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Dörthe Eickelberg ist als arte-Moderatorin, Impro-Schauspielerin und Regisseurin in der ganzen Welt unterwegs. Ihre preisgekrönte Dokuserie »Chicks on Boards« lief auf internationalen Filmfestivals und wurde in über zwanzig Länder verkauft. In ihren Drehpausen hat sie am liebsten ein Surfbrett unter den Füßen. Dörthe Eickelberg lebt in Berlin.

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DÖRTHE EICKELBERG

Die
nächste Welle
ist für dich

Wie ich von surfenden Frauen aus aller Welt lernte, was es heißt, frei und stark zu sein

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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Hafen Werbeagentur Hamburg

Umschlagmotiv: David Edmondson

Redaktion: Hanne Reinhardt

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel GmbH, Köln

ISBN 978-3-641-26960-9
V002

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Für alle Chicks on Boards da draußen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Meine erste Welle

Zweiklassengesellschaft

Die gläserne Decke

Yallah, inschallah

Seepferdchen

Inside out

Zurück auf Anfang

Liebesbrief aus Indien

Hare Rama, Butter Brot

Liebesbrief, die Zweite

Chicks on Boards

Aneesha

Der Elefant im Raum

Der Vergleich ist der Tod des Glücks

Glaub an dich, mein Herz

Die nächste Welle kommt bestimmt

Gebt den Mädchen eine Chance

Mut und Gleichmut

Phantomschmerz

Suthu

Surfpunk

Norma

Dawn Patrol

Roadtrip

Wo ist die Grenze?

Schwellenhüter, Gefängniswärter

Gaza, öffne dich

Sabah

Hurriya

Trockenzeit

Fastenbrechen

Schau mir in die Augen, Scharia

Freischwimmer

Tigerkäfig

Gefühlte Freiheit

Ukulele, pari pari

XXL

Da, wo alles begann

Paige

Hinter jeder starken Frau …

Wellen, die in Mut ausbrechen

Kleine Sekundärtraumata

Konfrontationstherapie

Der Schubs der großen Schwester

Surferlatein

Anti-Age

Silver Surfer

Chill mal, Alter. Jetzt kommt Gwyn.

Tanz der Giganten

Surf Sister Solidarity

Dörthes müssen draußen bleiben

Schlaflos in Karnataka

Freiwild in Berlin

Hampiness

Buena onda

Die nächste Welle ist für dich

Danksagung

Einleitung

An Land schlafen sie noch. Langsam streckt die Morgensonne am Horizont ihre Fühler aus. Ich schaue mich um und entziffere die Farben, die das Wasser reflektiert. Sanft schaukelt das Brett unter mir. Meine Füße baumeln im warmen Nass, es fühlt sich weich an. Ich höre, wie das Meer atmet. Ein und aus und ein und aus. Wie ein großes schlafendes Tier, auf dessen Fell ich liegen darf. Nichts als der Ozean und ich. Dann steigt der Puls: Die Welle kommt. Sitzend drehe ich mein Brett in Richtung Küste, lege mich drauf, spanne alle Muskeln an und paddele los. Beim Umschauen sehe ich, wie sich die Welle hinter mir aufbäumt. Langsam hebt sie mich in die Höhe, ich blicke hinunter ins dunkle Tal. Mein Herz rast, denn ich sehe, wie steil und tief es unter mir ist. Diese Welle ist größer als die anderen zuvor. Doch ich paddele weiter, jetzt erst recht, jede Sekunde zählt. Da komme ich ins Gleiten, nun gibt es kein Zurück mehr. Ich springe auf. Die Welle nimmt mich mit, es zischt leise unter meinen Füßen, wir sind nun eins. In schwindelerregendem Tempo jagen die Wassermassen unter mir durch, ich gehe in die Knie, um den Kräften standzuhalten, einmal Turbo-Express vom Gipfel bis ins Tal. Ich jauchze vor Aufregung und mache mich bereit, um mit einem Schwung wieder zur Spitze des Wellenbergs zu schießen. Doch dann geht alles ganz schnell. Unter infernalischem Lärm kracht die Welle wie eine Wand über mir zusammen, ich stürze, es knallt, es wird dunkel, es wird kalt. Ich werde unter Wasser gedrückt und im Schleudergang um meine Achse gewirbelt, schneller und schneller, bis ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Atem anhalten. Und anhalten. Irgendwann tauche ich wieder auf, hole Luft, sehe, dass die Strömung mich gefährlich nah an die Felswand gezogen hat, da kommt schon die nächste Welle. Und noch eine, und noch eine. Oben blitzen sie, unten donnern sie dumpf, wie ein Gewitter dröhnen die Wassermassen in meinen Ohren. Ich versuche, aus der Gefahrenzone zu paddeln, doch die Wellen sind stärker: Mit voller Wucht donnern sie auf mich zu und reißen mich mit sich, immer näher zu der Felswand. Ich paddele dagegen an, ich mache Fehler, ich verliere Kraft, ich bin allein. Es ist niemand da, der mir helfen kann. In der Höhle des Löwen, unter Wasser, kommen diffuse Erinnerungsfetzen hoch: ich als Dreizehnjährige, eingeschlossen in einem Zugabteil. Ich schaffe es nicht, ich schaffe es doch eh nicht. Was war da los? Zurück im Hier und Jetzt, rette ich mich auf einen Felsvorsprung, während mein Surfbrett an den Klippen zerschellt.

Das Meer ist ein Ort der Prüfungen: Kriege ich die Welle? Oder kriegt sie mich? Wenn der Ozean die Muskeln anspannt und die Wellen die Zähne fletschen, lernt man schnell Respekt vor den Naturgewalten. Und ich spüre ein mir sonst unbekanntes Gefühl: eine tiefe, elementare Angst.

Eigentlich bin ich kein ängstlicher Mensch. Schon als kleines Kind bin ich zum Tierestreicheln in Ställe eingebrochen, und auf dem Schulhof habe ich mich im feinen Kleidchen mit großen Jungs geprügelt. Doch wenn ich heute, als erwachsene Frau, allein mit dem Surfbrett draußen im Meer bin, habe ich auf einmal eine Beißhemmung. Statt die Welle zu jagen, verweigere ich den Sprung wie ein Pferd die zu hohe Stange. Wenn alle um mich herum sich tollkühn in die Wellen stürzen, nehmen meine Antennen die feinsten negativen Schwingungen aus der Gegenrichtung auf, und jede Warnmeldung schlägt mich in die Flucht. Dann bin ich blockiert, schrecke zurück, sabotiere mich selbst. Meine innere Alarmanlage ist sehr scharf eingestellt. Vielleicht nicht wasserfest? Bin ich dann wirklich immer in Gefahr, oder sehe ich Gespenster und manövriere mich durch panisches Verhalten selbst in meine missliche Lage? Ist es vielleicht gar nicht die Welle an sich, die mir Angst macht – sondern etwas ganz anderes?

