Ein hinreißend komischer Wessi-Ossi-Ösi-Roman,
in dem natürlich auch der Yeti eine wichtige Rolle spielt.
Für Uschi
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.
Der Roman ist in allen Bestandteilen Fiktion. Sollten sich
darin Ähnlichkeiten mit existierenden Personen, Namen,
Orten, Einrichtungen oder Unternehmen finden, sind diese
folglich rein zufällig.
Impressum:
© 2011 Juckel Henke
Cover und Illustrationen:
Miriam Fischer
Spezieller Dank an:
Dr. Ulrike Schlieper-Müller
Ursula Jennemann-Henke
Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH,
Norderstedt
ISBN: 978-3-8448-7626-0
http://www.ueberbeinroman.de
Am Tag nach meiner Geburt, am 14. Mai 1970, wurde der verurteilte Kaufhaus-Brandstifter Andreas Baader spektakulär befreit. Überall im Land gab es Hausdurchsuchungen und Verhaftungen. So auch am 20. Mai. Und an diesem Tag fuhr mein Vater Heinrich Wieland mit seinem alten VW-Käfer um zehn Uhr zur Klinik, um meine Mutter und mich von dort abzuholen. Schon auf dem Weg dorthin fielen ihm die vielen Polizeiautos auf. Was war hier los? Kurz bevor mein Vater mit seinem Auto auf den Parkplatz der Klinik einbiegen konnte, wurde er von einem uniformierten Polizeibeamten an den Fahrbahnrand gewunken.
„Allgemeine Polizeikontrolle. Bitte zeigen Sie mir Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere“, sagte der Beamte. „Steigen Sie vorsichtig aus und halten Sie die Hände über den Kopf!“
Mein Vater wusste nicht, wie ihm geschah. Er öffnete die Tür und sah direkt in den Lauf einer entsicherten Maschinenpistole. Zwei Polizeibeamte stießen ihn unsanft vor seinen alten VW und durchsuchten ihn von oben bis unten. Nachdem die Staatsbeamten nichts gefunden hatten, ließen sie, ohne sich zu entschuldigen oder ihr Verhalten zu begründen, von ihm ab.
Der frischgebackene Vater stieg nach diesem Vorfall völlig verstört in sein Fahrzeug, fuhr auf den Parkplatz und stellte den Wagen dort ab. Dann betrat er die Klinik. Er ging zum Fahrstuhl, stieg ein und drückte auf den Knopf mit der Ziffer 2. Sekunden später öffnete sich die Fahrstuhltür im zweiten Stock und mein Vater schritt gemächlich durch den Krankenhauskorridor und blieb schließlich vor Zimmer 213 stehen. War das gerade alles nur ein Traum? Er klopfte an die Tür und betrat dann den Raum.
Direkt unter dem Fenster zum Hof lag Franzi, wie Papa seine Frau liebevoll nannte, in einem alten Klinikbett, welches wahrscheinlich noch aus den Nachkriegsjahren stammte. Franzi strahlte ihren Heinz an. Auf dem Arm hielt sie mich, die winzige Beate. Heinz strahlte zurück, ging ans Bett und küsste seiner Liebsten auf die Stirn und streichelte anschließend zärtlich über meinen Hinterkopf.
„Wir müssen nur noch auf den Stationsarzt warten. Er bringt mir den Entlassungsbericht. Du könntest aber schon mal die Sachen aus dem Schrank zum Auto schaffen“, sagte Franzi, meine Mutter.
Mein Vater Heinz nahm den gepackten Koffer und fuhr mit dem Fahrstuhl ins Kellergeschoss, ging durch die Hintertür auf den Parkplatz und packte alles in den kleinen Kofferraum. Auf dem Rücksitz stand das Oberteil des neuen Kinderwagens. Er schnappte sich das Teil und kehrte damit zu mir und zu Mutti zurück. Sie hatte sich inzwischen angezogen und saß abholbereit mit mir, der kleinen Beate, auf dem Arm am runden Besuchertisch im Zimmer. Mein Vater stellte die Wiege dort ab und Mutti legte mich behutsam in das weich gepolsterte Bettchen. Sie verabschiedete sich von ihren Bettnachbarinnen, die allesamt die Geburten ihrer Babys noch vor sich hatten, und verließ zusammen mit meinem Vater und mit mir das Hospital.
Nachdem mein Vater den Parkplatz des Krankenhauses verlassen hatte, wurde er von einem uniformierten Polizisten, der eine entsicherte Maschinenpistole im Anschlag in der Hand hielt, an den Straßenrand gewunken.
„Das gleiche Spiel wie auf der Hinfahrt“, dachte er, nur, dass diesmal auch Franzi mit aussteigen musste, um sich von den Polizisten durchsuchen zu lassen.
Während meine Eltern, die Hände hinter den Kopf haltend, abgetastet wurden, schrie ich laut in der Wiege auf dem Rücksitz. Die Beamten verzogen keine Miene und ließen uns, nachdem sie auch noch den Kofferraum durchsucht hatten, weiterfahren.
Zehn Minuten später erreichten wir unser Zuhause am Gersteinring in Bochum. Im dritten Stock, direkt neben der Zweizimmerwohnung von Oma und Opa, lebten meine Mutter, mein Vater und mein Bruder, der kleine Sven, in drei Zimmern mit Küche, Bad und kleinem Balkon mit Blick auf den Hinterhof. Die Siedlung wurde in den 1960er Jahren von den Bochumer Heimstätten gebaut und jetzt verwaltet. Noch reichte der kleinen Familie die knapp 48 Quadratmeter große Wohnung. Aber wenn wir Kinder älter würden, so war es geplant, dann wollte man in eine größere Wohnung umziehen. Doch nun waren meine Eltern erst einmal froh, dass sie ihren Eltern und meinem Bruder, der bei Papas Eltern war, stolz ihren Neuzugang präsentieren konnten.
