Zum Buch
Ist es möglich, den eigenen ökologischen Fußabdruck auf ein Minimum zu reduzieren und sogar die bisher angehäuften Klimaschulden wieder auszugleichen? Dirk Gratzel tritt den Beweis an: Er hat fest vor, künftigen Generationen keine ökologischen Schulden zu hinterlassen.
Umweltwissenschaftler der TU Berlin haben für Gratzel die Ökobilanz seines bisherigen Lebens errechnet. Das Ergebnis: Er muss seine gesamte Lebensweise auf den Kopf stellen, um seinen Ressourcenverbrauch und die Belastung der Ökosysteme zu reduzieren: Duschen? Nur noch 45 Sekunden. Neue Kleidung? Fehlanzeige. Fliegen? Nie wieder. Doch dabei bleibt es nicht: Gratzel möchte alle bisher verursachten Schäden wiedergutmachen und die »Grüne Null« erreichen. Dafür ergreift er erstaunliche Maßnahmen … Ein leidenschaftlicher, inspirierender Selbstversuch!
Über den Autor
Dirk Gratzel, geboren 1968, ist promovierter Jurist, ehemaliger Topmanager und Gründer eines viel beachteten KI-Unternehmens. Er hält regelmäßig Vorträge auf nationalen und internationalen Konferenzen zu den Themen Künstliche Intelligenz und Nachhaltigkeit. Gratzel ist der erste Mensch, der die Ökobilanz seines Lebens kennt – und sie bis zu seinem Tod ausgleichen möchte. Der Vater von fünf mittlerweile erwachsenen Kindern lebt bei Aachen und ist passionierter Jäger und Sportler.
DIRK C. GRATZEL
PROJEKT
GREENZERO
Können wir klimaneutral leben?
Mein konsequenter Weg
zu einer ausgeglichenen Ökobilanz
Mit einem Vorwort von
Eckart von Hirschhausen
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Originalausgabe 08/2020
Copyright © 2020 by Ludwig Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Regina Carstensen
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München,
unter Verwendung eines Fotos von © Maurice Weiss/OSTKREUZ
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-25831-3
V002
www.Ludwig-Verlag.de
Für Miriam, Felix, Johanna, Nils und Philipp
Vorwort
Dirk Gratzel brennt für eine Idee – weniger zu verbrennen! Ich kenne niemanden, der so hartnäckig daran arbeitet, seinen eigenen Beitrag zur Erderwärmung zu reduzieren. Er ist im positiven Sinne »verrückt« – weil er für jeden, mit dem er spricht, die Maßstäbe »verrückt«, nach denen wir uns selber gerne als die Guten definieren: Ich habe doch schon dreimal auf eine Plastiktüte verzichtet, dann habe ich mir den Wochenendtrip nach New York doch auch verdient. Dirk Gratzel will weder sich noch anderen weiter in die Tasche lügen und fällt auf – einigen sicher auch auf die Nerven. Wie viel gilt der Prophet im eigenen Land? Einige der ersten größeren Presseartikel zu seinem Projekt erschienen in englischen Zeitungen.
Dirk und ich haben uns vor einiger Zeit zufällig in einem Restaurant kennengelernt und merkten schnell, an wie vielen Punkten wir uns schon hätten begegnen können. Wir brennen beide für das Thema Nachhaltigkeit, wobei dieses Wort so wenig beschreibt, worum es geht: Wir müssen nicht »das Klima retten«, sondern uns! Als Arzt weiß ich, dass die Grundlage von Gesundheit weder in einer Tablette, einer Operation oder sonst einer medizinischen Intervention liegt. Die ganze Hochleistungsmedizin nützt uns nichts, wenn die biologischen Basics für unser Leben nicht mehr gegeben sind: Wasser, Essen, Luft und erträgliche Temperaturen. Deshalb habe ich von Anfang an die Demonstrationen von Fridays for Future unterstützt, die Scientists for Future mitgegründet und inzwischen eine eigene gemeinnützige Stiftung: Gesunde Erde – Gesunde Menschen.