Nun könnte ich mir auch sagen: Dann spiele ich eben Minigolf. Oder Tischtennis. Das ist auch eine körperliche Ertüchtigung an der frischen Luft – halt mit weniger Risikopotenzial. Doch nein, ich will surfen. Es ist ein beinah essenzielles Bedürfnis. Surfen spült den Kopf von allen Worten frei und defragmentiert den Geist. Der Ozean schluckt alle Sorgen, das Wasser filtert Wichtig und Unwichtig. Hinter der Brandung angekommen, offline, wird das Warten auf die Welle zur Meditation. Wenn ich da draußen bin, vergesse ich Hunger, Durst und die Zeit. Dann bin ich einfach da. Unser Planet ist zu rund siebzig Prozent mit Wasser bedeckt. Wir Menschen bestehen zu bis zu siebzig Prozent aus Wasser. Surfen ist also wie ein Tanz mit dem Element, das Leben ausmacht. Wellen sind reine Energie – getragen über Tausende von Kilometern. Beim Ritt auf der Welle bewegt man sich auf einer Oberfläche fort, die selbst in Bewegung ist. Alles gerät in Schwingung. Man erntet die Kraft des Wassers und nimmt sie mit an Land. Surfen hat mich großzügiger gemacht, gelassener, bescheidener.

Wenn ich in Erwartung des nächsten Energieschubs zum Horizont schaue, die Beine im Wasser baumelnd, dann denke ich an die vielen Frauen, die ich auf meiner Reise getroffen habe. Die Surferinnen in Indien, in Südafrika, in Mexiko, auf Hawaii. Auch sie sitzen vielleicht gerade schaukelnd auf ihren Surfbrettern, im Puls der Dünung, im Wellenrausch. Sie geben alles für die Euphorie, die sie durchflutet, wenn sie auf diesem fliegenden Teppich reiten dürfen, als könnten sie schweben, als wären sie frei. Doch in allen Himmelsrichtungen gibt es Kulturen, in denen der Horizont verbaut ist. Menschen, die diese Freiheit suchen, zahlen für ihre Passion einen hohen Preis: Sie werden verlacht, verstoßen und verbannt. Sie wollen einfach nur surfen. Doch das ist eine Provokation – weil sie Frauen sind. Sie tun es trotzdem. Für sie wie für mich ist das Meer Endgegner und Meister zugleich. Irgendetwas da draußen zieht uns magisch an. Und irgendetwas ist dabei im Weg.

Meine erste Welle

Meine erste Welle nehme ich im Dienst der Wissenschaft. Ich bin Anfang dreißig und als Moderatorin für das tägliche Wissensmagazin Xenius auf arte unterwegs. Stammzellentherapie? Artifizielle Intelligenz? Schwarze Löcher? Ich könnte jeden Satz anfangen mit »Darüber haben wir schon eine Sendung gemacht«. An diesem warmen Sommertag in Südfrankreich haben wir uns ein vermeintlich leichtes Thema vorgenommen: Wellen. Für die Sendung sollen mein Co-Moderator Pierre und ich am eigenen Leib erfahren, was für Kräfte ihnen innewohnen. Wellen sind eine Wissenschaft für sich. Doch das lerne ich erst später. Vor laufender Kamera nehme ich einen Crashkurs im Surfen. Mein erstes Mal wird direkt aufgezeichnet und ausgestrahlt. Dieser Moment, wenn man auf der Welle schwebt … Diesen Moment vergisst man nie. Es war Liebe auf den ersten Ritt.

Eine Drehpause später beziehe ich ein Zelt auf einem Campingplatz in Südfrankreich und schreibe mich für einen Anfängerkurs ein. Fünf Tage im Surfcamp liegen vor mir. Unser Surflehrer sieht aus wie aus dem Bilderbuch: ein Körper wie ein Olympiaschwimmer kurz vor dem Rekord, eine Frisur wie ein Teenager kurz nach dem Aufwachen. Er trägt Flip-Flops, wir Funktionskleidung. Meine Mitschüler und Mitschülerinnen, zum Großteil aus Deutschland für den Pauschalurlaub angereist, sind alle deutlich jünger als ich. Es sind ungefähr gleich viele Frauen wie Männer, und wir sehen alle so aus, als hätten wir bislang ziemlich viel Zeit sitzend im Büro verbracht. Wir widmen uns zuerst einer Beschäftigung, die noch einen großen Teil des Surfens ausmachen wird: »Paddeln, paddeln, paddeln!« Das ist das Mantra, das er uns entgegenbrüllt, immer wieder. Das Paddeln dient dazu, die richtige Geschwindigkeit zu erlangen, um mit der anrollenden Welle mithalten zu können. Ohne diese Bewegung ist die Welle wie ein Lkw, der in ungebremster Fahrt auf einen Kleinwagen prallt: Rollt der Kleinwagen in die gleiche Richtung, bekommt er eine Anschubhilfe und ist bestenfalls danach so schnell wie der Lastwagen. Steht der Kleinwagen, ist er danach kein Kleinwagen mehr.

Wir liegen also mit voller Körperspannung auf dem Surfbrett und paddeln in ruhigen, kräftigen Zügen die Wellen an. In Wirklichkeit liegen wir in unförmigen Neoprenanzügen bäuchlings auf imaginären Surfbrettern und wedeln Sand auf. Es ist kein schöner Anblick. Aber diese Trockenübung am Strand dient als Vorbereitung für eine wichtige Erkenntnis, die später auf uns wartet: Wenn man die Kraft des Ozeans für sich nutzen will, sollte man sich nicht mit ihm anlegen. Wer hochmütig ist, der fällt.

Erste Lektion: Die Natur hat immer recht. Daran erinnert uns das Meer mit Nachdruck, als wir in signalfarbenen Trikots und mit scheunentorgroßen Schaumstoffbrettern endlich ins Wasser gehen. »Welle und Surfer müssen eins werden, verschmolzen zu einer fließenden Symbiose«, gibt uns der Surflehrer mit auf den Weg. Wir ahnen jetzt schon, dass dies ein unmögliches Unterfangen ist. Die Wellen ziehen uns den Boden unter den Füßen weg, schubsen uns hinterrücks um, walzen unbeeindruckt über uns hinweg. Ich fühle mich wie ein Torero mit rotem Tuch, der seine Überlegenheit feierlich unter Beweis stellen will und nun für seine infame Eitelkeit bestraft wird. Ein Stier wird ausgehungert und mürbegemacht, damit er in der Arena bezwungen werden kann. Das Meer lacht nur über unseren Irrglauben, es manipulieren zu können.

