Beziehungsstatus 1: Wer's zuletzt macht, macht's am besten!

© Copyright 2020 Sookie Hell

Alle Rechte liegen bei der Autorin.



Widmung

Diese Buchreihe ist allen Leserinnen und Lesern gewidmet, die sich immer schon gefragt haben, wieso ihr Leben nicht so funktioniert wie ein Liebesroman, die aber trotzdem über sich selbst lachen können.

Vorwort

Ihr lieben Menschen,

ich will euch an dieser Stelle einfach mal dafür danken, dass ihr euch auf meine Bücher einlasst. Sich mit einem Verstoß gegen die mono-normativen Regeln zu befassen, und sei es nur in Gedanken, ist ein mutiger Schritt. Wir alle wachsen in einer Welt auf, in der das Happy End eines Liebesromans darin besteht, dass die Heldin sich entscheidet.

Anna entscheidet sich dafür, sich nicht zu entscheiden. Das kann schmerzhaft sein, aufregend, verletzend oder befreiend. Oder alles zusammen. Und das klingt jetzt furchtbar pathetisch, aber mit Anna eine Heldin zu erschaffen, der es wichtiger ist, ihre eigene Identität zu finden, als die Rolle zu spielen, die von einer Frau erwartet wird, ist mir ein richtig, richtig ernstes Anliegen.

Auch mit Sven und John männliche Figuren zu erschaffen, die mehr drauf haben als die selbstverliebten oder sogar toxischen Gockel, die auf dem Buchmarkt als Helden gefeiert werden, ist eine meiner Lieblingsmissionen. Kerle, die einen Arsch in der Hose haben, trauen sich auch, mit ihren eigenen verwirrenden Gefühlen offen umzugehen und sogar darüber zu reden – auch, wenn sie vielleicht so mühsam sprechen lernen wie John.

Diversität mit Leben zu füllen, bedeutet nicht nur, die Vielfalt anderer zu respektieren und "Randgruppen" in die Mitte der Gesellschaft einzuladen. Es bedeutet vor allem, sich selbst mit liebevollem Respekt anzunehmen, auch dann, wenn wir gegen die Norm verstoßen. Was wir fühlen, können wir nicht entscheiden. Aber wie wir handeln, liegt in unserer Macht.

Egal, ob ihr schwul, trans, pan, groß, klein, schwarz, weiß, bunt, poly oder "normal" seid: Ihr alle seid wundervolle und kostbare Einzelstücke, die mutig und mit einem offenen Geist ihren eigenen Weg suchen. Und das ist wundervoll. Wieso ich da so sicher bin? Ich weiß es einfach.

Und jetzt wünsche ich euch wunderbare Wohlfühlmomente mit meiner Geschichte. Wenn ihr euch in der einen oder anderen Figur wiedererkennen und euch selbst verzeihen könnt, dass ihr nicht perfekt seid, hab ich alles richtig gemacht.

Eure Sookie

Ein ganz normales polyamores Paar

Auf dem Weg zur Kaffeemaschine bewegte Anna sich wie eine Krabbe im Seitwärtsgang durch den Flur. Langsam wurde es eng in ihrer kleinen Wohnung. Die Bananenkartons mit Büchern stapelten sich bis unter die Decke, aber die Regale waren immer noch nicht alle ausgeräumt.

Der Umzug würde die Hölle werden, obwohl sie nur ihre Regale, Bücher und ein paar Lieblingsstücke mitnehmen würde. Mehr hatte sie sowieso nicht. Aber jeder Versuch, Bücher auszusortieren, war völlig aussichtslos. Selbst am letzten zerfledderten Taschenbuch hing eben eine Geschichte. Sie hatte es aus einem Altpapiercontainer gerettet, auf einem Flohmarkt darum gefeilscht oder Sven hatte es ihr mitgebracht, weil er wusste, dass sie es lieben würde.

Sven. Anna sah auf die Uhr, dann zuckte sie zusammen, obwohl sie auf die Klingel gewartet hatte.

Sie drückte den Türsummer, aber ein dumpfes Rumpeln verriet ihr, dass Sven schon vor der Wohnungstür stand. Anna öffnete und neigte den Kopf. Vor ihr stand ein mannshoher Turm aus weiteren Bananenkartons, unter dem nur die langen Beine des Wikingers hervorlugten. Sven maulte: »Kleene, jetzt mach voran, der Turm kippt gleich!«

Anna machte einen Satz und angelte die oberen Kartons aus Svens Arm, dann strahlte sie ihn an und flüsterte: »Hi, Großer!«

Sven seufzte tief und schüttelte den Kopf. »Ehrlich, Annika, das ist der allerletzte Stapel, den ich dir hier rauf schleppe! Ich fühl mich wie dieser bucklige Ketzer in ›Der Name der Rose‹, der pustet, damit sein eigener Scheiterhaufen besser brennt!«

Anna wich verlegen Svens vorwurfsvollem Blick aus und murmelte: »Du hast versprochen, mir kein schlechtes Gewissen mehr zu machen!«

Sven quetschte sich durch die Tür, sah sich kurz um und stellte die Kartons ab, dann breitete er die Arme aus. »Hast ja recht. Komm her, Kleene!«

Anna atmete auf, dann schlang sie die Arme um den riesigen blonden Kerl und drückte ihn mit einem wohligen Summen an sich. Sven fühlte sich einfach so unglaublich gut an. So vertraut. So breitschultrig und stark und genau so, wie ein Sven in der Brandung sich anfühlen muss. Anna lachte, als Sven sie sanft hin und her schaukelte. Er flüsterte: »Guck mich mal an, Kleene!«

Anna sah zu ihm auf. Für einen Moment versank sie in seinen warmen, goldbraunen Augen. An dem Tag, als sie ihn kennengelernt hatte, hatte sie gedacht, dass niemand sonst solche Augen haben könnte. Zu dem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass Sven aus einer Großfamilie kam. Er hatte sechs ältere Brüder, die alle aussahen wie er – nur eben in verschiedenen Größen.

Damals war Anna sechs Jahre alt gewesen und hatte eine Schultüte im Arm gehalten, die viel zu groß für sie war. Und ihre Mutter hatte sie in ein scheußliches rosa Kleidchen gesteckt. Und ihre damals schon hüftlangen zimtbraunen Locken waren in so rattenschwanzmäßige Zöpfe gezwängt. Trotzdem hatte Sven sich durchgeboxt, um ihre Hand zu nehmen und mit ihr in die Klasse zu gehen. Seitdem hatten sie einander nie wieder losgelassen. Bis auf diesen einen kleinen Moment vor ein paar Wochen.

