UNTER DER
MITTERNACHTS
SONNE
Porträts indigener Gemeinschaften in Kanada
Aus dem kanadischen Englisch von Leon Mengden
Für Coltrane und Suriya
»Ich stelle die Dinge wahrheitsgemäß dar, so, wie ich sie kenne. Ich füge nichts hinzu, und ich behalte auch nichts für mich.«
− PETER PITSEOLAK, People From Our Side
»Fotografien sind eine Art und Weise, die Realität einzufangen … Man kann die Realität nicht in Besitz nehmen; man kann Bilder besitzen − man kann nicht die Gegenwart in Besitz nehmen, aber die Vergangenheit schon.
− SUSAN SONTAG, On Photography
Peter Pitseolak (Inuk) mit seiner 22-x-22-Inch-Kamera, Keatuk, Baffin Island, ca. 1947 (Aggeok Pitseolak)
»Im Gegensatz zu einem Gemälde kann ein Foto durchaus eine andere Bedeutung erlangen − je nachdem, wer es sich anschaut.«
− JOHN BERGER, Keeping a Rendezvous
Jede Fotografie fängt einen ganz bestimmten Augenblick ein, und wenn sie besonders gut gelungen ist, kann sie sogar etwas Unmerkliches auslösen: eine Gefühlsregung, eine empathische Reaktion, gelegentlich auch eine Erkenntnis. Erst dann wird einem bewusst, dass sich hinter dem Bild Geschichten verbergen. Oftmals sind dies längst vergessene Geschichten, aber dann ist doch etwas daran, was uns innehalten lässt – und dann kann das Bild uns noch mehr erzählen.
Man könnte dieses Buch eine Sammlung von Momentaufnahmen aus dem Leben der indigenen Gemeinschaften Kanadas nennen. Genauer gesagt ist es ein Buch mit Fotografien indigener Menschen − zum überwiegenden Teil aufgenommen von nicht indigenen Fotografen, und zwar vorwiegend auf dem Gebiet des heutigen Kanada. Doch handelte es sich dabei nicht um irgendwelche Fotografen, sondern um solche, die sich – aus welchen unterschiedlichen Gründen auch immer – lange genug in einer indigenen Gemeinschaft eingelebt haben, so dass ihre Kameralinse nicht als aufdringlich empfunden wird wie etwa die eines Touristen; man weiß, dass man sich darauf verlassen kann, dass das, was mit dieser Kamera eingefangen wird, nicht gestellt oder verfälscht ist. Neben diesen Fotos finden sich hier auch Bilder der ersten Generation indigener Fotografen – darunter Peter Pitseolak und George Johnston, die Mitte des 20. Jahrhunderts zu den Pionieren der indigenen Fotografie wurden.
Es mag als eine gewisse Ironie erscheinen, dass dieses Buchprojekt uns einerseits bereits vor Jahrzehnten entstandene Fotografien wieder nahebringt, andererseits seinen Anfang in einem von der Kurzlebigkeit und Vergänglichkeit seiner Inhalte geprägten Medium genommen hat – den sozialen Netzwerken. Vor mehr als drei Jahren bemerkte meine Mutter – die das Glück hatte, einer der Internatsschulen, in die der Staat die Kinder indigener Eltern zwangsweise zu stecken pflegte, mit heiler Haut entronnen zu sein – einmal, dass sie es überdrüssig sei, »immer nur Negatives über jene Zeiten zu hören« und dass es auch damals schon »in den indigenen Gemeinschaften positive und ermutigende Dinge gegeben« habe. Daraufhin begann ich, in Archiven nicht nur nach alten Fotos aus der Internatsschulzeit meiner Mutter und anderen Zeugnissen aus der Zeit der Kolonialisierung zu suchen, sondern auch nach solchen Aufnahmen, die eine ganz andere Realität abbilden und die von Integrität, Widerstandsfähigkeit, Kreativität, harter Arbeit, aber auch von Familienleben und Freizeitgestaltung kündeten. Und ich habe sie gefunden.
Mit der Zeit lernte ich, in einzelnen Fotos das Werk ganz bestimmter Fotografen zu erkennen und wurde auch mit verschiedenen indigenen Gemeinschaften zu bestimmten Zeiten ihres Lebens vertraut. Ich brachte in Erfahrung, welche Archive ihre Fotosammlungen inzwischen digitalisiert hatten, welche Museen und Bibliotheken Arbeiten von Fotografen, deren Werk ich gerne näher kennen lernen wollte, in ihrem Bestand führten und welche der noch lebenden Fotokünstler ihre Aufnahmen online präsentierten.