Dabei sind wir noch da, wo das Meer zahm ist. Es lärmt hier noch, aber es beißt nicht mehr. Weil die Brandung an dieser Küste in dieser Woche sehr stark ist, üben wir im Weißwasser, dem auslaufenden Schaum direkt am Strand. Diese Gischt ist der letzte röchelnde Atemzug, den die Welle macht, nachdem sie gebrochen ist. Richtig Luft holen tut das Meer weiter draußen. Wir bleiben im sicheren Stehbereich und lassen uns von den von hinten anrollenden Wasserwalzen schieben und tragen. Bei einigen Schülern ist der Surflehrer so großzügig, auch mal mit einem kräftigen Schubs nachzuhelfen. Nach mehreren Anläufen gelingt es mir, mich ohne Hilfe von einer Welle mitnehmen zu lassen. Es sind nur wenige Meter, doch gefühlt ist es eine epische Reise. Nach dem Absprung drehe ich mich zur Welle um und rufe »Danke!«.

Ja, ich habe mich tatsächlich bei einer Welle bedankt. Und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Deshalb geben Surfer Wellen Namen. Sie sprechen nicht von den Wellen, sondern von der Welle.

Die Stimmung in der Gruppe ist freundlich. Wenn es einem von uns gelingt, aufs Brett zu springen und nicht sofort wieder hinzufallen, dann freuen wir uns alle. Von allen Seiten schallt es »Hurra!« und immer wieder »Paddeln, paddeln, paddeln!«. Das erklärte Ziel ist es, so lange wie möglich stehen zu bleiben. Richtung? Egal. Wir wissen nicht, wie man steuert, sondern höchstens, wie man steht. So surfen wir geradeaus von der Welle weg in Richtung Strand, manchmal so weit, dass die Finnen im Sand quietschen.

Man könnte also meinen, wir surfen. Doch davon sind wir noch weit entfernt. Unsere Erfahrung reicht gerade mal für ein Tinder-Profilbild. Weit hinten, da, wo die großen Wellen brechen, zischen die fortgeschrittenen Surfer vorbei. Sie springen am höchsten Punkt der Welle auf, noch bevor sie bricht, und folgen dann in schnellen Schwüngen ihrem Lauf, so lange, bis der Schaum dem Rausch ein Ende macht.

Wir Anfänger kriegen das, was von der Welle übrig bleibt: das Weißwasser. Die Brotkrumen am unteren Ende der Brandung. Und so schieben, liegen, stehen und fallen wir, die Wasserwalzen rauschen ohne Unterlass, die Surflehrer schubsen an oder pfeifen zurück, und überall sieht man ein Mikado an außer Kontrolle geratenen Softboards, die in die Höhe fliegen und wieder ins Wasser fallen.

Wenn die Wellenbedingungen es nicht anders zulassen und man nur im Urlaub die Gelegenheit hat, das Surfen zu üben, dann bleibt man ziemlich lange genau hier, in Ufernähe. Weiter draußen, in der Brandung, warten die erfahrenen Surfer auf die großen, grünen Wellen. Dort ist das Line-up – ein Mikrokosmos mit ganz eigenen Gesetzen. Da will ich hin.

Zweiklassengesellschaft

Nach Abschluss des Surfkurses besuche ich Freunde in Biarritz. Sie sind offenbar die einzigen Bewohner des Geburtsortes der europäischen Surfkultur, die nicht surfen. Während meine Freunde gemächlich über die Promenade flanieren, breche ich auf zu den grünen Wellen. Allein. Denn obwohl ich gerade mal in der Lage bin, ohne größere Zwischenfälle auf dem Brett stehen zu bleiben und leicht in die Rechtskurve zu gehen, bin ich schon längst süchtig nach dem nächsten Wellenrausch.

Ein paar grüne Wellen habe ich bereits im Surfcamp erwischt, meistens pure Zufallstreffer. Nun will ich so richtig über das Wasser fliegen und in Schlangenlinien auf der Schulter der Welle reiten, genau wie die großen Surfer da draußen. Dazu muss ich aber erst einmal da oben ankommen – meine erste Aufnahmeprüfung. Eigentlich ist die Brandung gar nicht so weit weg. Aber da sind noch ein paar Wellen im Weg. Und die scheinen mich von meinem Vorhaben abhalten zu wollen. Es ist, als würde ich in verkehrter Richtung eine Rolltreppe hochlaufen: Das Ziel vor Augen, die grünen Wellen zum Greifen nah, komme ich kaum vom Fleck.

In der Surftheorie habe ich gelernt, dass es eine Strömung gibt, die von Schwimmern gefürchtet und von Surfern genutzt wird: der Brandungsrückstrom. Im Englischen nennt man ihn Rip Current. Man möchte meinen, das Wort RIP steht für »Rest in Peace«, so viele Menschenleben hat diese Strömung schon auf dem Gewissen. Ein klassischer Brandungsrückstrom sieht von außen harmlos aus, fast einladend für jemanden, der baden will und dabei Wellen meidet. So fühlen sich unerfahrene Schwimmer von diesem Zustand des Meeres oft angezogen, und das leider wörtlich. Der Rippstrom zieht sie, ohne Widerworte gelten zu lassen, ins Meer hinaus. Einige versuchen dann panisch, gegen den Strom zurück zum Strand zu schwimmen, und ertrinken vor Erschöpfung. Mit ein paar Schwimmzügen quer zur Strömung könnten sie wieder ruhigeres Wasser erreichen, und selbst wenn sie sich aufs Meer hinaustreiben lassen würden, würde der Sog bald von ihnen ablassen. Doch das wissen sie nicht. Surfer machen sich genau diese Sogwirkung zunutze. Sie können die Strömung von außen erkennen und lassen sich von ihr durch den Channel, den Strömungskanal, hinaus zur Brandung ziehen.

Wo ist der Rippstrom, wenn man ihn mal braucht?, frage ich mich also, während ich gefühlte Stunden in Richtung Brandung paddele und dabei von jeder Welle wieder zurückgeworfen werde. Mit meinem großen Brett kann ich nicht unter den Wellen durchtauchen, also muss ich Eskimorollen machen – mich liegend um meine eigene Achse drehen, sodass das Brett über mir ist, während die Welle über mich hinwegrollt. Doch das ist spätestens nach dem elften Mal langsam ermüdend. Die nötigen Muskelgruppen sind bei mir noch nicht aufgebaut, meine Technik ist noch nicht ausgereift, und so langsam geht mir die Kraft aus.

