Eine Sage erzählt uns, dass vor langen, langen Zeiten auf dem Jettenhügel, auf dem heute das Heidelberger Schloss steht, eine weise alte Frau, eine Seherin mit Namen Jetta, lebte. Die Greisin verbrachte ihre Tage hier in einer alten Kapelle, weit abseits vom Leben und Treiben der Menschen, das ihr oft sinn- und nutzlos erschien.
Darum bekam sie auch kaum jemand zu Gesicht. Jetta wollte ihren Mitmenschen nicht in ihre von Mühsal und Sorgen gezeichneten Antlitze schauen; ihre Augen sollten rein bleiben. Sie wollte sich nur an den Schönheiten ihrer eigenen Gedanken und an der Natur ergötzen. Gleichwohl verwehrte sie den vielen, Rat suchenden, die zu ihr kamen, denn Jetta war weithin berühmt für ihre Weissagungen, nie ihre Hilfe. So mussten diese nur an den hölzernen Laden klopfen, der stets das Fenster der kleinen Hütte verschloss und ihre Bitten vortragen. Daraufhin öffnete sich der Laden ein wenig, wie von Geisterhand, und aus dem Dunkel der Hütte erklangen in leise gesungenen Reimen die Weissagungen der alten Frau.
Eines Tages kam ein junger Edler des Weges geritten. Vor Jettas einsamer Behausung brachte er sein Pferd zum Stehen und rief mit verhaltener Stimme, denn angesichts der friedlichen Natur und fast heiligen Ruhe hier oben, schien ihm lautes Rufen unangemessen: „Jetta, Jetta, ich sorge mich um mein Land. Ich bitte dich, mir seine Zukunft vorauszusagen.“ Zuerst war nur Stille. Außer dem leisen Wispern der Bäume war nichts zu hören. Doch dann öffnete sich mit einem leisen Knarzen der hölzerne Fensterladen und stumm lauschte der junge Mann Jettas Singsang, der aus dem dämmrigen Inneren der kleinen Hütte erklang:
„Meinem Hügel ist´s bestimmt,
vom Schicksal ist´s beschieden,
Ein groß Geschlecht als Sitz ihn nimmt,
In Kriegszeit wie im Frieden.
Die prächtig Burg, aus Stein erbaut
bewacht das Volk im Tale,
das Feld und Wiesen dort bebaut,
und sorgt für Trank und Mahle.
Nun sehe ich auch Schatten ziehen,
die euch zu Boden zwingen.
Doch Mut und Glauben allezeit
Wird wieder Frieden bringen.“
Danach schloss sich die hölzerne Lade wieder, noch während der junge Mann sich höflich bedankte. Tief in Gedanken versunken ritt er von dannen.
Obwohl die weise Jetta jedermanns Zukunft und die ihres Landes sehen konnte, mangelte es ihr wohl an der Vorsehung ihres eigenen Schicksals. Denn in der Frühe eines Tages, die Sonne schickte ihre ersten zaghaften Strahlen auf die vom Morgentau glitzernden Wiesen und nebelfeuchten Wälder, machte sich Jetta auf zu einer einsamen Wanderung durch die blühende, erwachende Natur. Die letzten Wochen waren anstrengend für sie gewesen, gar zu viele Menschen hatten sie um Rat ersucht und Jetta fühlte sich müde und ausgelaugt und sehnte sich nach Ruhe.
Langsam aber stetig ging sie ihres Weges, ohne darauf zu achten wohin. Um sie herum zwitscherten und jubilierten die Vögel, sprangen die Eichhörnchen in mutigen Sprüngen von Wipfel zu Wipfel. Manchmal blieb Jetta stehen, strich mit sanfter Hand über die borkige Rinde eines alten Baumes, bückte sich, um das emsige Treiben eines Ameisenvolkes zu beobachten oder sie bog die Zweige einer blühenden Hecke zu sich herunter und erfreute sich an der Vollkommenheit der Blüten.
Mittlerweile war die Sonne höher gestiegen und ihre Strahlen tropften wie flüssiges Gold zwischen den dichten Bäumen auf den weichen Waldboden. Jetta ließ sich auf einer stillen Lichtung auf einem bemoosten Baumstumpf nieder und nach einer Weile sank ihr der Kopf auf die Brust und sie fiel in einen sanften Schlummer. Als sie frisch und erholt nach einiger Zeit wieder erwachte, sah sie dass der Tag schon weit fortgeschritten war und bald die Dämmerung hereinbrechen würde.