Oma Bertha Wieland hatte Sven auf dem Arm und ließ ihn an seinem Fläschchen nuckeln. Opa Karl Wieland saß in seiner Kommandozentrale, einem uralten, gemütlichen Sessel und schmauchte genüsslich an einer 30-Pfennig-Handelsgold-Zigarre. Er blies mir den Rauch ins Gesicht. Daraufhin schrie ich. Kurz danach klingelte es an der Wohnungstür. Opa Wieland erhob sich, blies diesmal Oma Wieland und dem Kleinen den Qualm ins Gesicht und betätigte den Türöffner. Kurze Zeit später stand Oma Sofia Matzmann, die Mutter meiner Mutter, im Wohnzimmer der alten Wielands. Opa Wieland zündete sich flugs eine neue Zigarre an und holte eine Flasche Frühstückskorn aus dem Kühlschrank. Er stellte sechs Pinnchen auf den kleinen Wohnzimmertisch und goss alle Gläser bis zum Rand voll. Karl Wieland war stolz auf seinen Sohn Heinrich, Sofia Matzmann war stolz auf ihre Tochter Franziska, Heinz und Franzi waren stolz auf sich und auf ihre Kinder, und Sven und mir war das alles so etwas von egal und da fingen wir auch schon zu weinen an. Die Erwachsenen griffen zu ihren Schnapspinnchen, prosteten sich zu und kippten sich den Korn in den Kopp, wie man im Ruhrpott zu sagen pflegt.
Oma Bertha nahm das letzte der Pinnchen und goss den Inhalt behutsam über meinen kleinen Hinterkopf. „Privattaufe“, sagte sie und musste laut lachen.
Opa Karl schenkte derweil die nächste Lage Schnaps ein. Oma Sophia Matzmann war zwar glücklich, doch sie bedauerte, dass ihr Mann, Opa Kurt Matzmann, der vor drei Jahren bei einem Grubenunglück unter Tage ums Leben gekommen war, diesen schönen Moment nicht mehr miterleben durfte.
An diesem 20. Mai 1970 war die Welt morgens um sieben Uhr noch in Ordnung, aber kurz nach 20 Uhr am Abend nicht mehr. Dann, nach Beginn der Tagesschau, zerbarst die Wohnungstür und fünf Polizeibeamte standen in der Wohnung meiner Großeltern, während nebenan bei uns ebenfalls die Tür eingetreten wurde und Beamte auch hier alles auf den Kopf stellten.
Ich schrie so laut, dass man es noch bis ins Stadion an der Castroper Straße hätte hören können. Nachdem die Durchsuchung der Wohnungen nichts gebracht hatte, verschwanden die Beamten bis auf den Einsatzleiter, der irgendwas über Rasterfahndung und RAF schwafelte, sich kurz entschuldigte und versprach, für den Sachschaden aufzukommen. Welchen Schaden er und seine Beamten jedoch bei mir angerichtet hatten, war zu diesem Zeitpunkt niemandem bewusst.
Mein großer Bruder Sven und ich entwickelten uns prächtig und wir hatten mit vier beziehungsweise fünf Jahren bereits den Großteil der sogenannten Kinderkrankheiten hinter uns. Masern, Mumps, Scharlach, Diphtherie oder auch Diffterie nach der neuesten Rechtschreibreform.
1974, zu Svens fünftem Geburtstag, gab es eine richtig schöne Kinderparty. Ohne Ronald, ohne Donald und ohne Gedöns. Aber mit ganz viel Spielzeug, Spaß und Lärm. Kurz vor Svens Geburtstag war der Millionenerbe Paul Getty entführt worden und so gab es zum Kaffee für die Großen und zum Kakao für die Kleinen leckere Schweineohren vom Bäcker. 1974 gab es auch mal wieder die eine oder andere Hausdurchsuchung bei uns Wielands, aber das war ja nichts Neues. 1975 wurde der harte Kern der RAF zu lebenslanger Haft verurteilt und die Hausdurchsuchungen ließen nach.
Mit 27 Jahren bestand mein Vater Heinz Wieland 1975 sein 2. Staatsexamen und unterrichtete anschließend an der Bochumer Goetheschule die Fächer Deutsch und Sport. Meine Mutter Franzi war mittlerweile auch schon 26 Jahre alt geworden und nahm sich vor, spätestens nach fünf Jahren wieder zu studieren, wenn abzusehen sei, dass Sven und ich auch so klarkommen würden.
An einem sonnigen Montagmorgen im August 1976 wurde ich eingeschult. Morgens um kurz vor neun Uhr fuhr ich mit meiner Mutter zur katholischen Weilenbrinkschule an der Arndtstraße in Bochum. Ich kannte die Schule zumindest schon von außen, denn ich war drei Jahre lang nebenan in den katholischen Kindergarten gegangen. Ich war ganz aufgeregt, als ich da mit meiner riesengroßen Schultüte, vollgestopft mit ungesunden Sachen, mit circa 20 anderen Erstklässlern auf dem Schulhof stand. Und immer, wenn ich aufgeregt war, bildete sich auf meinem linken Handrücken eine kleine Beule, die dann immer größer wurde. Doch so groß wie heute war sie noch nie. Die Beule schmerzte nicht und sie war auch nicht hinderlich, also ließ ich die Beule einfach Beule sein. Nach dem obligatorischen Klassenfoto stellten wir Kinder uns, fein säuberlich nach Männlein und Weiblein sortiert, getrennt in Zweierreihen hintereinander auf und marschierten in unser Klassenzimmer. Die Klassenlehrerin hieß Frau Adelmann, wurde aber von allen nur Fräulein Adelmann genannt.
