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Christine Fehér

Ella im Abseits

Dieses Buch ist ein Roman. Die Charaktere in dieser Geschichte sind reine Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

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Originalausgabe März 2021

© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Hjördis Fremgen

Umschlaggestaltung: Geviert GbR, Grafik & Typografie

unter Verwendung eines Motivs von Plainpicture GmbH & Co. Kg 159777

Bildnummer: p 3224507

hf · Herstellung: BO

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-25698-2
V001

www.cbj-verlag.de

Haukes Geburtstag

»Tschüs, Leute. Cool, dass ihr alle da wart. Bis morgen in der Schule«, sagt Hauke. Jeremy, Konstantin, Leonie und Kim sind die letzten Geburtstagsgäste, die von ihren Eltern abgeholt werden. Die meisten anderen sind schon allein nach Hause gegangen. Haukes Papa Lars überreicht jedem beim Rausgehen noch eine kleine Tüte mit Überraschungen.

»Hey, Sohnemann«, sagt die Mutter von Jakob. »Wie wär’s mit Danke sagen? Du gehst mit mehr Geschenken nach Hause, als du gekommen bist.«

Jakob gibt zuerst Hauke, dann Lars die Hand. »Danke«, sagt er. »Also dann.« Die anderen machen es ihm nach.

»Gut, dass Ella nicht dabei war«, hört Hauke von draußen Leonie sagen, als die Wohnungstür fast geschlossen ist. »Die hätte alles versaut.«

»Vor allem mit ihren komischen Klamotten«, antwortet Kim, für die Hauke heimlich schwärmt. »Da hängen bestimmt Läuse drin.«

»Hey, ich denke, du bist tierlieb«, sagt Jeremy.

Er ist erst vor ein paar Wochen neu in die Klasse gekommen und versucht immer, alle mit seinen Sprüchen zum Lachen zu bringen.

Dann klappt die Haustür zu.

Ein Seufzer entfährt Hauke, als er sich im Wohnzimmer aufs Sofa plumpsen lässt und nach dem neuen Smartphone greift, das er heute bekommen hat. Doch noch ehe er das Display aufleuchten lässt, klingelt es unten an der Haustür. Lennox, der dreijährige Golden Retriever, springt von seinem Schlafplatz auf und eilt schwanzwedelnd zur Tür. Haukes Stiefmutter Jessica kommt aus dem Zimmer seiner beiden kleinen Halbgeschwister, die sie gerade ins Bett gebracht hat. Lautlos versucht sie die Tür zu schließen und runzelt die Stirn.

»Hat jemand was vergessen?«, fragt sie. »Hoffentlich geht das nicht den ganzen Abend so. Noah muss morgen früh in die Kita, und wenn Mia nochmal wach wird, turnt sie die halbe Nacht hier rum.«

»Das wird Sandra sein«, beeilt sich Haukes Papa zu sagen. »Sie wollte nach der Arbeit kurz vorbeikommen, um Hauke zu gratulieren.«

»Aha«, sagt Jessica und sieht Hauke an. »Feiert ihr beide nicht am Samstag zusammen nach?«

»Sie ist meine Mutter«, erwidert Hauke. »Sie kann kommen, wann sie will.«

Gleich darauf klingelt es oben an der Wohnungstür. Papa öffnet. Schon steht Sandra im Raum. Haukes Mama, die er viel zu selten sieht. Bei der Trennung seiner Eltern war Hauke erst sieben. Seine Mama ist als Managerin oft unterwegs und hat eine viel kleinere Wohnung als sein Papa. Und da Lars damals schon mit Jessica zusammen war, lebt Hauke seitdem bei den beiden. Jetzt steht er vom Sofa auf und Sandra in die Arme. Lennox springt an beiden hoch.

»Mama!«, ruft Hauke. Er schlingt seine Arme um ihre Taille und vergräbt sein Gesicht an ihrem Hals. Ihre Haut fühlt sich kühl an, kein Wunder an diesem stürmischen Tag Mitte März. Mit kalten Fingern streicht Sandra ihm durch seine blonden Haare. Hauke war lange nicht beim Friseur. Er findet es cool, wenn die Haare ihm ins Gesicht fallen und er sie dann lässig zurückwerfen kann. Beim Sport trägt er immer ein Stirnband.

»Alles Gute zum Geburtstag, mein Großer«, sagt sie und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Dann hält sie Hauke ein Stück von sich ab und betrachtet sein Gesicht. »Kaum zu glauben, dass du schon elf Jahre alt bist. Lars, kommt es dir nicht auch so vor, als wäre er gestern erst geboren?«

Hauke rollt mit den Augen und linst auf den Boden zu ihrer großen Tasche.