Und als ich selber die Früchte meiner Sammelleidenschaft online stellte, war ich über die Reaktion darauf sehr überrascht. Ich hatte schon erwartet, dass ein paar Leute mir und den Fotos »folgen« und die Bilder »liken« würden, aber mit den Kommentaren, die ich dazu erhielt, hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Viele Internetnutzer hatten die Fotos niemals zuvor zu Gesicht bekommen, doch nun posteten sie Kommentare wie »Das ist ja meine Großmutter!« oder »Das bin ich vor zweiundvierzig Jahren!« Dieser Wiedererkennungseffekt, durch den ich die Namen der Abgebildeten erfuhr, fügte den Fotos eine ganz neue Dimension hinzu, indem die Menschen, die darauf zu sehen waren, ihrer Namen losigkeit entrissen wurden – was wiederum zu einem weiteren, lebhaften Austausch führte. Jeder Tag brachte etwas Neues.
Ich hatte natürlich bereits vom Project Naming gehört, einem Gemeinschaftsprojekt der kanadischen Nationalbibliothek und Nunavut Sivuniksavut (»Ein Ort und eine Zeit, Weisheit zu erlangen«), einer in Ottawa beheimateten nicht staatlichen Organisation, die spezielle Förderprogramme für Inuit-Jugendliche anbietet. So bedeutete es einen weiteren großen Schritt nach vorn, dass ich nunmehr in der Lage war, dem Projekt künftig meine Mit- und Zusammenarbeit anzubieten.
Geschichte hat mich schon immer interessiert, aber ich bin weder studierter Historiker noch Archivar, also gab es auch für mich im Weiteren viel zu lernen. Bisweilen verrannte ich mich, zog Schlüsse, die sich als falsch erwiesen und war dann dankbar, wenn man mich korrigierte. Auch musste ich erfahren, dass man sich auf die Bildtexte in Archiven nicht immer verlassen konnte, was Namen, Orte und kulturelle Identität betraf. Dies waren Lektionen, die ich immer und immer wieder im Geiste aufsagen musste wie ein Mantra: Niemals Vermutungen anstellen. Oder noch schlimmer: Niemals die Bildbeschriftungen durch eigene Schlussfolgerungen ergänzen. Übernimm die Texte so, wie sie sind, doch rechne stets damit, dass sie in vielen Fällen inkorrekt oder ungenau sein dürften. Hoffe darauf, dass irgendwer dort draußen beim Betrachten des Bildes ein Gesicht, einen Berg, ein Gebäude wiedererkennen wird. Und zu guter Letzt: Erwarte das Unerwartete.
Wenn man sich ein Bild von der Vergangenheit macht, ergreift man »Besitz« von ihr. Aber man kann sie damit nicht wieder heraufbeschwören, und auch die Gesamtheit ihrer Geheimnisse wird einem stets verschlossen bleiben. Die Geschichten, die die Bilder in diesem Buch begleiten, entstammen der gelebten Erinnerung. Sie sind das Ergebnis vieler Gespräche oder unzähliger Stunden des Recherchierens in Archiven. Und doch erzählen sie nur einen Teil der Geschichte. Sie gestatten uns einen Blick in die Vergangenheit, vermitteln uns ein Gefühl davon, wie es früher gewesen ist, aber sie ergeben kein vollständiges Bild.
So notierte die Historikerin Mary Scriver in Hinblick auf die Fragen, die sie älteren Angehörigen des Stammes der Blackfeet gestellt hatte, wie auffallend oft die Antwort »könnte sein« gelautet hatte. Ebenso könnten auch diese Geschichten gewesen sein. Damit soll weder der Erinnerung noch zeitgenössischen Berichten ihre Gültigkeit abgesprochen werden, aber es läuft doch auf eine gewisse Erkenntnis hinaus – dass nämlich die Geschichte nur ein kleiner Teil des Bildes ist und das Bild wiederum nur ein kleiner Teil der Geschichte.
Als Edward S. Curtis seinerzeit den Westen und den Nordwesten der USA bereiste, um Fotos von den »amerikanischen Ureinwohnern« zu machen, tat er dies in dem festen Glauben, die »Indianer« und ihre Lebensweise seien im Aussterben begriffen. Er fühlte sich also als Chronist einer untergehenden Rasse. Er suchte nach etwas, was der dem Volksstamm der Anishinabe zugehörige Philosoph und Schriftsteller Gerald Vizenor als »terminal creed« – »Credo der dem Tod Geweihten« – bezeichnete: ein Zustand der Erstarrung. Curtis’ Blick war der eines Außenstehenden und lief somit Gefahr, zur Romantisierung zu neigen. Die Anpassung an die Moderne setzte er mit dem Verlust traditioneller Lebensformen gleich; so führte er stets einen Koffer voller zeitgenössischer Requisiten mit sich, damit auf seinen Bildern auch ja alles so sein konnte, wie es seiner Meinung nach sein sollte.