Anna holte gefühlvoll tief Luft, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um Sven zu küssen. Für einen Moment vergaßen sie Bananenkartons, Bücher und Beziehungschaos. Sie küssten sich sanft und verspielt, gaben sich kleine Nasenstüber, lachten leise und schnupperten verliebt aneinander. Dann brummte Sven: »Kaffee.«

»Kekse! Wir haben auch noch Kekse!« Anna hielt sich noch für einen Moment an Svens Kapuzenjacke fest und sah ihm noch einmal tief in die Augen, dann huschte sie in die Küche. »Sollen wir uns schon ein Essen kochen oder musst du noch mal los?«

Sven lehnte sich in den Türrahmen und beobachtete, wie Anna in ihrer winzigen Küche herumwerkelte. Selbst hier standen offene Bücherkartons im Weg. »Darüber wollte ich gerade mit dir sprechen.«

Anna ließ die Kaffeedose sinken. »Nee, nä? Du verbringst meine letzte Nacht in Berlin aber nicht bei Katja!«

Sven schüttelte den Kopf und sah Anna bittend an. »Kleene, ich weiß einfach nur nicht, ob ich das schaffe. Lange Abschiede und so. Wir machen es sonst auch immer kurz und schmerzlos.«

Anna sah Sven entsetzt an. »Ich dachte, wir machen es morgen früh kurz und schmerzlos! Wenn der Möbelwagen kommt!«

Sven rieb sich die Stirn und brummte erschöpft. »Ich brauche einfach ein bisschen Zeit, um das alles zu sortieren. Im Moment fühlt es sich an, als würdest du in diese komische Künstler-WG ziehen, um mich zu verlassen.«

Anna knallte die Kaffeedose auf die Arbeitsplatte und machte einen großen Schritt auf Sven zu. »Digger, wir haben das tausendmal besprochen! Ich geh nicht nach Ostfriesland, um dich zu verletzen, sondern, weil ich frischen Wind um die Nase brauche! Ich muss einfach mal hier raus, in Ruhe arbeiten, ein bisschen Abstand zu allem kriegen!«

Sven holte ruckartig tief Luft und Anna spürte, dass er zögerte, um keinen Streit anzufangen. Langsam sagte er: »Im Kopf verstehe ich das alles! Die Sache mit Katja und dir und mir, das ist einfach scheiße gelaufen, aber mit meinen anderen Frauen gab es auch immer mal wieder Chaos, da hast du auch nie so einen drastischen Cut gemacht!«

Anna stampfte mit dem Fuß auf. »Ich mache keinen Cut! Ich verlasse dich nicht! Du bist doch sowieso die Hälfte des Jahres in ganz Europa unterwegs, da ist es doch egal, wo ich bin! Wir können uns doch trotzdem immer sehen, wenn wir Lust haben!«

Sven warf ihr einen flehenden Blick zu und flüsterte eindringlich: »Das ist nicht dasselbe!«

Anna wich seinem Blick aus und fing an, den Kaffee zu kochen. »Jetzt setz dich endlich hin! Für einen Kaffee wirst du ja wohl noch Zeit haben! Ich hab extra deine Lieblingstasse noch nicht eingepackt und die wird das erste sein, was ich wieder auspacke! Und wenn du mich dann besuchen kommst, kannst du aus deiner gewohnten Tasse schlürfen und das wird sein wie immer.«

Sven murrte leise, bahnte sich aber einen Weg zu einem der windschiefen Biergartenstühle, die Anna vom Sperrmüll gerettet und bunt angemalt hatte. »Wenigstens ist die Bude, in die du da einziehst, möbliert. Vielleicht gibt es da ja sogar Küchenstühle, bei denen ich nicht immer Angst habe, dass die zusammenbrechen.«

Anna lachte ein bisschen zu fröhlich und zog ihr Handy aus der Tasche. »Hab ich dir schon die Fotos gezeigt, die Eugen mir geschickt hat?«

Sven winkte ab und nickte müde. »Ich weiß, ein furchtbar schnuckeliger ostfriesischer Bauernhof mit so einem riesigen roten Dach und grünen Scheunentoren und zauberhaften Sprossenfenstern und einer Obstwiese und einer furchtbar schnuckeligen großen Bauernküche und du kriegst dein eigenes Ferienapartment für ein Viertel des Preises, den eine Besenkammer in Berlin kostet.«

Anna nickte. »Ganz genau! Und auf eine Berliner Besenkammer bewerben sich noch vierhundert Doppelverdienerpärchen ohne Kinder und Haustiere!«

Sven seufzte tief. »Nika, du hast auch keine Kinder oder Haustiere! Und wenn du gern ein Doppelverdienerpärchen sein willst, springe ich eben mit ein!«

Anna grunzte leise. »Ja, klar. Weil der Wohnungsmarkt auch auf eine freie Autorin und einen Musiker wartet!«

Sven verschränkte die Arme und maulte: »Ich mein ja nur. Wenn es dir um einen Tapetenwechsel geht, musst du nicht nach Ostfriesland, da finden wir auch was in einem anderen Kiez!«

Anna wischte über ihr Handy und murmelte bockig: »Digger, jetzt hör bitte endlich auf, mir ein schlechtes Gewissen zu machen! Kannst du dich nicht einfach mal für mich freuen, weil ich so eine nette WG gefunden hab? Das ist ein super schönes altes Haus, ich brauche mit dem Fahrrad nur zehn Minuten zum Strand und der Vermieter ist total nett! Ich steh einfach auf dieses Wohnprojekt, ich finde die Idee dahinter total klasse! Eugen will das Haus mit Leben füllen und vermietet nur an freischaffende Kreative! Ich freu mich total drauf, da zu arbeiten! Außerdem muss ich dann nicht ständig Angst haben, dass ich Maik mit seiner neuen großen Liebe über den Weg laufe!«

»Du bist einfach nicht mehr du selbst, seit Maik dich verlassen hat!« Sven schüttelte den Kopf, dann stand er auf und breitete bittend die Arme aus. Anna murrte leise, dann umarmte sie ihn. Sven drückte Anna fest an sich und strich ihr sanft über die strubbeligen Locken. »Ich will dir ja gar nicht den Spaß verderben. Ich hab einfach nur keine Ahnung, wie ich es in Berlin ohne dich aushalten soll.«

Anna murmelte dumpf ins Svens Jacke: »Du hast doch Katja.«

»Ja.« Sven nickte langsam. »Aber Katja ist eben Katja. Katja ist meine Freundin. Aber du bist meine Gefährtin!«

Stolz hauchte Anna: »Ja, bin ich!«

Sven spielte mit Annas wilder Mähne und flüsterte: »Egal, wen du da kennenlernst, du sagst sofort, was Sache ist! Erzähl diesem komischen Vermieter gleich, dass wir Polys sind und dass du noch einen Mann in Berlin hast!«

Anna tauchte aus seiner Umarmung auf, zog das Näschen kraus und lachte. »Eugen will doch gar nichts von mir, der hat ganz andere Sorgen! Der hat gerade seine Lieblingstante verloren und das riesige Haus geerbt und der ist ein total schüchterner Mensch! Der traut sich nur, eine Künstler-WG ins Leben zu rufen, weil die Angst, mit 30 noch bei Mama zu wohnen, größer ist als die Angst vor dem unbekannten Abenteuer!«

Sven zog besorgt die Stirn kraus. »Nika, ernsthaft, ich hab Bauchweh! Das klingt echt schräg!«

Anna schüttelte wild den Kopf. »Keine Angst! Eugen ist total lieb, du wirst den mögen, ich hab doch schon ganz viel mit dem geschrieben und telefoniert! Außerdem ziehe ich ja nicht alleine zu dem ins Haus! Er hat schon einen großen, dicken Musiker gefunden, der als Elvis auftritt und …«

Sven rollte mit den Augen. »Elvisse sind die schlimmsten! Elvis wirst du nur, wenn du keine eigenen Songs schreiben kannst und echt verzweifelt bist! Der wird sich unsterblich in dich verknallen!«

