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Ohne Pomp und großes Gefolge durch Europa – die faszinierende Geschichte des Habsburger Kaisers Joseph II.

Ende des 18. Jahrhunderts geraten die europäischen Monarchien ins Wanken. Der Sohn Maria Theresias, Kaiser Joseph II., erkennt den Reformbedarf und greift begierig die Ideen der Aufklärung auf. Ohne Pomp und großes Gefolge – inkognito – bereist er sein riesiges Reich. Mit eigenen Augen sieht er, wie seine Untertanen leben, unter Frondiensten leiden, hungern. Er trifft einfache Menschen ebenso wie Fürsten und Könige, besucht Krankenhäuser und Fabriken, immer auf der Suche nach neuen Erkenntnissen für den Aufbau seines modernen Staates. Bei seiner Schwester in Versailles sieht er die Französische Revolution heraufziehen. Am Ende hat Joseph II. ein Viertel seiner Regierungszeit unterwegs verbracht. Monika Czernin schildert einen außergewöhnlichen Herrscher, der seiner Zeit in vielem voraus war.

MONIKA CZERNIN

Der Kaiser

reist

inkognito

JOSEPH II. UND DAS EUROPA

DER AUFKLÄRUNG

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Copyright © 2021 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Regina Carstensen

Karten: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

Umschlagabbildungen: Porträt Kaiser Josephs II. (1741–1790)

von Joseph Hickel (Böhmisch Leipa 1736–1807 Wien),

Dorotheum Wien, Auktionskatalog 22. 10. 2019;

Großfürstentum Siebenbürgen [B IX a 715],

Josephinische Landesaufnahme (1769–1773),

Österreichisches Staatsarchiv

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-20911-7
V002

www.penguin-verlag.de

Für meinen Vater, Vinzenz Czernin, der mich reisen lehrte und meine Leidenschaft für die Geschichte Europas grundgelegt hat. Und für meinen Mentor und Freund Remo Largo, der das Erscheinen dieses Buches noch so gerne erlebt hätte.

Es ist der Welt nicht gegeben, sich zu bescheiden: den Großen nicht, dass kein Missbrauch der Gewalt stattfinde, und der Masse nicht, dass sie in Erwartung allmählicher Verbesserungen mit einem mäßigen Zustande sich begnüge. Könnte man die Menschheit vollkommen machen, so wäre auch ein vollkommener Zustand denkbar; so aber wird es ewig herüber- und hinüberschwanken, der eine Teil wird leiden, während der andere sich wohl befindet, Egoismus und Neid werden als böse Dämonen ihr Spiel treiben, und der Kampf der Parteien wird kein Ende haben.

Johann Wolfgang von Goethe im Gespräch mit Johann Peter Eckermann, 25. Februar 1824

Wirf dich ins Weite, wirf dich ins Leere,

Nur Ferne gewinnt dich dir selber zurück!

Stefan Zweig, »Hymnus an die Reise«, 1909

Inhalt

Prolog

1764 Frankfurt

Nie mehr eine Hofreise

1768 Banat

Wie unzählige Bittsteller die Wahrnehmung verändern

1769 Italien

Ein Mark Aurel der Aufklärung

1769 Neisse

Das erste Gipfeltreffen aufgeklärter Herrscher

1771 Böhmen und Mähren

Hungersnot und Leibeigenschaft

1773 Siebenbürgen und Galizien

Immer fremder, immer schwieriger

1777 Frankreich

»Die Revolution wird grausam sein«

1781 Die österreichischen Niederlande

Ungeduld macht blind

1787 Russland

Ein mephistophelischer Pakt

Epilog

Quellen

Dank

Zeittafel

Anmerkungen

Prolog

Inmitten des feuchten, düsteren Verlieses kniet ein junger Mann auf dem nackten Boden. Durch die wenigen Fenster dringt fahles Licht ins Innere, das sich an den vielen Spinnweben bricht und für einen trügerischen Glanz sorgt. Es tropft von der Decke, ein monotoner, folternder Rhythmus. Der Mann liegt in Ketten, schweren Eisenketten, die bei jeder Bewegung über den Stein scheuern und mit einem großen Ring an der Kerkermauer angebracht sind. Er kann sich kaum rühren. Im Raum sind nur sein Atem und das Tropfen zu hören, während von weiter weg die Schreie der Gefolterten zu ihm herüberdringen. Sein Gewand – und das ist das Seltsame – ist weder verschlissen noch schmutzig. Ein paar frische Flecken, die die Ketten und der schmierige Boden hinterlassen haben, ansonsten goldene Knöpfe, feinstes Tuch, eine weiße Generalsuniform. Einzig hochgestellte Persönlichkeiten, solche, die nie und nimmer in den Verliesen der schauerlichen Festung Spielberg in Brünn inhaftiert wurden, durften ein Gewand wie dieses tragen. Und noch etwas ist ungewöhnlich. Die Gesichtszüge und Hände des Angeketteten sind fein und elegant, womöglich von hoher Geburt. Wer ist der Mann?