Wie wir heute wissen, irrte sich Curtis natürlich mit seiner Annahme, die indigenen Menschen und ihre Lebensweise wären dem Untergang geweiht. Recht hatte er zwar damit, dass sich die Bräuche änderten und dass Tätigkeiten wie das Jagen, das Fischen und die Herstellung von Dingen des täglichen Lebens in Handarbeit steten Veränderungen unterworfen waren. Und doch hatte er nicht verstanden, dass das indigene Leben bereits seit jeher von Veränderungen und der Anpassung an diese geprägt gewesen war. Indigenes Leben war stets in Weiterentwicklung begriffen und wird es immer sein.
Die Fotografien in diesem Band entstammen unterschiedlichen Zeiten, zeigen unterschiedliche Landschaften und Menschen unterschiedlicher Stammeszugehörigkeit. Sie zeigen keineswegs bloß, wie alles einmal war, sondern offenbaren uns darüber hinaus auch, wie alles sich verändert. Bei der Auswahl dieser etwas mehr als achtzig Bilder aus Hunderten von in Frage kommenden habe ich den Schwerpunkt auf ein rundes Dutzend Fotografen gelegt, die zumindest über einen gewissen Zeitraum in indigenen Gemeinschaften gelebt und damit zum überwiegenden Teil eine »ehrliche Beziehung« zu ihrem Sujet entwickelt haben.
Was uns ein Foto sagt, hängt davon ab, auf welche Weise wir uns ihm nähern. Betrachten wir es mit dem neugierigen Blick eines Fremden? Oder gehen wir mit einem anthropologischen Ansatz an das Bild heran, wollen etwas über das uns Fremde in Erfahrung bringen? Oder ist unsere Betrachtungsweise intimerer Natur? Erleben wir eine Wiederbegegnung mit nahen oder fernen Angehörigen oder unserem eigenen früheren Leben? Und auch unser individueller Zugang zur Indigenität – ein aus den Begriffen indigen und Identität zusammengesetztes Kofferwort – offenbart sich in dem durch das Bild gesteckten Rahmen. »Aber was bedeutet indigene Identität? Wer definiert das? Eine Regierung, eine Gruppe Leute, ein Einzelner, der Ahnung davon hat?« schreibt der YouTuber Tlakatekatl1). Die in diesem Buch enthaltenen Fotos sind indigen, indem sie Angehörige der First Nations, der Métis – Menschen mit indianischen und zugleich europäischen Vorfahren; Méti ist das französische Wort für Mestize – und der Inuit darstellen. Doch was sonst verbindet diese Menschen? Die Verbundenheit mit ihrem Lebensraum? Die Gemeinsamkeiten im Verständnis von Gemeinschaft und Tradition?
Man kann es sich einfach machen, indem man es verallgemeinert und sagt, dies wären ganz einfach einzelne Personen in einem ganz bestimmten Augenblick ihres Lebens, dass die Örtlichkeiten und die Menschen auf diesen Bildern sich geografisch und kulturell unterscheiden und dass die Unterschiede so profund sind wie die Gemeinsamkeiten. Doch Verallgemeinerungen verstellen den Blick auf die Realität.
Die meisten – wenn auch nicht alle – der in dieser Sammlung vertretenen Fotografen waren sich sehr wohl bewusst, dass ihre Bilder späteren Generationen vermitteln sollten, wie es früher gewesen war. Walter McClintock zum Beispiel war ein Außenstehender, ein Weißer, den die Kultur und die Lebensweise der Blackfeet faszinierte – doch nur insofern, als diese sich mit seinen Vorstellungen von einer im Verschwinden begriffenen Lebensform vereinbaren ließen. Es interessierte ihn nicht besonders, wie die Blackfeet außerhalb der Sommerlager, in denen er seine Fotos machte, lebten. Und doch war ihm ein einfühlsamer Blick zu eigen, so dass ihm bewegende Bilder von Frauen und Kindern gelangen – zu einer Zeit, in der die meisten männlichen Fotografen eher auf »maskuline« Motive erpicht waren wie Jagd- und Kampfszenen.