Zusammen mit der Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) und dem Aktionsbündnis Health for Future versuche ich die verschiedenen Ideen und Kräfte zu bündeln, um schnell eine Veränderung im Denken und in der Politik zu ermöglichen. Die ist bitter nötig, denn die Klimakrise ist die größte Gesundheitsgefahr, vor der wir stehen. Und das Ausmaß, in dem jetzt und erst recht in den nächsten Jahren unser Wohlergehen und unser Wohlstand für immer kippen kann, ist den wenigsten bewusst. Psychologisch versiert, weiß Dirk Gratzel auch, dass wir Menschen uns nur ungern mit unangenehmen Wahrheiten länger beschäftigen, vor allem wenn sie abstrakt, weit weg und wenig emotional dargestellt werden. Deshalb hat er begonnen, eine andere Geschichte zu erzählen: die Geschichte seines Lebens.
Da keiner die so gut erzählt wie er, möchte ich nicht zu viel verraten, außer: Es ist eine klassische Heldenreise. Dirk hat den Ruf gehört, dass sich etwas ändern muss. Er hat vor dem Problem gestanden, dass es noch keine wirklich brauchbaren Ideen gibt, sodass unser Fußabdruck nicht nur runtergeht, sondern wir in Deutschland wirklich nachhaltig und klimaneutral leben können. Und er hat gegen alle Widerstände Wege gesucht und gefunden, sich und die Welt zu verändern.
Ein Waldspaziergang mit Dirk öffnet einem die Augen für das Wunder der Natur und unseren menschlichen Einfluss, im zerstörerischen wie im positiven Sinn. Die Veränderungen, die anstehen, tun uns gut. Es geht nicht um Verzicht, sondern um Gewinn an Lebensqualität und Gesundheit. In der Corona-Krise war die Klimadiskussion scheinbar ganz weit weg – dabei fielen markante Sätze wie: »Wirtschaftliche Interessen dürften den Schutz von Menschenleben nicht überlagern.« Warum gibt es dann eine Million Neuzulassungen für SUVs, die nie ein Gelände sehen, kein Tempolimit und in Deutschland als letztem Land der Europäischen Union noch Tabakwerbung? Wenn Politiker neuerdings auf Virologen hören können, warum dann nicht auch auf Klimaforscher und Umweltmediziner?
Versuche ich gerade, die Corona-Krise zu instrumentalisieren? Nein. Als Arzt sucht man nach den Ursachen für eine Erkrankung. Und im besten Fall vermeidet man Risiken schon vorher. Globale Epidemien werden häufiger, so gesehen war es für die Fachleute keine Frage von ob, sondern eher eine von wann, dass nach Ebola, SARS, MERS und HIV neue Viren von Tieren auf Menschen überspringen. Der Ursprung des neuartigen Coronavirus ist dem Umstand geschuldet, dass wir Wildtiere und ihre natürlichen Lebensräume zu anderen Zwecken missbrauchen. Wie der Chef des Berliner Naturkundemuseums, Johannes Vogel, es noch deutlicher formuliert: »Dieses Virus ist auch der Preis unserer Ausbeutung der Natur. Erreger überspringen Artgrenzen, wenn wir natürliche Ressourcen respektlos ausbeuten. Machen wir so weiter, scheitern wir.« Auf einer Tagung des Auswärtigen Amts zu »One Health« erlebte ich vor Corona-Zeiten, wie sich globale Gesundheitsgefahren nicht an unsere Denkmuster halten und nicht an Zuständigkeiten einzelner Ressorts und Disziplinen. Endlich kamen Virologen und Artenschützer, Human- und Tiermediziner, Kommunikationsexperten und Klimaforscher zusammen, um ihre jeweiligen Puzzleteile der Erkenntnis aus ihrem Gebiet zusammenzutragen. Aus heutiger Sicht schon fast zum Schmunzeln: Der Charité-Virologe Christian Drosten konnte auf dem Kongress praktisch unerkannt und ohne zehn Kameras und Mikros vor der Nase reden.