Aber irgendwann, nach einem riesigen Umweg, komme ich doch an, mit verspanntem Rücken und Armen aus Beton. Am Ziel werde ich belohnt mit Stille. Hinter der Brandung sind der Lärm und das Chaos des Strandes weit weg. Es ist, als hätte man zu Fuß eine achtspurige Autobahn überquert, um auf der anderen Seite eine Bibliothek zu betreten. Eine Stimmung aus heiligem Ernst. Hier ist das Line-up, hier sind die Surfer. Viele von ihnen sind einheimisch. Und die meisten von ihnen sind Männer.

Die Wellen an der französischen Atlantikküste haben Weltklasse, und das hat sich herumgesprochen. In den Sommermonaten trifft sich die Jeunesse dorée aus Paris in Biarritz und logiert in den Ferienhäusern ihrer Eltern, um bei Sonnenuntergang auf den Klippen am Meer einen Aperitif zu trinken und dabei von oben den Surfern zuzuschauen. Sportstudenten aus aller Welt verbringen weiter nördlich, in der Gironde, ihre Semesterferien, nehmen sich eine Auszeit, suchen sich Jobs in Surfcamps, klappen in den Surfpausen ihr faltbares Büro in irgendeinem Café auf oder eröffnen gleich selbst eins. Einige von ihnen stranden und bleiben da. Wer wiederum am Meer aufwächst, der hat diese Naturgewalt seit jeher vor der Haustür. Küstenbewohner wachen mit dem Wellenrauschen auf und legen sich damit schlafen. Sie kennen das Zusammenspiel von Windrichtung, Bodenbeschaffenheit, Tide und Strömung, das hinter der Entstehung von Wellen steckt und ihr Verhalten prägt. Für sie sind die Wellen Spielgefährten und Sparringspartner. Sie gehen schon als Kind in den Surfkurs wie andere in den Fußballverein. Der Strand ist ihr Spielplatz. Wenn sie älter werden, wird er zu ihrer Bühne.

Die Küste um Biarritz nennt man auch gern »das Kalifornien Europas«, in Anlehnung an die Hippie-Kultur, die von den ersten Surfern in Kalifornien ausging. Sie wussten: Man kann an Land Gesetze schreiben, doch da draußen sind sie nicht wasserfest.

Auch heute ist die Welt der Surfer erfrischend anarchisch. Theoretisch kann sich jeder ohne Schein oder Genehmigung überall für wenig Geld einfach ein Brett mieten und es versuchen. Der Eintritt ist frei. Es gibt keinen Dresscode. Die besten Surfer tragen oft die löchrigsten T-Shirts. Selbst das nötige Sportgerät ist relativ erschwinglich und kann, pfleglich behandelt, über Jahrzehnte genutzt werden. Es kommt nicht, wie in vielen anderen Sportarten, jedes Jahr eine neue Edition raus, die die alte wertlos macht. Ein Surfbrett taugt nicht als Statussymbol. Es zählt nicht, was du surfst, sondern wie du surfst. Man kann sich also seinen Platz in der Surferwelt nicht erkaufen. Doch es kostet viel Zeit und Kraft, über den Status des Anfängers hinauszukommen. So durchlässig der Zugang ist: Ein Surfbreak ist eine Zweiklassengesellschaft. Wellen holen einen nicht ab, sie kommen nicht auf Bestellung, man muss sie sich erarbeiten. Es gibt keinen Lift, der einen bis zur Brandung bringt, keinen Notausgang, durch den man im Zweifelsfall diskret verschwinden kann, es gibt keine Welle, die ein zweites Mal für dich bricht, weil der erste Versuch nicht gelungen ist. Im Ozean herrschen keine Laborbedingungen, denn jede Welle ist anders. Die Freiheit, die einem die Wellen versprechen, muss man sich hart verdienen, und eine entscheidende Währung dafür ist Mut.

Wenn an einem Spot wie diesem also nach ein paar Tagen Flaute ein guter Swell reinkommt, dann lauern auf einmal etliche hungrige Surfer im Line-up. Sie haben die Wellenvorhersage studiert und sich rechtzeitig den Wecker gestellt. Wellen haben ihren eigenen Terminkalender, sie folgen dem Wind und ändern ihr Verhalten mit den Gezeiten. Als ich nach meiner Strampel-Odyssee doch noch am Ziel ankomme, sind Zeit und Tide günstig. Das haben alle anderen längst antizipiert, doch für mich ist es ein glücklicher Zufall.

Im Line-up ist die Stimmung anders als bei den Anfängern im Stehbereich, sehr konzentriert. Noch im Weißwasser habe ich wahllos jede ankommende Wasserwalze angepaddelt, als wäre ich am Wühltisch beim Sommerschlussverkauf. Hier lauern nun alle wie Raubtiere auf eine einzige Welle. Was für eine Welle, ist mir schleierhaft, doch die anderen scheinen das sehr genau zu wissen. Eine Dünung wie an diesem Tag entsteht durch eine sehr üble Laune des Windes weit draußen im Ozean. Nach einer langen Ereigniskette gruppieren sich die Wellen in Sets, oft fünf oder sieben hintereinander, die in kurzen Abständen brechen und dann auslaufen, ehe nach einer Pause das nächste Set anrollt. Diese Pause ist ein guter Moment, um anzukommen und achtsam das Hier und Jetzt zu genießen. Doch heute bündeln alle ihre Kräfte für den Angriff.

Dann kommt endlich die erste Welle, und die Raubtierfütterung beginnt. Alle wollen sie haben, doch nur einer kann sie kriegen. Lautlos springt der Schnellste auf und verschwindet schwungvoll hinter dem Wellenkamm, während das Wasser weiter hinten zischend niederregnet und ein Vorhang an glitzernden Partikeln in die Höhe schießt. Dann ist es wieder kurz still, ehe die nächste Welle Anlauf nimmt. Ich weiß mittlerweile, dass es bei hohem Seegang im Wasser Verkehrsregeln gibt, die alle kennen und die zugunsten des bestpositionierten Surfers ausgerichtet sind: Bäumt sich eine Welle hinter einem auf, dann hat derjenige Vorfahrt, der dem Peak, dem höchsten Punkt, am nächsten ist. Denn von da aus kann man die Welle am besten erwischen. Wer schon auf der Welle steht, darf bleiben. Zusätzlich oder später mit aufspringen gilt nicht und wird als »Drop-in« geächtet, denn das ist Wellenklau. Es herrscht das Darwin-Prinzip: Der Stärkste überlebt. Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, und das kann man mit Wissen und Erfahrung erzielen. Oder, wie ich heute, mit Glück.

