Cover

Das Buch

Joe stand auf einmal so dicht vor mir, dass mein Herz schneller schlug. Kurz spürte ich seinen Atem auf meiner Wange, und ich nahm den Duft wahr, der ihn umgab. Er roch nach einer Mischung aus Kräutern, ätherischen Ölen und einem Hauch salziger Meeresbrise. Für einige Sekunden stand ich ganz still und hinterfragte dieses warme Gefühl der Vertrautheit nicht, das er in mir auslöste …

Ein endlos langer Sommer steht Mia bevor: Mit frisch gebrochenem Herzen soll sie die Ferien bei ihren Verwandten auf Whidbee Island verbringen. Mia ist wild entschlossen, Sonne, Meer und Strandleben zu ignorieren – bis sie den geheimnisvollen Joe trifft. Mit seinen tiefen dunklen Augen und dem traurigen Lächeln ist er ihr vom ersten Moment an seltsam vertraut. Nach einem ersten magischen Date zwischen ihnen ist es um Mia geschehen. Doch als Joe und Mia sich näherkommen, holen sie die Schatten der Vergangenheit ein …

Die Autorin

Tanja Voosen wurde 1989 in Köln geboren und schreibt seit ihrem Abitur Kinder- und Jugendbücher. Neben ihrem Vollzeitjob als Dosenöffnerin für ihren Kater Tiger lässt sie sich gerne von ihrer Schwester zu verrückten Abenteuern überreden oder kauft ständig neue Hüte. Wahre Magie besteht für sie aus guten Geschichten, einer Tasse Kaffee und lustigen Gesprächen mit ihren Freunden. Heute lebt und arbeitet sie in der Eifel und ist immer auf der Suche nach neuer Inspiration. Zuletzt bei Heyne fliegt erschienen: My First Love und My Second Chance.

TANJA VOOSEN

Roman

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Copyright © 2020 by Tanja Voosen

Copyright © 2020 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Diana Mantel und Martina Vogl

Gestaltung der Karte: t.mutzenbach design, München

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München,

unter Verwendung diverser Motive von Shutterstock

© mythja, Allgusak, TatianaKost94, icemanphotos,

lavendertime, umiberry, OHishiapply

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-26086-6
V001

www.heyne-fliegt.de

Für meine Schwester Steffi. Meister-Fotografin, Natur-Abenteurerin, Instagram-Weisheiten-Teilerin, Holzkunst-Talent, Witzige-Sprücheklopferin, Eulen-Freundin, Tiger-Ersatzmama, Laut-Im-Auto-Mitsingen-Karaoke-Partnerin und Bis-Ans-Ende-der-Welt-Gemeinsam-Gehen-Komplizin. Mit dir lässt sich jeder Fluch brechen.

PLAYLIST

»I Lost Myself« – Munn

»Whatever It Takes« – Imagine Dragons

»I Don’t Know If We Can Be Friends« – Hollyn

»This Is On You« – Maisie Peters

»Tourist In This Town« – Maddie & Tae

»Girl« – Maren Morris

»The Optimist« – Evie Irie

»21st Century Machine« – Catie Turner

»Happy« – Julia Michaels

»Agape« – Bear’s Den

»Shake It Off« – Taylor Swift

»Hard Boy« – Frawley

»Kissing Other People« – Lennon Stella

»I Warned Myself« – Charlie Puth

»Sunflower« – Harry Styles

»A Thousand Bad Times« – Post Malone

»Easy« – Billy Lockett

»Lonely House« – Munn

»Alone, Pt. II« – Alan Walker & Ava Max

»Side Effects« – Carlie Hanson

»Dancing« – laye

»Dream Of You« – Camila Cabello

»Down In Flames« – AJ Mitchell

»Blackout« – Danielle Bradbery

»Falling Like Stars« – James Arthur

»Lover« – Taylor Swift

»If That’s Alright« – Dylan Dunlap

PROLOG

Angst klammerte sich um mein Herz, und es fühlte sich an, als würden kalte Finger es jede Sekunde zerbrechen. Beim Anblick der scharfen Klippen wurde mir schwindelig, und ich spürte die Erschöpfung in jedem Zentimeter meines Körpers umso deutlicher. Eisiger Wind zog und zerrte an mir, als wollte er, dass ich mich meinem Schicksal ergab und mich freiwillig in die stürmischen Fluten stürzte. Doch da war das Schiffswrack in der Ferne, das ich schon einmal gesehen hatte. Es ragte nur ein winziges Stück über die Klippen hinaus, aber ich wusste sofort, dass ich mich dem Ort näherte, von dem die Hexe gesprochen hatte. Die Schmugglerhöhle. Ein winziger Funke Hoffnung keimte in mir auf.

