseln.«

John wandte den Blick ab. Wieso fragte er auch so blöd? Dietmar hatte gar keine Agentur, die er wechseln könnte. Jeder Agent, der Dietmar unter Vertrag nehmen würde, wäre ein finanzieller Selbstmörder. Ein Galerist, der versuchen würde, dieses Geschmiere zu verkaufen, würde mit Sicherheit den Kapitalismus ficken, aber seinen eigenen. Um sich eine Ausrede für die kommende Frage auszudenken, beugte John sich näher über das Bild. Ja, die »verhaltene Farbgebung« kam definitiv daher, dass Dietmar mit minderwertigsten Farben aus dem Bastelladen arbeitete. Hochwertige Pigmente mit Leuchtkraft konnte man in den auch noch völlig dilettantisch gemischten Farben vergebens suchen.

John richtete sich wieder auf und nickte, diesmal aber, weil ihm einfiel, dass er schon an der Akademie für Dietmar die Farbverläufe verblendet hatte, wenn keiner guckte. Eigentlich hatte er es nicht für Dietmar getan, sondern weil er süchtig danach war, mit Pinseln auf Leinwand zu arbeiten und ihm egal war, wessen Leinwand das war, solange er nur dieses unglaublich gute Gefühl in der Hand hatte. Ihm war auch immer egal gewesen, dass Dietmar selbstgefällig grinsend das Lob für seine Arbeit einheimste.

Dietmar war jetzt so weit. Ganz beiläufig fragte er: »Du bist doch mit deinem Agenten ganz zufrieden, oder? Könntest du mir da nicht mal einen Kontakt machen?«

John rieb sich wieder betont nachdenklich das Kinn. »Ich kann es natürlich versuchen, aber du weißt, wie Agenten sind. Keinen Sinn für innovative Talente. Die setzen immer lieber auf die sichere Bank.«

Dietmar grunzte trübsinnig. »Ja, wenn man so kommerziell malt wie du, hat man da natürlich keine Probleme.«

John klopfte Dietmar anerkennend die Schulter und konnte den Impuls, sich danach die Hand an der Hose abzuwischen, nicht unterdrücken. »Ja, du verstehst, wie der Hase läuft. Typen wie ich bedienen nur den Markt, aber echte Künstler haben es schwer!«

Dietmar bekam tiefe Falten um den Mund und ließ aus unbekannten Gründen seine Lippen verschwinden. John stutzte für einen Moment, dann fiel ihm ein, an wen Dietmar ihn erinnerte. Gollum, mein Schatz! Gollum seufzte jetzt frustriert. »Ja, Typen wie dir wird immer alles in den Arsch geblasen.«

John setzte ein trübsinniges Gesicht auf und nickte schuldbewusst. Deswegen hingen seine Arbeiten auch im Museum of Modern Art, Dietmars auf dem Gästeklo von dessen Mutter. John seufzte abgrundtief. »Didi, du glaubst gar nicht, wie mir das manchmal fehlt, als wir noch unverheizte Talente waren und die Kunst revolutionieren wollten. Du bist dir treu geblieben, aber ich hab mich vom Hype um meinen Namen auffressen lassen, ich bin eine leere Kunsthure. Ich hab meine Pinsel und meine Seele verkauft und wofür? Die letzte Ausstellung hat mir gerade mal 300.000 netto eingebracht und das bei dem Dollarkurs! Aber dir muss ich das nicht erzählen.«

John hatte keine Ahnung vom Dollarkurs und es ging ihm auch am Arsch vorbei, solange seine Bankfuzzis ihn in Ruhe ließen und sich still darum kümmerten, neue Konten zu eröffnen, wenn die alten voll waren. Aber das Jammern auf für Dietmar demütigend hohem Niveau machte irgendwie Spaß. Das war die Rache für Dietmars Grabbelfinger an seiner Schulter. Fast hätte er gelacht, als er sich fragte, was Anna wohl dazu gesagt hätte, wenn er so auf den Putz haute. »Geht dir gerade einer ab, O’Molloy, oder was?«

Aber dann war der Gedanke an ihre freche Klappe einfach zu schmerzhaft. Denn hinter der frechen Klappe verbarg sich so eine sensible, verletzbare Frau, wie er noch keine getroffen hatte, und er hatte sich im Streit von ihr verabschiedet, als er Ostfriesland verlassen hatte. Er war sich noch nicht einmal mehr sicher, ob er sich überhaupt verabschiedet hatte, oder ob es ein Streit gewesen war. Er wusste nur, dass es weh tat, an sie zu denken und er dachte ständig an sie. Aber er wollte nicht an sie denken, am besten nie wieder. Sie war mit Sven zusammen und Punkt. Heute war einer dieser Tage, wo er fest entschlossen war, sie zu vergessen.