Anna musste lachen und boxte Sven. »Jetzt hör doch mal auf, mir Affären anzudichten! Ich geh da hin, weil ich meine Ruhe haben will! Ich werde Keuschheit geloben und mich ganz meiner Arbeit widmen. Vielleicht schreibe ich dann endlich mal was anderes als diese Highland-Sagas für frustrierte Ehefrauen! Ich kann diese Hochlandrammlerschnulzen selber nicht mehr sehen!«

Sven atmete tief durch, dann ließ er Anna los und schenkte Kaffee ein. »Okay, also ein Elvis. Wer zieht noch ein?«

»Eine Malerin überlegt noch, aber die hat wohl gerade irgendwie so eine On-Off-Sache laufen und weiß noch nicht, was sie will. Eugen klang da ein bisschen ratlos.« Anna wischte wieder über ihr Handy und nuschelte: »Und gestern hat Eugen mir noch einen Link geschickt, der Typ will sich wohl heute die WG ansehen.«

Sven tauschte mit Anna Kaffeebecher gegen Handy. »Aha? Was kommt jetzt, ein Helene-Fischer-Imitator, der auch noch bei Mama wohnt?«

Anna räusperte sich und nippte an ihrem viel zu heißen Kaffee. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Sven nickte, den Kopf neigte, »Hmhm« murmelte und dann anfing zu lachen. »Kleene, das ist nicht dein Ernst, der Typ hier kommt nie im Leben nach Ostfriesland!«

Anna pustete unschuldig über ihren dampfenden Kaffee. »Wieso nicht?«

»Internationaler Kunststar? Phantom der New Yorker Kunstszene? Kosmopolit mit deutsch-irischen Wurzeln. Überschüttet mit Preisen und Stipendien! Enfant terrible des abstrakten Hyperrealismus? Was zur Hölle soll das sein? Entweder abstrakt oder realistisch, oder? Sehen seine abstrakten Gemälde dann so realistisch aus, als wären die echt abstrakt?« Sven wischte weiter über das Handy, dann sog er scharf die Luft ein. »O-o-o-o-o-oh!«

Anna stampfte mit dem Fuß auf und fauchte: »Was?«

Sven grinste und hielt Anna ein Foto des Kunststars direkt unter die Nase. »Keuschheit in Ostfriesland! Alles klar!«

Anna versuchte, nicht auf das Foto zu sehen, aber es hatte sich eh schon in ihre Netzhaut gebrannt. Sie hatte das Foto viel öfter angesehen, als sie eigentlich wollte. Und diesen John O’Molloy exzessiv gegoogelt, aber sie hatte nicht die kleinste private Information über diesen Menschen gefunden. John O’Molloy hatte keine Accounts, die man stalken konnte, John O’Molloy hatte Agenten. An der Sache mit dem Phantom schien jedenfalls was dran zu sein.

Aber Eugen hatte ihr kichernd am Telefon erzählt, dass dieser John ihm geschrieben hätte, dass man nichts von dem glauben soll, was über ihn im Internet steht, das wäre reines Marketing.

Anna funkelte Sven böse an. »Ich will nichts von dem!«

Sven grinste breit und sah wieder auf das Foto. »Da steht dein Name drauf! Da steht drauf: Annikas fleischgewordenes Beuteschema! Guck dir das an, dieser scheue Blick, diese melancholischen Augen! Der Typ hat genauso grüne Augen wie du! Hier steht, er ist hochbegabt, spricht mehrere Sprachen und hat ein fotografisches Gedächtnis. Der Mann ist so ein Geek, der gehört zu deiner Spezies! Mein Gott, und dann diese schwarzen Wuschelhaare, ist der niedlich

Sven quiekte wie ein verliebtes Mädchen. Anna streifte ihn mit einem misstrauischen Blick und wollte sich verarscht fühlen, aber Svens Begeisterung war vollkommen echt. Leise seufzte der riesige Wikinger: »Mann, wär das schön, wenn dieser irish lad dir den Kopf verdrehen würde! Du würdest endlich Maik vergessen und wieder du selbst werden, meine wilde Annika, die vor Liebe funkelnd zwischen ihren Männern hin und her tanzt!«

Anna stellte ihren Becher viel zu schwungvoll auf den Tisch und riss die Kekspackung auf. »Jetzt entscheide dich mal! Ein Elvis wäre eine Katastrophe, aber ein Maler, von dem ich gar nichts will, wäre der Jackpot?«

Sven stopfte sich geistesabwesend einen Keks in den Mund und nuschelte: »Kleene, gib der Sache doch wenigstens eine Chance!«

Anna ließ sich seufzend auf einen Stuhl sinken. Wenigstens hatte Svens Laune sich schlagartig gedreht, er wollte sie verkuppeln. Und immer, wenn er sie verkuppeln konnte, blühte Sven auf. Er liebte es einfach, wenn sie verliebt war. Trotzdem murmelte Anna: »Ich bin viel zu angeschlagen, um mich auf irgendwas einzulassen. Und dieser John sieht aus wie so ein Fliederflattertyp.«

»Fliederflattertyp.« Sven sah Anna an, als hätte sie nicht mehr alle Waffeln im Eisen.

Anna nickte eifrig und flatterte mit den Fingern. »Ja, du weißt schon, so ein von Blüte zu Blüte Typ! Der würde mich verfrühstücken und meinen Namen vergessen und dann bin ich wieder die, die sich mit gebrochenem Herzen heulend im Bett verkriecht! Außerdem ist der Typ bestimmt Serientäter!«

Sven zuckte unbekümmert die Schultern. »Die meisten Menschen leben doch nur serielle Monogamie, weil sie nicht wissen, dass es auch anders geht! Klär ihn auf!«

Anna trank einen großen Schluck Kaffee und knurrte: »Guck dir den doch mal an! Der kann jede haben! Ich gehe jede Wette ein: Der hat jede!«

Sven lachte sein tiefes, sattes Lachen. »Annika, jetzt verurteile den armen Kerl doch nicht, weil er gefeiert wird! Du weißt doch, dass in solchen Mythen immer nur ein winziger Zipfel Wahrheit steckt!«

Anna griff über den Tisch und stopfte Sven einen Keks in den Mund. »Ja, eben, ich kenn mich voll aus! Mein Gefährte ist nämlich zufällig ein gefeierter Musiker! Ich weiß aus Erfahrung, was an den üblichen Klischees dran ist! Und wir wissen beide, dass ich es irgendwann aufgegeben habe, für deine One-Night-Stands emotionalen Aufwand zu betreiben. Du bist eben der Beziehungsanarchist von uns beiden und vögelst dich gern durch die Welt!«

Sven kaute an seinem Keks und murmelte: »Sind leider nicht alle Frauen so tolerant wie du.«

Anna seufzte mitfühlend und sah Sven abwartend an. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her, bis der gefährlich wackelte, dann räusperte er sich. »Katja will nicht, dass ich über die Dörfer gehe. Sie sagt, wenn ich mit dir schlafe, kommt sie klar, aber von anderen Frauen soll ich ab jetzt bitte die Finger lassen.«

Anna kräuselte mitfühlend die Mundwinkel. »Ihr seid gerade mal ein paar Monate zusammen, du kannst nicht erwarten, dass sie blindes Vertrauen zu dir hat. Ich hab auch Jahre gebraucht, bis ich sicher war, dass du immer wieder zu mir zurückkommst! Und wir haben den Liebespakt!«