Direkt hinter mir richtet sich einladend eine schöne Welle auf. Ich bin im passenden Abstand zum höchsten Punkt. Auf dieser Welle steht mein Name. Entschlossen lege ich mich auf mein Brett und paddele sie an. Da sehe ich, dass links und rechts von mir zwei junge Männer das Gleiche tun. Unbeirrt von dem geringen Abstand, den wir zueinander haben, pirschen sie sich weiter vor. Sie sehen mich und paddeln dennoch weiter. Haben sie keine Angst, dass wir zusammenstoßen? Ich schaue sie fragend an, doch sie haben nur Augen für die Welle. Im letzten Moment gebe ich auf und ziehe mein Brett zur Seite. Die beiden Jungs springen auf, der eine surft links, der andere rechts. Was war das? Hatte ich vielleicht doch nicht Vorfahrt?

Zweiter Anlauf. Ich bringe mich in Position für die nächste Welle. Wieder nehme ich entschieden und demonstrativ Anlauf, doch nun kommt ein junger Mann von der Seite angeschlängelt und steuert schräg auf meine Welle zu. Kurz vor mir schlägt er einen Haken und schnappt sie sich, bevor ich es tun kann. Er nimmt also eine Abkürzung und drängt mich ab. Dieses Prozedere wiederholt sich ein paarmal, bis ich mich hinten anstelle und auf ein paar Krümel warte, die für mich übrig bleiben. So treibe ich mehr und mehr zurück und lande schließlich in der Zwischenwelt.

Das »Inside« ist ein Niemandsland, die Grauzone, wo die Wellen nicht mehr richtig grün sind und noch nicht richtig weiß. Hier ist man zugleich den Wellen ausgeliefert und den Reitern im Weg. Es ist die Ebene, wo man als Surfer nicht sein will. Ich aber bin für den Kompromiss bereit, denn wenigstens ist hier niemand, der sich vordrängeln könnte.

Ich möchte einer großen, leicht angebrochenen Welle entsteigen wie Phönix der Asche, freihändig und mit geschlossenen Augen. Das ist mir schon gelungen – an Tagen mit kleineren Wellen. Heute ist das keine gute Idee. Ich werde umspült und gewaschen, ich treibe weiter ab und paddele mühsam zurück, dabei kommen mir immer wieder Surfer entgegen. Ich fühle mich wie die nervige kleine Schwester, die bei den Großen mitspielen will und dabei nur im Weg ist. Immer wieder muss ich den anderen ausweichen, und zwar dahin, wo es am unangenehmsten ist, zum Schaum hin, auch das ist eine Regel. So nehme ich viele Umwege und werde wie eine Flipperkugel von den Walzen und Strömungen hin- und hergeworfen. Endlich kommt mir eine leere, ungebrochene Welle entgegen. Ich erwische sie und springe triumphierend auf. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist eine lärmende Explosion über mir. Das war eine Close-out-Welle. Diese Wellen brechen der Länge nach auf einmal, wie ein Garagentor, das sich langsam, aber sicher schließt. Und ich bin das Auto, halb drinnen, halb draußen.

Erschöpft tauche ich wieder auf und paddele zurück. Wenigstens eine Welle will ich auf halbem Weg noch nehmen, irgendeine. Endlich rollt eine leicht angebrochene Welle auf mich zu, ich bringe mich in Position und paddele los. Da höre ich einen wütenden Pfiff hinter mir. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass ein Surfer bereits auf dieser Welle reitet und ich nun so ein Drop-in-Idiot bin. Ich ziehe mein Brett zurück, um ihm den Weg freizumachen, doch es ist bereits zu spät, die Welle hat mich erfasst und reißt mich mit. Irgendetwas knallt mir ins Gesicht, wahrscheinlich mein Brett, irgendwas schlitzt meinen Neoprenanzug auf, wahrscheinlich seine Finne, etwas anderes zieht an meinen Füßen, im Zweifelsfall die Leash. Ich höre den Surfer schimpfen, als ich auftauche und japsend nach Luft schnappe. Meine Leash, die Leine, die Brett mit Fuß verbindet, hat sich mit seiner verknotet. So dümpeln wir schaukelnd im Wasser und versuchen schweigend, die Leinen wieder zu entwirren. Es dauert quälend lange. Ich entschuldige mich kleinlaut, doch er seufzt nur und zieht von dannen. Nun möchte ich nur noch diskret und möglichst schnell diesen Ort verlassen und mich in einer Sandburg verkriechen. Ich steuere geradewegs zum Strand, taub vom vielen Salzwasser in den Ohren. Da wirft mich eine gewaltige Kraft um und befördert mich im hohen Bogen direkt auf den Sand. Das war ein Shorebreak – eine wuchtige Welle, die bei geringer Wassertiefe nah am Ufer bricht. Wieder was gelernt.

Die gläserne Decke

Am Strand trabt mir federnden Schrittes meine Freundin Sonia entgegen. Sie wollte sich nur eben im Wasser erfrischen, und das wie immer oben ohne. »Deine Nase blutet«, sagt sie, während wir uns mit Wangenkuss begrüßen.

»Deine Brüste leuchten«, antworte ich und denke: Wie schön, in einer Kultur zu leben, in der man als Frau ohne Probleme halb nackt baden gehen kann, ohne dass das für einen Sturm der Entrüstung sorgt.

Eine gemeinsame Bekannte kommt hinzu. Sie heißt Sabrina und ist an dieser Küste aufgewachsen, wo sie schon sehr lange surft. Mit ihr hatte ich mal eine Diskussion darüber, ob sie sich als Feministin bezeichnen würde. Sie haderte lange mit sich, weil sie nicht als männerfeindlich angesehen werden wollte. »Aber Feministinnen haben doch nichts gegen Männer, im Gegenteil. Sie wollen einfach nur die gleichen Rechte. Der größte Feminist, den ich kenne, ist mein Kollege Pierre. Er hat mich erst richtig für das Thema sensibilisiert«, argumentierte ich. In der Zwischenzeit hat sich Sabrina mit dem F-Wort versöhnt. Und mittlerweile habe ich das Gefühl, sie ist mehr auf Krawall gebürstet als wir alle.

Wir setzen uns in eins der Cafés, die von Surfern betrieben werden, um vom Arbeitsplatz aus die Wellen checken zu können. Wir bestellen Eiskaffee: Kaffee für die Nerven und Eis für meine lädierte Nase. Ob sie das Phänomen kenne, im Wasser zurückgedrängt zu werden, frage ich Sabrina.