Dietmar machte auf sich aufmerksam, indem er laut rülpste, oder er röhrte eher wie ein liebeskranker Elch. John seufzte ergeben, dann kam er so beiläufig wie möglich zur Sache. »Sag mal, Didi, hast du mal was von Sonja gehört?«

Dietmar rülpste wieder und grinste gleichzeitig, eine üble Mischung. »Ach, nee! Sag bloß, dem schönen Johnny ist die Frau weggelaufen?«

John nickte trübsinnig. »Kennst das ja. Weiber.«

Dietmar grunzte fast mitfühlend. »Alles Schlampen. Hör bloß auf.«

John schnalzte abfällig mit der Zunge. »Tja. Sie müsste mir mal ein paar Papiere unterschreiben.« Scheidungspapiere um genau zu sein, aber das musste er Dietmar nicht auf die Nase binden. Und irgendwie hatte er auch das Gefühl, dass er seine Ehe persönlich beenden sollte, mit einem Gespräch, mit Anstand. Mit Händeschütteln und einem »Alles Gute für den Rest deines Lebens!«. Schluss machen im Gruppenchat war nicht das, was seine Mama ihm beigebracht hatte.

Dietmar war einem ganz anderen Gedankengang gefolgt. »Scharfes Gerät, deine Alte. Ich hab mich immer gefragt, wie ein Jüngelchen wie du an so ein Rasseweib gekommen ist.«

John konzentrierte sich darauf, ein extrem betrübtes Gesicht zu machen. »Weißt du, ich komm nicht klar darauf, dass Sonja weg ist. Sie war meine Muse. Wäre schön, wenn sie sich bei mir melden würde.« Die kleine Notlüge erhöhte seine Chancen.

Dietmar nuckelte noch ein bisschen an seiner Flasche und versuchte, nicht allzu schadenfroh auszusehen, immerhin war er scharf auf Johns Kontakte. »Ich kann mich ja mal umhören.«

John nickte traurig und wandte sich ab, um vor dem nächsten Rülpser in Deckung zu gehen. »Ich wäre dir wirklich dankbar.«

Dietmar interpretierte den ihm zugekehrten Rücken eher in seinem Sinne, in dem der Schadenfreude. Er versuchte, sich einen mitfühlenden Anstrich zu geben. »Alter, du musst ja nicht gleich heulen! Andere Söhne haben auch schöne Mütter oder wie das heißt!«

John legte den Kopf in den Nacken, schniefte demonstrativ und versuchte, nicht zu lachen.

Während Dietmar glaubte, John sein bisschen Restwürde zu lassen und diskret weiter an seiner Flasche nuckelte, fummelte John eine seiner privaten Visitenkarten aus der Tasche. »Ich lass dir mal meine Karte da. Falls Sonja sich mal bei dir meldet, kannst du ihr ja sagen, dass ich sie suche. Und hier, das ist meine private Handynummer, die haben nur ein ganz paar Leute, geh nicht hausieren mit dem Ding, sonst brauche ich schon wieder eine neue. Und das da ist meine neue Privatadresse in Deutschland, die geht keinen was an, klar?«

Dietmar hörte ihm gar nicht zu und sinnierte. »Die Alte war so scharf, die ist doch bestimmt längst in Hollywood. Ich glaub, die siehst du eher auf der Kinoleinwand wieder als in echt.«

John ließ den Blick über die Decke wandern. »Nicht mit dem Akzent.« Die einzige winzige Sprechrolle, die der Agent, dem John das Geld in den Arsch geblasen hatte, um Sonja wenigstens irgendwo unterzubringen, auftreiben konnte, war die einer Lagerkommandantin in einem KZ-Film gewesen. Da wurden Frauen mit hartem, deutschem Akzent gesucht. Aus irgendwelchen Gründen wollte Sonja die Rolle aber nicht annehmen. Sie wollte lieber Liebeskomödien mit Leonardo diCaprio drehen oder mit Brad Pitt. Dummerweise hatten die noch nie von ihr gehört.

Dietmar grunzte jetzt: »Den Akzent hört man doch gar nicht!«

John sah ihn nachdenklich an. Dietmar schlug sich selbst in New York mit abgehackten Dreiwortsätzen mit germanischer Grammatik durch, kein Wunder, dass er Sonjas Akzent nicht hörte. Und Dank der Sprechausbildung, die John bezahlt hatte, hatte Sonja ja auch die Angewohnheit überwunden, das »Th« im Englischen auszusprechen wie ein Hamburger das »St« in Sss-turmflut. Dafür hatte sie jeden einzelnen Konsonanten dann doppelt hart ausgesprochen. Das klang in ihren Ohren nach näselndem, kultiviertem Ostküstenakzent. Besonders dann, wenn sie John mal wieder pikiert darauf hinwies, dass er sprach wie ein Arbeiter aus Dublin.