Sven nickte wild. »Liebesfreunde für immer!«

Anna seufzte tief und bestätigte gefühlvoll: »Liebesfreunde für immer!«

Für einen Moment fassten sie sich an den Händen und sahen sich ruhig und vertraut in die Augen, dann grinste Sven verschämt. »Hast du eigentlich an die Kondome gedacht, um die ich dich gebeten habe?«

Anna stand ächzend auf und zog eine Schublade auf. »Alter, wie willst du eigentlich an deine Gummis kommen, wenn ich nicht mehr in Berlin bin?«

Sven maulte: »Wenn ich am Drogeriemarkt vorbeikomme, ist nie eine Parklücke frei!«

Anna legte eine Packung Kondome auf den Küchentisch und rollte mit den Augen. »Digger, die Teile gibt es an jeder Supermarktkasse!«

»Du weißt genau, dass ich mich von Falafel ernähre! In Dönerbuden sind Lümmeltüten in das ›mit all‹ eben nicht inkludiert! Und auf Männerklos soll ich keine aus dem Automaten ziehen, weil man nie weiß, wie alt die sind! Hast du mir verboten!«

Anna lachte auf. »Ja, klar! Schieb es ruhig auf mich!«

Sven grummelte etwas, was Anna nicht verstehen sollte, aber sie kannte ihren Sven zu gut, sie verstand ihn trotzdem. »Jetzt hör auf zu moppern, dass ich dich im Stich lasse! Frag doch einfach Katja, ob du bei ihr welche mitnehmen kannst!«

Sven schnaufte erschöpft. »Die sind abgezählt!«

Anna legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick über die Decke wandern. »Ah, okay. Wenn sie Treue will, kannst du schlecht fragen, ob du ein paar Gummis mitnehmen darfst.«

Sven nickte trübsinnig. Anna neigte den Kopf und sah ihn an. »Was willst du jetzt machen?«

»Ich hab keine Ahnung. Ihr Treue zu versprechen ist eine Verbindlichkeit, zu der ich gar nicht bereit bin. Und am Anfang war davon ja auch überhaupt keine Rede. Sie wusste, dass ich mit dir zusammen bin und dass ich noch andere Frauen treffe. Wir hatten uns auf eine unverbindliche, offene Beziehung geeinigt. Keine Besitzansprüche, kein Stress. Und dann ist das irgendwie alles viel zu schnell ganz eng geworden. Und jetzt fängt sie an, Regeln aufzustellen, auf die ich gar nicht vorbereitet war.«

Anna griff Svens Hand und flüsterte: »Sven, mein Sven! Sie ist eben richtig heftig verliebt in dich, sie hat Angst, dich zu verlieren!«

»Ich bin ja auch heftig verliebt in sie, aber sie will mich ändern, Annika!«

Anna schüttelte den Kopf. »Und ändern ist nicht gut. Aber kannst du nicht einfach ein bisschen Rücksicht auf sie nehmen, bis sie sich bekrabbelt? Dass eure Beziehung so schnell so eng geworden ist, ist ja nicht ihre Schuld. Du bist doch auch ganz schön vorgeprescht!«

Sven raufte sich stöhnend die Haare. »Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe! Ich war verpeilt, okay? Ich war frisch verliebt, hab nur noch mit dem Schwanz gedacht und dann hab ich aus den Augen verloren, wo die Grenzen sind. Ich hab zugelassen, dass Katja die Richtung bestimmt und dich ganz furchtbar übergangen! Und jetzt gehst du in dieses Nest am Arsch der Welt und lässt mich mit dem ganzen Schlamassel sitzen!«

Anna fühlte den Stich des Vorwurfs, aber sie kannte ihren Sven viel zu gut. Er hatte das nicht gesagt, um sie zu verletzen, sondern, weil er selbst verletzt war. Sanft flüsterte sie: »Versteh mich doch bitte! Ich gehe nicht weg, um dich zu bestrafen. Ich muss das einfach mal machen! Wir sind zusammen, seit wir denken können! Und du bist ein Hedlund, deine Familie ist in der ganzen Stadt bekannt wie bunte Hunde! Und jeder weiß, dass ich zum Hedlund-Clan gehöre. Egal, wo ich auftauche, wird getuschelt. Am schlimmsten ist es mit den Frauen. Für die eine Hälfte bin ich eine ganz arme Sau, die sich vor der ganzen Stadt betrügen lässt, für die andere Hälfte bin ich die böse Hexe Männerklau, die mit jedem vögelt und vor nichts Halt macht. Ich muss einfach mal raus aus diesem ganzen Chaos und nur für mich selbst stehen! Ich will mal irgendwo hin, wo ich nicht schon etikettiert bin, bevor ich durch die Tür komme! Wir haben noch drei Jahre, bis wir dreißig werden und ich muss rausfinden, ob ich noch etwas anderes sein kann als ›die Frau von‹.«

Sven stand auf, kam um den Tisch und fiel vor Anna auf die Knie. Er nahm Annas zarte Hände in seine großen Pranken und seufzte tief. »Kleene, ich hatte keine Ahnung, wie es dir wirklich geht.«

»Ist schon okay.« Anna wuschelte Sven über den Kopf. »Ich kann ja was dagegen machen.«

»Versprich mir nur, dass ich dich immer ans Telefon kriege, wenn ich dich brauche.«

Anna nickte langsam. »Ganz fest versprochen.«

Sven sah zu ihr auf und flüsterte traurig: »Es tut mir unendlich leid, dass du gehen musst.«

Anna bekam vor Rührung den Blick, den sie sonst nur für tapsige Hundebabys bekam – und für Sven in ganz besonderen Momenten. Für einen kostbaren Augenblick genoss sie das Klopfen ihres Herzens, dann schaltete sie wieder ihr Gehirn ein. »Du hast mich nicht vertrieben. Katja auch nicht. Noch nicht mal Maik. Ich will einfach nur sehen, ob ich auf eigenen Füßen stehen kann.«

Eindringlich flüsterte Sven: »Kleene, wenn irgendwas ist, dann ruf an! Ich komm dich holen, auch mitten in der Nacht! Du musst da nicht bleiben, wenn das nicht okay ist, du musst niemandem was beweisen!«

Anna flüsterte zurück: »Doch! Mir!«

Für einen langen Moment sahen sie sich traurig in die Augen, dann legte Sven den Kopf in Annas Schoß. Anna lächelte gerührt und strich ihm sanft über die rasierte Schläfe. Dann zupfte sie zart an seinem Wikingerzopf und fuhr mit den Fingerspitzen über die tätowierten Ornamente an seinem Handgelenk. Ganz leise flüsterte sie: »Du bist so schön, dass es wehtut, dich anzusehen.«

Sven sah auf und legte die Hand an Annas Wange. »Kleene, wenn ich heute Nacht bleibe, dann will ich nicht kuscheln. Dann will ich die ganze Nacht in deiner Glut liegen und dich lieben und morgen früh werden wir beide heulen.«

Anna bekam feuchte Augen, dann lächelte sie und nickte tapfer.