Als ich 1977 in die zweite Klasse versetzt wurde, war ich bereits 1.36 Meter groß. Ich war erst sieben Jahre alt und schon so groß. Von allen Mädchen in der Klasse war ich das längste. Und je mehr ich wuchs, desto größer wurde auch die Beule auf meinem Handrücken. Ich spielte gerne mit diesem weichen Etwas. Man konnte so schön darauf drücken und schnell bildete sich eine Art Vertiefung, die sich, wie einem Luftballon gleich, immer wieder von selbst aufzublasen schien. Ich entwickelte immer neue Spielchen mit diesem Ding. Und nach wochenlangem Training war ich in der Lage, die Beule als Waffe einzusetzen. Und das ging so: Ich drückte auf die Wölbung, legte eine Erbse in die Vertiefung und zählte anschließend bis drei. Kaum hatte ich ausgezählt, schoss die harte Hülsenfrucht aus der Vertiefung hervor und erreichte mit ungeheurer Wucht ihr angepeiltes Ziel. Ich war nach einiger Zeit äußerst treffsicher und hatte schnell die Lacher und die Verehrer auf meiner Seite.
1979, ich war nun in der vierten Klasse, fand der sogenannte Schulgesundheitstag statt. Der Schularzt hatte sich angekündigt und gegen zehn Uhr mussten wir Kinder zur Untersuchung in der Schulaula antreten. Neben der üblichen Schluckimpfung gegen Kinderlähmung begutachtete der Schularzt uns oberflächlich auf äußerliche Gebrechen und stellte Fragen zu Vorerkrankungen in der Familie.
Um halb elf Uhr untersuchte der Doktor mich. Er horchte mit einem Stethoskop meine Lunge ab, maß den Pulsschlag, schaute in meinen Rachen, ließ mich „Aaaah“ sagen und befragte mich anschließend nach meinem Befinden. Dann reichte er mir die Hand, um sich zu verabschieden, als er jedoch plötzlich innehielt. Er blickte auf mein Handgelenk, sah die Beule und brummelte in sich hinein: „Mein Gott, so ein großes Ganglion habe ich ja noch nie gesehen.“
Der Schularzt machte sich Notizen und zwei Wochen später musste ich mit meiner Mutter beim städtischen Gesundheitsamt zu einer ausführlichen Untersuchung antreten.
Außer dem Schularzt waren an diesem trüben Dienstagmorgen noch zwei weitere Ärzte im großen Sprechzimmer des Gesundheitsamtes der Stadt Bochum. Nach kurzer Wartezeit wurden Mutti und ich ins Sprechzimmer gebeten. Meine Mutter nahm meine Hand und dann betraten wir gemeinsam den hohen Raum.
„So, liebe Beate, dann nimm doch bitte einmal auf der Liege Platz“, sagte der Amtsarzt und zeigte auf die schwarze Couch in der linken Ecke des Raumes. „Und Sie, Frau Wieland, Sie können es sich auf dem Sessel am Fenster bequem machen.“
Ich musste meine Bluse ausziehen und saß nun einsam auf der großen, schwarzen Liege. Alle anwesenden drei Ärzte begutachteten nun meine Hand mit dem Überbein. Sie drückten abwechselnd mal mehr und mal weniger heftig darauf herum und ich bedauerte, dass ich keine Erbsen bei mir hatte. Wie gerne hätte ich es den Halbgöttern in Weiß gezeigt. Wie gerne hätte ich ihnen demonstriert, wie zielsicher ich mit meinem Überbein schießen konnte. Aber so ...
Die Ärzte zogen sich nach der Untersuchung ins Nebenzimmer zur Beratung zurück und baten anschließend meine Mutter zu sich an den Tisch. Ich sollte derweil auf dem Flur warten.
Auf dem Gang des Korridors saßen vor dem gegenüberliegenden Untersuchungszimmer fünf Damen, denen man schon allein anhand ihrer Kleidung und ihres Make-ups ansehen konnte, dass es sich bei ihnen allesamt um Liebesdienerinnen handelte, die sich ihre Lizenzen zum Lieben verlängern lassen wollten. Eine lange, dürre, rothaarige Lady mit lilafarben geschminkten Lippen und mindestens 15 Zentimeter hohen Stöckelschuhen ging auf dem Flur nervös auf und ab. Als ich sie anstarrte, starrte sie zurück und kniff mir ein Auge zu.
Ich setzte mich auf einen der alten Holzstühle und wartete darauf, dass meine Mutter endlich mitsamt der Diagnose aus dem Sprechzimmer kam. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Mutti endlich aus der Praxis kam. Nach 20 Minuten war es dann so weit. Meine Mutter nahm mich an die Hand und wir verließen gemeinsam das Gesundheitsamt.
„Und“, fragte ich, „muss ich nun operiert werden?“
„Das erfahren wir in der nächsten Woche“, sagte meine Mutter und fuhr fort: „Amtsarzt Gruber und seine Kollegen sind sich noch nicht ganz einig. Aber wenn dich das Ganglion nicht weiter behindert und es nicht größer wird, musst du höchstwahrscheinlich nicht unter das Messer. Es ist halt nichts Lebensbedrohendes. Also warten wir es erst einmal ab.“
Das schien mich zu beruhigen, denn im Grunde genommen liebte ich mein Überbein. Es war eben etwas Besonderes und meine Mitschüler betrachteten es immer sehr interessiert. Und außerdem war ich gerade dabei, meine Schusstechnik weiter zu perfektionieren.