Lars grinst ein wenig schief. »So was hört ein Elfjähriger nicht gern«, vermutet er. »Seitdem ist viel passiert.«

Hauke bemerkt, dass Jessica die Lippen zusammenkneift.

Hört das denn nie auf, denkt er.

Er möchte gerne, dass seine Mama sich neben ihn aufs Sofa setzt. Er möchte mit allen dreien noch Cola trinken und Chips essen und weiterfeiern, bis es auch für ihn Zeit ist, schlafen zu gehen. Aber Jessica fängt an, das Geschirr vom Abendessen mit Haukes Gästen in die Spülmaschine zu räumen.

Wenn sie dabei weiter so laut mit den Tellern klappert, wird Mia bestimmt wieder wach, denkt Hauke. Aber dann ist es nicht meine Schuld.

Noch einmal schaut er nach Sandras Tasche. Er kann sich schon denken, was darin ist. Wenn es stimmt, wurden ihm seine beiden größten Wünsche zum Geburtstag erfüllt. Sandra bückt sich und zieht ein hübsch verpacktes Geschenk heraus. Hauke öffnet es im Stehen. Das Papier reicht er seinem Vater. Ein Schuhkarton von Haukes Lieblingsmarke. Eilig hebt er den Deckel an: weiße Sneakers mit dem Label in Schwarz, die angesagtesten Treter. In seiner Klasse hat sie noch keiner. Nur Jeremy, der Kleinste von allen und Klassenclown, trägt ähnliche. Seine stammen aber von einer Billigmarke.

»Sind es die richtigen?«, fragt Sandra. Hauke nickt und nimmt den rechten Schuh heraus, die Größe stimmt auch. Er umarmt seine Mutter.

»Hoffentlich wächst du nicht weiter so schnell«, sagt Lars. »Damit sie lange passen. Die waren teuer, das sieht man.«

»Zeig mal deine anderen Geschenke«, sagt Sandra, ohne auf Lars’ Bemerkung einzugehen. »Die von deinen Freunden.«

Hauke sieht, dass Jessica auf die Uhr blickt, doch er nimmt seine Mutter am Arm und führt sie zum Geburtstagstisch, der Kommode im Wohnzimmer. Früher stand sie in ihrer gemeinsamen Wohnung.

»Das hier ist am coolsten«, sagt er und hebt ein Quartettspiel hoch. »Hunderassen, hat mir Konsti geschenkt. Ein Retriever wie Lennox ist auch dabei. Und sieh mal, das hier.« Er nimmt eine lange Kordel auf und legt sie seiner Mutter in die Hand. »Hat Kim mit ihrer Strickliesel gemacht. Neue Leine für Lennox.«

Sandra lacht. »Sie scheint dich sehr zu mögen. Mein Sohn wird groß und hat bestimmt bald eine Freundin.«

»Quatsch«, murmelt Hauke und wird ein wenig rot. Dann sagt keiner mehr etwas. Hauke schlüpft in seine neuen Schuhe, bindet sie zu und geht ein paar Schritte. Er nickt seiner Mutter zu, sie passen genau. In diesen Schuhen kommt er sich fast schon vor wie ein Jugendlicher.

Jessica steht dicht an der Tür der beiden Kleinen und lauscht. Lars faltet das Geschenkpapier zusammen und legt es in eine Schublade. Sandra wippt auf den Zehen, die Absätze ihrer Schuhe klackern auf dem Parkett.

»Tja, dann werde ich mal wieder«, sagt sie. »Sicher war der Tag auch anstrengend für dich. Wir sehen uns am Samstag. Du bestimmst, was wir unternehmen.«

»Wir waren heute im Spaßbad«, berichtet Hauke. »Fast mit der ganzen Klasse.«

»Was? Ach so.« Sandra lacht. Hauke hört ihre Nervosität heraus. »Du hast recht, ich habe dich gar nicht danach gefragt. Am Wochenende musst du mir alles ganz genau erzählen. Aber jetzt ist es so langsam Zeit fürs Bett, meinst du nicht?« Sie kramt in der Handtasche nach ihrem Autoschlüssel.

Lars wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Sandra, es ist noch nicht mal acht«, sagt er und lächelt ein wenig schief. »Der Junge ist elf geworden. Ein Stündchen darf er heute mindestens noch aufbleiben.«

»Spielst du noch mit mir Quartett?«, fragt Hauke ihn.