Jetzt hört man Schritte, eilige Schritte. Zwei Männer, ebenfalls in Uniform, und ein Kerkermeister.

»Majestät, es reicht!«, sagt der eine.

»Bitte …«, der andere.

Betreten versuchen sie seinem Blick auszuweichen, während der Kerkermeister die Ketten löst. Nur er, der die Gesichter der Gepeinigten gut kennt, die anfängliche Verzweiflung und später die von den Martern toten Blicke, sieht ein Erkennen von Erniedrigung und Pein in den Augen des hohen Mannes aufblitzen. Nie wird er dieses Antlitz vergessen.

Der Kaiser – denn kein anderer ist es, der sich sehr zum Missfallen seiner Entourage dieser Tortur unterzogen hat – erhebt sich, klopft seinen Rock aus und streckt seinen Rücken. Ein Schauder läuft durch seinen ganzen Körper, er fröstelt bis ins tiefste Innere seiner Seele. Erst als er hinter seinen Begleitern hinaus ins Freie tritt, spürt er die Wärme des zu Ende gehenden Tages. Voll wiedergefundener Lebensfreude besteigt er sein Pferd, gibt ihm die Sporen und galoppiert vor den Kutschen seiner Reisebegleiter in Richtung Horizont. Es ist die erste Reise des jungen Herrschers inkognito durch Europa. Im Ausland nannte er sich Graf von Falkenstein, und so wurde er unter diesem Titel in ganz Europa berühmt, ja, es bürgerte sich ein, ihn ganz allgemein so zu bezeichnen.

Welch eine Szene!1 Die, die sie miterlebt oder auch nur davon gehört hatten, sprachen entweder mit Irritation oder Ehrfurcht von dem Ereignis im Sommer 1766. Ein Kaiser in Ketten? Freiwillig das Los gemeiner Verbrecher erduldend? Auch wenn nur für einige Stunden? Wo und wann hatte es so etwas gegeben? Im ausgehenden 18. Jahrhundert, in jenen Jahren vor dem Ausbruch der Französischen Revolution, als es in Europa gärte, als die scheinbar so festgefügte Ordnung des Ancien Régime und der barocken Höfe überall Risse bekam und mit dem Sturm auf die Bastille 1789 schließlich in Brüche ging. Nur eine geschichtsvergessene Zeit kann leugnen, dass die Krisen und Verwerfungen, die wir gegenwärtig in Europa erleben, keine Vorläufer haben. So wie heute schienen damals die alten Gleichungen nicht mehr aufzugehen. Hier ein von Gott eingesetzter Monarch, dort sein fügsames Volk. Hier Prunk und Etikette, dort Mittellosigkeit und Schicksalsergebenheit. Hier die Macht der Grundherren, dort die Ohnmacht der Leibeigenen. Hier die reiche Kirche, dort die armen Sünder. Überall Oben und Unten.

Dabei hatten die Aufklärer, jene kühnen Denker der Epoche, die Glückseligkeit aller Menschen zur Maxime erhoben, nicht einfach als hohle Phrase, sondern als Herausforderung an die Politik. Vernunft und Wissenserwerb, Toleranz und Bürgerrechte sollten fortan die Grundlage für die als dringend erachteten Reformen dienen. In der Theorie waren derlei Postulate schnell in die Welt hinausposaunt – sie umzusetzen war eine ungleich schwierigere Aufgabe. Schon weil die Ungleichheit zum Signum der Epoche gehörte. Die Ungleichheit der Stände – soziale Klassen sollte es erst später geben – und die daraus resultierenden Lebensläufe. Die unterschiedliche Entwicklung von Städten und ländlichen Regionen. Dazu die Unterschiede der vielen verschiedenen Distrikte, Länder und Herrschaftsgebiete, die Europa wie einen bunten Flickenteppich aussehen ließen. Am heterogensten war die Habsburgermonarchie, ein unübersichtliches Länderkonglomerat, das nur durch die habsburgische Dynastie zusammengehalten wurde und immer wieder in höchst unterschiedliche Territorien mit eigenen Eliten, Gesetzen, Sprachen und Entwicklungsstadien zu zerfallen drohte.