Der Regen wurde nun dichter, und ich hielt schützend einen Arm über meine Augen. Nur mühsam kam ich voran, erreichte schließlich eine unförmige Treppe, die an einer Stelle in den kantigen Stein geschlagen war. Das Geländer war rostig und bot wenig Halt. Immer wieder rutschten meine Stiefel auf den feuchten Stufen ab. Steine knirschten wie Scherben unter meinem Gewicht, als ich es nach unten schaffte und mich der Höhle über den steinigen Strand näherte. Das Meer trieb schäumende Wellen zum Ufer, die tobten und miteinander verschmolzen. Alles war so schrecklich laut, und meine Sinne waren wie betäubt. Doch ein Gefühl kämpfte gegen meine Angst an, war stärker als sie:

Liebe. Ich liebte ihn. Trotz allem, was geschehen war.

Deshalb musste ich es finden. Das war unsere einzige Chance.

Ich tastete mich an der Felswand entlang, bis ich den Eingang der Höhle, die wie ein dunkles, totes Auge in der Klippe hing, fand. Jeder Muskel in mir schrie vor Schmerz. Halt durch, nur noch ein bisschen! Dunkelheit verschluckte mich, während ich mich ins Innere der Höhle vorwagte. Ich hatte mich nie für besonders dumm oder mutig gehalten, und nun fragte ich mich, ob beides nicht dasselbe war. Aber ich konnte nicht aufgeben. Nicht jetzt! Vorsichtig tastete ich mich voran und trat mit einem Mal ins Leere. Ich verlor das Gleichgewicht, fiel und schlug gegen etwas Hartes. Plötzlich war überall Wasser, das mir die Luft raubte. Meine Lungen brannten wie Feuer, als jeglicher Atem ihnen entwich.

Nun war alles vorbei. Ich würde sterben.

Das Letzte, woran ich dachte, war sein Gesicht.

Er hatte mich vor dem Dalca-Fluch gewarnt.

Und jetzt würde ich ihn nie wiedersehen.

Dann.

Wurde.

Meine.

Ganze.

Welt.

Tiefschwarz.

Teil 1

Whidbee Island

KAPITEL 1

Die Fähre hatte erst vor wenigen Minuten abgelegt, und ich wäre schon jetzt am liebsten über die Reling gesprungen und das Stück zum Festland zurückgeschwommen. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Den ganzen Sommer auf einer Insel verbringen! Ich! Auf solchen Inseln gab es Sandstrände, blauen Himmel und überall lächelnde Touristen, die das Abenteuer ihres Lebens suchten. Da gehörte ich ganz bestimmt nicht hin. Seufzend nahm ich mein Handy aus der Jackentasche, um meine Musik lauter zu drehen. Munn sang mir gerade ins Ohr, dass sein Herz an zwei Orten gleichzeitig war, und genauso fühlte ich mich auch. Nicht zuletzt wegen des Hintergrundfotos, das für einige Sekunden aufleuchtete. Ich hatte es einfach nicht über mich gebracht, es zu löschen. Seufzend entsperrte ich das Display und starrte in mein eigenes, lächelndes Gesicht, an der Seite von Franklin. Dabei war an dem Tag so ziemlich alles schiefgelaufen. Platter Autoreifen, der Kinofilm ein Reinfall und unser Lieblingsrestaurant hatte unerwartet geschlossen. Unser Katastrophen-Date. Und gleichzeitig das allerschönste. Jemanden zu vermissen war das grausamste Gefühl. Allein seinen Namen zu denken tat weh. Mit hämmerndem Herzen öffnete ich die Einstellungen, zögerte dann aber. Du kannst das, gib dir einen Ruck! Immerhin trug mich gerade eine Fähre weit, weit weg von allem, und mehr Abstand konnte ich nun wirklich nicht zwischen mich und die vergangenen Monate bringen. Ich holte tief Atem und scrollte durch die Bildergalerie mit meinen Lieblingsfotos. Die hatte ich mir viel zu lange nicht mehr angesehen – dabei war ich auf einige echt stolz. Kurzerhand wählte ich das mit dem Sonnenblumenfeld aus, und mit einem Knopfdruck waren Franklin und ich Geschichte.

Zumindest unser Foto. Wieso fühlte sich das nur so furchtbar an?

Meine Playlist endete mit diesem Song, da hörte ich schon meine Geschwister.

»Elise, komm mal! Ich glaube, Mia will vom Schiff springen.«

Mein Bruder Tucker tauchte neben mir auf, die blonden Haare zerzaust vom Wind. Ich wollte gar nicht wissen, wie ich erst aussah. Denn während er und meine Schwester sich im Inneren des Schiffs aufgehalten hatten, war ich draußen geblieben und hatte dabei zugesehen, wie der weiße Leuchtturm von Mukilteo immer kleiner geworden war. Meine eigene Frisur musste inzwischen Vogelscheuchen-Status erreicht haben. Vielleicht passte sich mein Aussehen aber auch nur meinem Inneren an: das Chaos auf zwei Beinen.

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Elise. Sie war Tucker anscheinend gefolgt und stand nun links von mir. »Mia weiß, dass sie keine Meerjungfrau ist.«

»Wieso sollte denn eine Meerjungfrau von einem Schiff springen?«, fragte Tucker.

»Na, in dem einem Netflix-Film hat sie es getan, um jemanden zu retten.«

»Mia kann nicht mal ein Spiegelei retten, wenn es anbrennt«, meinte mein Bruder.