Schon am Freitag in der Woche nach der Untersuchung lag ein Schreiben vom städtischen Gesundheitsamt im Briefkasten.
Ich war total gespannt und schrie meine Mutter ungewollt an: „Los, nun mach schon, mach auf, schnell, bitte!“
Sie öffnete den Briefumschlag, zog den Bericht hervor und las laut und deutlich: „Sehr geehrte Frau Wieland, unsere Untersuchungen vom 26.02.1979 bezüglich des Ganglions auf der linken Hand ihrer Tochter Beate haben ergeben, dass es sich bei diesem Ganglion um ein harmloses Überbein handelt, welches unserer Meinung nach nicht operativ entfernt werden muss. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich das Ganglion nach und nach von alleine zurückbilden wird. Wir empfehlen Ihnen jedoch, einmal jährlich mit Ihrer Tochter Beate diesbezüglich zur Untersuchung bei Ihrem Hausarzt vorzusprechen. Mit freundlichen Grüßen, Adolph Gruber, Schularzt.“
Meine Augen strahlten. Ich lief auf meine Mutter zu und fiel ihr um den Hals. „Hurra, wie fein, das Überbein bleibt mein!“, rief ich.
Mutti wunderte sich zwar über die Jubelarie ihrer Tochter, dachte sich jedoch nichts dabei.
Am Abend saßen wir Wielands gemütlich gemeinsam beim Abendessen und alle vier schienen hoch zufrieden zu sein. Sven ging anschließend zu seinem Freund Rudi, der nur zwei Häuser weiter weg wohnte und meine Eltern hatten ihren Kegelabend mit den Kegelfreunden vom Club „Die intellektuellen Abräumer“. Ich begab mich bester Laune auf mein Zimmer und holte einen Beutel mit harten Erbsen aus dem Schrank und schoss mit meinem Überbein auf das Pierre-Brice-Poster an der Wand. Jeder Schuss ein Treffer. Im wirklichen Leben wäre Winnetou schon längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen. Auf Nimmerwiedersehen. Nach 20 Minuten Schießübungen legte ich mich auf mein Bett und schlief binnen kürzester Zeit ein.
Im Juli 1979 gab es Zeugnisse. Ich war eine verdammt gute Schülerin und hatte sowohl in Deutsch, Erdkunde und Mathe eine glatte „Eins“ und bis auf Religionslehre, die ich mit „Ausreichend“ abschloss, in allen anderen Fächern eine „Zwei“. Das bedeutete, dass ich im August auf eine weiterführende Schule, sprich aufs Gymnasium, gehen durfte. Sven war bereits im letzten Jahr zur Bochumer Goetheschule, an der auch unser Vater unterrichtete, gewechselt. Auch das erste Gymnasialzeugnis von Sven war sehr gut. Probleme bereitete ihm hauptsächlich die lateinische Sprache.
Und er hatte so seine Probleme mit Oberstudienrat Dudenhöhler, ein scheinbar ewig Gestriger, der gerne Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg, den er als Landser miterlebt hatte, zum Besten gab. Er erzählte auch immer wieder gerne die Geschichte vom „bluddigen Sonndach in Danzich“, wo es „dausend Dode“ gab. Und natürlich die Story von der russischen Front, als er einen Panzer des Feindes samt Fahrer und Beifahrer gekidnappt hatte.
„Tja“, dachte Sven, „und warum haben wir dann den Krieg verloren?“
Aber es gab auch sympathische Lehrer an dem alterwürdigen Bochumer Gymnasium. Zum Beispiel Studienassessor Puller, von allen Schülern nur Pullermann genannt. Pullermann unterrichtete in den unteren Klassen Englisch und Deutsch und war bei den Schülern wegen seiner Diktate äußerst beliebt.
„So, Kinder, wir schreiben heute ein Diktat. Aus eurem Englischbuch ‚Learning English for beginners 1’ Lesson 2, Seite 14, Abschnitt 3 bis 7.“
Kaum war Pullermanns Ankündigung heraus, hörte man unter vielen Tischen im Klassenraum, wie sich die Schlösser der Ranzen scheinbar wie von Geisterhand mit einem leisen „Klack“ öffneten und scheinbar wie von Geisterhand Bücher aus den Taschen hervorkamen, die allesamt ‚Learning English for beginners 1’ hießen und die, nicht von Geister- sondern von Schülerhand, mit einem zackigen „Ratsch“ von Seite 14 befreit wurden. Manch Schüler, so auch Sven, war bereits früher fertig, als Pullermann diktiert hatte. Es ließ sich aushalten in der Schule an der Goethestraße am Bochumer Stadtpark.
Ähnlich schön gelegen war auch die Hildegardisschule, etwa 500 Meter Luftlinie vom Goethe-Gymnasium entfernt. Während Sven an einem heißen Montag im August bereits in die 6. Klasse ging, begann der gymnasiale Alltag für mich genau einen Tag später.
In meiner Klasse waren auch Cornelia, Maria und Paula, die mit mir zusammen von der Volksschule zum staatlichen Lyzeum gewechselt hatten.
An diesem ersten Schultag lernten wir auch unsere Klassenlehrerin Editha von Eschweiler kennen. Alter Gelsenkirchener Ruhradel. Und bereits in der ersten Stunde, sie unterrichtete unter anderem Geschichte, machte sie sich in der Klasse unbeliebt.