»Und wie«, sagt sie und fängt wild an zu gestikulieren. »Wenn du neu da draußen bist und vielleicht ein bisschen zögerlich, hast du keine Chance. Die anderen werden sich immer vordrängeln. Sie können Anfänger riechen. Und wenn du eine Frau bist, gehen viele davon aus, dass du ohnehin nicht surfen kannst. Dass deine Kraft nicht reicht oder dein Selbstbewusstsein. Also paddeln sie die Welle zeitgleich mit dir an oder schneiden dich von der Seite. Dann können sie in letzter Sekunde aufspringen, wenn du das Rennen nicht machst oder freiwillig aufgibst.«

»Bis man irgendwann kapituliert und sich nur noch um die Krümel bewirbt, die übrig bleiben.«

»So wie du heute.«

»Aber wenn das dauernd passiert, dann ist es doch viel schwieriger, Fortschritte zu machen.«

Sabrina zuckt mit den Schultern. »Willkommen in meiner Welt.«

»Und was, wenn ich einfach weiterpaddele, mein Brett nicht zurückziehe, sondern die Welle trotzdem nehme, auf die Gefahr hin, dass wir zusammenkrachen?«

»Dann surfst du wie ein Mann.«

Wir lachen.

Das Blöde ist: Ich werde im Line-up immer neu und fremd sein. Ich lebe in Berlin, weit weg von einer Küste mit surfbaren Wellen. Ich muss also reisen, um meiner neu gewonnenen Passion nachzugehen. Dort, wo ich dann surfen gehe, sind immer schon andere vor mir da. Und zwar seit langer, langer Zeit.

Die Surfer, die an der Küste leben oder dort viel Zeit verbringen, paddeln oft zu zweit oder in Gruppen raus. Sie feuern sich gegenseitig an und halten sich damit quasi gegenseitig die Wellen frei. Gemeinsam sind sie stark und zeigen keine Schwäche. Ich aber bin da draußen die Fremde unter Einheimischen. Ich betrete ein markiertes Territorium, ich muss mich an dem neuen Ort erst orientieren und werde dabei von den Surfern auf den Stammplätzen streng beäugt und bewertet. Ich steige also auf halber Strecke in ein voll besetztes Zugabteil. Dabei habe ich die Wahl, ob ich mich in den Gang quetsche oder verlange, dass jemand für mich zur Seite rückt.

»Was ziehen wir jetzt für einen Schluss daraus?«, frage ich in die Runde. »Auf die Brust trommeln und breitbeinig dagegen anpaddeln? Verstöße gegen die Wellenverkehrsordnung mit Fäusten austragen?«

Das soll an überfüllten Surfbreaks durchaus mal vorkommen. Es gibt Geschichten von zerstochenen Autoreifen, zerstörten Surfbrettern, von einem Wettsurfen, das am Ende vor Gericht entschieden wurde. Müssen wir uns also Respekt verschaffen, indem wir entschiedener auftreten?

»Natürlich«, bestätigt Sabrina. »Du darfst da draußen keine Schwäche zeigen.«

»Aber dann machen wir ja das Macho-Wettrennen mit. Wollen wir das?«

»Wenn du mit den Großen spielen willst, musst du ihre Regeln befolgen. Und diejenigen, die sie geschrieben haben, sind im Zweifelsfall Männer.«

Ich schüttele etwas ungläubig den Kopf und blicke zum Strand, wo sich gerade wieder ein Anfängerkurs aufwärmt. Ein paar junge Männer überholen die Gruppe, traben zum Wasser und paddeln direkt raus zum Line-up. Sabrinas Hund lugt unter dem Tisch hervor, er hat den Keks neben ihrer Kaffeetasse entdeckt. Sabrina lässt den Keks unter dem Tisch verschwinden und fährt fort: »Wirklich schwierig wird es, wenn du als Surferin ein gewisses Niveau erreicht hast. Wenn du in das Revier der Alpha-Surfer eindringst, fühlen sich einige von ihnen in ihrer Männlichkeit bedroht. Dann zeigen sie dir, wer als Erster da war und wo dein Platz ist. Entweder du beweist ihnen, dass du was draufhast. Oder du lässt dich einschüchtern und gehst zurück auf Anfang.«

So viel zum Klischee in unserem Kulturkreis: Wellenreiten ist ein männlich dominierter Sport. Die Frauen stehen eher am Strand und schauen zu, während die Männer am Horizont den Heiligen Gral suchen.

Doch wie sieht es dann erst in den Regionen abseits der westlichen Heilsversprechen aus? Ich beschließe, meine zukünftigen Dienstreisen für eine Inspektion der örtlichen Surfkultur zu nutzen. Nächster Halt: Marokko.

Yallah, inschallah

»Hast du einen Freund?«, fragt mich der Taxifahrer in Agadir, als ich allein in den Wagen einsteige. »Ja«, lüge ich.

»Wo ist er dann?«

»Ich reise gern allein.«

Der Taxifahrer schüttelt den Kopf. Dabei ist das die Wahrheit.

Als das Taxi am Strand von Taghazout hält, sehe ich schon den Spray über die Böschung schießen. Zisch! machen die Wasserpartikel, dann zieht sich das Meer grollend zurück und nimmt Anlauf für die nächste Welle.

Im Winter kommt in Marokko eine Dünung an, die Tage vorher bereits Anlauf genommen hat. Breitschultrige, zottelhaarige Surfer aus Europa jagen ihr mit hungrigem Blick auf spitzen, kurzen Brettern hinterher. Ich geselle mich mit einem unförmigen Softboard dazu. Ungefragt hat mir der Mann im Surfshop ein Anfängerbrett in die Hand gedrückt und einen passenden Surfkurs angedreht. Er hat richtig geraten, und doch wird sie mich noch länger begleiten als nötig, diese Annahme, dass ich Anfängerin sein muss. Und das führt dazu, dass ich mich im Wasser auch wie eine verhalte.

»Ist das hier eigentlich der Atlantik?«, fragen die beiden Niederländerinnen, die mit mir ihre erste Surfstunde in Marokko antreten.

»Ja«, bestätigt Nabil kurz, während er sich schwungvoll mit seinem ausgebeulten Bulli in die Kurve legt. Der Sitz, die Fensterscheiben, der Boden, der Stapel Surfbretter auf dem Dach, alles ist voller Sand. Sogar das, was im Spagat zwischen zwei Radiosendern als Musik zu erkennen ist, klingt, als habe der Sänger Sand zwischen den Zähnen.

Ein paar Hundert Meter kutschiert Nabil uns noch schweigend über die rumpelige Straße, dann hält er abrupt am Straßenrand an und macht den Motor aus. Er schaut durch die halb blinde Windschutzscheibe ins Leere und spricht feierlich: »Wir wollen einmal gemeinsam diese Frage nachwirken lassen, die eben in diesem Auto gestellt wurde: ›Wie heißt dieser Ozean hier? Wo liegt dieses Land, in dem ich gerade bin? Und wie heißt es noch gleich?‹« In einer betont langsamen Bewegung dreht er sich zu den beiden jungen Touristinnen um, und nun müssen sie selbst über ihre blöde Frage lachen.