Genervt nahm ich meine Kopfhörer ab. »Ich kann sehr wohl kochen!«, empörte ich mich. »Ohne mich würdet ihr zwei regelmäßig verhungern. Und überhaupt, ich genieße nur den Ausblick auf …«, einen Ozean voller Tränen, von Mädchen wie mir, die irgendwelchen Jungs nachtrauerten, »… das wunderschöne Meer.«

»Pah! Verhungern!«, grummelte Tucker. »So oft sind Mom und Dad jetzt auch nicht weg. Und alles, was du kochst, ist angebrannt oder versalzen, also bitte.«

Manchmal hatte ich das Gefühl, seitdem er sechzehn geworden war, wurde er von Tag zu Tag unausstehlicher. Da war Elise mit ihren vierzehn um einiges ruhiger.

»Besser als jeden Tag nur Pizza«, erwiderte ich.

»Ich finde dein Essen lecker«, kam Elise mir zu Hilfe. Sie sah mich an und gab mir dann einen leichten Stupser. »Du machst die ganze Zeit das Du-weißt-schon-was-Gesicht.«

»Beim letzten Blick in den Spiegel war ich noch nicht Voldemort.«

»Sie meint dein Mein-Freund-hat-mit-mir-Schluss-gemacht-Gesicht.« Tucker betrachtete mich kopfschüttelnd. »Dabei ist das Ganze jetzt schon drei Monate her.«

»Mein Herz ist aber immer noch gebrochen«, sagte ich leise.

Wäre echt schön, wenn man nur drei Monate warten müsste, danach aufwachte und die Welt wieder in Ordnung wäre. So war das aber nicht! Gut, dass gerade niemand mitbekommen hatte, wie viel Überwindung es mich gekostet hatte, mein Hintergrundbild zu ändern.

»Mir hat man beim Fußball mal das Bein gebrochen, und ich lebe auch noch.« Mein Bruder verschränkte nun die Arme vor der Brust. »Wenn das wieder heilt, tut es dein Herz genauso. Hör auf zu jammern, oder ich schmeiße dich höchstpersönlich über Bord.«

»Tucker hat nicht ganz unrecht«, stimmte Elise ihm, wenn auch etwas gutmütiger, zu. »Du hast bestimmt noch das Foto von Franklin und dir auf dem Handy, oder?«

Wann hatten die beiden eigentlich beschlossen, sich zu verbünden?

»Absolut nicht.« Stolz präsentierte ich ihnen das Bild des Sonnenblumenfelds.

Elise hob skeptisch eine Augenbraue, und ehe sie noch etwas fragen konnte, wandte ich den Blick aufs Wasser. Es war so klar und blau wie Franklins Augen, die stets mit ihm um die Wette gestrahlt hatten, wenn er lachte. Ob er gerade auch an mich dachte? Sein Herz innehielt, wenn er zufällig meinen Namen hörte? Wahrscheinlich nicht. Der war jetzt irgendwo mit den anderen, genoss seine Sommerferien und hatte vergessen, dass ich existierte. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich ihn mir genau vorstellen. Nicht die Bohne gequält von irgendwelchen Gedanken oder innerlich vor Wut am Schreien.

»Jetzt hört auf euch zu sorgen. Das ist meine Aufgabe«, murmelte ich.

Ich drehte mich um und lehnte mich gegen das Geländer. Die weißen Plastikbänke um uns herum waren bis auf ein altes Ehepaar leer. Viele der Leute, die nach Whidbee Island wollten, hatten ihr Auto auf der Fähre und hielten sich woanders auf. Es war ewig her, dass Mom und Dad uns den ganzen Weg von Portland bis nach Seattle gefahren hatten, damit wir die Fähre zur Insel nehmen konnten. Früher hatte unsere Familie hin und wieder Urlaub bei Tante Sutton gemacht, aber dann hatte es diesen Riesenstreit zwischen ihr und Dad gegeben, und seitdem hing der Familiensegen schief. Tat er noch immer, aber da unsere Eltern die ganzen Sommerferien über im Ausland arbeiten würden, blieb ihnen nichts anderes übrig, als uns Tante Sutton anzuvertrauen. Auf die Farm unserer Großeltern in Kentucky hätten Mom und Dad uns mit keinem Bestechungsversuch der Welt bekommen. Ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. »Wird schon.«

»Du machst immer noch dein Es-ist-Schluss-Gesicht«, sagte Tucker.

Ich verdrehte die Augen. Tucker kannte manchmal kein Taktgefühl! Dann ignorierte ich ihn eben – damit konnte man ihn nämlich ordentlich ärgern. Und zack! Drehte ich mich einfach um und streckte die Arme von mir. Bitte, lass den Sommer besser werden als diese Überfahrt!

»Wenn du jetzt noch schreist, dass du der ›König der Welt bist‹, schubse ich dich wirklich da runter«, murmelte Tucker. Er entfernte sich, weil er wohl genug von mir hatte.