„Wer schwatzt“, sagte sie, „stellt sich für eine Stunde in die Ecke, mit dem Kopf zur Wand.“
Nach diesem Satz wurde in der Klasse getuschelt und keine drei Minuten später waren alle vier Ecken im Klassenraum belegt. Mit ehemaligen Schülerinnen der katholischen Weilenbrinkschule. Von links nach rechts: Beate Wieland, Cornelia Meischeid, Maria Zumdirk und Paula Pätzig. Na, das fing ja gut an. Aber man hangelte sich, so gut wie es ging, durch.
Als Sven in die Jahrgangsstufe 9 wechselte, wechselte er quasi zweimal. Stichwort: Pubertät.
Nach dem Sportunterricht gingen alle Jungen gemeinsam zum Duschen. Und alle standen mehr oder weniger verschämt mit dem Körper und dem Kopf zur Wand unter der Brause. Bei den meisten hatte sich was getan. Bei vielen Schülern wuchsen die ersten Schamhaare, einige Jungs schossen über Nacht in die Höhe und bei Wolfgang Ertzel, Svens bestem Freund, meinte es die Natur besonders gut. Sven hatte bei sich feststellen können, dass sich eine Erektion irgendwie auf angenehme Art und Weise beseitigen ließ. Nun stand er da neben seinem Freund Wolfgang und blickte verschämt zu ihm hinüber. Als er an ihm heruntersah, stockte Sven fast der Atem. Welch eine Maschine. Sven bemerkte, dass Wolfgang sich sein Gemächt, welches im wahrsten Sinne des Wortes mächtig war, wusch. Und zwar so heftig, dass es immer noch größer zu werden schien.
Wolfgang schielte zu Sven herüber und als er sicher war, dass nur noch er und sein Freund im Duschbereich waren, rief er ihm zu: „Komm schon, alter Schwede, wir holen uns jetzt schön einen runter!“
Sven schien zunächst verdutzt zu sein, verspürte aber plötzlich ebenso das Bedürfnis, sich zu befriedigen und stellte sich zu Wolfgang unter die Dusche. Und so freuten sich die Freunde immer wieder auf den Sportunterricht und das anschließende gemeinschaftliche Duschvergnügen.
Ich war mittlerweile in die 8. Klasse der Hildegardisschule versetzt worden. Obwohl ich eine Musterschülerin war, war ich bei meinen Klassenkameraden äußerst beliebt.
Und da war ja noch mein Überbein. Ich setzte es in den ersten Jahren am Gymnasium sehr selten ein. Aber in diesem Jahr bekam ich große Lust, unter Mithilfe meines Ganglions mal wieder mit Erbsen umherzuschießen.
Im katholischen Religionsunterricht fand auch die Sexualaufklärung – falls nicht schon durch Herrn Doktor Sommer aus der „Bravo“ geschehen – statt. Pastor Mienmeister, von allen Schülern wegen seines christlichen Vornamens Josef, auch Jupp genannt, legte los. Er spulte das gesamte Programm ab. Angefangen von den Blumen zu den Bienen, bis hin zur Jungferngeburt Marias. Und alles mit dem erhobenen Zeigefinger.
„Haltet an euch. Seid züchtig. Wenn ihr es euch selbst macht, fallen euch die Hände ab. Niemals vor der Ehe und wehe, wehe, wehe ...“
Jupp Mienmeister hatte auch eine Haushälterin, die bei ihm wohnte. Man nannte sie die fromme Helene. Doch dazu später mehr.
Ich traf mich mit meiner Freundin Paula Pätzig an einem der letzten schönen Herbsttage, um zum Tagesausklang in die Stadt zu gehen und im öffentlichen Hallenbad noch ein paar Runden im Wasser zurückzulegen. Auf dem Weg dorthin machten wir interessante Entdeckungen. Paula und ich trafen uns immer am Findling, in Höhe der Hildegardisschule im Bochumer Stadtpark, um dann den Weg in die City abzukürzen. Wir gingen über einen schmalen Trampelpfad, der direkt am kleinen Stadtparkteich vorbeiführte, durchs Unterholz. Als wir so vor uns hertrabten, hörten wir plötzlich ein lautes Stöhnen. Entsetzt musste ich feststellen, dass sich mein großer Bruder Sven mit seinem Freund Wolfgang in einem Gebüsch phallustierte.
Paula grinste mich hingegen nur an und sagte: „Love is in the air!“
„Wohl eher in den Eiern“, erwiderte ich und musste auch lachen. „Wer hätte das gedacht? Mein großer Bruder Svenni. Aber wenn es ihm Spaß macht. Wahrscheinlich ist er nicht vom ollen Jupp Mienmeister aufgeklärt worden. Schließlich waren Svens Hände beide noch an ihrem Platz und nicht abgefallen. Denn wenn es wirklich so ist, wie es der alte Jupp predigt, dann gäbe es kaum Schriftsteller, das Fach Handarbeit würde mangels Masse kaum unterrichtet werden und es gäbe zwar eine Industrie- aber keine Handwerkskammer. Egal. Sag mal Paula, meinst du die zwei Wichser haben uns gesehen?“, fragte ich.
„Und wenn schon“, erwiderte Paula und fügte hinzu, „Jupp hat auch gesagt: Gelobt sei, was hart macht!“
Wir lachten lauthals und gingen den Rest des Weges wieder über öffentliche Wege, wo die Welt noch in Ordnung war. Wir überquerten die Kurfürstenstraße und gingen durch die Burggrafenstraße, um anschließend am Nordring die Straße in Richtung Stadtmitte zu überqueren.
