Für Moana, die von Anfang an dabei war
2. überarbeitete Auflage
ISBN 978-3-8448-5873-0
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Gestaltung, Karten und Fotos: Paul Maier
© Paul Maier 2002, 2010
Alle Rechte liegen beim Autor
Alle in diesem Buch geschilderten Ereignisse, Beobachtungen und Gespräche basieren auf den Inhalten meiner Reisetagebücher und MATANGIs Logbuch. Zur Wahrung von Persönlichkeitsrechten habe ich bestimmte Personen- und Schiffsnamen geändert. Sollten dennoch Ähnlichkeiten mit Personen, Schiffen oder Begebenheiten erkennbar sein, so wären sie rein zufällig und von mir nicht beabsichtigt.
Prolog
Unter Segeln zu fernen Zielen
Zwischenbemerkung
ARGENTINISCHE KÜSTE
Aufbruchsstimmung
Mar del Plata
Im Golfo Nuevo
Puerto Rawson
Cabo dos Bahias
Puerto Deseado
MAGELLANSTRASSE
Reise nach Punta Arenas
Stürmische Magellanstraße
PATAGONISCHE KANÄLE
Im Labyrinth der Kanäle
Isla Robert bis Golfo de Peñas
Golfo de Peñas
Laguna San Rafael
Im Chonos-Archipel
Puerto Aguirre bis Puerto Cisnes
Heiße Quellen
Melimoyu
Isla Refugio bis Puerto Escondido
IM CHILOE-GEBIET
Puerto Escondido bis Puerto Montt
Puerto Montt bis Concepcion
PAZIFIK
Isla Robinson Crusoe
Pazifik westwärts
Henderson-Insel
Pitcairn
Oeno-Atoll
Mangareva
Glossar
Irgendwo auf dem Südpazifik …
Unter der steifen Brise zieht der Katamaran eilig dahin, messerscharf durchschneiden seine Rümpfe die See. Wie auf Kufen gleitend, den Doppelbug auf einen imaginären Punkt am Horizont gerichtet, hält er entschlossen Kurs, dorthin, wo sich der endlose Ozean dehnt. So als wüsste er, dass nur in dieser bestimmten Richtung das ferne Ziel zu suchen sei, als wolle er sagen: »Vertraut mir! Ich kenne den Weg.«
Ganz ohne Mühe nimmt das kleine Schiff die langen, in endloser Folge von Westen heranrollenden Dünungswellen. Fast schwerelos zieht es durch diese Landschaft wandernder Wasserhügel. Nur in den Wellentälern, wo der Winddruck leichter ist, fährt etwas Unruhe in die Segel. Für Sekunden durchläuft ein Beben die prallen Tuchbahnen, doch sobald sich das Schiff am nächsten Wellenhang emporschwingt, stellt sich ihre wohlgetrimmte Form wieder her.
Schon seit den frühen Morgenstunden eskortieren zwei riesige Albatrosse unsere Fahrt. Im rasanten Tiefflug, ohne ihre gigantischen Schwingen auch nur andeutungsweise zu bewegen, durchgleiten die Vögel weite Dünungstäler, streichen haarscharf an steilen Wellenflanken entlang und berühren dabei fast die Schaumkämme. Waghalsig sieht das aus. Besonders, wenn sie aus einer langgezogenen Schrägflugschleife plötzlich zur entgegengesetzten Seite abkippen und pfeilschnell in die neue Richtung davonschießen. Oft geraten sie außer Sicht, schon glaubt man sie verloren, und fast staunt man, wenn sie Sekunden später unvermutet aus der Deckung einer anderen Welle hervorschnellen. Insgesamt streben sie von uns weg, was aber täuscht. Denn verfolgt man ihren Flug genau, erkennt man, wie sie immer wieder die Nähe des Schiffes suchen. Für die Vögel muss dieses seltsame einflügelige Wesen dort unten ein Orientierungspunkt sein in der Einöde der See.
Von unserem geschützten Platz im Cockpit beobachten wir diese gekonnte Flugdarbietung. In wärmende Kleidung eingepackt sitzen wir lange Zeit einfach nur da und können den Blick nicht losreißen. Dieses perfekte Zusammenspiel von Wellenrhythmus und Vogelflug! Worte sind überflüssig. Das sanfte Wiegen im Auf und Ab der Ozeandünung, das leichte Vibrieren des Schiffskörpers, das gurgelnde Rauschen des Kielwassers, begleitet vom feinen Summen im Rigg – alles befindet sich in Einklang und Harmonie. Es ist diese einzigartige Atmosphäre eines Segelschiffes auf See, sie wirkt wie eine Droge, die zumindest mich in einen losgelösten Zustand versetzt.
Ich hänge meinen Gedanken nach, lasse mich von Erinnerungen hinwegtragen in die Vergangenheit, Monate zurück, wo alles begann.
Ich bin Berufsseemann und habe seit langer Zeit ein intimes Verhältnis mit der See. Dim, meine Frau, toleriert dieses Verhältnis mit einem Gleichmut, wie nur eine Asiatin ihn aufbringen kann. Als loyale Gefährtin billigte sie damals auch jene phantastische Idee, die sich mit dem Bau eines Segelbootes und einer Reise befasste. Geplant hatte ich eine Weltumseglung mit einem Katamaran.
So entstand unser selbstgebauter Fahrtenkatamaran MATANGI. Der Name MATANGI ist der polynesischen Sprache entlehnt und bedeutet nichts anderes als Wind. Mit seinen zwölfeinhalb Metern Länge und sechseinhalb Metern Breite ist der Katamaran nicht zu groß, aber auch nicht klein. Meiner Meinung nach ist es genau die Größe einer Yacht, auf der man mit kleiner Familie bequem leben und sie, falls nötig, noch einhand segeln kann.