Salzige Meeresluft stieg mir in die Nase, und das Rauschen der Wellen unter dem Bug der Fähre hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Für einen winzigen Augenblick hatte ich das Gefühl, mich etwas entspannen zu können. Früher hätte ich solche Momente immer sofort mit einem Foto verewigt, aber das war nun vorbei. Meine alten Freunde hatten es wahnsinnig toll gefunden, dass ich für die Jahrbuch AG fotografierte, und mich ständig gebeten, sie zu knipsen. Das ganze Lob für die coolen Fotos hatte mir total geschmeichelt, aber wozu noch Erinnerungen festhalten, wenn sie sowieso niemand mehr mit mir teilte? Ich schüttelte mich. Puh, war ich heute vielleicht melodramatisch! Fehlte nur noch so ein Sprecher aus dem Off, der mein Elend kommentierte. Wobei ich das schon recht gut selbst hinbekam: Da steht sie, das Herz-Chaos-Mädchen, drei Monate nach der Trennung ihres Ex-Freundes, ihrer Clique und ihres Lebens. Badaaaaam!

Positive Gedanken, Mia! Positiv!

Ich würde meine Cousine Lila wiedersehen … die Insel nach all der Zeit neu kennenlernen, und vielleicht, ja vielleicht würde echt alles gut werden!

Und dann kackte mir eine Möwe auf die rechte Schulter.

»Plot-Twist! Die Möwe scheißt auch auf deine Laune!«, rief Elise frech.

Sofort verflogen meine positiven Gedanken. »Das ist nicht lustig!«

»Ich habe mal gehört, so was soll Glück bringen«, ruderte Elise zurück.

»Ach, echt? Dann gebe ich dir was vom Glück ab!«, sagte ich.

Elise kreischte, als ich sie packen wollte, und wir beide jagten einige atemlose Sekunden auf dem Deck hin und her, bis wir am anderen Ende der Fähre ankamen und unter dem Blick eines uniformierten Mitarbeiters stoppten. Schnell taten wir so, als hätten wir uns schon die ganze Zeit brav an die Regeln gehalten. Über die Lautsprecher kamen nämlich alle paar Minuten Sicherheitsansagen, und wildes Herumtoben fiel da natürlich direkt durch. Ich wuschelte meiner Schwester durch ihr langes, honigblondes Haar und verschwand auf die Toilette, um das »Glück« aus meiner Jeansjacke zu waschen. Beim Blick in den winzigen Spiegel über dem Waschbecken wurde ich kurz traurig. Wann hatte ich das letzte Mal so richtig gelacht? Aus vollem Herzen? Ging das überhaupt, wenn das Herz an zwei Orten festhing? Würde ich meine andere Hälfte jemals wiederbekommen?

Ich wusch mir die Hände und verließ die Kabine, um wieder an Deck zu gehen. Inzwischen hatten sich einige Menschen an der Reling versammelt, denn allmählich kam Whidbee Island in Sicht. Als ich mich neben Elise und Tucker stellte, der wieder aufgetaucht war, überkam mich ein merkwürdiges Gefühl von Sehnsucht.

Am Himmel waren nur wenige Wolken zu sehen, und die Sonne brachte das Wasser zum Glitzern. Der Rand der Insel war grün umsäumt, und in der Ferne waren die Umrisse des Gebirges und der Wälder des Deception Pass State Parks auszumachen. Je näher die Fähre der Insel kam, desto mehr der Häuser entlang des Strandes konnte man erkennen. Kleine und große, die meisten im selben eintönigen Grau, mit weißer Veranda. Zahlreiche Segelboote und andere schmale Schiffe schipperten an uns vorbei. Die Mukilteo-Fähre drosselte ihre Geschwindigkeit und machte sich bereit anzulegen.

»Lasst uns mal das Gepäck holen«, sagte ich bestimmt.

Das kannte ich schon aus anderen Urlauben, meine Geschwister standen ewig herum und vergaßen dabei völlig, sich ihre Sachen zu schnappen. Letzten Winter wäre Tuckers Koffer nach unserem Flug auf dem Gepäckband fast wieder abgetaucht, hätte ich nicht aufgepasst. Wenn ich ehrlich war, störte mich das nicht mal so sehr. Solange es Dinge gab, die ich für die beiden tun konnte, fühlte ich mich gebraucht. Und wer wollte nicht gebraucht werden? Besonders nach meiner Trennung waren es diese winzigen Gesten gegenüber anderen, die mir halfen, mich nicht unsichtbar und vergessen zu fühlen.

An den Schließfächern sorgte ich dafür, dass wir alles beisammenhatten, und ging voraus. Obwohl wir die kompletten Ferien bei Tante Sutton und Lila verbringen würden, reisten meine Geschwister und ich mit leichtem Gepäck. Ein Koffer und dazu ein Rucksack hatten längst nicht für all mein Zeug ausgereicht, aber Mom und Dad waren der Meinung gewesen, dass wir schließlich nicht auswanderten. Sie hatten leicht reden! Aufgrund ihres Jobs als Kostümbildner an Filmsets waren sie es gewohnt, häufiger und manchmal auch spontan für längere Aufenthalte zu packen, und darum wahre Profis darin!