Alle seine Versuche, Sonja zu erklären, dass sein Akzent Teil der Corporate Identity der Marke John O’Molloy auf dem amerikanischen Markt war, scheiterten daran, dass Sonja sich ganz furchtbar dafür schämte, einen Mann geheiratet zu haben, der kein altes Geld hatte, sondern bei einer alleinerziehenden Mutter in einer Zwei-Zimmer-Wohnung aufgewachsen war.

Sonja verstand auch nie, wieso es John so diebischen Spaß machte, mit dem Klischee zu spielen. Wenn irgendein Harvardmann III. mit »altem« Geld zögerte, ob er seine Kohle in einen O’Molloy anlegen sollte, nannte John ihn einfach kurzerhand »M’lord« und verkaufte das Bild per Handschlag wie einen Gaul auf einem ostfriesischen Pferdemarkt. Das war zwar strenggenommen gemogelt, aber wenn ein amerikanischer Geldsack bei John »das alte Europa« kaufen wollte, dann bekam er das alte Europa, wer achtete da schon auf Feinheiten.

Sonja waren die Pferdehändler-Allüren ihres Mannes immer hochgradig peinlich gewesen. Sonjas Eltern betrieben eine Fischbude auf den Hamburger Wochenmärkten, also wäre ein Adelstitel schon schön gewesen, um den Fischgeruch endlich loszuwerden. John fragte sich, wie Anna Sonjas Wunschträume als Buchtitel verbraten hätte. »Die heiße Gier der Lady O’Molloy«?

Dietmar riss ihn aus seinen Gedanken. »Du hast natürlich auch doppelt Schwein, kein Wunder, dass du verkaufst.«

John rieb sich verwirrt die Stirn. »Äh, was?«

Dietmar zuckte deprimiert die Schultern. »New York ist die größte irische Stadt der Welt. Zehn Prozent der New Yorker sind deutscher Abstammung, aber über 11 Prozent sind Iren. Und du sahnst natürlich doppelt ab, klar, dass du die richtigen Leute kennst.«

John merkte, dass er seine steile Falte über der Stirn bekam. Was sollte man zu so viel Schwachsinn sagen? Er nickte also. »Ja, hier leben mehr Iren als in Dublin. Ich kenne die natürlich alle persönlich, du weißt ja, wie wir Iren sind. Wir steppen und fiedeln den ganzen Tag, gießen uns Guinness auf die Glocke und dann prügeln wir uns. Da ergibt sich natürlich der eine oder andere Verkauf.«

Dietmar nickte deprimiert und nuckelte wieder an seinem Flachmann. »Wenn du mal was hörst … also, ich hab noch einiges zu verkaufen.«

John ahmte das deprimierte Nicken nach wie ein Schimpanse, der sich vor dem Spiegel amüsiert, um Forscher in die Irre zu führen, dann tippte er sich an die unsichtbare Mütze des irischen Bengels. »Ja, ich muss dann wieder. War nett, dich zu sehen.«

Bevor Dietmar ihn noch einmal auf seinen Agenten ansprechen konnte, floh John aus dem dreckigen Atelier und nahm die Treppen nach unten. Als er auf die mit Graffiti besprühte Seitengasse trat, steckte er sich mit einem erleichterten Seufzen eine Zigarette an und grinste dann. Er hatte am Kunstmarkt tatsächlich verdammt viel Schwein gehabt. Und Haare hatte er auch noch.


Endlich!

Eugen lächelte verträumt seine bunt geblümten Gartenhandschuhe an, dann griff er den Rechen und machte sich daran, das alte Kopfsteinpflaster der Auffahrt zu harken. Eigentlich hatte es noch gar keinen Sinn, im Garten mit dem Frühjahrsputz anzufangen, aber der Wind der letzten Nacht hatte Reisig von den Bäumen geweht und verrottetes Laub auf dem ganzen Grundstück verteilt. Wie so oft in Ostfriesland war auf die stürmische Nacht ein klarer Tag gefolgt, eisig kalt, aber mit einem strahlend blauen Himmel.

Nur der Wind hörte einfach nicht auf, Eugen zu umtanzen. Er spürte, wie die dünn besiedelte Stelle an seinem Hinterkopf kalt wurde und drehte sich automatisch so in den Wind, dass die Stelle bedeckt wurde. Dann fiel ihm ein, dass er jetzt Freunde hatte, die ihn mochten, ohne auf Äußerlichkeiten zu achten. Eugen grinste zufrieden.