John stolpert auf die Bühne

John rollte das klapprige Damenfahrrad in die verschneite Einfahrt des rot geklinkerten ostfriesischen Einfamilienhauses und fuhr sich durch die Haare. »Okay. Pumpe, Pumpe, da. Scheiße.«

Wieso war das Ventil der Reifen immer gerade da, wo man nicht heran kam, wenn man die Reifen aufpumpen wollte? John seufzte, hob das Fahrrad an und drehte das Rad ein Stück weiter. Fünfzehn Kilometer gegen den eisigen Wind bis zu diesem Eugen ohne Luft in den Reifen, das ging selbst nicht mit Oberschenkeln aus irischem Stahl. Immerhin war die Titanic in Belfast gebaut worden. John lachte leise vor sich hin beim Gedanken, ob er auf dem Weg zu Eugen wohl einen Eisberg rammen würde.

»Hallo, John!«

John schlug sich die Fahrradpumpe in die Hand und überlegte. Die Stimme in seinem Rücken kam ihm bekannt vor. Er drehte sich um. »Inka!«

Die hübsche kleine Blonde in der dicken rosa Daunenjacke funkelte ihn wütend an. »Insa

John zog die Stirn kraus. »Oh, ja, warte, die Inka waren doch diese Indianer mit dem Kalender und dem Weltuntergang. Insa. War mein Fehler. Oder waren das die Maya? Da gab es doch auch mal so eine Biene …«

Insa schüttelte fassungslos den Kopf. »Dass du dich überhaupt noch hierher traust!«

John rieb sich den Nacken und dachte angestrengt nach. Verdammt, was hatte er jetzt wieder angestellt? »Na ja, ich bin in diesem Dorf aufgewachsen, ich dachte, ich hätte ein Recht, hier aufzutauchen. Und um ehrlich zu sein, ich hab mich nicht nicht her getraut! Rafaels Mutter hat mich eingeladen, als sie gehört hat, dass ich nach Ostfriesland komme und ich konnte einfach nicht Nein sagen. Ist ja nur für ein paar Tage, ich wollte mir gerade eine WG ansehen.«

Insa verschränkte die Arme. »Eine WG. Und da willst du mit dem Fahrrad von Rafaels Mutter hin? Bei Eis und Schnee? Läuft wohl nicht so gut mit der Kunst, was? Da kann ich ja froh sein, dass du dein Eheversprechen nicht gehalten hast!«

John legte den Kopf in den Nacken. Eheversprechen? Ja, da war was. Irgendein uraltes Missverständnis. »Inka, äh, Insa, ich … ich hab dir nie irgendwas versprochen! Du hattest mich gefragt, was ich vom Heiraten halte und ich hab gesagt, ich hätte grundsätzlich nichts dagegen. Dafür, dass du dann sofort zu all deinen Freundinnen rennst und erzählst, dass ich dich heiraten werde, kann ich ja nichts!«

Insa stemmte die Hände in die Hüften. »John, du bist so ein Arschloch! Wir waren dreimal zusammen, es wurde Zeit, dass du mich endlich heiratest!«

John neigte nachdenklich den Kopf. Insa hatte wirklich wunderschöne, faszinierende Haut. Keine Schlagsahnehaut, die war einfach die beste, aber sie hatte Haut, die aussah, wie der Milchschaum auf einem Cappuccino. Ganz feinporig, irgendwie … fluffig. John streckte die Hand aus und berührte vorsichtig Insas Hals. »Du siehst wirklich gut aus!«

Insa schnaufte und schlug nach seiner Hand. »Hast du überhaupt gehört, was ich dir gerade gesagt habe?«

John atmete irritiert tief durch. Vielleicht war es auch kein Cappuccinoschaum, sondern Badeschaum. Er konnte verstehen, wieso Katzen zu ihren Haltern in die Wanne sprangen, weil sie ausprobieren wollten, ob man auf diesen weißen Wolken spazieren gehen konnte. Er konnte auch verstehen, wieso Katzen eine Panikattacke bekamen, wenn sie durch den Schaum fielen und im Wasser landeten. Vielleicht sollte er die strampelnden Beine einer nassen Katze im Wasser malen. Er rieb sich die Stirn. »Wenn eine Katze in die Badewanne springt, glaubst du, dass das Wasser zur Seite verdrängt wird, oder eher nach hinten? Unter der Katze durch?«

Insa keuchte wütend. »Ehrlich, John, du bist noch genau so ein Idiot wie früher!«

John spürte, dass er seine steile Falte über der Nase bekam. »Entschuldige, ich … wir waren nicht dreimal zusammen, wir haben doch nur manchmal ein bisschen …«, er wollte sagen »Spaß gehabt«, aber das klang irgendwie nicht richtig. Er entschied sich für: »Liebe gemacht.«

Insa schnaufte. »Liebe gemacht? Liebe kann man nicht machen, du Arsch! Willst du mir jetzt erzählen, dass ich nur eine deiner Affären war?«

John überlegte und hob abwehrend die Hand. »Also, streng genommen stammt das Wort Affäre vom lateinischen facere, also machen, und kam über den französischen Sprachraum zu uns. Irre, oder? Wie Worte wandern. Im Französischen bedeutet Affäre in erster Linie einen Handel oder eine Angelegenheit. Eine zumeist unangenehme Angelegenheit, erst in zweiter Linie eine Liebschaft. Aber mir gefällt das mit der Liebschaft besser. Facere, machen, also haben wir Liebe gemacht. Ich finde, das klingt schön.« Er sah Insa bittend an. »Und es war auch schön.«

Insa knickte ein und zeigte gegen ihren Willen ihre süßen Grübchen. »Du bist immer noch der gleiche Klugscheißer wie früher. Aber irgendwann verfängt deine Masche nicht mehr.«

John zog eine Augenbraue hoch. »Welche Masche?«

Insa lachte spöttisch. »Die Masche vom hübschen Wunderknaben! Jetzt hast du noch diese Modelfigur und diese dichten schwarzen Wuschelhaare und diese unschuldigen grünen Kulleraugen. Aber irgendwann ist der Lack ab und dann wirst du fett und kriegst eine Glatze und dann findet dich niemand mehr unwiderstehlich! Und dann ist es auch egal, dass du zwei Klassen übersprungen hast und angeblich ein Genie bist!«

John fuhr sich tastend durch die Haare. »Also, eigentlich hab ich ganz gute Gene. Die Männer in meiner Familie fahren mit wallender Mähne in die Gruft. Mein Großonkel Seamus zum Beispiel wurde bis zum Schluss ›der Löwe‹ genannt, nicht nur, weil er so viel gebrüllt hat. Und hager! Also, hager sind wir, ich werde einer von diesen zähen Opas, an denen kein Gramm haften bleibt. Außer Rafaels Mutter füttert mich noch länger mit Grünkohl und opdrögt Bohnen. Ich hab keine Ahnung, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hat, dass die Dinger eine ostfriesische Delikatesse sind. Und die Bregenwurst! Und dieses ganze Pinkelgedöns auf der Fleischplatte!« John beugte sich vor und flüsterte: »Ich hab den Verdacht, dass Rafaels Mutter mich nur so durchfüttert, damit sie mich nach dem Essen zwingen kann, einen Kruiden zu kippen! Ich hasse diese Kräuterbitter!«

Insa sah genervt zur Seite und winkte der spionierenden Mutter von Johns altem Schulfreund hinter einer der Gardinen zu, dann musste sie lachen. »Ach, John, das Schlimmste ist, dass man dir nie lange böse sein kann!«