Irgendwie schafften wir es, uns als die Ersten von der Fähre zu schmuggeln.

Ein »Willkommen auf Whidbee Island«-Schild begrüßte uns, und Tucker fischte sofort sein Handy heraus, um ein Selfie davon zu schießen. Er verzog das Gesicht.

»Das sieht doof aus! Mia, kannst du eins machen?«, fragte er.

Ich tat ihm den Gefallen. Dann zögerte ich. »Sollen wir … alle zusammen eins machen?«

Elise strahlte. »Ja, gerne!«

Ich drückte mich an meine Geschwister, und wenige Sekunden später war das erste Foto seit langer Zeit im Kasten, das ich nur aus Spaß gemacht hatte. Na gut, genau genommen war Tuckers Foto zuerst dran gewesen, aber … es fühlte sich schön an, so was Normales zu machen.

»O Mann! Kein Empfang«, maulte Tucker kurz darauf.

So wie ich ihn kannte, wollte er sicher all seinen Freunden unter die Nase reiben, dass er Ferien auf einer waschechten Insel machte, während sie in Portland festsaßen. Elise und ich sahen zu, wie unser Bruder sich bei dem Versuch, besseren Empfang zu bekommen, streckte und dann fast über seinen Koffer gestolpert wäre. Elise kicherte los, und ich stieß insgeheim ein schadenfrohes ›Ha!‹ aus. Das war die Strafe für seine nervigen Sprüche, falls es so was wie Karma gab!

Gemeinsam gingen wir weiter und zogen unser Gepäck hinter uns her.

Die Fähre hatte uns nach Binton gebracht, eine der Hafenstädte der Insel, wir mussten jedoch noch ein Stück weiter. Normalerweise wären wir einfach in einen der kostenlosen Busse gestiegen, welche die Touristen kreuz und quer über die Insel brachten, aber Tante Sutton hatte darauf bestanden, uns abzuholen. Sie und Lila lebten in Seawink, knapp sechs Meilen vom Anlegehafen entfernt, also bloß einen Katzensprung. Allerdings wunderte ich mich kein Stück, als Tucker, Elise und ich am abgemachten Treffpunkt – gegenüber einem Coffeeshop namens Honeymoon Bay – ankamen und weit und breit keine Tante Sutton zu sehen war. Sich zu verspäten war einfach typisch für sie.

Ich schmunzelte. Manche Dinge veränderten sich nie!

Elise hatte sich bereits auf eine Bank gesetzt und ein Buch aus ihrem Rucksack geholt, das sie zu lesen begann. Tucker drückte wie ein Besessener auf den Tasten seines Handys herum, als würde er dadurch sein Foto eher versendet bekommen. Ich fuhr mir mit den Fingern durch mein schulterlanges Haar und versuchte, es ein wenig durchzukämmen. Im selben Moment kamen zwei Jungs in meinem Alter aus dem gegenüberliegenden Coffeeshop. Der eine war groß und dunkelhäutig, der andere hatte eine lässige Sturmfrisur und trug eine Brille. Hand in Hand gingen sie ein Stück die Straße hinunter und stiegen dann in einen weißen Toyota. Plötzlich überkam mich eine unendliche Traurigkeit, fast wie eine Welle, die mich von den Füßen riss. Coffee-Dates und fröhlich Händchen halten. Das hatte ich vor einer Weile auch noch gehabt. Ich kam mir so blöd vor, aber diese kurze Beobachtung reichte schon aus, um der kleinen Freude von eben einen Dämpfer zu versetzen. So war das ständig. Im einen Moment hatte ich das Gefühl, es würde bergauf gehen, und im nächsten schlugen tausend Erinnerungen über mir zusammen.

Hoffentlich sorgte dieser Sommer dafür, dass es nur noch bergauf ging.

KAPITEL 2

Tante Sutton ließ uns ganze fünfunddreißig Minuten warten. Hektisch kurbelte sie das Wagenfenster herunter, als sie endlich zu uns einbog. »Es tut mir so leid!«, entschuldigte sie sich. Dann sprang sie aus dem Wagen und drückte uns alle nacheinander an sich. »Geraldine wollte einfach nicht anspringen!« Sie deutete auf den knallroten Jeep. »Geht es euch gut?«

»Wir wurden fast entführt«, antwortete Tucker todernst.

»Entführt? Du?« Tante Sutton lachte. »Dich würde man nicht mal entführen, wenn es Elise und Mia gratis obendrauf geben würde. Oder einen Sack voller Goldmünzen.«

Die Lachfältchen um ihre Augen, die braunen Locken und ihre silbernen Creolen – genauso hatte ich sie in Erinnerung behalten. Und natürlich ihr Sinn für Humor. Tucker war schon immer eine echte Nervensäge mit blöden Sprüchen gewesen, und sie hatte es jedes Mal geschafft, ihn mit ihrer Schlagfertigkeit zum Verstummen zu bringen.