»Eine Runde«, verspricht sein Vater und geht zur Wohnungstür, um sie für Sandra zu öffnen. Sie drückt Hauke noch einmal kurz an sich. Ihre Haut ist kaum wärmer geworden, so kurz war sie hier. Die Erwachsenen verabschieden sich mit knappen Worten voneinander. Hauke hört Jessica seufzen, nachdem Lars die Tür hinter Sandra geschlossen hat.

»Spielst du auch mit?«, fragt er sie. »Quartett geht zu dritt besser.«

»Heute nicht mehr, Großer«, antwortet Jessica und wirft einen Seitenblick auf Lars. »Irgendwann muss mal Feierabend sein.«

Hauke holt sein Kartenspiel und setzt sich an den Esstisch. Auch Lars zieht sich einen Stuhl heran. Kaum sitzt er, gähnt er jedoch und fährt sich mit der Hand übers Gesicht.

»Ich fürchte, mit mir wird das heute auch nichts mehr«, sagt er. »Wie müde man vom Schwimmen ist, merkt man immer erst danach.«

Hauke sammelt die Karten wieder ein und stößt seinen Stuhl zurück. »Na dann«, sagt er. Mit der flachen Hand schlägt er auf die Tischplatte. »Schönen Feierabend euch.«

Er geht in sein Zimmer und drückt die Tür geräuschvoll zu. Lennox ist ihm gefolgt und springt auf das Fußende von Haukes Bett, noch ehe dieser seinen Schlafanzug angezogen hat. Hauke umarmt seinen Hund.

Wie warm sein Körper ist und sein Fell, denkt er. Lennox ist immer bei mir, egal was passiert.

Aus dem Wohnzimmer dringen die leise murmelnden Stimmen von Lars und Jessica zu ihm. Verwöhnt, hört er Papas Freundin sagen. Eigentlich muss Hauke noch Zähne putzen und aufs Klo. Noch mal an Jessica vorbei. Mist.

Ella

Am Fahrradständer auf dem Schulhof herrscht dichtes Gedränge. Ella zwängt ihr grünes Mädchenrad an zwei Erstklässlern vorbei, um ihren Stammplatz gleich neben den Lehrern zu bekommen.

Irgendwann einmal hat sie sich ausgedacht, dass der Tag gut wird, wenn sie den Platz bekommt, und schlecht, wenn er schon besetzt ist.

Jetzt wird sie von hinten geschubst. Beinahe stolpert sie über ihre Pedale, dabei tritt sie aus Versehen jemandem auf den Schuh. Auf einen neuen, strahlend weißen Schuh mit schwarzem Markenlabel. Prompt zieht sich ein gebogener schmutziger Streifen wie ein grinsender Mund über das nagelneue Leder.

Ella blickt auf, hoffentlich hat sie nicht Kim getreten, die Klassenkönigin. Dann erkennt sie jedoch, dass sie ausgerechnet Haukes Fuß erwischt hat. Vor ihm hat sie immer ein wenig Angst. An Ellas Lieblings-Fahrradständer schließt jetzt ein Mädchen aus der Sechsten ihr Rad an.

»Pass doch auf, du Blindschleiche«, motzt Hauke. »Hast du die Schuhe von deinem Opa an?«

Ella tut so, als würde sie über die Bemerkung lachen. Hauke hatte gestern Geburtstag. Vor zwei Wochen hat er seine Einladungskarten verteilt. Und als Einzige aus der Klasse hat Ella keine bekommen. Sie hat das mitbekommen, aber das mit dem Schuh war trotzdem keine Absicht.

»Entschuldigung«, sagt sie.

»Entschuldigung«, äfft er sie nach. »Die Schuhe hab ich gerade erst von meiner Mutter bekommen, du Trampeltier.«

Im Klassenraum weicht Ella Hauke aus, als er sich durch den Mittelgang zu seinem Platz in der zweiten Reihe schiebt. Hauke lehnt seinen Rucksack an den Tisch, lässt sich auf seinen Stuhl fallen und streckt die Beine aus. Jeremy kommt zu ihm und lässt einen kleinen Klumpen Ufo-Schleim auf Haukes Tisch fallen.