Peter Pitseolak hingegen war ein indigener »Insider«; ihm ging es darum, das Alltagsleben der Inuit für zukünftige Generationen festzuhalten – wie die Gegebenheiten waren, wie gejagt, gefischt und Behausungen errichtet wurden. Als Bewohner arktischer Gefilde gelang es ihm, später mit Hilfe seiner Partnerin Aggeok Pitseolak, das Problem zu überwinden, fernab jeglicher Stadt und Dunkelkammer Fotos zu entwickeln. Pitseolak kümmerte es nicht, ob auch Außenstehende jemals seine Bilder zu sehen bekamen; McClintock hingegen schuf seine Bilder explizit dafür, dass Außenstehende sie sich anschauten.
Rosemary Eaton wiederum stammte aus England und war nach Kanada ausgewandert, also im wahrsten Sinne des Wortes eine Außenstehende. Doch gerade dies erklärt vielleicht auf eine gewisse Weise, warum sowohl die Angehörigen der First Nations als auch die Inuit sie so sehr faszinierten und sie in vielen ihrer Bilder eine geradezu verblüffende Intimität erreichte. Als eine der ersten Fotojournalistinnen gelang es ihr zudem auf ihre eigene Art und Weise, in eine bis dahin ausschließlich von Männern beherrschte Domäne vorzudringen.
Als an Smartphones und soziale Netzwerke noch lange nicht zu denken war, benutzten wir Fotografien, um uns selber zu definieren und darzustellen, wie wir von anderen gesehen werden wollten. Die jüngsten Fotos in diesem Band stammen aus den 1970er Jahren; zu der Zeit, als die meisten der Bilder entstanden, war ein Fotoapparat also noch ein Novum, in dessen Beherrschung man Zeit investieren musste, und nicht ein kleiner Computer, den man in seiner Hosen- oder Handtasche mit sich herumträgt. Nur auf den Fotos, die George Legrady von der indigenen Gemeinschaft der Cree im Gebiet der James Bay mitbrachte, entdeckt man Personen mit Polaroidkameras in der Hand; diese stellten einen echten Fortschritt dar, denn bis dahin musste man, wenn man einen Film entwickelt haben wollte, diesen in den Süden des Landes schicken und dann Wochen, wenn nicht gar Monate, warten, bis man seine Bilder in Empfang nehmen konnte. Deswegen haben manche indigenen Fotografen, darunter George Johnston im Yukon-Territorium und Pitseolak in der Arktis, damals ja auch ihre eigenen behelfsmäßigen Dunkelkammern gebaut.
Die Aufnahmen in diesem Band stammen entweder aus digitalisierten Sammlungen in Archiven, Bibliotheken und Museen oder aus den Privatsammlungen der Fotografen. Indem ich sie neben Hunderter weiterer Fotos über einen Zeitraum von drei Jahren im Internet postete, gelang es mir, eine treue Gefolgschaft von »Followern« aufzubauen, was meinem Projekt einen ganz entscheidenden Impuls verlieh. Angehörige indigener Gemeinschaften, die diese Fotos zuvor noch nie gesehen hatten, identifizierten darauf nahe und ferne Angehörige neben Freunden und Bekannten – und entdeckten gelegentlich auch sich selber auf einem Bild. Somit setzte ein weiterführender Dialog ein, in dessen Verlauf längst verschüttete Begebenheiten wieder zum Vorschein kamen, und es entstand ein kollektives Narrativ, das weit über das hinausging, was auf dem Foto zu sehen war, indem es ihm nämlich einen Kontext verlieh und es mit einer Geschichte versah, was wiederum zu anderen, im Zusammenhang stehenden Fotos weiterführte. Ohne das Internet wäre es so gut wie unmöglich gewesen, all diese Geschichten zu erfahren und sie zu sammeln. Selbst wenn einem ein unbegrenztes Budget zur Verfügung gestanden hätte, mit dessen Hilfe man all die entsprechenden Regionen hätte bereisen können, wäre doch stets die Frage geblieben, wo mit der Suche zu beginnen sei, an wen man sich zu wenden hätte, wer von den Betreffenden denn überhaupt noch am Leben war und wer sonst noch etwas beizutragen haben würde: Hier haben die sozialen Netzwerke Türen und Tore geöffnet.