»Er spielt nur die Drama-Queen, weil er keinen Empfang hat«, sagte ich.

»O nein! Teenager ohne WLAN! Schlimmer als Zombies.«

»Ich kann euch hören«, murrte Tucker.

»Wer austeilt, muss eben auch was einstecken können«, erwiderte ich. »Und das war ja noch harmlos, wenn du loslegst, hast du eine richtige Teufelszunge.«

»Tucker Teufelszunge. Das passt«, meinte Tante Sutton erheitert.

»Hey!«, beschwerte sich Tucker.

»Es ist so schön, euch alle wiederzusehen!« Unsere Tante strahlte uns an. »Ihr seid alle so erwachsen geworden. Wie lange ist es jetzt her, dass wir uns gesehen haben?«

»Das war vor zwei Jahren, an Weihnachten«, sagte Elise.

»Ich meine, dass wir uns hier gesehen haben!« Tante Sutton breitete die Arme aus, als wolle sie als Nächstes die ganze Insel umarmen. »Wir haben gemeinsam so viele schöne Dinge auf der Insel erlebt.«

Ehrlich gesagt erinnerte ich mich nur zu gut daran, wie lange es her war – und wie es endete. Ich war damals dreizehn gewesen und hatte mit Lila bis spät in die Nacht hinein einen Gruselstreifen geschaut, woraufhin ich kein Auge mehr zugemacht hatte. Während meine Cousine seelenruhig vor sich hin schnarchte, war ich beim Gang in die Küche, in der ich mir ein Glas Wasser holen wollte, bei jedem Knarzen der Dielen tausend Tode gestorben. Und da, in der Küche, hatten sie gestanden, Tante Sutton und Dad, und sich ganz fürchterlich gestritten. Sie hatten sich bemüht, möglichst leise zu sprechen, und ich hatte deshalb nur wenige Wortfetzen aufgeschnappt, aber ihre Gesichter und Gesten sprachen Bände.

Ich würde niemals vergessen, wie meine Eltern, meine Geschwister und ich am nächsten Tag völlig überstürzt abgereist waren – und die schöne Zeit war mit einem Schlag vorbei gewesen. Später hatten wir dann erfahren, dass es bei dem Streit um Geld ging, das Onkel Harold sich von meinem Dad geliehen und nie zurückgezahlt hatte. Mein Onkel hatte sich durchs Glücksspiel verschuldet und die finanzielle Unterstützung von Dad eingesackt, um sich dann über alle Berge davonzumachen. Als Kind hatte ich nicht genau verstanden, was da eigentlich passiert war, aber im Laufe der Zeit konnte ich eins und eins zusammenzählen. Tante Sutton hatte ihren Mann in Schutz genommen, weil sie nicht wahrhaben wollte, was sich abgespielt hatte, und Dad hatte ihr deswegen Vorwürfe gemacht.

Seit dem Streit hatte Dad uns regelrecht verboten herzukommen. Sommer auf der Insel gab es nicht mehr, und alles, was blieb, waren Telefonate und Video-Chats. Letztes Jahr hatte Lila uns noch in Portland besucht, aber es war nie mehr dasselbe gewesen wie diese magischen Sommer auf Whidbee Island damals. Und auch wenn meine Geschwister kaum daran zu denken schienen, wusste ich, dass diese Sache noch immer über unserer Familie schwebte. Selbst wenn ich nun siebzehn und alles ewig lange her war.

»Wir können schöne neue Dinge erleben!«, sagte Elise, was Tante Sutton ganz glücklich zu machen schien, denn ihr Lächeln wurde breiter. »Wir bleiben ja eine Weile.«

»Auf der Insel hat sich zwar nicht sehr viel verändert, aber das mit den neuen Abenteuern kriegen wir schon hin.« Tante Sutton griff sich Elises Koffer. »Na, kommt! Laden wir euer Gepäck ein. Ihr seid von der Reise bestimmt müde, und zu Hause wartet mein berühmter Apfelkuchen auf euch.«

»Mit Zimt obendrauf?«, fragte Tucker.

»Mit Zimt obendrauf.«

Die Aussicht auf Essen brachte meinen Bruder dazu, in Windeseile all unsere Sachen einzuladen, sich in den Jeep zu setzen und anzuschnallen. »Worauf wartet ihr noch?«

Tante Sutton warf mir einen amüsierten Blick zu. »Was habe ich euch vermisst!«

Minuten später ließen wir Binton hinter uns und folgten einer Landstraße durch ein Waldgebiet. Viele Autos waren nicht unterwegs, und das Gefühl von Abgeschiedenheit auf der schmalen Route überkam mich. Unter vielen Leuten konnte ich verbergen, dass ich mich allein fühlte, aber hier? Da war es, als würde der Wind meine Sorgen durchs Geäst flüstern. Die Stille brachte meine Gedanken in Bewegung, denn der Anblick so vieler Bäume erinnerte mich an Camping-Ausflüge und Marshmallow-Grillen mit den anderen. Es gab so viele Dinge und Orte, die mich glücklich gemacht hatten, aber nun lag über ihnen ein grauer Schleier, und ich schaffte es nicht, ihn ganz zur Seite zu schieben.