»Cooler Schleim, der gestern in der Geschenk-Tüte war«, sagt Jeremy. »Genauso wie der glibberige Fensterkletterer. Damit können wir heute die Lehrer ärgern.«

Schon holt Jeremy aus, um seinen Glibbermann gegen das Smartboard zu werfen. Im selben Moment kommt Frau Röhling herein. Jeremys Klettermann klatscht gegen ihre Wange. Ein paar Jungen lachen laut. Frau Röhling nimmt den Klettermann ab und legt ihn in die Schublade ihres Lehrertischs.

»Den können deine Eltern bei mir abholen, Jeremy«, sagt sie und schreibt einen Vermerk ins Klassenbuch. Ella sieht, wie Jeremy in Haukes Richtung grinst und mit den Schultern zuckt. Haukes Gesicht bleibt unbewegt. Er sieht stur geradeaus. Kein Beifall für Jeremy.

Frau Röhling stellt ihre schwarze Tasche auf den Lehrertisch, schiebt sich eine rotbraun glänzende Haarsträhne hinters Ohr und begrüßt die Klasse.

»Wir wollen gleich mit der Hausaufgabe beginnen, die in Ethik zu heute auf war«, verkündet sie. »Eure Vorträge zum Thema Familie. Wie ihr wisst, gibt es viele verschiedene Familienformen, die wir miteinander vergleichen wollen. Dabei arbeiten wir heraus, welche Rollen die jeweiligen Familienmitglieder haben und was ihre Bedürfnisse sind. Wer hat seinen Vortrag schon fertig und möchte anfangen?«

Ellas Arm schnellt hoch.

»Sehr schön, Ella.« Die Lehrerin lächelt sie an. »Sonst noch jemand?«

»Oh ja, bitte!«, ruft Hauke und lacht laut, wobei man seine großen, weißen Schneidezähne sieht. »Ella soll uns erzählen, wer ihr morgens immer ihre Kleider rauslegt. Den oder die nehme ich dann auch als Modeberater.«

»Danach habe ich nicht gefragt, Hauke«, mahnt die Lehrerin. »Nach Ella ist also dein Vortrag dran. Außerdem?«

Ella blickt an sich hinunter. Bisher war es ihr egal, was sie trägt. Meistens bringt ihre Mutter Sachen aus einem Laden mit, in dem sie auch selber kauft. Heute hat sie eine lila Leggings an, die ihr noch etwas zu groß ist, darüber ein grau geblümtes Wollkleid und an den Füßen graue Boots. Außerdem hat sie wieder mal vergessen, sich zu kämmen. Vielleicht hätte sie sich doch nicht melden sollen, um vorne vor allen anderen ihre Hausaufgabe zu präsentieren. Hilfe suchend sieht sie zu Leonie, die neben ihr sitzt. Aber die neigt den Kopf, blickt unter die Tischplatte auf Ellas Füße und prustet leise. Neben Leonies schmalen rosa Sneakers sehen Ellas Schuhe wirklich lang und vor allem breit aus. Für ein elfjähriges Mädchen hat sie mit Größe 42 wirklich große Füße. Dazu geht sie ganz leicht x-beinig.

»Das sieht man nur, wenn man ganz genau hinsieht«, hat ihre Mutter schon mehrmals beteuert, aber Ella weiß, dass es nicht stimmt.

»Komm nach vorn, Ella«, ermuntert Frau Röhling sie und zwinkert ihr zu. »Oder hast du deinen Hefter vergessen?«

Ella liebt es, wenn Frau Röhling ihr zuzwinkert. Es hat so etwas Verschwörerisches, als würden sie und die Lehrerin ein Geheimnis teilen. Oder sich auf eine Art verstehen, die ihre Mitschüler nicht wahrnehmen.

»Doch, ich habe ihn dabei«, antwortet sie, nimmt ihren Deutschhefter vom Tisch und steht auf.

»Stolpere nicht über deine Kamelhufe«, feixt Jeremy und blickt wieder zu Hauke. Der jedoch tut, als habe er nichts gehört.

Von ihrem Platz in der dritten Reihe am Fenster schiebt sich Ella langsam zum Mittelgang. Dabei schafft sie es nur knapp, den Füßen von Konstantin und Kim auszuweichen, die unter den Stühlen hervorschnellen, als sie vorbeigeht. Ella lächelt Kim trotzdem zu. Wie fast immer hält Kim ihre Strickliesel in der Hand und arbeitet damit an einem neuen Band, das bereits aus der unteren Öffnung ragt. Dieses Mal verwendet Kim rosa und weißes Glitzergarn. Zu gern würde Ella wissen, wozu sie es verwenden wird. Aber sie traut sich nur selten, mit Kim zu reden.