Nabil, Ende zwanzig, ist unser Surfguide. Er trägt Kapuzenpulli, Flip-Flops und ein Käppi auf seinen sonnengebleichten Locken. Selbst die drei Hipster aus Norwegen, die noch mit uns im Auto sitzen, sind seinem Charme erlegen. Nabil weiß, wann die besten Wellen rollen und wo in Agadir die angesagtesten Clubs sind. Er lebt an der Schnittstelle zwischen zwei Universen: dem der Einheimischen und dem der Besucher. Surflehrer genießen gewisse Privilegien und fungieren zwangsläufig als Übersetzer und Botschafter ihrer Kultur. Tags sonnen sie sich in der Bewunderung ihrer Surfklassen, abends sammeln sie sich zum Trommeln am Lagerfeuer, nachts schlafen sie zu Hause bei ihren Familien.

»Hast du in deinen Surfklassen eigentlich auch manchmal Frauen aus Marokko?«, frage ich Nabil. Er schaut mich an, als wolle er gleich noch einmal rechts ranfahren und eine Schweigeminute einlegen.

Es ist offenbar Rushhour, als wir am Strand eines kleinen Küstenorts ankommen: Fischer in Kaftans und Wathosen legen mit ihren Booten an und ab, unbeeindruckt von den Surfern, die barfuß, den Neoprenanzug halb angezogen, ihre Bretter an Netzen und Bottichen voller zappelnder Fische vorbeibugsieren. Hinter dem Hafen traben junge Männer und Frauen in Bikinis und Boardshorts über den Sand, um sich aufzuwärmen, die Gesichter weiß vom Zink als Sonnenschutz. Ein paar Surfer machen sich einen Spaß daraus, mit Brett unter dem Arm auf dem Kamel anzureiten. Ein Foto mit Kamel kostet 100 Dirham – oder mehr, wenn man versehentlich zwei im Bild hatte.

»Arbeitet euch schon einmal vor«, bedeutet uns Nabil, während er im Stehbereich bei den Weißwasserwellen die Anfängerinnen aus den Niederlanden betreut. Die Norweger sprinten los, und auch ich stürze mich voller Tatendrang in die Fluten. Gleich am Anfang erwische ich eine vielversprechende Welle. Im nächsten Moment bin ich unter Wasser, ohne zu wissen, warum. Die Welle greift mich mit einer ungeahnten Wucht und dreht mich so schnell, dass mir vor lauter Rotation fast schwindelig wird. »Geh zurück in den Schaum!«, bellt es mir entgegen, als ich an falscher Stelle wieder auftauche. Ich ziehe von dannen wie ein geprügelter Hund. Im Winter verstehen die Wellen hier offenbar keinen Spaß. Und manche Surfer auch nicht.

An der Küste von Imsouane bis Sidi Ifni bewegt man sich auf zwei Umlaufbahnen: hier die Einheimischen, die im Takt der Gebete ihrem Tagwerk nachgehen, da die Surfer, die im Takt der Gezeiten kommen und gehen, kommen und gehen. Die europäischen Besucher bringen die Verheißungen des Wilden Westens mit und bleiben teilweise ganze Winter lang. Die Wellen vor der marokkanischen Küste versprechen ihnen eine Freiheit, die alle Schranken wegspült, die an Land gelten.

Ich treffe viele digitale Nomaden aus Europa. Losgelöst von den Besitztümern, die sie zu Hause haben, brauchen die Freischaffenden hier nichts außer einem Brett und einem Rechner. Und auch ich klappe mein faltbares Büro auf und fantasiere davon, es ihnen den ganzen Winter lang gleichzutun: bei Flaute arbeiten, bei Wellengang surfen. Tag für Tag studiere ich die Stimmungen und Gesichter des Ozeans und lerne langsam, die Wellen zu lesen. Sie haben eine Menge zu sagen: Komm mit. Lass los. Sei stark. Sei still. Sei da.

Seepferdchen

»Wie viele Waschgänge?«, fragt mich Nabil nach so manchem Surftag. Wenn ich stolz antworte: »Keiner!«, kriege ich zu hören: »Dann machst du es dir zu leicht.« Nabil hat wohl gesehen, dass ich es mir wieder im Stehbereich gemütlich gemacht habe, statt mit den Großen zu raufen.

Das Verlassen meiner Komfortzone wird mich noch einiges kosten: Schrammen, Beulen, Rippenprellungen und Gehirnerschütterungen – da ich nicht am Meer aufgewachsen bin, lerne ich den Umgang mit seinen Kräften wohl auf die harte Tour. Die Wellen an sich sind nicht das Problem, sondern die Wechselwirkung mit einem vom Menschen eingebrachten Fremdkörper: dem Surfbrett. Mal gerät ein Longboard außer Rand und Band und landet im freien Fall auf meinem Kopf, mal ist es mein eigenes Brett, das mich im Eifer des Gefechts verprügelt. Lädiert und mit zittrigen Knien komme ich dann zurück und lecke meine Wunden. Immerhin, abgesehen von Verletzungen durch fliegende Surfbretter werde ich immer fitter. Durch das viele Paddeln baue ich Muskeln auf, von deren Existenz ich zuvor gar nichts gewusst habe. Physisch fühle ich mich gestählt, doch mental werde ich immer schüchterner. Außen Tank Girl, innen Aschenputtel. Woran das liegen mag? Da draußen fühle ich mich ziemlich allein. Und ich bin es auch: Je weiter ich rauspaddele, desto weniger Frauen sehe ich im Wasser.

Um genau zu sein, bin ich fast die ganze Zeit nur von Männern umgeben. In meinem Aktionsradius zwischen Strand und Unterkunft begegne ich etlichen Surflehrern, Taxifahrern, Tourguides, Verkäufern und Kellnern. Es sind fast ausschließlich Männer, die in Marokko diesen Jobs nachgehen, und diese Männer erklären mir ihre Welt. Wenn ich Frauen sehe, dann sind es Europäerinnen wie ich. Unser Leben findet zum Großteil draußen statt. Was hinter den fensterlosen Mauern der Gebäude passiert, die den Wind der Wüste und den Staub der Straße abhalten, bekommen wir Besucher kaum mit. Dort muss sich das Leben der einheimischen Frauen abspielen.

»Wo sind eigentlich die Frauen aus dem Dorf?«, frage ich Nabil auf dem Rückweg von einer Surfsession.