Aber auch das Römisch-Deutsche Reich, dessen Kaiser der in Ketten gelegte fünfundzwanzigjährige Mann war, bestand aus einem Sammelsurium von Ländern, die mehr oder weniger lärmend auf ihre jeweilige Unabhängigkeit pochten. Der Kaiser nannte sich Joseph II., war seit einem Jahr im Amt und sollte mit seinen Herrschaftspraktiken noch zahlreiche Fürsten und Untertanen in ganz Europa in Staunen versetzen. Neben dem Heiligen Römischen Reich, für das die Habsburger seit dem 15. Jahrhundert fast ununterbrochen den Kaiser stellten, regierte er gemeinsam mit seiner Mutter Maria Theresia, einer Erzherzogin von Österreich, auch noch das Habsburgerreich, das nur zum Teil zum Römisch-Deutschen Reich gehörte.2

Das ist mehr als kompliziert! Vieles von der Lebenswelt des 18. Jahrhunderts, das uns heute so fremd erscheint, können wir nur mit Mühe verstehen. In diesem Fall hilft es, sich in eine Landkarte aus der Mitte des 18. Jahrhunderts zu vertiefen und die unübersichtlichen Grenzverläufe zu studieren. Diejenigen des Habsburgerreichs überlappen sich nur teilweise mit denjenigen des Heiligen Römischen Reichs, das eine Unzahl weiterer Länder auf sich vereint. Letzteres grenzt im Westen an das Königreich Frankreich, im Norden an das von Dänemark, im Osten an das von Polen und an das Königreich Ungarn, welches Teil des Habsburgerreichs, nicht aber des Römisch-Deutschen Reichs ist. Zu Österreich und dem Heiligen Römischen Reich gehören die Erzherzogtümer ob und unter der Enns (Ober- und Niederösterreich), die Herzogtümer Steiermark, Kärnten und Krain, die Grafschaft Tirol mit Vorarlberg, die Grafschaft Görz, Inneristrien und die Hafenstadt Triest, Streubesitz im Breisgau, Schwaben und Elsass. Zu Österreich, nicht aber zum Römisch-Deutschen Reich zählen der weitaus größere Teil der habsburgischen Länder: Schlesien, Kroatien, Slawonien, Dalmatien und das von den Türken zurückeroberte Siebenbürgen sowie das Banat. Das Königreich Böhmen samt der Markgrafschaft Mähren genießt eine Sonderstellung. Außerdem befinden sich noch beträchtliche Gebiete in Italien (etwa das Herzogtum Mailand und Modena) und schließlich die Österreichischen Niederlande unter Habsburgischer Oberherrschaft. Die Osmanen beherrschen das ganze südöstliche Mittelmeer, haben ihre größte Ausdehnung während der Türkenkriege jedoch längst eingebüßt. Und noch weiter im Osten schließt – so weit das Auge reicht – das schier unendlich große Zarenreich an. Das ist in etwa das geografische Spektrum, innerhalb dessen sich diese Erzählung hier abspielt.

Regieren war im ausgehenden 18. Jahrhundert keine einfache Sache, es reichte nicht, auf die Jagd zu gehen und Staatsbankette zu geben, wie man es Josephs Großvater nachsagte. Um genau zu sein: Die Aufgabe, die der Enkel Kaiser Karls VI. zu übernehmen sich anschickte, war überaus schwierig und verzwickt, auch wenn er als aufgeklärter Monarch wie alle, die sich zur geistigen Avantgarde der Epoche zählten, annahm, dass eine vernunftorientierte Politik Vorurteile und Aberglauben beseitigen und die menschlichen Verhältnisse in rationaler Weise neu zu ordnen imstande wäre. Doch das Römisch-Deutsche Reich bestand aus einem schwer zu kontrollierenden Haufen souveräner Fürsten, und das Habsburgerreich mit seinen Dutzenden Völkern, Religionen, Sprachen war für simple Lösungen ebenfalls zu komplex. Trotz der Reformanstrengungen, die schon Josephs Eltern unternommen hatten, erschien Österreich immer noch rückständiger als Frankreich oder Preußen. Der Schuldenberg war durch die Kriege bedrohlich angewachsen. Die Verwaltung hinkte den verordneten Reformvorstellungen hinterher. Der Hof war ein barockes, auf Gunst und Missgunst ausgerichtetes Gebilde, verfilzt und teuer. Und dann schwankte auch noch das Mächtegleichgewicht in Europa ständig und gefährlich hin und her.