John zog wieder die Stirn kraus. »Böse? Wieso denn böse?«

Insa sah ihn strafend an, dann seufzte sie. »Und du willst dir eine WG ansehen? Hier, in Ostfriesland? Ich dachte, du lebst inzwischen in New York.«

John winkte ab. »New York wird völlig überbewertet. Viel zu viele Menschen. Ich will endlich wieder auf Kühe starren. Gibt es da nicht einen Film? ›Männer, die auf Kühe starren‹ oder so?«

Insa sah ihn nachdenklich an. »Ich glaube, das waren Schafe, oder?«

John nickte bedächtig. »Ja, vielleicht. Ist ja eigentlich auch egal, auf was man starrt. Hauptsache, man hat seine Ruhe.«

»Aha?« Insa sah ihn prüfend an. »Und dann willst du in eine WG ziehen? Damit du deine Ruhe hast?«

John fing endlich an, den Reifen aufzupumpen, wurde Zeit, dass er weg kam. »Na ja, meine Mutter macht sich Sorgen, dass ich schrullig werde, wenn ich ganz allein hinterm Deich lebe.«

Insa lachte spöttisch auf. »Du und schrullig! Das kann ich mir gar nicht vorstellen!«

John nickte ernst und drückte prüfend auf den Reifen. »Ja, eben, ich auch nicht, aber vielleicht wird das ja ganz nett. Früher hab ich ganz gern in solchen Künstlergemeinschaften gehaust. Ich mag Menschen, die verstehen, wieso man seine Tür zu macht.«

»Wieso willst du dann überhaupt mit Menschen zusammenziehen?«

John zuckte die Schultern. »Ich mag den Gedanken, dass meine Leiche gefunden wird, bevor ich total verwest bin.«

Insa schüttelte abschätzig den Kopf. »Ehrlich, bei dir weiß man nie, was man ernst nehmen soll und wann man verarscht wird.«

John kniete sich vor den nächsten Reifen und sah irritiert zu Insa auf. »Wieso sollte ich dich verarschen?«

Insa tippte sich an die Stirn. »Ernsthaft, du erzählst mir was von Katzen in Badewasser, wandernden Wörtern und deinem verwesenden Leichnam. Wir haben uns jahrelang nicht gesehen und du erzählst noch den gleichen wirren Scheiß wie als Teenager! Willst du irgendwann mal erwachsen werden?«

John pumpte bedächtig den Reifen auf und dachte nach. Er war auf die Akademie gegangen, hatte sich am Kunstmarkt hoch gekämpft und in Dublin, London und New York gelebt. Er hatte Konten voller Geld, von dem er nie wusste, was er damit anfangen soll, weil materielle Dinge ihn nie interessiert hatten. Er hatte es geschafft, wie man so schön sagte. Jedenfalls genug, um so zu leben, wie er wollte und sich nur noch sehen zu lassen, wenn er verkaufen und abkassieren wollte, um wieder in Ruhe malen zu können. Zeitfresser und Nervenkiller wie Marketing und Kontaktpflege überließ er längst seinem Agenten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde er noch nicht einmal mehr zu seinen eigenen Vernissagen auftauchen. John hasste den Kunstmarkt. Er hasste es, im Mittelpunkt zu stehen und kam regelmäßig ins Stottern, wenn Menschen sich mit ihm über seine Bilder unterhalten wollten. Er fühlte sich immer wie ein Hochstapler, wenn Menschen ihm die Hand schütteln und mit ihm Prosecco schlürfen wollten, weil sie das Gefühl hatten, dass es aufregend war, einen Künstler zu treffen. John war nicht aufregend.

Aber Insa lebte immer noch auf dem Dorf, auf dem sie beide aufgewachsen waren im Haus ihrer Eltern und jobbte in der Saison in Souvenirläden. Seltsam, wie unterschiedlich die Auffassungen von erwachsen werden waren. John drückte die Pumpe in ihre Halterung und stand auf. »Darf ich dich mal was fragen?«

Insa sah ihn provokativ an und wartete. John rieb sich die Bartstoppeln. »Wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, mich heiraten zu wollen?«

Insa sah ihn verständnislos an. »Hallo? Wir sind zusammen aufgewachsen und waren ein Paar?«

John legte die Hände an den Fahrradlenker und merkte schon wieder, wie er die steile Falte über der Nase bekam. »Insa, wir waren doch kein Paar! Wir sind nur beide im selben Kaff groß geworden und hatten Langeweile! Außer Saufen und Sex konnte man hier nie viel machen und Alkohol hat mir nie geschmeckt. Ist doch klar, dass wir im Heu waren!«

Die Ohrfeige kam so schnell, dass John noch nicht einmal richtig gezuckt hatte, als es in seinem Kopf schepperte. Er schüttelte sich verwirrt und stieg aufs Fahrrad. »Okay, dann … War nett, dich mal wieder zu sehen.« Er tastete prüfend seine Wange ab. »Mann, ich hatte ganz vergessen, dass du immer gleich zulangst!«

Er schüttelte sich noch einmal, dann fuhr er los. Insa schrie ihm hinterher: »Und ich hatte ganz vergessen, was für ein Spinner du bist!«

John fuhr auf den Radweg, bremste dann aber abrupt ab. Spinner. So hatte ihn ewig niemand genannt. Er zog sein Handy aus der Tasche und googelte das Wort »spinnen«. Interessant, spinnen war ein Synonym für »einen Haschmich haben« oder »etwas an der Erbse haben«. John scrollte sich durch die Synonyme und lachte zufrieden. Insa stapfte an ihm vorbei zum Haus ihrer Eltern. Höhnisch rief sie: »Schön, dass du Spaß hast!«

John sah gedankenverloren auf sein Handy. »Sieh dir das an hier! Spinnen steht auch für fabulieren oder gaukeln, das gefällt mir, ich steh unglaublich auf Worte, die mit f anfangen. Fabulieren. Aber gaukeln ist auch schön. Gehoben: aussinnen oder erdichten. Ich dachte, es heißt ersinnen. Aber ich bin eben Ausländer, ich werde nie richtig Deutsch können.«

Insa rollte mit den Augen. »Du bist genau so durchgeknallt wie deine verrückte Mutter! Die hat ja auch nie einen Mann abgekriegt.«

John steckte das Handy weg. Er musste unbedingt mehr über die Herkunft des Wortes herausfinden, aber Insa nervte. Er rieb sich die Augen und stützte sich dann auf den Fahrradlenker. »Dass meine Mutter nie einen Mann abgekriegt hat, ist so nicht ganz richtig. Zum einen bin ich hier, zum anderen ist es eher so, dass keiner sie abgekriegt hat. Und ihre Liebe zu Worten ist ihr Job.«

Insa tippte sich an die Stirn. »Ihr seid eine Familie, die beim Abendbrot aufspringt, um ein Lexikon zu holen, weil ihr euch fragt, wo das Wort Brot eigentlich herkommt! Ihr seid Spinner! Ihr diskutiert, ob eure Kaffeebecher Preußischblau sind oder Metalloblau!«

John stöhnte genervt. Langsam wollte er wirklich los. »Phthaloblau, es heißt Phthaloblau. Aber die Becher sind Kobaltblau, das sind Welten. Das Mischverhalten ist vollkommen anders! Und meine Mutter hat die heute noch. Also, die Becher.«