Die verführerische Wintersonne hatte auch Steffi nach draußen gelockt oder war es vielleicht die Neugier? Jedenfalls kam Steffi mit einem strahlenden Lächeln und einem Besen auf ihn zu. »Ich hatte denselben Gedanken! Am liebsten würde ich schon Blumen pflanzen bei dem Wetter!«

Eugen lächelte entschuldigend. »Damit sollten wir warten, bis die Eisheiligen vorbei sind.«

Steffi stutzte. »Wer sind eigentlich diese komischen Eisheiligen? Ich hab schon von denen gehört, aber ich hab keine Ahnung, was das ist.«

Eugen zuckte die Schultern. »Anfang Mai gibt es oft noch ein paar kalte Tage, die so genannt werden. Da musst du noch mit Nachtfrost rechnen hier im Norden, das mögen viele Blumen nicht.«

»Ah!« Steffi nickte verstehend, dann grinste sie. »Aber es kann ja nicht schaden, ein bisschen Ordnung zu machen, bevor Besuch kommt!«

Eugen spürte, wie er ertappt rot anlief, nickte aber eifrig. »Ich dachte auch, bevor Annas Freund kommt … er soll ja einen guten Eindruck von uns haben!«

Steffi grinste. »Den wird er haben, mach dir keine Sorgen. Aber wenn ich das richtig einschätze, ist Sven nicht der Typ, der Menschen nach ihrem Vorgarten beurteilt.«

Eugen fing langsam an zu harken. »Und was für ein Typ ist der so?«

Steffi stützte sich auf ihren Besenstiel, als hätte sie schon stundenlang gearbeitet und nickte ruckartig mit dem Kopf. »Das wirst du gleich selbst rausfinden!«

Eugen sah sich um. Über die Schlaglöcher in der kahlen Allee rumpelte ein großer, schwarzer Van und kam langsam aufs Haus zu. Eugen hörte dumpfe Bässe dröhnen und spürte, wie ihm die vertraute Schüchternheit eiskalt den Nacken herauf kroch. Schließlich war dieser Sven nicht irgendwer. Anna telefonierte ja ständig mit ihm und er schien ihr mächtig wichtig zu sein. Es fühlte sich fast an, als wäre dieser Sven ein unsichtbarer Mitbewohner und Eugen grübelte schon lange, wie die beiden wohl zueinander standen. Direkt zu fragen traute er sich aber nicht, weil er nicht aufdringlich erscheinen wollte.

Steffi flüsterte neben ihm: »Oh, mein Gott, es gibt diesen Mann wirklich!«

Der dröhnende Van beschrieb einen großen Bogen, dann verstummten die Bässe. Eugen zuckte zusammen. Die Haustür wurde krachend aufgerissen und Anna sprang mit einem geschmeidigen Satz über Eugens Rechen. Die Tür des Vans wurde aufgerissen, dann flog Anna mit einem Jubelschrei einem gigantisch großen Mann in die Arme.

Eugen blinzelte gerührt. Der Mann hob Anna hoch, wirbelte sie herum, dann versanken die beiden in einem filmreifen und unübersehbar leidenschaftlichen Kuss. Eugen wurde rot und wandte den Blick ab. Steffi seufzte sehnsüchtig. »Einmal im Leben so geküsst werden!«

Eugen räusperte sich und wusste einfach nicht, wo er hinsehen sollte. Anna und dieser Mann küssten, küssten und küssten sich. Er raunte Steffi zu: »Ich wusste gar nicht, dass die sich auch küssen!«

Steffi kicherte leise. »Ich wusste auch nicht, dass es Paare gibt, die über zehn Jahre zusammen sind und sich immer noch küssen!«

Eugen hustete. »Ich dachte, sie hätten eine Telefon-Beziehung!«

Steffi nickte trocken. »Wenn sie telefonieren!«

Eugen legte verwirrt den Kopf in den Nacken. »Ah, und wenn sie sich küssen, haben sie eine Kuss-Beziehung?«

Steffi grinste breit. »Jetzt hast du das Prinzip verstanden!«

Eugen beobachtete seufzend, wie Sven Anna langsam zu Boden sinken ließ, aber die beiden hörten einfach nicht auf, sich zu drücken, die Nasenspitzen aneinander zu reiben, zu flüstern, zu lachen und sich immer wieder zu küssen. Steffi räusperte sich laut, dann kicherte sie wieder.

Sven sah auf und grinste. »Wenn das mal nicht die kleene Steffi ist!«

Eugen stellte verwirrt fest, dass es jetzt Steffi war, die rot anlief. War das nicht sein Job? Steffi machte sogar verlegen wie ein kleines Mädchen einen Knicks. Sven kam mit großen Schritten auf sie zu und drückte Steffi einfach an sich.

Eugen musterte diesen Mann eingeschüchtert. Sven sah aus wie ein Wikinger aus einer dieser History-Serien mit Schlachtengetümmel und Drachenbooten. Er war riesengroß und breitschultrig und sein Kopf war an den Seiten rasiert und mit Ornamenten tätowiert. Eugen hätte sich auch nicht gewundert, wenn Sven ein Kettenhemd und eine Streitaxt am Gürtel getragen hätte, aber offenbar hatte der Wikinger heute seinen freien Tag, denn er trug eine ganz normale Kapuzenjacke und Jeans.