Nach meinem Vortrag über die Frage, wie man bei bedrohlichen Erkenntnissen psychologisch aus der Lähmung ins Handeln kommt, lernte ich Kim Gruetzmacher kennen. Sie ist Program Manager für die globalen Gesundheitsthemen für die Wildlife Conservation Society, eine der großen weltweiten Naturschutzorganisationen. Sie veranschaulichte mir, wie wir Menschen diesen Planeten plattmachen. »Stell dir vor, wir würden alle Wirbeltiere auf der Erde auf eine Waage stellen. Was glaubst du, wie viel Anteile hätten Wild- und Nutztiere im Verhältnis zu uns?« Ich hatte keinen Schimmer und staunte nicht schlecht, als ich erfuhr: Vor 10 000 Jahren hatten die paar Menschen einen Gewichtsanteil von etwa ein Prozent und Wildtiere 99 Prozent. Dann wurden wir sesshaft, begannen unsere extrem erfolgreiche Vermehrung, Ackerbau und Viehzucht. Damit haben wir die Verhältnisse komplett auf den Kopf gestellt. Die Wildtiere haben gerade mal noch ein Prozent der Biomasse für sich. Dafür machen Menschen 32 Prozent aus und 67 Prozent ihre Nutztiere. Und die – jetzt mal deutlich gesprochen – trampeln, fressen, kacken und pupsen alles aus dem Gleichgewicht. Gruetzmacher weiter: »Die Wildtiere werden gejagt, wie Drogen gehandelt, auf Märkten blutig übereinandergelegt und gegessen. Es gibt noch 600 000 Viren, die auf den Menschen übertragbar sind. Deshalb müssen wir endlich diesen perversen Wildtierhandel weltweit stoppen.«
Ein gesundes Wildtier hat ja gar kein Interesse, Menschen kennenzulernen. Es läuft weg, flieht oder fliegt davon, wenn es eine Fledermaus ist. Nur in Horrorfilmen kommen die vampirig gierig auf uns zu. Wir sind aber die Gier, wir sind für die Tiere der Horrorfilm. Sie werden so eingeschränkt in ihren natürlichen Lebensräumen, dass sie buchstäblich mit dem Rücken zur Wand stehen, gestresst und anfällig werden und sich »rächen« an uns, indem sie uns auf ihren letzten Metern noch ihre Viren dalassen, bevor sie für immer verschwinden. Oder wir irgendwann.
Dieses Buch von Dirk Gratzel wird Sie nicht »neutral« lassen. Entweder Sie werden erfasst von den sprudelnden Gedanken, das eigene Leben zu neutralisieren. Oder Sie werden denken: Das, was der kann, kann ich niemals. Das dachte ich auch, als ich ihn das erste Mal traf. Aber Vorsicht: Sein Enthusiasmus ist ansteckend. Inzwischen haben wir gemeinsam ein kleines Stück Wald gekauft, um die Ideen eines ökologischen Umbaus in der Praxis zu belegen, oder wie er es in einer E-Mail beschreibt: »Ziel ist eine Parzelle klimastabilen Waldes, an dem sich möglichst unsere Enkel in fünfzig Jahren noch erfreuen können.«
Dirk denkt über den Tellerrand – und über den Waldrand hinaus. Das schätze ich außerordentlich an ihm. Und genau das braucht es heute, damit wir die historische Chance nutzen, die letzte Generation zu sein, die an dem Ausmaß der Klimaveränderungen etwas ändern kann, bevor Kipppunkte erreicht und überschritten sind.
Wir können nur schützen, was wir schätzen.
In diesem Buch nimmt er auch Sie, liebe Leser, mit auf seine Entdeckungsreise.
Dabei wünsche ich Ihnen angesichts dieser Horizonterweiterung viel Freude, viele persönliche Einsichten und Ideen, um selbst nicht länger Teil des Problems zu sein – sondern Teil der Lösung zu werden!
Herzlich,
Ihr
Prolog
Im Bauzaun ist ein Loch. Jugendliche haben, wie ich aus Internetforen weiß, hier ein Loch in die Maschen geschnitten, um die verfallenen Gebäude zu durchstöbern, Feuer zu machen, Partys zu feiern, Abenteuer zu erleben. Doch heute ist alles still. Sonntäglicher Novemberregen taucht das große Industrieareal in ein lautloses Grau. Für eine Party die falsche Zeit, der falsche Tag und das falsche Wetter.