Joseph wollte (ab 1765 als Mitregent an der Seite seiner Mutter, ab 1780 als Alleinherrscher) aus den habsburgischen Ländern einen modernen Staat, ein Territorium mit gleichen Gesetzen, vereinheitlichten Institutionen und einer zentralen Verwaltung, ein Ganzes also oder – in der Sprache der Zeitgenossen – ein totum schmieden und Österreich zur Großmacht aufsteigen lassen.3 Was man jedoch hinzufügen muss, auch wenn die Historiker es nicht so nennen würden: An der heterogenen Verfasstheit seines Reichs waren seine Vorgänger »schuld« (wie im Übrigen ebenso alle anderen Herrscherhäuser Europas), hatten sie doch ihre Territorien bisher nicht als Staaten begriffen. Es waren dynastische Reiche, durch Kriege, Heiratspolitik und Tausch zusammengekommen, ohne einheitliche administrative Einrichtungen, dafür aber mit mächtigen lokalen Adelsfamilien, die das Steuerwesen, die Rechtsprechung und die Einberufung zum Militär kontrollierten und in unregelmäßigen Abständen Landtage abhielten. Die Habsburger waren auf diese Gremien angewiesen, sie herrschten weder absolut noch souverän, sondern in einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Abhängigkeitssystem. Das alles mag im Mittelalter durchaus Sinn gemacht haben, aber im 18. Jahrhundert war dieses Ancien Régime zunehmend dysfunktional geworden. Kein Wunder also, dass Joseph II. große und umfassende Reformen in Angriff nehmen würde.

Dazu musste der Kaiser die Verhältnisse kennenlernen, und deshalb verordnete er sich eine Reihe von Reisen bis in die hintersten Winkel seines Reichs und durch ganz Europa. Er wollte Daten und Fakten sammeln. Er wollte wahrnehmen, zuhören und kombinieren. Er wollte die Welt verstehen, um sie zu verändern. Seine Reisen waren von den Prinzipien der Aufklärung nur so durchdrungen, sie waren gewissermaßen eine Inkarnation des aufgeklärten Projekts, unter dem die Zeitgenossen in ihrem Fortschrittsoptimismus ganz allgemein ein immerwährendes Voranschreiten im Lichte der Vernunft verstanden. Das 20. Jahrhundert hat durch seine Barbarei diese Hoffnung indes nachhaltig erschüttert, und unsere Zeit hat die blinden Flecken jener Ära unter anderem als ein Unterfangen weißer, mächtiger Männer auf den Prüfstand gestellt.4

Josephs Mutter hingegen waren die aufgeklärten Philosophen stets suspekt gewesen, vielleicht auch deshalb, weil sie durch die Bank Männer waren. In jedem Fall mied sie sie, wo sie nur konnte, und doch hatte sie Josephs Erzieher (welcher Mutter passiert das nicht?) aus ebenjenem aufgeklärten Milieu gewählt, allen voran den Staatsrechtler Christian August Beck. Franz Stephan von Lothringen, der zurückhaltende, aber kluge und fortschrittliche Vater hatte mit seinem Denken ebenfalls das Seine zur Erziehung des Thronfolgers beigetragen. Trotzdem scheuten Josephs Lehrer keine Mühe, den aufgeweckten, hochintelligenten Jungen in ein Korsett zu zwingen. Allein ihr Zögling, den man als »störrisch« empfand (heute würde man dazu einfach willensstark sagen), ließ sich nicht brechen, lieber ging er, kaum zum Mitregenten ernannt, auf Reisen, die ihm eine bessere Schulung dünkten als der Einfluss seiner Erzieher und Berater.