Steffi hauchte jetzt scheu: »Schön, dich endlich kennenzulernen!«

Eugen dachte: »Einmal im Leben so von einer Frau angesehen werden!«, aber für Sven schien es vollkommen normal zu sein, dass Steffi kein Wort mehr herausbrachte und taumelte, als er sie losließ. Dafür war Eugen jetzt dran. Der Wikinger schloss auch ihn mit einem breiten Grinsen in die Arme und klopfte ihm erstaunlich sanft den Rücken. »Du bist also Eugen und sorgst für meine Kleene wie eine Mama!«

Eugen strahlte drauflos. Dieser Sven war der geborene Eisbrecher. Bevor Eugen nachgedacht hatte, rief er stolz: »Es gibt bald Tee!«

Anna hielt es nicht mehr aus und machte den nächsten Satz in Svens Arme. Sie kroch in seine Jacke und seufzte selig: »Mein Sven in der Brandung!«

Sven beugte sich über Anna und taumelte gemeinsam mit ihr ein Stück über den Hof, aber Eugen verstand, wie er Anna zuflüsterte: »Ich kann’s gar nicht abwarten, dich glücklich zu machen, Kleene!«

Anna lachte unbeschwert, rief: »Frauen bei gleicher Qualifikation zuerst!«, und sprang Sven auf den Rücken. Dieser große Nordmann trug Anna so selbstverständlich huckepack wie einen Rucksack und trabte los. Anna prustete übermütig. »Falsche Richtung! Digger, wir hatten das mit den Schenkelhilfen doch geübt!«

Während Anna Sven antrieb wie ein träges Pferd, deutete Steffi kichernd ums Haus. »Zu Annas Zimmer geht es da lang!«

Sven schlug einen Haken, umrundete Steffi und Eugen und verschwand dann mit Anna um die Ecke. Eugen und Steffi sahen den beiden fasziniert nach, dann murmelte Steffi: »Ich würde mich nicht drauf verlassen, dass die zwei pünktlich zum Tee kommen.«

»Muss Liebe schön sein!« Eugen seufzte voller Sehnsucht, dann wurde er blass. »Weiß Sven denn von John? Nicht, dass sich jemand verplappert!«

»Natürlich weiß er von John! Anna erzählt ihm doch alles, die haben keine Geheimnisse!« Steffi stutzte. Sie hatte so überzeugend geklungen, als wäre diese Offenheit die normalste Sache der Welt.

Eugen schien kein bisschen überrascht. Stattdessen griff er mit einem leuchtenden Lächeln nach seiner Harke. »Weißt du, deswegen wollte ich gern mit Künstlern leben. Die sind irgendwie so weltoffen und tolerant.«

Steffi beobachtete, wie Eugen zufrieden strahlend seine Arbeit wieder aufnahm und seufzte tief. Ausgerechnet der einzige Künstler im Haus, der in Erfolg und Geld badete, sah das nicht so locker wie Eugen. Steffi lachte versonnen und griff ihren Besen. Sie war sich nicht ganz sicher, wer sie bei diesem Gedanken mehr überraschte – Eugen oder John.


Ein Sofa, eine Fender und alte Liebe

Das Rumpeln im Haus war mörderisch, dann folgte Lothars überdrehtes Lachen und ein fast hysterisches Kichern von Keno. Eugens Hand blieb mit der Teetasse in der Luft hängen. »Oh, Gott, was machen die da bloß?«

Sven sah sich grinsend an der Teetafel um, aber Anna und Steffi klammerten sich nur mit Schnappatmung lachend hilflos aneinander. Im Flur krähte Lothar: »Hilfääää!« und Sven stand auf. Er tätschelte Eugen mit einem beruhigenden »Ich mach das schon!« die Schulter, dann schlenderte er in den Flur. Lothar klemmte zwischen der Wand und einem alten Sofa auf der Treppe fest, während Keno sich weiter oben schnaufend ins Sofa krallte, um zu Verhindern, dass die durchgesessene Couch wie ein Schlitten die Treppe herunterraste und Lothar gleich mitriss.