Insa schrie: »Koboldblau, du willst mich schon wieder verarschen! Kobolde sind grün, das müsstest du als Ire eigentlich wissen!«

John neigte resigniert den Kopf. »Insa, bevor wir jetzt das Mischverhalten von Kobolden diskutieren«, John knickte ein, er konnte einfach nicht widerstehen. »Kobolde haben ein beschissenes Mischverhalten! Wenn du zu einer Party Elfen, Trolle und Kobolde einlädst, machen die Elfen mit den Trollen einen drauf, aber die Kobolde bleiben nur unter sich! Ernsthaft, die hocken den ganzen Abend auf dem Sofa und saufen nur. Und Kobolde können nicht mit Anstand saufen, die sind wie Engländer, kotzen in jedes Taxi.«

Insa starrte John glasig an und zog die Oberlippe hoch wie ein Kaninchen mit verstopfter Nase. John seufzte resigniert. »Hast du schon mal Koboldkotze vom Teppich gewischt? Die saufen immer Blue Curacao, diese Achtzigerjahreplörre. Ehrlich, Koboldkotze sieht aus wie Schlumpfkacke, und daraus wird dann das Koboldblau hergestellt.«

Insa kniff die Augen zu und fing an, schleppend langsam den Kopf zu schütteln. »John, manchmal frage ich mich, ob du dir den ganzen Mist nicht einfach nur ausdenkst!«

John schenkte Insa einfach mal sein schönstes Lächeln. »Ich müsste dann langsam wirklich los, ich hab zugesagt, dass ich zum Tee da bin, und ich hab fünfzehn Kilometer Gegenwind auf einem Damenfahrrad vor mir.«

Insa verschränkte wieder die Arme. »Und wie siehst du überhaupt aus! Wie der letzte Penner! Kannst du dir noch nicht mal eine Winterjacke leisten?«

John sah an sich herab. Ja, gut, die Hose stand vor Farbflecken fast von alleine, aber das alte Flanellhemd war doch noch vollkommen in Ordnung. Auf den Holzfällerkaros fielen die Farbflecken wenigstens nicht so auf. Dafür, dass er sich mal wieder die halbe Tasche abgerissen hatte, konnte er ja nichts, so etwas passierte eben, wenn man sperrige Leinwände durchs Atelier trug. Insa setzte mit einem höhnischen Grinsen noch eins drauf. »Also, wenn ich ein Vermieter wäre, ich würde dich nicht in mein Haus lassen!«

John nickte ruhig. »Im Internet steht, dass ich ein exzentrischer Millionär bin, kann jeder nachlesen, das ist besser als eine Schufa-Auskunft.« Er tippte sich grüßend an die Stirn und fuhr einfach los. Bestimmt musste Insa doch auch langsam rein und sich eine Talkshow ansehen. Sie rief ihm noch irgendetwas hinterher, aber er hörte gar nicht mehr hin.

Vielleicht war es doch nicht so eine gute Idee gewesen, nach Ostfriesland zurückzugehen. Zu viele Ex-Geliebte pro Quadratkilometer. Noch ein Grund mehr, sich in dem Bauwagen zu verschanzen, den er seit Jahren ausbaute, um irgendwann mal »auszusteigen«. John grinste satt und legte sich gegen den eisigen Wind.


Drei Tassen sind Ostfriesenrecht

Eugen legte noch einen Holzscheit auf das prasselnde Feuer im Kaminofen der Upkammer, dann tigerte er nervös hin und her, setzte sich, tigerte wieder zum Fenster und lauschte, ob er in der Ferne Motorengeräusche hörte.
Tante Gesa hatte immer gewitzelt, dass sie Ostfriesland so liebe, weil man mittwochs schon sehen könnte, wer samstags zu Besuch käme. Eugen lächelte. So übertrieben, wie das klang, war der Spruch gar nicht. Aber draußen war alles ruhig. Die Wiesen und Weiden schienen im tiefen Winterschlaf zu liegen.

Eugen trottete in die Küche. Vielleicht war es übertrieben, wenn er einen richtigen ostfriesischen Tee machte und seinen Gast mit einer Teezeremonie empfing, aber er wollte auch nicht, dass Gesa in ihrem Grab rotierte, weil er seinem Besuch nichts anbot.

Eugen setzte also den Kessel auf, machte das Tablett zurecht und vertrieb sich die Zeit damit, mal wieder seine E-Mails zu checken. Aha, noch ein Autor interessierte sich für das Projekt! Eugen stellte sich vor, wie fantastisch es wäre, wenn er Anna einen Kollegen präsentieren könnte. Er grinste das satte Grinsen einer zufriedenen Katze, dann trug er fröhlich summend das Teetablett in die behaglich warme Upkammer.

Er ließ noch einmal den Blick durch den Raum schweifen. Die Brokatdeckchen, die Buddelschiffe und die Holzmöwen, die in jeder Fensternische nach Gästen Ausschau gehalten hatten, hatte er entfernt, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Tante Gesa hatte diesen Kitsch zwar eigentlich auch nie gemocht, aber die Gäste einer Pension an der Nordsee erwarteten nun einmal Möwen, Kutter und Fotos von Robben, die sich auf der Sandbank aalten. Eugen hatte am Strand von Bensersiel noch nie eine Robbe gesehen. Immer nur Möwen, die ihm im Sturzflug das Brötchen aus der Hand gerissen hatten.

Die blau und weiß gestreiften Ostfriesensofas vor dem Kaminofen kamen ihm auch nicht besonders künstlerisch vor, aber jetzt war es sowieso zu spät zum Umräumen, denn John O'Molloy konnte jede Minute hier sein.

Aus einem verwirrten Gefühlsüberschwang heraus machte Eugen einen ungelenken Hüpfer wie ein Fohlen auf viel zu langen Beinen. Endlich war es so weit! Die Sache kam ins Rollen! Anna würde einziehen, ein Musiker und vielleicht auch der berühmte Maler.

Als es klingelte, kämmte Eugen sich hektisch mit den Fingern durch das schüttere, rotblonde Haar. Er setzte ein, wie er hoffte, cooles Gesicht auf, schritt so lässig wie möglich zur Tür und öffnete. Der Mann, der da vor der Tür stand, hatte nicht viel Ähnlichkeit mit dem Star der internationalen Kunstszene, der Eugen auf den Fotos im Internet so viel Respekt eingeflößt hatte. Weder trug er einen schwarzen Maßanzug, noch hatte er eine stylishe Frisur.

Eigentlich hatte er überhaupt keine Frisur, sondern nur irgendwie ins Gesicht hängende dunkle Haare, die aussahen, als hätte er immer dann etwas abgeschnitten, wenn es ihm die Sicht versperrte.

Statt eines eleganten Anzugs trug er eine vor Farbflecken starre kaputte Cargohose und trotz der eisigen Kälte nur ein im steifen Wind flatterndes Flanellhemd. Eugen hätte jetzt nicht sagen können, dass der Mann einen Bart hatte, er wirkte eher, als würde er nur einfach hin und wieder vergessen, dass man sich auch rasieren kann. Und er bewegte sich wie eine Katze. Eine geschmeidige Katze.