Und so wurde aus dem Kind, das sein Taschengeld gern an Arme verschenkte, ein Monarch, der seine gewohnten Sphären verließ, um die Bitten und Klagen des Volkes ernst zu nehmen. Um das Korn auf den Feldern seines Reichs im Wind wehen zu sehen. Um den Pflug der leibeigenen Bauern selbst in die Hand zu nehmen und die Ketten der Kerkerhaft zu spüren. Um die Unwegsamkeit der Straßen, die Unpassierbarkeit von Flüssen, die labyrinthische Dichte der Wälder, die Ärmlichkeit der Dörfer zu erfassen und die Mühsal und Beengtheit des ländlichen Lebens kennenzulernen. Aber auch, um osmanische Salztransporte auf der Donau zu verfolgen und die Soldaten an den äußersten Grenzen seines Reichs zu besuchen, genauso den Papst in Rom, den Vesuv bei Neapel, Versailles und Paris sowie die anderen aufgeklärten Herrscher seiner Zeit, den großen Friedrich in Preußen sowie die große Katharina in Russland. Dabei war er radikaler als die beiden »Großen«, denn ihm war es mit dem aufgeklärten Herrschaftsverständnis vom »ersten Diener des Staates« ernster als Friedrich und Katharina. Dem wenig fortschrittlichen französischen König, Ludwig XVI., der seine Schwester Marie Antoinette geheiratet hatte, war Joseph an Weitblick und Mut weit überlegen. Als er die beiden 1777 in Versailles besuchte, ahnte er ihr schlimmes Ende voraus.

Alles, was Joseph auf seinen Reisen sah, notierte er sorgfältig in seinem Reisejournal und verfasste im Anschluss umfangreiche, meist luzide »Relationen«, Berichte, die er seiner Mutter und dem Staatsrat vorlegte. Denn war nicht das Informationsdefizit des Hofes das Problem der Monarchie? Nur durch unvoreingenommenes empirisches Erforschen könne man, so Josephs Überzeugung, Tradition und Parteilichkeit entkommen und sinnvolle Reformen beschließen. Ich habe keine Vorurteile gehabt. Aber gesehen, gehört, kombiniert.5

Während er im Römisch-Deutschen Reich alleine Kaiser war, musste Joseph sich im Habsburgerreich die Regentschaft mit seiner Mutter teilen, eine Regierungsform, die Sprengstoff in Hülle und Fülle bot. Und das nicht nur, weil es nicht leicht ist, mit einem Elternteil gemeinsam ein Reich zu lenken, sondern auch, weil der Generationskonflikt, den die beiden fünfzehn Jahre lang auslebten und in ihren Briefen für die Nachwelt festhielten, in Wirklichkeit ein Epochenkonflikt war. Sie waren Protagonisten im Wettstreit zwischen neuem und altem Herrschaftsverständnis, zwischen vormodernem und modernem Staat, zwischen Feudaldenken und Aufklärung. Die Rollen in dem Spiel waren meist klar verteilt, hier der vorwärtspreschende Sohn, dort die zögerliche Mutter, doch manchmal vertauschten sie ihre Rollen aus bestimmten Gründen auch. Dass Maria Theresia in jenen Jahren die Politik allein bestimmte und Joseph deshalb nichts anderes übrig blieb, als den Hof zu fliehen und auf Reisen zu gehen, ist indes eine ungerechte Unterstellung. Nur diejenigen sind ihr auf den Leim gegangen, die dem Gejammere der Mutter über die Unternehmungen des Sohnes allzu großen Glauben schenkten. Josephs Exkursionen waren keine Flucht, ganz im Gegenteil, sie waren sein politisches Programm. Wenn das Reisen für jeden denkenden Menschen nützlich ist, so ist es das umso mehr für einen Souverän, der, alle Vergnügungen zurückweisend, sich nur auf die Nützlichkeit seines Tuns konzentriert, schrieb er schon kurz nach seinem Regierungsantritt 1765.6

Auch nach Maria Theresias Tod 1780, in den Jahren der Alleinherrschaft, war der Kaiser weiter inkognito in Europa unterwegs. Und er versuchte das angefangene Reformprogramm zu vollenden, für das er auf all seinen Reisen Anschauungsmaterial gesammelt hatte – in Windeseile und zum Teil mit brachialer Gewalt. Das Toleranzedikt und die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Einführung des Beamtenstaats und eine Grundsteuer für alle, die Aufhebung von Todesstrafe und Zensur, der Bau von Schulen, Krankenhäusern und Armeninstituten – kaum jemand kam mit der Geschwindigkeit der Veränderungen zurecht. Das machte den Kaiser ungeduldig, schließlich galt es, keine Zeit zu verlieren, und die Reformen waren doch alle ganz logisch. Es war eben eine Epoche großer Umwälzungen.