In der Großen Beckstraße, in einem Hinterhof, wohnte Pastor Jupp Mienmeister, zusammen mit seiner Haushälterin Helene Mümmelmann. Es dämmerte bereits. Paula flüsterte mir etwas ins Ohr. Wir schlichen über den kleinen, mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Weg zu dem Haus, das im Hinterhof im Halbdunkel hinter drei hohen Buchen versteckt lag. Ich zeigte auf ein hell erleuchtetes Fenster. Paula hielt den Zeigefinger vor den Mund und so näherten wir uns dem Gebäude.
„Heiliger Strohsack“, flüsterte Paula, als sie durch die Fensterscheibe blickte.
Josef Mienmeister mutierte gerade zu Jupp Rittmeister, denn er bestieg die fromme Helene und schlug mit einer Gertenrute auf ihr entblößtes Hinterteil.
Durch den Spalt des auf Kippe stehenden Fensters konnten wir vernehmen, dass sich das Pärchen bereits auf der Zielgeraden befand, denn Jupp rief höchst erregt: „Helene, gib Gas, ich komme!“
Die Haushälterin verdrehte die Augen, griff dem Reitersmann an seinen Pfeifenbeutel und warf den Jockey kurz vor dem Ziel ab, sodass durch die Wucht des Abwurfes das alte Pastorenbett in zwei Teile zerbarst.
„Zawumm, da liegen die Unschuldslämmer“, flüsterte ich und deutete per Handzeichen an, zu verschwinden.
Als wir uns vom Haus entfernten, beschlich mich das ungute Gefühl, dass der Pastor irgendetwas bemerkt haben könnte.
„Blödsinn“, sagte Paula, „und selbst wenn, was soll er denn machen?“
Ich nickte und so gingen wir weiter, um danach im städtischen Schwimmbad noch ein wenig im kalten Wasser des Schwimmbeckens zu kraulen.
Als ich abends nach Hause kam, erwartete mich mein Bruder Sven bereits an der Wohnungstür.
„Wenn du auch nur einen Ton sagst, garantiere ich für nichts. Ich zahle dir auch den nächsten Friseurbesuch, aber halte um Himmels willen deine Klappe!“
Ich kam nicht dazu, meinem Bruder zu antworten, denn kurz nach mir kam auch unser Vater die Stufen hoch.
„Na“, fragte er, „Vollversammlung? Nun mach schon Svenni, lass Beate und mich herein. Ich habe einen Mordshunger. Ist Mama eigentlich schon wieder vom Mädeltreff zurück?“
Hinter Sven tauchte meine Mutter, bekleidet mit einer Blümchenküchenschürze und bewaffnet mit einem Nudelholz in der rechten Hand auf.
„Na klar doch“, sagte sie, „und jetzt haut rein. Essen fassen!“
Mutti hatte vom Mädeltreff ein neues Rezept mitgebracht und probierte es gleich heute aus.
„Ist von Marlies, Linsengemüse auf Risotto mit einem Hauch vom Lungenhaschee in Burgundersoße.“
Sie füllte ihrem Heinz, mir, Sven und schließlich sich selbst die Teller. Unser Vater verschlang die Speise, ich genoss das mir neue Gericht, nur Sven stocherte irgendwie lustlos in seinem Essen herum.
„Was ist denn los mit dir, mein Schatz, aha?“, fragte meine Mutter.
Doch bevor er antworten konnte, sagte ich: „Er hat was mit den Händen. Überarbeitung und ...“
Ehe ich weiter sprechen konnte, verspürte ich einen heftigen Schmerz am linken Schienbein. Sven hatte mir unter dem Tisch voll vors Knie getreten.
„Blöder Wichser“, schrie ich ihn an und meine Mutter war entsetzt.
„Was sind denn das für Töne? Ich glaube, ihr spinnt!“
Kurze Zeit später hatte sich die Lage wieder beruhigt und gegen 23 Uhr begaben sich Franzi und Heinz Wieland in ihr Schlafzimmer. Sven ging mit einem Playboy-Heft ins Badezimmer und ich schaute noch ein wenig Turniertanzen im Spätprogramm im Ersten. Ich liebte Tanzen. Deshalb hatte ich mich auch in der Woche zuvor bei Bodo Lingen, Bochums führender Tanzschule, zum Anfängerkurs angemeldet.
Sven und ich hatten uns wieder vertragen und so nahm der Alltag seinen Lauf.
Sven ging immer noch zur Goetheschule und hatte nach seinen ersten sexuellen Erfahrungen, die jedoch nur handgreiflicher Natur waren, mit 17 Jahren seine erste richtige Freundin. Leila Munscheid. Sven lernte Leila beim Nena-Konzert in der Halle des Veranstaltungscenters „Zeche Bochum“ kennen. Und er war froh, dass er zwar keine 99 Luftballons, aber zumindest drei Luftballons zur Verhütung dabei hatte. Sein erstes Mal, so richtig mit einer Frau, sein erstes Mal fand auf dem Herrenklo im Stehen statt. Nicht gerade romantisch, aber er war trotzdem glücklich. Leila war schon 19 und sah verdammt gut aus.
Am selben Abend war ich mit unserer Tanzclique nach dem Tanzunterricht bei Bodo Lingen direkt gegenüber in die Eisdiele gegangen.
Das Gondolo war eines der ersten italienischen Eiscafés im Ruhrgebiet und der Inhaber war einer der ersten Italiener, die in den 1950er Jahren ihr Glück mit Eis, Kaffee, Milch und anderen leckeren Speisen und Getränken bei uns im Revier versuchten und offensichtlich großen Erfolg damit hatten.