Sven musste lachen, sprang mit zwei großen Sätzen die Treppe rauf und packte das Sofa. »Ihr intellektuellen Schriftsteller seid wirklich für nichts zu gebrauchen!«

Lothar schnaufte: »Warte die Kurzgeschichte ab, die ich darüber schreibe!«

Anna wuselte mit Steffi im Schlepptau durch den Flur und rief streng: »Sven Viggo Hedlund, ich hab das gehört!«

Sven lachte satt. »Weil ich dich kenne, weiß ich das ja!«

Anna wartete, bis die Männer mit dem Sofa die steile Treppe fast geschafft hatten, dann gab sie Sven einen Klaps auf den Hintern und zog ihm die Autoschlüssel aus der Tasche. »Die Profis kümmern sich dann mal um den Aufbau!«

Sven grinste. »Annika, ick liebe dir!«

Während Anna und Steffi durch die scheppernde Metalltür in die Scheune verschwanden, kam Eugen in den Flur. »Oh, Gott, passt das alte Ding denn überhaupt durch die schmale Tür? Ich fürchte, wir müssen außen ums Haus!«

Keno stellte das Sofa auf der ewig klappernden losen Fliese im Flur ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann brüllte er den Frauen nach: »Mädels? Scheunentor!«

Man hörte wieder Lachen und von Steffi ein dumpfes: »Okay!«

Sven richtete sich stöhnend auf und musterte kritisch den Windfang im vorderen Flur. »Alter, das Teil müssen wir zehnmal kanten, bis wir da durch sind!«

Lothar drückte kichernd Svens Oberarm. »Für eine Kante wie dich dürfte das doch kein Problem sein!«

Sven lachte nur, dann gab er Keno mit einem Kopfnicken ein Zeichen und es ging weiter. Eugen nagte sich nervös am Finger, dann folgte er den Frauen in die Scheune, vielleicht konnte er sich hier nützlich machen.

Sven hatte den riesigen schwarzen Van schon durch das vordere Tor in die Scheune gefahren und Anna kletterte zeternd auf der Ladefläche herum. »Sven Viggo Hedlund, von dem Dosenpfand, der hier rumfliegt, könnte man Hunger leidenden Künstlern das Grundeinkommen finanzieren, Mann!«

Steffi prustete. »Sven kann dich doch gar nicht hören!«

Anna stieß einen übertriebenen Wutschrei aus. »Und ob der mich hören kann! Der weiß genau, was ich sage! Selbst, wenn der am Nordpol wäre, wüsste der, was ich sage! Der Pizzarest hier, was hat der damit vor, will der das Teil einem archäologischen Museum stiften? Das Ding können die als spektakulären Fund in Haithabu ausstellen! Versteinerte Wikinger-Pizza! Hier, hör mal, der Käse, pock, pock!«

Anna schlug mit dem steinharten Stück Pizza gegen die Innenseite des Vans und Steffi hielt sich den Bauch vor Lachen. Eugen grinste verlegen. »Na ja, Sven ist eben Musiker, keine Putzfrau!«

Anna reichte Steffi eine raschelnde Mülltüte an und grunzte: »Dafür bin ich ja da!«

Steffi stellte die volle Mülltüte vorsichtig an der Wand ab und linste neugierig in den Van. »Und wer ist jetzt Frau Fender?«

Anna verkündete: »Frau Fender ist Svens Angetraute. Der konservative Sack ist so vintage, der ist tatsächlich mit einer Stratocaster verheiratet, mit original Bierbauchfräsung!«

Steffi prustete wieder. »Sven hat doch gar keinen Bierbauch!«

Anna klang, als würde sie ein Geheimnis verraten. »Kann ja noch kommen! Frau Fender ist eben auf alles vorbereitet! Ursprünglich war die Bierbauchfräsung bei der Fender als Rippenbogenaussparung geplant, als echte Kerle die Hupe noch quer vor der Brust trugen wie Duane Eddy oder Dick Dale! Dick Dale ist seiner Fender jetzt schon fünfzig Jahre lang treu, überleg mal! Ey, wenn Sven und Frau Fender den Goldenen feiern, mach ich nicht die Salate, so viel steht fest! Ich rechne da locker mit tausend Gästen! Aber von der Spielhaltung her ist Sven viel näher an Slash und Nuno! Sven ist eben einer von denen mit extrem tiefer Spielhaltung, das machen die langen Gorillaarme! Ugg-ugg!«

Steffi und Eugen lachten wieder los. Eugen schüttelte übertrieben streng den Kopf. »Ihr seid wirklich wie ein altes Ehepaar!«

Steffi hakte sich bei ihm unter und seufzte: »Das hab ich auch schon gedacht! Muss Liebe schön sein!«

Anna steckte wieder den Kopf aus dem Van. »Hab ich peinliches Namedropping gemacht? Ich wollte euch nicht mit dem Gejammer einer Gitarristenfrau langweilen!«

Eugen strahlte auf. »Ich finde es auf jeden Fall sehr schön, dass dein Freund uns endlich mal besucht! Keno ist hin und weg, weil noch ein Musiker im Haus ist!«

Steffi klatschte aufgeregt in die Hände wie ein Kind. »Ich bin so heiß auf das Gitarrenduell!«