Unwillkürlich blickte Eugen an sich herab, als müsse er überprüfen, ob seine schmale Hühnerbrust und seine spitzen Knie noch da waren.

Der Mann fuhr sich jetzt durch die Haare und zeigte ein sparsames Lächeln. »Eugen?«
Eugen stammelte: »Ja, du musst John sein! Äh, ich habe gar kein Auto gehört.«

John nickte langsam, als müsste er erst über Eugens Feststellung nachdenken. Dann erklärte er mit einem geheimnisvollen Grinsen: »Bin mit dem Fahrrad da.«

»Äh, von New York?« Eugen merkte erst, als er die Frage ausgesprochen hatte, wie dämlich sie war.

John sah für einen Moment mit unergründlichem Blick den wild jagenden Wolken am Himmel nach, dann sah er Eugen wieder an. »Keine gute Route. Zu wenig Radwege unter Wasser.«

Eugen nickte verstehend und schämte sich dafür, dass er rot anlief, was ihn auch nicht blasser machte.

John erklärte ganz ruhig: »Aus Richtung Neuharlingersiel. Ich wohne für ein paar Tage bei einer alten Nachbarin von früher.«

Eugen schluckte. »Das sind fast fünfzehn Kilometer!«

John zuckte die Schultern. »Bei dem auflandigen Wind gefühlte fünfzig, aber ich freue mich auf den Rückweg!«

»Ah, Rückenwind, ich verstehe!« Eugens Gesicht leuchtete auf, dann trat er zurück und riss die Tür demonstrativ weit auf. »Komm doch rein, du hättest gar nicht klingeln müssen, die Tür steht jedem offen! Ich habe Tee gemacht und in der guten Stube brennt ein Feuer. Äh, ich meine, es brennt natürlich nicht in der Stube, ich habe nur den Kamin angemacht.«
John trat ins Haus und sah sich um, als handle es sich bei Tante Gesas Hof um ein weltberühmtes Bauwerk. »Wie alt ist das Haus?«

Eugen überlegte hektisch. »Ich glaube, 1862 war die Grundsteinlegung. Seitdem wurde es aber immer wieder umgebaut, es ist ein bisschen verschachtelt!« Er lachte verlegen und ging nervös plappernd vor durch das Tunnelsystem des verbauten alten Hauses. »Hier rechts ging es früher zu den Schweineställen und dort wurde das Korn gelagert. Jetzt sind natürlich überall kleine Ferienapartments und Gästezimmer, aber meine Familie hat sich immer bemüht, den ursprünglichen Charakter des Hauses zu erhalten. Meine Familie war eine der ersten, die von Seefahrt und Landwirtschaft auf Fremdenverkehr umgestellt hat und damals …«

John lief einfach los, scheinbar kannte er sich mit ostfriesischen Häusern aus. »Ist das die Upkammer?«

Eugen versuchte es mit einem Witz. »Bist du Maler oder Architekt?«
John neigte den Kopf und runzelte die Stirn. »Ich interessiere mich einfach nur für Dinge.«

Eugen wiederholte nur: »Dinge.«

John lächelte jetzt. »Du weißt schon. Alte Häuser und so.«

Eugen nickte erleichtert. »Ja, Häuser. Ich liebe auch alte Häuser. Ganz besonders dieses. Komm, setzen wir uns vor den Kamin, der Tag ist so nasskalt.«

»Einer dieser Tage, an denen man das Watt riechen kann. Wie weit ist es von hier bis zum Deich?«

Eugen bot John einen Platz an. »Etwa drei Kilometer bis Bensersiel. Wir merken hier aber nicht viel von den Touristen, weil wir nicht an der Straße nach Esens liegen. Hier ist es meist ziemlich ruhig, wenn man die Gäste nicht gerade herlockt. Möchtest du Tee?«

Eugen wies einladend auf die kleine Teetafel, die ihm jetzt doch irgendwie übertrieben und spießig vorkam. Aber Johns Augen blitzten auf. »Tee! Ich weiß, es verstößt gegen die ostfriesische Etikette, in unserem Fall«, er sah Eugen nachdenklich an, »bist du ja wohl die Hausfrau, aber darf ich mir selbst einschenken? Ich liebe das!«

John ließ sich auf eines der Sofas gleiten, warf mit der winzigen Kluntjezange ein großes Stück Kandis in die Tasse vor ihm und griff dann nach der Teekanne. Eugen wollte etwas sagen, aber John hieß ihn mit einer ehrfürchtigen Handbewegung Schweigen. Als er den kochend heißen, tiefschwarzen Tee auf das Kandisstück goss, lauschte er mit geneigtem Kopf und ernstem Gesicht auf das Knacken des zerspringenden Zuckerklumpens. Er murmelte fasziniert: »Du hast tatsächlich eine!«

Während Eugen sich noch verwirrt fragte, was John damit meinte, griff John das Sahnekännchen mit der winzigen Kelle, die aussah wie eine Suppenkelle für Puppenstuben, und legte damit wie eine gelernte ostfriesische Hausfrau die Sahne auf seinen Tee. Offenbar hatte er die Sahnekelle gemeint.

»Jedes Mal.«

»Äh, bitte was?«

»Faszinierend. Wie die Sahne sich im Tee verteilt. Wie sie erst nach unten sinkt und sich dann in kleinen Kugeln nach oben windet, um sich wie Nebelschwaden über dem Watt im Tee zu verteilen.« John schüttelte melancholisch den Kopf. »Ich liebe Sahne.«

Eugen schenkte sich nun ebenfalls ein, nippte an seiner dünnwandigen kleinen Tasse, verbrannte sich natürlich den Mund und kleckerte. Dabei versuchte er, wissend zu nicken und wischte dann diskret die heißen Teeflecken von seinem Hemd. »Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.«

John nickte langsam. »Das sind die Momente, in denen ich bedaure, kein Kameramann geworden zu sein. Diese Bewegung, dieser einmalige, vergängliche Moment, in dem die Sahne ihren Weg durch den Tee sucht, die kann man nicht malen, verstehst du?«
Eugen versuchte, ein kluges Gesicht zu machen. »Aber deine Bilder sind doch wohl sehr erfolgreich. Ich hab im Internet Artikel über dich und deine Arbeit gelesen und war echt beeindruckt. Deine Bilder sehen einfach so …«, Eugen suchte hilflos nach dem richtigen Wort.

Er hatte überhaupt keine Ahnung von Kunst. Er selbst wäre nie auf die Idee gekommen, eine Künstler-WG zu gründen, aber Tante Gesa hatte immer davon geträumt, aus ihrem Haus ein kleines Worpswede zu machen. Sie hatte Eugen ihre Ferienpension hinterlassen, weil er immer ihr Lieblingsneffe gewesen war. Und weil sie wollte, dass er ihren Traum einfach lebte. Dabei war Eugen so schüchtern, dass er in der Gegenwart von Künstlern vor Ehrfurcht erstarrte, aber ein letzter Wille war heilig. Außerdem war Eugen 29 und hatte seit Jahren mit offenen Augen dem Albtraum entgegengesehen, an seinem 30. Geburtstag noch bei seiner Mutter zu wohnen. Und jetzt war er hier. Allein in Ostfriesland. Und er musste mit einem internationalen Star reden, der Millionen scheffelte und trotzdem aussah wie ein Handwerker, der sich kein neues Hemd leisten kann.