Obwohl Luigi Severino bereits seit über 20 Jahren in Bochum lebte, schien er sich sein Holperdeutsch als Marotte angewöhnt zu haben.
„Allora, schöne Signorinas, wasse kanne iche Ihne serviere? Habe heute schöne frische Ertebeereeisse mitte Cassatta un Sahne! Isse schön preissewerte. Nur Zweimackezwansisch!“
Wir Mädels kicherten und jede von uns bestellte sich einen Becher der angepriesenen Spezialität.
Luigi Severino trabte mit Block und Bleistift bewaffnet zurück hinter seine lange Theke und flüsterte seiner Frau Leona in einem lupenreinen, akzentfreien Deutsch ins Ohr: „So mein Schatz, noch zwei Wochen, dann haben wir unseren verdienten Weihnachtsurlaub, dann kann uns die Eisdiele mal kreuzweise!“
Er küsste seiner Frau die Stirn, als ich zum Tresen kam und zweimal zusätzlich Sahne bestellte.
„Isse keine Probleme, Signorina“, radebrechte Luigi und warf die Sahnemaschine an.
Wir saßen noch gut eine Stunde in der Eisdiele und fuhren oder gingen anschließend zurück nach Haus.
Der 8. September 1986 war der erste Schultag nach den Sommerferien.
Ich war mittlerweile 16 Jahre alt geworden und hatte mich prächtig entwickelt. Sowohl körperlich als auch geistig.
An diesem spätsommerlich warmen Septembertag wurden die Weichen für das spätere Leben zumindest grob voreingestellt. Ab Jahrgangsstufe 11, in die ich nun eintrat, wurden Fächerschwerpunkte gesetzt. Als Leistungskurse belegte ich Deutsch und Pädagogik und als Nebenprüffächer Englisch und Chemie. Ich wollte es meinem Vater gleichtun und nach dem Studium den Lehrerberuf ausüben.
Sven hatte im letzten Jahr die Schule geschmissen und verließ das Gymnasium nach der 10. Klasse. Und das lag sicher nicht an seinen schulischen Leistungen. Als Zweitbester seines Jahrgangs hatte er die Schule verlassen, um sich ganz und gar seiner Leidenschaft, dem Fußballspiel, zu widmen.
Sven bekam als einziger 17-Jähriger im Ruhrgebiet einen Lizenzspielervertrag beim VfL Bochum. Und seit dem Saisonbeginn im August durfte er auch schon bei den Profis mittrainieren. Der VfL Bochum war in der letzten Saison zum achten Male hintereinander Deutscher Fußballmeister geworden und hatte neben dem Deutschen Pokal auch noch den Europapokal der Pokalsieger geholt. Mit 6:1 wurde Real Madrid im eigenen Stadion besiegt. In der letzten Saison konnte lediglich Westfalia Herne den Bochumer Superkickern Paroli bieten. Meine Eltern waren natürlich mächtig stolz auf ihren Sohn.
Aber auch ich, ihre Tochter Beate, hatte sportlich einiges zu bieten. Ich tanzte seit nunmehr eineinhalb Jahren beim Tanzsportclub Arminia 1909 Bochum in der ersten Jugendliga. Und ich hatte beachtliche Erfolge vorzuweisen. Man merkte mir den Unterricht bei Bodo Lingen an. Alte Schule sozusagen. Und wenn es was zu bemängeln gab, dann höchstens dies: Ich tanzte den Langsamen Walzer zu schnell. Minimal zwar nur, aber den geschulten Augen des Tanzgerichtes entging das natürlich nicht. Meine Spezialitäten waren nun Mal der Bossa Nova, der Jive und alle anderen lateinamerikanischen Tänze. Doch die Prioritäten wurden zunächst auf die schulischen Erfolge gesetzt.
Mein Überbein war inzwischen fast vollkommen verschwunden. Doch jedes Mal, wenn ich in Stresssituationen geriet oder ich mich körperlich zu sehr anstrengte, war es plötzlich wieder da und wuchs und wuchs. Aber da es mich immer noch nicht behinderte und es auch nicht schmerzte, ließ ich es so, wie es gerade kam.
Ich musste in der Jahrgangsstufe 11 im Fach Religion noch Pflichtpunkte sammeln und so quälte ich mich durch den für mich nicht gerade geliebten Unterricht.
Jupp Mienmeister war inzwischen aufgrund seiner sexuellen Ausschweifungen vom Dienst an der Schule suspendiert und von der katholischen Kirche exkommuniziert worden und arbeitete jetzt als Animateur für einen großen deutschen Reiseveranstalter auf der griechischen Insel Lesbos.
Mein neuer Messias hieß Maier, schlicht und einfach Hans-Otto Maier, mit „ai“. Maier war Seelsorger und Sozialarbeiter in der katholischen Kirchengemeinde Bochum-Ost. Ein sehr sympathischer Mensch. Aufgeschlossen und versiert in allen religiösen und philosophischen Fragen. Er schätzte Kant und das Ding an sich, er liebte Hegel und Schopenhauer, aber er konnte der Erkenntnistheorie keine neuen Erkenntnisse abgewinnen.