Miriam und Nils gehen voran, dann kommt meine Frau Heike. Ich mache die Nachhut. Emil ist schon längst voraus. Er hat nicht auf die Lücke im Maschendraht gewartet, sondern ist ein Stückchen früher durch ein Loch unter dem Zaun hindurchgeschlüpft. Er wuselt jetzt über den alten Fahrradparkplatz Richtung Brombeeren, zwischen kaputten, uralten Computern, Plastikstühlen, einer zertrümmerten Toilettenschüssel und Unmengen von Müll hindurch. Ich sehe die vielen Scherben, mache mir Sorgen um seine Pfoten und rufe ihn zu mir. Er kommt ungern. Wahrscheinlich haben Fuchs, Dachs und Wildschwein frische Fährten hinterlassen, den Unrat ignorierend, und die sind für Emil allemal spannender als unsere heimliche Besichtigungstour.
Miriam macht Fotos. Sie biegt nach links ab, wo zwischen den alten Bürocontainern und den Trafohäuschen irgendwo der Uhu gehaust haben muss. Er ist längst ausgezogen, hoffentlich mitsamt gesundem Nachwuchs. Nils zieht es nach rechts, Richtung Bunker. Heike und ich folgen ihm. Der große Bau liegt ganz am Nordrand der Fläche und ist komplett übererdet, schmale Birken und Buchen wachsen auf seinem Dach. Die kaputten Transformatorenhäuschen am Weg dorthin, der Müll, herausgerissene Leitungen, Gitter und Fensterrahmen und die Brennnesseln mischen sich mit dem Novemberregen zu dystopischen Bildern, die Miriam, denke ich, gewiss einfängt.
Vom Bunker hätte ich auch gern Fotos, vor allem von innen. Die verschweißte Tür ist aufgebrochen – ein Paradies für Ratten und für Füchse. Doch Miriam ist verschwunden, jetzt schon eine Viertelstunde. Ich fange an, mir Sorgen zu machen. Heike ruft sie. Es bleibt still.
Zu dritt umrunden wir den Bunker und stehen auf einer alten Rangierfläche. Sie ist übersät von den Scherben eingeschmissener Scheiben, alten Büromöbeln, kaputten Reifen, zwei umgestürzten Loren und einer Kaffeemaschine, die bestenfalls in den Siebzigerjahren das letzte Mal geblubbert hat. Nils stupst sie mit dem Fuß an. Dann schüttelt er den Kopf über all das Chaos.
Er kommt zu mir herüber. Ein wenig fröstelnd stellt er sich neben mich. Dann legt er mir freundschaftlich den Arm um die Schulter.
»Was wolltest du hier noch mal machen?«, fragt er schmunzelnd.
»Ökologie«, antworte ich.
I.
Im Herbst 2016, ich war achtundvierzig Jahre alt, traf ich eine mir banal erscheinende, unverändert gültige Entscheidung:
Ich werde, wenn mir meine statistisch vorbestimmte Restlebenszeit von rund dreißig Jahren bleibt, die ökologische Bilanz meines Lebens bis zu meinem Tod ausgleichen. Keine ökologischen Schulden hinterlassen. Oder, mit anderen Worten: Ich will sterben in der Gewissheit, mit meinem Dasein Schaden und Nutzen für das Lebenssystem Erde zumindest in der Balance gehalten zu haben.
Bis dato ist diese Bilanz natürlich tiefrot.
Die Entscheidung für dieses Vorhaben war eine private. Sie war zuvorderst egoistisch motiviert. Ich wollte mein Lebensgefühl verbessern und mein schlechtes Gewissen im Hinblick auf die Frage, was ich meinen Kindern mit meinem Leben hinterlasse, beruhigen. Ich hatte nicht die Erwartung oder gar die Absicht, dass aus diesem Entschluss mehr werden würde als ein, so dachte ich, nicht ganz einfaches, am Ende vielleicht ein wenig eigenwilliges Projekt, das mich Zeit, Energie und Geld kosten würde.