Da hörte sie in der Ferne ein sanftes Plätschern und Murmeln. Langsam ging sie dem Geplätscher nach und fand sich inmitten eines lieblichen Tales wieder, auf dessen Grund etliche Quellen sprudelten. „Oh, wie wunderbar.“
Jettas altes, zerfurchtes Gesicht überzog ein Lächeln. „Nun spüre ich erst wie durstig ich bin. Doch dieses köstliche Wasser wird mich laben, bevor ich mich wieder auf den Heimweg mache.“ Schwerfällig kniete sie sich nieder, um mit zittrigen Händen etwas Wasser aus einer der Quellen zu schöpfen. Die lange Wanderung hatte ihre alten Knochen doch mehr angestrengt, als sie vorausgeahnt hatte. Während sie so schutz- und wehrlos auf der Erde kniete, brach plötzlich aus dem dichten Gebüsch hinter ihr eine hungrige Wölfin mit ihren Jungen hervor und stürzte sich auf die alte Frau.
Die hörte das Keuchen des hungrigen Muttertieres. Sie drehte sich um und ihr Mund öffnete sich, um ihre Götter um Hilfe anzuflehen, doch nur ein krächzender Schrei entrang sich ihrer Kehle. Sie riss ihre Arme hoch um sich vor dem Angriff zu schützen. Doch vergeblich. Der Hunger des sonst eher scheuen Tieres war zu groß und es stürzte sich auf die so leicht erreichte Beute. Ein Jäger, der am nächsten Tag auf der Pirsch an dem Ort vorbei kam, fand den zerrissenen Körper der alten Jetta.
Die Trauer der Menschen um die weise Seherin war groß. Und im Andenken an sie nannten sie den Brunnen, wo sie zu Tode gekommen war, Wolfsbrunnen.
Der Wolfsbrunnen, im Heidelberger Stadtteil Schlierbach gelegen, ist inzwischen ein beliebtes Ausflugsziel. Denn hier, unterhalb des Felsenmeeres am Königsstuhl, wurde um 1550 herum auf Kurfürst Friedrich des II. Geheiß hin, ein Lusthaus mit Brunnen, Wasserspielen und drei Fischteichen erbaut, die zum Teil noch heute zu sehen sind. Der wahre Sachverhalt des Brunnennamens bezieht sich allerdings nicht auf das unglückliche Ende der armen Jetta. Er geht wohl eher auf den Beruf des Wolfskreisers zurück. Der hatte einst die Aufgabe, die Wölfe für die Jagdgesellschaften zusammen zu treiben, bzw. einzukreisen.
In das große, schwere, eisenbeschlagene Holztor, das zum Schlosshof des Heidelberger Schlosses führt, ist ein kleines Pförtchen eingelassen. Durch dieses Pförtchen konnten Besucher oder auch Boten ein- und ausgelassen werden, ohne dass man dazu das große Tor extra öffnen musste. Um den dicken Eisenring, der als Türklopfer an der kleinen Pforte hängt, rankt sich eine besondere Sage:
Einer der Kurfürsten fühlte sein Ende nahen und da er kinderlos und ohne Erben war, machte er sich in vielen langen Nächten Gedanken um seine geliebte Kurpfalz. Schlaflos wälzte er sich in seinem prunkvollen Bette hin und her: Wer sollte das Land nach seinem Tode weiterregieren? Wer besaß dazu genügend äußere und innere Kraft?
Da kam dem Kurfürsten ein, zugegeben etwas abwegiger, Gedanke. Derjenige, dem es gelingen würde, den eisernen Klopfring an der kleinen Pforte durchzubeißen, sollte das ganze Schloss mit all seinen Schätzen und das Land, als Geschenk erhalten. Bereits am nächsten Tag verkündeten Boten diese überraschende Nachricht in Heidelberg und der ganzen Kurpfalz. Nun kann man sich denken, welche Aufregung diese Botschaft in Stadt und Land auslöste! Das prachtvolle Schloss mit all seinen Kostbarkeiten und dazu noch das ganze Land waren der Preis! Und dazu musste man nur einen Ring durchbeißen!
Von nah und fern, aus allen Richtungen und natürlich auch aus Heidelberg selbst, strömten die Menschen herbei und versuchten, den eisernen Ring an der kleinen Pforte zu durchbeißen. Doch der einzige, der einen wirklichen Gewinn bei dieser Geschichte erzielte, war wohl der Bader, der Arzt der kleinen Leute, die sich keinen akademisch ausgebildeten Medicus leisten konnten. Denn auch der kannte sich in der Zahnheilkunde aus und musste darum nun unzählige schmerzende abgebrochene Zähne ziehen. Und bei so manchem Patienten waren es auch noch die letzten kümmerlichen Stumpen, die er bei dem vergeblichen Biss geopfert hatte.