»Zu Ehren der Zähigkeit, der Findigkeit und der Entschlossenheit ganzer Generationen. Nein, wir lassen uns nicht vertreiben.« Diese zwei Zeilen standen in dem Tweet oben auf meiner Seite. Drei Jahre und Hunderte von Fotos später habe ich immer noch das Gefühl, auf vielerlei Weise bloß an der Oberfläche gekratzt zu haben. Es gibt da draußen immer noch Fotos, die darauf warten, entdeckt und geteilt und ein weiterer Baustein gelebter Erinnerung zu werden. Indem es sich auf bestimmte Archivquellen und spezifische geografische Regionen, hauptsächlich in Kanada, beschränkt, kann dieses Buch nur eine kleine Auswahl bieten. Eine repräsentative Sammlung von Schnappschüssen aus dem indigenen Leben vom Beginn des 19. bis in die siebziger Jahre des darauffolgenden Jahrhunderts und von Küste zu Küste würde den Rahmen eines einzelnen Buches sprengen. Und letztendlich musste ich eine noch engere Auswahl treffen, indem ich mich auf das Werk bestimmter Fotografen und Foto grafinnen sowie Fotojournalisten und Fotojournalistinnen sowie weiterer Einzelpersonen konzentriert habe, deren Werk eine besondere Beachtung verdient. Bei diesen Aufnahmen, deren Entstehungsdatum länger zurückliegt, musste ich teilweise auf zeitgenössische Quellen zurückgreifen.
Die einführenden Worte zu jedem der acht Kapitel werden meinen Leserinnen und Lesern hoffentlich nützliches Hintergrundwissen vermitteln. Die Geschichten und die Bildtexte stellen den Kontext dar, doch die Fotos müssen für sich selber sprechen.
Rosemary Eaton im Gatineau Park, Quebec (Rosemary Eaton)
James Jerome (Gwich’in), vermutl. Inuvik, ca. 1977−79 (James Jerome)
Wie auch viele weitere Ansiedlungen auf dem Gebiet des heutigen Kanada sind Cape Dorset und das umliegende Territorium weder nach den ursprünglichen Bewohnern dieses Gebietes benannt worden noch nach landschaftlichen Gesichtspunkten oder der dortigen Flora und Fauna.
Stattdessen erhielt Cape Dorset seinen Namen nach Edward Sackville, dem Earl of Dorset unter König Karl I. – ein prominentes Hofmitglied, das nie in seinem Leben einen Fuß auf den nordamerikanischen Kontinent gesetzt hat; von der kleinen Insel Dorset Island ganz zu schweigen. In ähnlicher Manier war auch die Halbinsel, der Cape Dorset vorgelagert ist, nach Captain Luke Foxe benannt worden, einer frühen Inkarnation der englischen Seefahrer, die später hierherkamen, um – vergeblich – nach der sagenhaften Nordwestpassage zu suchen. Dass die hier ansässigen Inuit das Gebiet bereits nach dem hier den ganzen Winter über eisfrei bleibenden Meerwasser Sikusiilaq getauft hatten, wurde selbstredend ignoriert.
Hervorstechendes Landschaftsmerkmal von Dorset Island ist als Teil der Kinngait-Kette eine 243 Meter hohe Erhebung. Kinngait bedeutet auf Inuktitut, der Sprache der Inuit, »hohe Berge« (und ist gleichzeitig der indigene Name für Cape Dorset). Die wunderschöne Landschaft ist geprägt von steilen Kuppen; auch findet man hier einige der ältesten Gesteinsformationen der Erde.
Über einen Zeitraum von mehr als 4.500 Jahren haben indigene Nomadenvölker diese Küstenlandschaft durchwandert und dort ihre Lager aufgeschlagen. In den umgebenden Gewässern wimmelte es nur so von Robben und Walen, und an Land konnte man Jagd auf Karibus (Rentiere) und – abhängig von der Jahreszeit – anderes Wild machen. Die ersten Siedler auf Dorset Island haben sich, so vermutet man, zwischen 1300 und 800 v. Chr. in der Gegend um die heutige Stadt Cape Dorset niedergelassen.
Diese Menschen wussten sich den herrschenden Witterungsverhältnissen offenbar gut anzupassen, denn obwohl das Klima bald sehr viel kälter wurde, als es die Menschen der Prä-Dorset-Kultur erlebt hatten, konnten sie ihre Existenz auch weiter sichern. So entwickelten die Bewohner von Dorset Island außergewöhnliches Geschick bei der Jagd auf gefrorenen Eisflächen; außerdem wird angenommen, dass sie zu den ersten Bewohnern der Arktis gehörten, die sich Iglus bauten. Um 800 v. Chr. erwärmte sich das Klima jedoch wieder, und die gewohnte Lebensweise auf Dorset Island wurde durch eine kürzere winterliche Jagdsaison destabilisiert.