Anna sprang aus dem Van und flüsterte Steffi zu: »Keno hat keine Chance!«

Eugen schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Hoffentlich ruft niemand die Polizei!«

Anna wuchtete einen Verstärker aus dem Van. »Bildet eine Gasse!«

Steffi und Eugen sprangen erschrocken zur Seite. Steffi rief verdattert: »Das Ding ist doch viel zu schwer!«

Anna grinste nur und segelte los in die Mitte der Scheune. »Steffi, wenn du ein Hedlund-Girl werden willst, musst du lernen, als Roadie zu arbeiten! Kannst du die Kabeltrommel mitbringen?«

Eugen angelte galant die Kabeltrommel aus dem Van. »Ich mach das schon!«

Offenbar wollte Eugen auch ein Hedlund-Girl werden. Steffi quengelte: »Was trage ich denn dann?«

Von außen wurde gegen das Scheunentor gehämmert. Eugen grinste. »Du kümmerst dich darum, dass die Männer mit dem Sofa in die Scheune kommen!«

Steffi quetschte sich am Van vorbei und murmelte: »Oh, nee, hier kommen die doch gar nicht durch! Ich hab doch extra hinten aufgemacht!«

Sie legte die Hände wie einen Trichter an den Mund und rief dem geschlossenen Tor zu: »Ihr müsst hinten rum!«

Anna tauchte wieder auf und kicherte übermütig. Durch das zugige alte Holztor hörte man Keno dramatisch stöhnen, dann hoben die Männer das Sofa ächzend wieder an. Für einen Moment verdunkelte sich die Scheune, weil sie an der Außenseite des Hauses mit dem Sofa an den tiefliegenden, kleinen Fenstern vorbeiwankten. Anna wedelte mit der Hand. »Steffi, gib mir mal die Djembe raus!«

Steffi zog sich ächzend hoch und stieg in den Van, dann fragte sie: »Was ist eine … wie heißt das?«

Anna musste lachen und kam ihr hinterher. »Ich mein das Ding, mit dem Lothar bestimmt tierisch gern Krach machen möchte!«

Steffi kicherte, warf einen prüfenden Blick vor die Tür und zupfte Anna dann an der Jacke. »Der ist so süß!«

Anna sah sie verwundert an. »Wer, Sven? Echt jetzt?«

Steffi ging quietschend in die Knie. »Willst du mich verarschen? Natürlich Sven!«

Anna zerzauste sich verwirrt die Haare. »Ich weiß das immer nie so, ich kenn ihn einfach zu gut! Aber da, wo der herkommt, gibt es noch viel mehr!«

Steffi stöhnte gequält. »Wie viele sind das?«

Anna sah sich um, dann flüsterte sie geheimnisvoll: »Sieben! Eigentlich acht, aber der Achte ist ein Mädchen, das sieht man nur nicht auf den ersten Blick! Die sehen alle gleich aus!«

Steffi prustete. »Ist Svens Schwester auch verwegen und unrasiert?«

Anna grinste. »Nur zu besonderen Anlässen! Du musst Lotta unbedingt mal kennenlernen!«

Steffi seufzte tief. »Wie hältst du das aus, solche Männer zu kennen?«

Anna strahlte auf. »Ich hab ja gar keine andere Wahl! Willst du die Talking Drum ausprobieren?«

Steffi nickte wild. »Ich probiere alles aus! Und ich bin so froh, dass du endlich mal wieder lachst!«

Anna griff sich stöhnend in den Rücken. »Fang jetzt nicht von John an, sonst heul ich wieder los!«

Steffi schüttelte wild den Kopf. »Bloß nicht! Sven ist doch extra hier, um dich aufzuheitern!«

Eugen tauchte wieder am Van auf. »Das Sofa steht an seinem neuen Platz, sieht toll aus! Ihr solltet ab jetzt eure Videos in der Scheune drehen!«

Steffi hob mahnend den Zeigefinger. »Unsere Videos, Eugen, du bist fester Bestandteil des Teams, wann akzeptierst du das endlich? Du bist jetzt auch Künstler!«

Lothar stolperte wie bestellt mit der Kamera heran. »Wo wird der Kameramann gebraucht?«

Steffi und Anna prusteten los. Lothar trug die weiße Langhaarperücke, mit der Anna sich für ein Video als »Mutter der Drachen« verkleidet hatte. Anna sprang wieder aus dem Van und rückte Lothar die Perücke gerade. »Geil, Alter! Wenn wir die Verstärker angeschlossen haben, können wir mit dem Heavy Metal Contest beginnen!«

Lothar grinste stolz und hob die Hand, um Teufelshörner zu zeigen. »Fucking fuck, ich bin bereit!«

Um die Ecke jaulte eine E-Gitarre auf. Lothar zuckte zusammen, dann sprang er los, um nichts von dem Spektakel zu verpassen.