Der Jeep gab mit einem Mal ein beunruhigendes Geräusch von sich, das nach einer Mischung aus Pfeifen und Quietschen klang, aber unsere Tante tat es nur mit einer wegwerfenden Handbewegung ab, als wäre das etwas völlig Alltägliches.

»Geraldine ist eben alt, dafür aber zuverlässig!«

Auf der Rückbank räusperte sich Tucker. »Zuverlässig wie … heute zum Beispiel?«

»Sagen wir in acht von zehn Fällen«, rechtfertigte sich Tante Sutton.

»Wo ist eigentlich Lila?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.

Tucker hatte für heute echt genug Giftspritze gespielt.

»O, die hat noch Roller-Derby-Training. Sie ist seit ein paar Monaten in einer Mannschaft und konnte es leider nicht ausfallen lassen.«

»Roller Derby?«, wiederholte ich verwundert. Davon hatte Lila nie etwas gesagt. Allerdings waren wir beide in den letzten Wochen auch ziemlich beschäftigt gewesen und hatten nur sporadisch getextet. Nach den Sommerferien kam ich ins letzte Highschool-Jahr, und die Prüfungen und Vorbereitungen für die College-Auswahl hatten extrem viel Zeit geschluckt. Dass Lila allerdings gerne auf Rollschuhen herumfuhr, war mir echt neu.

»Das kann sie dir heute Nachmittag ja alles erzählen«, meinte Tante Sutton.

Ich nickte bloß. Danach breitete sich Stille im Wagen aus, was aber nicht weiter schlimm war, da im Radio Whatever It Takes von Imagine Dragons lief. Wenn man mit etwas gegen Herzschmerz kämpfen konnte, dann mit dieser Band. Da war er wieder, einer dieser winzigen Momente, die mir Hoffnung schenkten. Musik war manchmal eben die beste Therapie. Kurz darauf bogen wir bereits auf die Seawink Road ein. Diese führte durch die Kleinstadt hindurch, zurück ans Meer. Seawink gehörte zu den größeren Orten der Insel, war im Verhältnis zu Portland aber winzig. Die Häuser hier waren hübsch anzusehen, mit ihren bunten Fassaden, zierlichen Türen und schiefen Dächern. An der Hauptstraße reihten sich kleine Läden aneinander, die lauter Erinnerungen in mir wachriefen – und dieses Mal waren es nur gute. In Mr. Cheshires Supermarkt hatten Lila und ich oft eine Limo gekauft und uns dann einige Schritte gegenüber dem Blumenladen von Mrs. Henderson auf den Bürgersteig gesetzt, um die vorbeikommenden Leute zu beobachten. Im winzigen Kino der Miltons an der Ecke, das nur eine kleine Auswahl an Filmen zeigte, hatte ich viermal hintereinander mit Tucker einen Streifen über eine Kinderbande gesehen, weil er damals ganz vernarrt in die Story gewesen war. Oder die Benton Bakery, zu der Elise und ich sonntagmorgens immer gelaufen waren, damit wir noch eine frische Zimtschnecke ergattern konnten. Die vielen vergangenen Eindrücke stimmten mich nostalgisch, besserten aber auch meine Laune.

Tante Sutton bog an der nächsten Ampel nach links ab, und nach einigen verzweigten Seitenstraßen, die ich immer noch wie meine Westentasche kannte, verschwand die Innenstadt. Häuser gab es nur noch vereinzelt, und Asphalt ging in Schotter und groben Stein über, denn die meisten Grundstücke in der Ecke des Seawink Parks waren in Privatbesitz. Genau dort wohnten die Rowlands, inmitten der Natur und direkt am Wasser.

»Wir sind da!«, sagte Tante Sutton, als wäre uns das nicht klar.

Sie parkte den Wagen auf einem überdachten Stellplatz, und wir stiegen aus.

»Ich muss aufs Klo«, verkündete Tucker sofort und stürmte zur Haustür.

»Warte!« Tante Sutton ging ihm mit klimperndem Schlüsselbund nach.

Elise und ich holten das Gepäck aus dem Kofferraum.

»Es ist so schön hier«, sagte sie leise. »Ich dachte, wir sehen dieses Haus nie wieder.«

»Ich auch«, murmelte ich. Meine Schwester und ich betrachteten still das Zuhause unserer Verwandten. Es war komplett mintgrün, und irgendwann hatten wir Kinder es das »Mint House« getauft. Tante Sutton hatte es noch gemeinsam mit Onkel Harold komplett renoviert, ehe er sie und Lila im Stich gelassen hatte. In jedem Tropfen mintgrüner Farbe, jedem Dielenbrett, jedem Möbelstück und jeder Pflanze steckte wahnsinnig viel Herzblut, genau wie einige zerbrochene Träume. Mom hatte mir irgendwann mal ein Foto gezeigt, das Tante Sutton ihr direkt nach dem Kauf geschickt hatte. Von der kahlen Bretterbude von damals war schon lange nichts mehr übrig. Mit der mintgrünen Fassade, den weißen Fensterläden und der breiten Veranda strahlte das Haus pure Gemütlichkeit aus. Tante Suttons Liebe zu Farben und Details und Onkel Harolds handwerkliches Talent hatten aus dem Ort eine verspielte, moderne Wohlfühl-Oase gemacht, in der man gerne Zeit verbrachte.