Gut zwei Jahre später, im Dezember 2018, erschien anlässlich der Weltklimakonferenz im polnischen Katowice ein von der US-amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP) verbreiteter, recht langer und bebilderter Artikel über den Zwischenstand meines Vorhabens, der in über dreißig Ländern der Welt in großen Tageszeitungen veröffentlicht wurde. Am Erscheinungstag schrieben mir Freunde, Bekannte und Geschäftspartner, aber auch wildfremde Menschen aus Indien, Singapur, aus China, den USA und Australien, und schickten mir die Zeitungsmeldungen samt Fotos von meinem Hund Emil und mir. Ich las ihre E-Mails und Kommentare und betrachtete die Fotos, die mich staunen ließen. Das fühlte sich surreal an. Als Kind hatte ich davon geträumt, berühmt zu werden, als Fußballer oder als Tennisspieler. Wir alle träumen wohl dann und wann davon. Als Unternehmer und Gründer von PRECIRE Technologies hatte ich im digitalisierungsskeptischen Deutschland dann tatsächlich einiges an medialer Aufmerksamkeit erfahren – meist ungefragt und nicht immer zu meinem Vorteil. Aber dass mich nun ein – aus meiner Warte – banales Vorhaben, nämlich im Tod ökologisch ein halbwegs aufgeräumtes Leben zu hinterlassen, für einen kurzen Moment weltweit präsent werden ließ: Das verstörte mich schon ordentlich. Ich erinnere mich, dass ich abends im Bett noch einige E-Mails und Nachrichten las und dann, nach dem Einschlafen, recht sonderbare Dinge träumte, die mich, unterwegs auf einer Art In 80 Tagen um die Welt-Reise, mehrfach aufwachen ließen, nur um den seltsamen Traum nach dem nächsten Einschlafen fortzusetzen.
Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, dass mein Vorhaben Neugier weckt. Ich finde die Idee dahinter weiterhin unspektakulär. Das lässt mich immer wieder zweifeln, ob mein »Green Zero«, meine grüne Null, tatsächlich so viel Aufmerksamkeit verdient. Aber die Geschichte der Idee und ihrer Umsetzung ist in der Tat ganz unterhaltsam.
Und diese Geschichte beginnt genau genommen so:
II.
Mist.
Es ist ein ganz sanftes Ziehen in der Magengegend, irgendwo hinten-unten zwischen Beckenboden und Zwölffingerdarm, gefolgt von einem leichten Kräuseln meiner Jahr für Jahr wachsenden Stirn, das mir zweifelsfrei signalisiert:
Den Start hatte ich mir wohl deutlich leichter vorgestellt.
Ernüchterung kehrt ein.
Mist.
Unschlüssig halte ich ein Paar brauner Socken in den Händen. Sie haben ihre beste Zeit eindeutig hinter sich. Der Linke scheint mir in Ehren gealtert, mit lichten Flecken dort, wo Hacke und Zehen seit einem ganzen Sockenleben mahlend und scheuernd an meinen Schuhen reiben, eine Art textiler Untergrundkämpfer zahlloser Meetings und Besprechungen, die er geduldig in meinen Schuhen, mal rechts, mal links, verbracht hat, freundlicher Schutz gegen die drohende Fußkälte in Herbst und Winter. Es steht nicht gut um ihn. Ich fühle mit ihm.
Und der Rechte? Oha, denke ich, während ich ihn gegen die Sonne halte, der Rechte ist in seinem Sockenleben noch einen Schritt weiter. Selbst für einen Veteranen der Haute Couture ist er ein trauriger Fall, dreifach gelöchert, mit Knubbeln und Rissen übersät und von schlapper Taille da, wo er sich einst entschlossen an mein Schienbein klammerte, überreif für die Altkleidersammlung oder den Restmüll. Ein bisschen schäme ich mich. War es mangelnde Pflege oder übermäßiger Gebrauch, das falsche Waschmittel oder ein Mangel an Weichspüler, die ihn derart zugerichtet haben? Zur Scham gesellt sich etwas Unwohlsein, und das am frühen Samstagmorgen.
Verflixt.