Die unmittelbaren Vorfahren der heutigen Inuit, die so genannten Thule-Eskimos, kamen um das Jahr 1000 n. Chr. in die Gegend. Die steinernen Fundamente ihrer Behausungen sind noch heute überall in der Region zu finden. Die Thule-Kultur konzentrierte sich auf die Jagd – in ihrem Fall auf Meeressäugetiere wie Robben, Walrösser und Narwale. Die Jagd auf sie fand mit Hilfe von Harpunen und von aus Tierfellen gebauten Booten statt. Heute wissen wir auch, dass zu jener Zeit bereits von Hunden gezogene Schlitten ein gängiges Fortbewegungsmittel über Land darstellten, was es den Thule-Eskimos ermöglichte, größere Entfernungen als zuvor und in wesentlich kürzerer Zeit zurückzulegen.
Warten auf das Wasserflugzeug, Cape Dorset, ca. 1960 (Rosemary Eaton)
»Ich war immer schon der Überzeugung, dass die Bewohner von Cape Dorset sich durch eine gewisse übermenschliche Größe auszeichnen, dass ihr Leben sozusagen auf einer großen Leinwand verläuft.«
− JOHN HOUSTON
Drei Druckgrafiker vor dem Cape Dorset Craft Centre, ca. 1960 (Rosemary Eaton)
Mitte des 19. Jahrhunderts stellten sich erste Besucher in Form von Walfängern und Missionaren in der Region ein, und 1913 eröffnete die Hudson’s Bay Company in Cape Dorset eine Außenstelle. Schon bald begann sich um die Handelsniederlassung herum, ein kleines Dorf zu bilden, was zu einer Zufuhr von Gütern und der Einführung neuer Technologien aus dem Süden des Landes führte.
Um die Mitte des 20. Jahrhunderts dann begann eine Zeit einschneidender Veränderungen für die kleinen Ansiedlungen von Jägern in und um Cape Dorset – wie auch für die gesamte arktische Region an sich. Ein zunehmender Rückgang der Karibupopulation verschlimmerte die schon immer herrschende Nahrungsknappheit, während gleichzeitig die Bürokraten der kanadischen Bundesregierung im weit entfernten Ottawa es sich einfallen ließen, immer mehr Inuit-Familien zu »ermuntern«, sich permanent in Cape Dorset niederzulassen. Als zwischen den späten dreißiger und den frühen fünfziger Jahren die Bevölkerung tatsächlich anwuchs, wurden eine Schule gebaut und diverse kirchliche Institutionen eingerichtet. Wie wir später noch sehen werden, hat sich Peter Pitseolak, der bedeutendste Fotojournalist unter den Inuit, als Zeitzeuge jener Umwälzungen inspirieren lassen, sie im Bild festzuhalten.
Die Fotos in diesem Kapitel zeigen die Menschen von Cape Dorset in Zeiten des Wandels. Sie sind das Werk von Rosemary Eaton (geb. Gilliat, 1919–2004) die um 1959/60 einen längeren Zeitraum innerhalb der indigenen Gemeinschaft von Cape Dorset verbrachte. Ihr Aufenthalt fiel zeitlich mit dem Aufblühen der dortigen Künstlerszene, der Einrichtung des Kulturzentrums West Baffin Eskimo Co-operative und der Eröffnung der ersten Druckerei (1958) zusammen. Cape Dorset verwandelte sich von einem unbedeutenden Regierungsaußenposten irgendwo an der Küste in die Geburtsstätte des globalen Phänomens der Kunst der Inuit und einer Generation der indigenen Gemeinschaft entstammender Kulturschaffender, die sich einen legendären Ruf erwerben sollten, indem sie lernten, ihr Handwerk mit neuen Materialien auszuüben. Diese Zeit und die sie prägenden Menschen hat Rosemary Eaton mit ihrem einfühlsamen Blick durch die Kameralinse für alle Zeiten festgehalten.
Vor der West Baffin Eskimo Co-operative, 1961 (Ryan Terrence)
Alma Houston und Andrew Kingwatsiak, Cape Dorset, 1960 (Rosemary Eaton)
ALS DER KÜNSTLER UND SCHRIFTSTELLER JAMES HOUSTON (1921–2005) nach Cape Dorset kam und hier im Herbst 1957 dem ortsansässigen Künstler Kananginak Pootoogook (1935–2010) begegnete, hatte wohl keiner der beiden Männer ahnen können, was einmal daraus werden würde – und schon gar nicht, was dies für die internationale Popularität der Künstlergemeinde von Cape Dorset bedeuten würde. Houston, der in den späten vierziger und den fünfziger Jahren als Verwaltungsangestellter arbeitete, wurde als Regierungsbeauftragter mit der Förderung der Verbreitung der Werke indigener Künstler aus der Region betraut.