In der zweiten Stunde des Religionsunterrichts kam Maier ohne Vorwarnung auf mich zu, gab mir eine Bibel und sagte: „Frau Wieland, wenn Sie ein für alle Mal Ruhe vor diesem Ganglion haben wollen, nehmen Sie diese Bibel und schlagen Sie dreimal damit auf die geschwollenste Stelle. Sollte das nicht wirken, nehmen Sie einen Hammer und schlagen Sie das Ding entzwei. Die Überbeine hat der Teufel gemacht, um uns zu verderben. Also sprach der Herr: Am vierten Tag schuf der Satan verschiedene Beine. Linke und rechte Beine für alle, die guter Dinge sind. Aber für alle anderen, die dem Bösen nicht abgeneigt sind, hat der Teufel noch X-, O- und Überbeine übrig. Darum hütet euch vor diesen Mahnmalen, es sei denn, ihr hießet Lippens oder Litbarski.“
Er schaute mir lange in die Augen und sagte: „Frau Wieland, jetzt liegt es nur an Ihnen.“
Ich fand den Auftritt des Seelsorgers etwas merkwürdig, dachte jedoch überhaupt nicht daran, mich des Überbeins mittels Hammer oder Bibel zu entledigen. Im Gegenteil. Ich erinnerte mich an meine Kindheit zurück und kaufte zwei Tage später 500 Gramm grüne, harte Erbsen.
Ich wohnte noch immer in der Wohnung meiner Eltern. Bruder Sven war nur noch ab und zu dort zu finden.
Er trainierte mit den Profis des VfL Bochum und verbrachte die trainingsfreie Zeit in Hubbelhausen bei Paderborn in einem Sportinternat.
Während Sven für viele Kids zu einem Idol zu werden schien, war für mich die Zeit der Idole vorbei. So konnte ich auch keine Schießübungen mehr auf Winnetou tätigen, da ich sämtliche Poster an der Wand meines Zimmers entfernt hatte. Trotzdem wollte ich jetzt wissen, ob ich noch in der Lage war, mit dem Überbein treffsicher zu schießen. Und so lud ich zum ersten Mal nach ungefähr zweieinhalb Jahren wieder nach.
Ich drückte zunächst eine Kuhle in das Ganglion und war erstaunt, wie sehr sich plötzlich alles spannte. Viel stärker, als noch beim letzten Mal. Ich beließ den Finger zunächst in der Vertiefung, hob ihn dann ganz kurz an, um eine harte Erbse hineinzulegen. Ich hielt die Hülsenfrucht mit der Fingerspitze in der Vertiefung fest, hob die Hand in Augenhöhe, schloss das linke Auge und fixierte mit dem geöffneten rechten Auge die Blumenvase auf der Fensterbank. Das schöne Teil aus Meißener Porzellan war ein Erbstück meiner Patentante aus Liechtenstein.
Ich konzentrierte mich voll auf die per Hand aufgemalte Nelke, spürte, wie sich die Haut um die Erbse immer weiter spannte, und ließ die Munition letztendlich los.
Wie aus einer Pistole geschossen zerschlug die grüne Kugel die Vase aus Liechtenstein. Ich war vaduzt.
„Aber Hallo“, dachte ich, „da steckt ja noch mehr Power drin als je zuvor!“
Nachdem ich anschließend auch noch die Geranie auf der Fensterbank auf der gegenüberliegenden Straßenseite zerdeppert und vier Laternen dunkel geschossen hatte, begab ich mich in mein Bett und schlief schnell ein. Am nächsten Morgen verließ ich zusammen mit meinem Vater Heinz die Wohnung am Gersteinring. Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. An der Hildegardisschule verabschiedete ich mich von meinem Vater, der noch gut zehn Minuten weitergehen musste, um seine Arbeitsstätte an der Goetheschule zu erreichen.
Ich war in der Zwischenzeit in der Pausenhalle der Hildegardisschule angekommen. Es war kurz vor acht Uhr, da kam auch schon meine beste Freundin Paula Pätzig und setzte sich neben mich auf die Steinbank. „Beate stell dir vor, was passiert ist. Conny Maischein liegt im Krankenhaus. Sie hat irgendetwas mit dem Knie. Maria hat mich gestern Abend noch angerufen. Sie wusste aber auch nichts Näheres. Wir sollten Conny nach dem Unterricht besuchen. Sie liegt ja quasi umme Ecke. Im Augusta- Krankenhaus.“
„So machen wir das“, antwortete ich und nach der sechsten Stunde gingen wir zur Krankenanstalt an der Bergstraße.
Im dritten Stock, in der chirurgischen Abteilung, kam uns Conny schon entgegen. Auf Krücken gestützt, humpelte sie auf ihre Freundinnen zu. Bevor wir Fragen stellen konnten, legte Conny schon los: „Ach herrje“, sagte sie, „zu blöd auch, was mir passiert ist. Ich will wie immer auf dem Treppengeländer aus dem zweiten Stock runter bis zum Parterre rutschen, habe aber in der letzten Kurve die Hand nicht schnell genug an den Wendestab bekommen und bin im hohen Bogen gegen die Wand geknallt. Und mit dem Knie muss ich wohl zuerst gegen die Mauer geflogen sein. Und bei dieser Gelegenheit hat es meine Kniescheibe zerdeppert. Nichts Genaues weiß man nicht. Es tut nur höllisch weh. Die Ärzte meinten, dass ich für weitere Untersuchungen erst einmal im Krankenhaus bleiben soll. Und das bei diesem schönen Wetter. Kommt, lasst uns in den Aufenthaltsraum gehen.“ Wir setzten uns mit Conny in den verqualmten Raucherraum und redeten über dies und das. Nach gut einer Stunde wünschten ich, Maria und Paula Conny alles Gute und wir verließen gemeinsam das Hospital.
Vier Wochen später war Conny wieder einigermaßen gut hergestellt. Das Einzige, was zurückgeblieben war: Conny war nun stolze Besitzerin einer tanzenden Patella.