Steffi rempelte Anna liebevoll an und grinste. »Weißt du, was ich mich gerade frage?«

Anna schüttelte den Kopf. Steffi seufzte tief. »Ich frage mich: Wenn ich gewusst hätte, wie das Leben sein kann, wäre ich dann so lange eine unglückliche Ehefrau geblieben?«

»Wieso, wie ist das Leben denn jetzt?«

Steffi strahlte. »Ich weiß auch nicht, aber mit euch ist es so bunt und lebendig und echt! Wenn man morgens aufsteht, weiß man nie, was der Tag bringen wird! Das fühlt sich mächtig gut an!«

Anna blinzelte langsam. »Du willst mir sagen, dass ich gar nicht weiß, wie gut ich es habe.«

Steffi stutzte. »Nee? Das war eigentlich gar nicht meine Absicht!«

Anna lächelte melancholisch. »Macht nichts. Du hast trotzdem recht.«

Die Gitarre heulte wieder auf und Steffi griff Anna am Ärmel, um sie ins Gewimmel zu ziehen.


Scherben bringen Stress

John klopfte an die Tür des Apartments mit der Nummer 299 und konnte dann einfach nicht widerstehen, den krumm geschlagenen Nagel aus der zweiten Neun zu ziehen. Die Neun drehte sich rutschend um und an der Tür stand nun schief 296. John neigte den Kopf und trat einen Schritt zur Seite. Der Lichteinfall auf der billigen Messing-Neun hatte sich interessant verändert.

Er hörte, wie diverse Sicherheitsriegel aufgeschoben wurden, dann wurde die Tür geöffnet und die Neun knallte auf den Boden. John hob irritiert den Finger und sah Sabrina an. »Deine Neun ist runter gefallen!«

Sabrina stöhnte sofort genervt auf. »Oh, John, was hast du jetzt wieder gemacht!«

»Ich … nichts!« John steckte irritiert die Hände in die Hosentaschen und sah Sabrina an. Er blinzelte unsicher. Daran, dass sie jedes Mal eine neue Haarfarbe hatte, wenn er sie sah, war er gewöhnt, aber eine neue Nase? Sabrina trat zurück und stöhnte hektisch: »Dann komm halt rein! Aber mach nichts kaputt!«

John trat in den engen Flur und grübelte darüber nach, wieso sie ihn so konsequent für einen Trottel hielt. Das Malheur mit der hässlichen Vase war jetzt mindestens drei Jahre her und sie war ja selber schuld, wenn sie auf dem Esstisch gefickt werden wollte. Er konnte ja auch nicht ahnen, dass das gruselig scheußliche Ding ein Familienerbstück war, das es von Hamburg bis nach New York geschafft hatte.

Sabrina knurrte gereizt: »Tu mir einen Gefallen, geh einfach in die Küche und setz dich hin!«

»Okay?« John sah sich vorsichtig um und ging dann artig in die winzige chaotische Küche. Hier würde sogar ein Seiltänzer, der einen Nebenjob als Schlangenmensch hat, noch Gefahr laufen, das Gleichgewicht zu verlieren und aus Versehen gegen einen der offen stehenden Pizzakartons zu stoßen, die sich auf Tisch und Spüle stapelten. Oder gegen einen der windschiefen Türme aus schmutzigen Tassen.

John tanzte einen vertikalen Limbo, hob einen Stapel Zeitungen von einem der zwei wackligen Stühle und setzte sich vorsichtig. Sabrina bellte unfreundlich: »Kaffee?«

John sah auf die Berge von ungespülten, verkrusteten Tassen und winkte vorsichtig ab. »Lass mal, ich bleibe ja nicht lange.«

Sabrina nickte und stemmte die Hände in die Hüften. »Oh, ja, natürlich, du bleibst ja nie lange! Du bist ja der Mann, der immer weg ist, wenn man aufwacht!«

John seufzte schuldbewusst. Sabrina hasste ihn. Aber wenn es einen Menschen gab, den sie noch mehr hasste, dann war das Sonja. Und Erzfeindinnen stalkten sich, wenn jemand wusste, wo Sonja untergetaucht war, dann war das Sabrina. Die beiden Frauen kannten sich schon seit der Schulzeit und waren zusammen nach Amerika gekommen. Sabrina war immer die, die sich um alles gekümmert hatte. Visa, Greencards, Papierkram, Apartments, Jobs. Sonja war immer die gewesen, die andere machen ließ. Trotzdem war es dann Sonja gewesen, die ihm den Heiratsantrag gemacht hatte. Sonja wollte immer das haben, was Sabrina hatte.

John räusperte sich verlegen. »Ich würde dich echt nicht belästigen, wenn ich wüsste, wen ich sonst noch fragen könnte.«