Tante Sutton kam wieder aus dem Haus. Sie deutete auf unser Gepäck. »Lasst mal kurz alles hier. Ich will euch was zeigen.« Sie scheuchte uns außen ums Haus herum. Über einen Pfad aus eingefassten Marmorsteinen gelangte man zu einer kleinen Hütte, wo früher mal der Schuppen gestanden hatte. Die war neu! Man hatte ihr denselben Anstrich wie dem Wohnhaus verpasst und davor zwei verschnörkelte Stühle und einen Tisch gestellt.

»Ich dachte, ihr möchtet vielleicht lieber in unser Gästehaus ziehen«, sagte unsere Tante. »Es ist nicht sehr groß, dafür haben wir es erst vor einigen Wochen renovieren lassen. Ihr müsstet euch ein Schlafzimmer teilen, hättet aber ein eigenes Bad und – ein echter Pluspunkt – etwas Ruhe vor eurem Bruder. Na, was sagt ihr?«

»Das ist toll!«, sagte Elise begeistert. »Eine Tucker-freie Zone!«

Meine Schwester stürmte direkt in den Flur. Normalerweise hatte ich bei unseren Besuchen immer mit Lila in einem Zimmer geschlafen, und so schön das Gästehaus aussah: Ich fragte mich, ob es einen Grund dafür gab, dass ich hier einquartiert werden sollte. Es war nicht direkt Enttäuschung, die ich empfand, aber ich konnte auch nicht voller Freude strahlen wie meine Schwester. Nachdenklich zog ich die Augenbrauen zusammen und grübelte, ob ich Tante Sutton sofort darauf ansprechen sollte. Ihr war mein Gesichtsausdruck ohnehin nicht entgangen, denn sie fasste mich sanft an der Schulter. »Wenn du nicht möchtest …«

»Doch! Das ist eine super Idee. Danke«, unterbrach ich sie hastig.

Am besten fragte ich später einfach direkt Lila …

»Na, dann lasse ich euch mal einziehen. In einer Viertelstunde zum Apfelkuchenessen in der Küche?«

Ich nickte. Tante Sutton ließ uns allein, und ich folgte Elise ins Innere. Die Hütte war viel größer, als sie von außen wirkte. Von dem kurzen Flur mit Teppich gingen drei Zimmer ab: ein helles, pastellfarbiges Schlafzimmer mit zwei Einzelbetten, gemeinsamem Nachttisch, einem Schreibtisch vor dem Fenster und Kommode. Ein hübsch gestaltetes Bad mit rundem Waschbecken, Badewanne und Mosaikkacheln, die verschiedene Schmetterlingsarten zeigten. Und eine Art Wohnzimmer mit blauem Sofa, Fernseher und – das Beste! – einer Hintertür, die zu einer Treppe führte, über die man innerhalb einer Minute direkt mit den Füßen im Sand steckte. Der Ausblick war atemberaubend!

Elise stand vor der geöffneten Tür und drehte sich nun um.

»Du siehst immer noch traurig aus«, bemerkte sie.

»Ich bin nur müde von der Reise«, log ich.

Aus heiterem Himmel umarmte sie mich ganz fest, dann ließ sie mich wieder los, ehe ich die Umarmung erwidern konnte. Ich runzelte die Stirn. »Wofür war das?«

»Einfach so.«

Sie lief an mir vorbei, vermutlich, um ihre Sachen zu holen, und ich war plötzlich allein. Ich setzte mir die Kopfhörer auf, die noch um meinen Hals hingen, und startete meine Playlist erneut. Einen Tag ohne Musik kannte ich nicht. Ich hatte für jede Gelegenheit eine Sammlung an Songs, auch wenn ich in den letzten Wochen nur noch eine einzige davon rauf und runter gehört hatte: I Don’t Know If We Can Be Friends. Wie das erste Lied von Hollyn, das darauf gespeichert war. Es beschrieb meinen Beziehungsstatus ziemlich gut.

Den zu meinem Ex-Freund. Und leider auch den zu mir selbst. Aktuell mochte ich mich nämlich nicht besonders gerne. Nicht diese traurige, verletzte Version zumindest. Ich glaubte fest daran, dass jeder Mensch zumindest irgendetwas an sich selbst besonders liebte. Und das war für mich nun nicht mehr da, mit der anderen Hälfte meines Herzens Hand in Hand davongegangen.

Ich schluckte den Kloß, der sich in meiner Kehle gebildet hatte, hinunter.

Mit steifen Schritten verließ ich das Gästehaus. Erst mal mein Gepäck holen und auspacken. Eins nach dem anderen. So machten das doch die meisten Leute. Richtig?