Das braune Paar ist, bei meinem ersten Griff, eine Zufallsbeute aus dem schubgeladenen Panoptikum meiner Fußkleider, einem wilden Haufen brauner, schwarzer, grüner und – hier muss mich ein modischer Teufel geritten haben – orangener Socken, die bis vor einer Minute einen friedlichen Samstagmorgen in der oberen Schublade meiner Schlafzimmerkommode verbracht haben. Sie reihen sich in der linken Hälfte zu knödeligen Formen irgendwie ineinander gewurstet auf, gefolgt von einer eindrucksvollen Rotte ehemals weißer – jetzt grauer – Sportsocken. Ich zähle acht Paar. Daneben liegen zwei Varianten mehrfarbiger, mehrschichtiger Socken zum Wandern in Braun und Grau, wahrscheinlich, so erkläre ich mir die farblichen Unterschiede, eins für das Flachland und eins fürs Gebirge. Dann drei Paar Socken für die Jagd, dunkelgrün und erschreckend groß, die wie erschlaffte Gummistiefel aussehen, eskortiert von zwei merkwürdigen kleinen Nylondingern, die sich wahrscheinlich aus dem Kleidungsfundus meiner beiden Töchter hierhin verirrt haben. Und während ich noch staune über den Irrsinn dieses eigentlich alltäglichen Anblicks, drängt sich schon vehement der rechte Teil der Schublade ins Blickfeld, in dem die Unterhosen ein großzügiges Terrain besetzen; ich will sie jedoch erst angehen, wenn ich mit den Socken durch bin.
Die Socken ihrerseits geraten nun, so scheint mir, in Unruhe. Ich kann ihre Verwirrung mit meiner eigenen wachsen spüren, denn – ihre penible Zählung steht bevor: die mit neutestamentarischer Konsequenz geführte Eintragung all meiner Socken und Unterhosen in lange Listen, aber auch all meiner Unterhemden, T-Shirts und Pullover, Hosen, Jacken, Mäntel und Westen, einschließlich des Regiments meiner Schuhe und Stiefel und noch all der Schals, Mützen und Hüte, der Handschuhe und Einstecktücher, der Fliegen und Krawatten, der Ersatzschnürsenkel, Anstecker und Abzeichen, der Börsen, Brieftaschen und Etuis, der Schlüsselbunde, Schweißbänder und Schirme. Nun ja, um genau zu sein: schlicht all der Dinge, die ich besitze und die ich, mit der nimmermüden Akribie eines fünfzigjährigen Konsumenten, angeschafft, genutzt, verwahrt, behütet, mehr oder weniger gepflegt, gefaltet, sortiert, gestapelt, verräumt, verlegt und – oft überraschend – vor-, auf- und wiedergefunden habe.
Die Socken sind für mein Vorhaben, für das ich diesen Samstag im Januar schon vor Wochen eingeplant habe, ein ganz mieser Start. Denn schon nach wenigen Momenten meiner Beobachtermission muss ich feststellen, dass dieses Zählen bei Weitem nicht so einfach ist, wie es mir aufgegeben wurde: Einzutragen in lange Excel-Listen sind nämlich »Art des Kleidungsstücks« (»Socke«), »Anzahl« (»2«), »Alter« (ich rate: »24 Monate«) und, und spätestens da sperren sich die braunen Probanden hartnäckig, »Materialzusammensetzung« (»Baumwolle« – und was noch?), »Herkunftsland/-region« (ich habe keine Ahnung), »Herstellungsprozess konventionell« oder »Herstellungsprozess biologisch« (wer weiß denn so was?) und »Nutzungsdauer« (in Monaten; ich gebe beiden noch eine Gnadenfrist von einem Monat und trage »25« ein, weil ich den Tag nicht mit einem Verlust beginnen möchte).
Verzweiflung macht sich breit. Es ist ein Gefühl, wie ein Tennisspiel mit drei Doppelfehlern zu beginnen.
Ich überlege kurz, meine Frau um Hilfe zu rufen – doch sie hat meine Seelenpein quer durch alle Bruchsteinwände unseres alten Hauses längst erahnt. Sie kommt auf knarzenden Stufen die Wendeltreppe zum Schlafraum hinauf, ein die Antwort schon vorwegnehmendes »Und, klappt’s?« auf den Lippen. Sie kennt meine Mission, und sie goutiert sie mit freundlicher Langmut.
Ich schlucke und ringe mit der Formulierung, dann murmele ich in die Schublade:
»Weißt du, woher die Socken sind?«
»Geschenk von deiner Mutter, vorletztes Weihnachten.«
Meine Frau erstaunt mich immer wieder.