Das Volk war die neue Variable in der alten Gleichung, denn es ließ sich nicht mehr ignorieren. Anfangs war es für Joseph nur eine unklare Verheißung. Seine Erzieher hatten davon gesprochen, dass er als erster Diener des Staates für die Glückseligkeit aller verantwortlich sei, also – zumindest erschien es ihm so – auch für das Wohl der Bauern, der Handwerker und Tagelöhner, ja, sogar der armseligen Bettler und notleidenden Mütter. Den Hof und den Adel, die Staatsbankette in Schönbrunn und die öden Gala-Tage in der Hofburg – das kannte Joseph zur Genüge. Aber das Volk war ein ferner, unbekannter Kontinent. Schon früh keimte daher der Wunsch in ihm auf, dieses, sein Volk kennenzulernen. Und als er dann auf seinen Reisen all die einfachen Menschen traf und ihre Bittschriften an sich nahm, prägten sich ihm Bilder und Erlebnisse ein, die er nie mehr vergaß, die ein Leben lang nachhallten. Denn das Volk lebte in großer Unordnung, in existenzieller Not, in Dunkelheit und Aberglauben. Es war auf vielfältige Art und Weise bedrückt. Kaiser Joseph II. sollte mehr als jeder andere Herrscher seiner Epoche zum Anwalt dieses Volkes werden, zu einem Monarchen, der die Menschen und ihre Lebensumstände zu verstehen versuchte, der sich vor die Tore der Städte begab, um die Bitten all jener zu hören, die von den Herrschenden normalerweise nur dann wahrgenommen wurden, wenn sie Hungerrevolten oder Bauernunruhen anzettelten. Sich der Verwundbarkeit der Schwachen anzunehmen wurde zu seinem Alleinstellungsmerkmal.

Jeder, der selbst in frühen Jahren Reisen in fremde Welten unternommen und diese nicht nur aus Abenteuerlust, sondern zur Erweiterung des eigenen Horizonts riskiert hat, weiß, wie sehr das Unterwegssein das eigene Sein verändert. Und dabei kann man das, was Joseph unternahm, nur mit den kühnsten Abenteuerreisen vergleichen. Nicht mit Kreuzfahrten auf einem Luxusdampfer! Schließlich reiste der Kaiser mit kleinem Gefolge, mit einem Zelt und seiner Hirschhaut als Schlafsack. Wer einmal in einem weltabgeschiedenen Dorf gestrandet ist und in einer ärmlichen Hütte um Wasser gebeten hat, wer sich zu Fuß abseits der erschlossenen Wege durch die Wildnis gekämpft, sich mit extremer Armut oder epidemischen Krankheiten konfrontiert gesehen hat, der kann sich eine ungefähre Vorstellung davon machen, was es für einen Kaiser der Neuzeit bedeutete, seine vertrauten Lebensumstände zu verlassen und auf Reisen zu gehen.

Im 18. Jahrhundert hatte sich das Reisen – die seit dem 16. Jahrhundert von Edelmännern unternommene obligatorische Grand Tour – allmählich etabliert, eine wachsende Zahl von Reiseführern bot sogar einige Orientierung. Doch Joseph benutzte nur selten ausgetretene Pfade, und sein Interesse war ein viel Breiteres als das der Kultur- und Bildungsreisenden. Seine Neugier und sein Erkenntnisdrang führten ihn bis an die Ränder seines Reichs, selbst dorthin, wo kaum je ein Fremder des Weges gekommen und es weder Straßen noch Landkarten gab. Alle Reisen wurden daher im Vorfeld am Wiener Hof sorgfältig geplant. Karten wurden mit den eingezeichneten Routen, Dossiers mit Informationen zu Land und Leuten sowie Listen mit den Nachtstationen und dem mitzuführenden Proviant erstellt. Ebenso eine Gesamtkalkulation. Bei aller Bescheidenheit und Einfachheit, die Joseph zum Grundprinzip seines Reisens unter falschem Namen erhob, mussten stets genügend Pferde vorhanden sein, und die Kuriere aus Wien hatten zu wissen, wohin sie mit der Post reiten sollten. Denn Joseph regierte auch von unterwegs, er las seine Korrespondenz, antwortete auf Depeschen, traf Entscheidungen und besetzte vakante Posten.