»Wahrscheinlich zu Hause.«

»Meinst du, ich könnte mir ihren Alltag mal anschauen?«

Nabil zuckt zusammen, weil uns gerade auf der Hauptstraße von Taghazout der Imam entgegenkommt. Schnell nimmt er zum Gruß die Mütze ab und legt sie danach diskret über die Bierdose neben seinem Sitz. »Du willst privat bei Marokkanern wohnen?«

»Ja, ich würde mich auch erkenntlich zeigen.«

Nabil schaut mich belustigt an. »Es gibt viele junge Männer hier, die bieten einer allein reisenden Frau wie dir gern ihre Gastfreundschaft an, soll ich dich mal vermitteln?«

»Sehr witzig«, entgegne ich und ahne bereits, was sich auf meiner Suche in den nächsten Tagen bestätigen wird: In Marokko Zutritt zum Leben der einheimischen Frauen zu erlangen, gestaltet sich für mich schwerer, als ins Line-up zu kommen.

Inside out

In der Küstenstadt Essaouira, besser bekannt für Wind als für Wellen, werde ich endlich fündig. Eine freundliche, frisch geschiedene Lehrerin lädt mich für unbestimmte Zeit in ihren Frauenhaushalt ein. Sie wohnt mit ihrer Tochter Salma in einer versteckten Zweiraumwohnung in der malerischen Altstadt. Salma ist mit der Schule fertig, hat aber keinen Job gefunden und ist sehr schüchtern. Die Mutter erhofft sich von meinem Besuch, dass ihre Tochter mit mir Französisch spricht und ein wenig aus ihrer selbst gewählten Isolation herauskommt. Unser unausgesprochener Deal lautet also: Die beiden Frauen gewähren mir Einlass in ein Leben, das sich fast nur drinnen abspielt. Dafür soll ich die Fenster mit Blick auf die Welt öffnen und ein bisschen durchlüften.

Und so spazieren Salma und ich durch die Stadt, suchen auf dem Souk den Stand mit dem besten Arganöl und schauen den Möwen beim Möwensein zu. Abends sitzen wir mit der Mutter am Essenstisch und betreiben gepflegte Konversation. Ich ermutige Salma, mehr in einer Sprache zu sprechen, die sie bisher nur aus der Schule kennt, sie nimmt mich mit zu ihren Einladungen und Besorgungen. Ich schwärme ihr vom Surfen vor, sie mir von ein paar Jungs aus der Nachbarschaft. Draußen werfen wir uns Tücher um, drinnen werfen wir alles ab. Geschützt durch unscheinbares Mauerwerk, erschließt sich mir so ein eigener Kosmos, der nach außen abgeschottet, jedoch nach oben offen ist. Wenn man eine Leiter hat. Hinter schweren Eisentüren verstecken sich prunkvolle Riads mit großen begrünten Innenhöfen, in die von oben das Tageslicht fällt. Wir besuchen dampfende Hamams, wo Männer und Frauen, streng getrennt, Kaftan und Kopftuch ablegen und sich ausgiebig waschen und massieren lassen. Wir werden eingeladen zu Cousinen und Tanten, sitzen inmitten von Zierkissen auf dem Boden, trinken gezuckerten Tee und tunken Grießkuchen in Rosenwasser.

Ich werde bestaunt und staune zurück. Und als Gast, von allen wohlig empfangen und umfasst, kostet es mich mehr und mehr Überwindung, mich abzusondern und einer Sportart zu frönen, die niemand hier kennt. Es fühlt sich falsch an, für stundenlange Surfsessions fröhlich pfeifend das Haus zu verlassen, statt der Mutter Gesellschaft zu leisten und ihr Hilfe anzubieten, wenn sie nach einem langen Arbeitstag noch mit Salma den Haushalt führt.

Salma bewegt sich nur bei besonderen Anlässen aus dem Haus. Am liebsten liegt sie von früh bis spät auf der bunt gepolsterten Bank im Wohnzimmer, wo das flackernde Licht des Fernsehers die Sonne überstrahlt, die unbemerkt draußen auf- und untergeht. Wir sehen amerikanische Filme mit arabischen Untertiteln, die Kuss- und Sexszenen fein säuberlich entfernt, dazu marokkanische Nachrichten und alles, was das Fernsehprogramm aus Ägypten hergibt. Und ich merke, wie auch ich langsam immer häuslicher werde. So häuslich, dass ich mich bald selbst wie eines der weichen Zierkissen fühle, die uns von allen Seiten abpolstern. Die wilden Wellen vor der Tür sind weit weg.

Während die Reklame tobt, erzählt Salma mir, dass sie mal einen Surffilm aus Hollywood gesehen hat, der ihr nachhaltig in Erinnerung geblieben ist. »Da geht es um Frauen wie dich«, erzählt sie mir. »Der erste Teil spielt auf Hawaii, der zweite in Südafrika.« Salma redet von aufmüpfigen jungen Surferinnen, die dem Ruf der Welle folgen. Es hat etwas Surreales, wie sie mir davon erzählt, während sie Datteln und Pistazien knuspert und sich in ihren Micky-Maus-Pyjama kuschelt, den sie zu Hause zu jeder Tages- und Nachtzeit trägt. Da wittere ich meine Chance. »Komm doch morgen mit! Wir stehen früh auf, bevor der Wind aufkommt, und gehen zusammen ins Wasser, wie die Frauen in dem Film«, schlage ich vor. Salma schaut mich ungläubig an und schüttelt dann lachend den Kopf. »Netter Versuch, aber: viel zu kalt. Vielleicht irgendwann im Sommer mal.« Sie wickelt sich fester in ihre Decke. Ich aber stelle den Wecker.

Als ich am nächsten Morgen allein das Haus verlasse, merke ich erst, was mir gefehlt hat. Ich inhaliere die salzige Luft und strecke die Arme aus. Schau mal, wie still und hell es hier draußen ist!, möchte ich Salma zurufen, während ich im Morgengrauen allein über die Steine an der Uferpromenade balanciere. Ich ziehe die Schuhe aus und trabe barfuß über den noch feuchten Sand. Obwohl die Wellen an diesem Morgen nicht einladend sind, merke ich, wie ich mich Schritt für Schritt, Faser für Faser mit neuem Leben auflade. Salma hat es sich im Warmen gemütlich gemacht und ist offenbar damit zufrieden. Rausgehen und nass machen? Diese Frage stellt sich ihr nicht. Ich wiederum fühle mich in den geschmückten Höhlen auf Dauer wie ein Pantoffeltierchen in der Petrischale: etwas beobachtet und ziemlich eingeengt.

Auf dem Rückweg kaufe ich für meine Gastgeberinnen feinsten Kuchen und kündige meinen Abschied an. Ich verspreche ihnen, sie bald wieder zu besuchen und jederzeit in Berlin zu beherbergen, dankbar für die gemeinsamen Tage, verbunden in Freundschaft. Doch nun ist es an der Zeit zu gehen. Die Welle ruft.

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