Im Zuge meiner Arbeit an diesem Kapitel habe ich mich mit James Houstons Sohn John unterhalten. John war zum Zeitpunkt von Rosemary Eatons Besuch bei den Inuit noch ein Knabe; er wuchs in Cape Dorset auf und verbrachte sein späteres Leben damit, Inuit-Künstler bei ihrer Arbeit zu fotografieren, Artikel über sie zu verfassen und ihre Werke zu propagieren. Während seiner Jugend erlernte er von älteren Gemeindemitgliedern und mit Hilfe von Künstlern wie Pootoogook, Andrew Kingwatsiak und Kenojuak Ashevak (1927–2013) Inuktitut, die Sprache der Inuit. Auf seine Kindheit angesprochen, erklärte John, sich an eine junge Fotografin namens Rosemary zu erinnern, die »immer im Ort herumgehangen« habe.
Das Foto zeigt die inzwischen leider verstorbene Alma Houston (1926–1997) mit Andrew Kingwatsiak. Kingwatsiak war der Vater von Iyola Kingwatsiak (1933–2000), einem der ersten Druckgrafiker in Cape Dorset und ein äußerst talentierter Steinmetz, der sich auch als Bildhauer einen Namen gemacht hat. Entstanden ist das Bild 1960 in Cape Dorset, und Alma Houston und ihr damaliger Mann, James Houston, hatten gerade entscheidend dazu beigetragen, auf der benachbarten Baffininsel die West Baffin Eskimo Co-operative ins Leben zu rufen – die Geburtsstätte dessen, was heute als zeitgenössische Inuit-Kunst international Anerkennung findet. Alma und Kingwatsiak verband schon bald eine herzliche Freundschaft, was sich auch in ihrer Körpersprache deutlich bemerkbar macht. Rosemary Eaton hat einen Moment der Zuneigung, des Respekts und der gegenseitigen Bewunderung eingefangen.
Vielleicht ist es aber auch der Augenblick eines liebevollen Abschieds, denn Alma Houston wird schon bald für ein Jahr nach England zurückkehren und danach in Ottawa ein neues Leben beginnen. Von Almas Sohn John wissen wir, dass seine Mutter große Stücke auf Kingwatsiak hielt und in ihm einen Weisen sah – heute würden wir wohl von einem väterlichen Freund reden. Zu diesem Zeitpunkt seines Lebens war Kingwatsiak bereits körperlich beeinträchtigt und benötigte zum Gehen einen Stock. Während der langen Wintermonate konnte er sich mit einem kleinen, von einem einzigen, aber dafür großen und kräftigen Hund gezogenen Schlitten fortbewegen. »Während wir darüber sprechen, sehe ich sie noch richtig vor mir, wie sie im Ort unterwegs sind«, erzählte John. »Er wurde also von diesem großen, treuen Hund gezogen, aber seinen Gehstock behielt er immer in der Hand, und so fuhr er dann bei uns zu Hause vor. Meine Mutter hatte ein Arrangement mit ihm getroffen, so dass ich jeden Tag, wenn ich von der Schule nach Hause kam, dort auf Kingwatsiak traf, der gerade hineingebeten wurde.«
Die jungen Inuit-Frauen, die im Haus der Houstons angestellt waren, halfen Kingwatsiak die Stufen hinauf und dann in das Kinderzimmer, wo er sich in einem bequemen Sessel niederließ. Hier wurde ihm Tee mit Haferkeksen serviert – nebst Gläsern mit Robertson’s Himbeer- und Erdbeerkonfitüre. Sodann gab Kingwatsiak Geschichten aus seinem Leben und dem seiner Vorfahren zum Besten und erzählte vom Leben in der Arktis lange vor der Gründung von Cape Dorset. Obwohl er zu dieser Zeit höchstens fünf oder sechs Jahre alt war, konnte John doch bereits verstehen, was Kingwatsiak auf Inuktitut sagte, und was der alte Mann zu erzählen hatte, beeindruckte den Jungen so sehr, dass er es sein ganzes Leben lang nicht vergessen sollte. »Es war wundervoll, mit welcher Engelsgeduld er sich meiner annahm. Und was meine Mutter betraf, so war sie überzeugt davon, dass ich einen enormen Nutzen daraus zöge, ihm zuzuhören.«
Alma Houston betrachtete Kingwatsiak als einen Bewahrer uralter Weisheiten, als einen Mann von profundem Wissen. Eine weitere bei derselben Gelegenheit entstandene Aufnahme zeigt Alma, wie sie Kingwatsiak hilft, das Abzeichen, das er an seiner Jacke trägt, daran zu befestigen. Es sieht aus, als könne es ein Abbild von König Georg V. darstellen; möglicherweise war es Kingwatsiak verliehen worden, um ihn dafür auszuzeichnen, dass er einigen Walfängern das Leben gerettet hatte.