Was selbst die besten Vorbereitungen indes nicht beeinflussen konnten, waren die unmittelbaren Umstände vor Ort. Man saß – Federung und Polsterung hin oder her – tagelang in rumpelnden Kutschen und holte sich ein Hämorrhoidalleiden. Auch das war ein Grund, warum der Kaiser gewaltige Strecken zu Pferd zurücklegte. Und wenn man nicht darben oder krank werden wollte, musste man Utensilien des täglichen Gebrauchs – Essgeschirr, Bettwäsche, Toilettenartikel, Nahrungsmittel in ausreichender Menge – mitschleppen sowie das nötige Personal mitnehmen. Dabei galt die einfache Regel: je niedriger der Stand, desto leichter das Gepäck. Seine müden Glieder streckte man entweder in den Betten schlichter Gasthäuser und Poststationen aus, oder man quartierte sich, wenn man über das entsprechende Netzwerk verfügte, in den Schlössern der Verwandtschaft oder bei Standesgenossen ein. Doch die mit Stroh oder Schilf gefüllten Säcke, die in den Betten als Schlafunterlage dienten, waren – zumindest die in den Gasthäusern – voller Flöhe, Bettwanzen und Läuse.

Während für hochgestellte Personen das Reisen durch Wetterstürze, desolate Straßen und einstürzende Brücken, durch scheuende Pferde und schlafende Kutscher gefährlich werden konnte, mussten einfache Leute Überfälle von Dieben und Räubern fürchten. Manchen gab ihre Anonymität einen gewissen Schutz, im Falle des inkognito reisenden Kaisers hatte die Tarnung jedoch einen anderen Sinn. Es bewahrte ihn vor der Etikette, die er ansonsten hätte einhalten müssen, sogar dann, wenn man ihn als den erkannte, der er war. Der Kaiser des Römisch-Deutschen Reichs. Und – das war das Wichtigste – es ermöglichte ihm authentische Begegnungen mit dem normalen Volk. Nahezu auf Augenhöhe!

Natürlich habe ich nicht alle Reisen des Kaisers beschrieben, schließlich hat sein britischer Biograf Derek Beales errechnet, dass Joseph II. ein Viertel seiner Regierungszeit unterwegs war und dabei eine Strecke zurücklegte, die den Umfang der Erde übertrifft (wohlgemerkt in der Kutsche und zu Pferde).7 Ich habe vor allem jene ausgewählt, bei denen er Ideen für seine Reformen sammelte, und diejenigen, die wie die nach Frankreich oder in die Österreichischen Niederlande oder die märchenhafte Reise mit Katharina der Großen und Fürst Potjomkin auf die Krim am berühmtesten sind. Mit der schier unübersichtlichen Literatur (zeitgenössische Quellen, Primär- und Sekundärliteratur) gewappnet und durch die vielen Tage im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, versunken in elf Kartons mit Handschriften, habe ich mich so sehr in die Welt des 18. Jahrhunderts und die Person des inkognito reisenden Kaisers versetzt, dass meine Erzählung nahezu automatisch romanhafte Züge annahm. Dennoch: Alles ist verbürgt, nichts erfunden. Die Dialoge und Szenen basieren entweder auf dem umfangreichen Studium der Quellen, oder es sind – wenn sie kursiv und mit Fußnoten versehen sind – direkte Zitate, denen der quelleninteressierte Leser im Anhang nachgehen kann.

Was mich immer wieder fasziniert hat, ist, wie aktuell die Reisen Joseph II. durch das zerrissene 18. Jahrhundert sind. Aktuell deshalb, weil auch unsere Welt unter ihrer Disparität und ihren unterschiedlichen Geschwindigkeiten leidet, weil die Schwachen verwundbarer werden und unsere auseinanderbrechenden Gesellschaften wie schon lange nicht mehr in einer Erneuerungskrise mit ungewissem Ausgang stecken, samt der schon im 18. Jahrhundert zunehmend praktizierten Methode der Volkserhebung, des Protests und der Revolte. Bis heute weckt Joseph II. denn auch die Sehnsucht nach Politikern, die die Bedürfnisse der Menschen ernst nehmen, indem sie durch die Lande fahren, um zuzuhören und mitzufühlen, anstatt sich in ihren Machtzentren abzuschotten. Und so wird der inkognito reisende Kaiser zum Vexierbild einer Welt im Umbruch und die Beschreibung seiner Reisen zu einer Studie über die Möglichkeiten und Grenzen von Politik.