»Wenn ich mich recht erinnere«, sagte John dazu, »hat er die Auszeichnung von König Georg V. bekommen und war sehr stolz darauf – und das mit Recht. Er war so ein guter Geschichtenerzähler; wir hatten damals unsere eigene Art von Humor, und wenn wir alle zusammensaßen, konnten wir nicht genug davon kriegen und haben immer wieder von ihm verlangt, dass er uns erzählt, wie sein Besuch am Hofe gewesen war, worauf er stets mit ›Nun ja, nun ja‹ antwortete und wir dann wissen wollten, wie sie denn so wären, die Leute am Königshof, wie sie sich so gäben … ›Nun ja‹, sagte er dann, ›ein König zum Beispiel, ein König geht nicht wie ein normaler Mensch, ein König geht mehr … so wie hier …‹« Und dann ahmte Kingwatsiak zum Ergötzen seines Publikums den königlichen Gang nach.
Auf dem ersten Foto hält Alma ein kleines Stück Papier in der Hand; John erinnert sich, dass sie stets bestrebt war, Inuktitut zu erlernen – eine Sprache, in der sie sich bis zu ihrem Tod im Jahre 1997 zu unterhalten pflegte. »Wenn während eines Gesprächs unvermeidlicherweise mal das eine oder andere Wort aufkam, das sie nicht kannte, schrieb meine Mutter sie sich immer auf, um Kingwatsiak dann später nach deren Bedeutung zu fragen.«
Alma Houston war erst die zweite nicht zu den Inuit gehörende Frau, die die immerhin 1600 Kilometer lange Baffininsel mit dem Hundeschlitten komplett durchquerte. Der kanadisch-arktische Archipel hinterließ einen ebenso unauslöschlichen Eindruck auf sie wie ihre Begegnungen mit Kingwatsiak, dem »Bewahrer der Weisheit«.
Kenojuak Ashevak (Inuk) beim Zeichnen, Cape Dorset, 1960 (Rosemary Eaton)
Kenojuak Ashevak verlässt mit ihrem Sohn Adamie Ashevak ihr Zelt, Cape Dorset, 1960 (Rosemary Eaton)
KENOJUAK ASHEVAK WAR EINE SCHLÜSSELFIGUR der aufkeimenden Künstlerszene von Cape Dorset. Als dieses Foto, das sie beim Verlassen ihres Zeltes mit ihrem Sohn Adamie zeigt, 1960 aufgenommen wurde, war ihr Stern bereits rapide im Aufgehen begriffen. Neben Kananginak Pootoogook war sie die treibende Kraft der dortigen Künstlerkooperative, in deren Räumen sie von den ersten Anfängen bis zu ihrem Tod im Jahre 2013 jedes Jahr ihre Werke ausstellte und wo ihre Arbeiten sich stets außergewöhnlich gut verkauften. So wurde aus ihr die vermutlich bekannteste Inuit-Künstlerin überhaupt; ihre Bilder Enchanted Owl (»Verzauberte Eule«) und Return of the Sun (»Rückkehr der Sonne«) wurden als Motive für kanadische Briefmarken ausgewählt, und 1999 legte die kanadische Münzprägeanstalt eine Vierteldollarmünze mit Kenojuak Ashevaks Red Owl (»Rote Eule«) auf. Als Gründungsmitglied und frühe Anteilseignerin verschaffte sie mit ihrem sehr gefragten Werk der aufstrebenden Künstlerkooperative wertvolle Einkünfte und war somit von Cape Dorset und dessen kreativem Umfeld von Anfang an nicht mehr wegzudenken. Wie John Houston treffend bemerkte: »Die Inuit (von Cape Dorset) haben ein paar Dinge ziemlich schnell kapiert; dazu gehörte, dass die Kooperative eine Art Erweiterung der ohnehin zeitlosen Art und Weise des Inuit-Lebensstils darstellte, eine praktische Anwendung des traditionellen Wissens der Inuit.« Und zu diesem Wissen gehört eben auch die Erkenntnis der Notwendigkeit und des gegenseitigen Nutzens der Zusammenarbeit in der arktischen Weite.