Schon der Bootsbau war ein Abenteuer an sich. Er dauerte sechs Jahre und gelang bestimmt auch deshalb, weil Dim von Anfang an so vorbehaltlos mitzog. Denn nachdem die umfangreichen Reisevorbereitungen abgeschlossen waren, wagte sie mit mir schließlich auch die Reise selbst.
Unsere Tochter Moana, damals gerade mal neun, war natürlich mit von der Partie. Die Frage, ob es gut oder schlecht sei, ein Kind mit auf so eine Reise zu nehmen, stellten wir uns nicht. Wir – die Eltern – hatten uns zu der Sache entschlossen, wir hielten unser Vorhaben für gut, wir hatten das Kind, also musste es mit. So einfach. Kurzerhand nahmen wir also Moana von der Schulbank, ab sofort schlüpfte ich die Rolle des Lehrers, und zu dritt gingen wir auf die große Reise. Das war im Sommer 1991.
Die meisten Flüsse fließen zum Meer. Die Mosel macht da keine Ausnahme, auch wenn sie in dieser Bestrebung den Rhein für ihre Zwecke benutzt. Die Fahrt ging also zunächst von Mehring, unserem Heimatort, flussab. Über Mosel, Rhein und Binnenkanäle gelangten wir zur Küste. In Papenburg an der Ems riggten wir den Mast, und von Emden aus unternahmen wir den ersten Schlag unter Segeln über die Nordsee nach England. Unser neues Schiff bestand seine Jungfernfahrt gut, nur die Crew hatte etwas unter Seekrankheit zu leiden.
Weiter segelten wir durch den Ärmelkanal nach Irland. Längs der Südküste der Grünen Insel besuchten wir mehrere Wochen lang nette kleine Häfen, Buchten und Pubs.
Auf dem Weg nach Madeira passierte uns jenes Missgeschick, das jeder Segler so sehr fürchtet: nämlich ein Mastbruch! Das geschah in Höhe der spanischen Westküste. Nun fehlte zwar der Mast, aber unser Schiff hatte ja zwei Motoren, so kam Panik gar nicht erst auf. Der Hafen Vigo lag am nächsten, dorthin nahmen wir Kurs. Unser Unglück überwanden wir schnell, einen neuen Mast aber fanden wir in Vigo nicht. Jemand gab uns den Tipp, es in Frankreich in La Rochelle zu versuchen. Allein mit Motorkraft überquerten wir noch im September die Biskaya. Die Information erwies sich als richtig: in La Rochelle fanden wir alles zur Lösung unseres Problems. Was natürlich eine Kleinigkeit kostete.
Mit Ebbe in der Bordkasse, aber einem nagelneuen, noch stärkeren Mast verließen wir Frankreich im Oktober. Eine elende Woche lang kämpften wir uns gegen stürmische Winde über eine diesmal nicht ganz so bequeme Biskaya- Bucht nach Westen vor. Vierzehn Tage waren wir auf See, als wir endlich die Insel Madeira sichteten. Es folgte eine ereignisreiche Zeit auf Teneriffa, wo uns und der übrigen Fahrtenseglergemeinschaft ein schwerer Wintersturm übel mitspielte. Dieses Unwetter ebenfalls überstanden zogen wir weiter. Uns lockte die Küste Westafrikas. Wir besuchten Dakar im Senegal, Banjul in Gambia und die Bijagos-Inseln in Guinea-Bissau. Vor allem in den Bijagos-Inseln erlebten wir Afrikas eigentümliche Exotik, gewürzt mit Vorkommnissen verschiedener Art, unter anderem einem Motorschaden, fast hautnah.
Die Atlantiküberquerung von Bissau nach Brasilien verlief, von einigen Unpässlichkeiten abgesehen, glatt und unbeschwert. Mit Hilfe der Passatwinde legten wir diesen Abschnitt in nur fünfzehn Tagen zurück. Genau rechtzeitig kamen wir an: Der Wind hatte uns mitten hinein in den Karnevalstrubel von Salvador de Bahia geweht.
Spätestens bei Ankunft in Brasilien waren wir auf den ganz eigenen Rhythmus des Fahrtenseglerlebens eingestimmt. Ohne Hast segelten wir entlang der brasilianischen Küste südwärts. Sechs kurzweilige Monate lang besuchten wir zauberhafte Inseln und Buchten, befuhren einen Tropenfluss und wagten gar eine abenteuerliche Busfahrt ins Landesinnere zu den berühmten Iquacú-Fällen.
Wenn wir geglaubt hatten, unser Teil an Schlechtwetter bereits in der Biskaya oder auf den Kanaren abbekommen zu haben, wurden wir auf der Reise nach Uruguay eines Besseren belehrt. Hier gerieten wir in einen echten Sturm. Spätestens jetzt wussten wir es: MATANGI konnte sogar Stürme dieser Intensität schadlos überstehen!
Auch an der Küste Uruguays, die wir etwas erschöpft, aber unversehrt erreichten, verbrachten wir eine ereignisreiche Zeit. Während wir auf den Sommer warteten, in dessen Verlauf wir uns südwärts zur Magellanstraße vortasten wollten, lernten wir Land und Leute kennen und verloren – ganz nebenbei – in einem Pampero fast unser Schiff. Wäre uns dies, des Fahrtenseglers schlimmstmögliches Unglück, wirklich zugestoßen, würde meine Geschichte, bevor sie noch richtig beginnt, paradoxerweise bereits hier an dieser Stelle enden. Doch war uns das Schicksal wohlgesonnen, die Reise ging weiter, wie auch der nun folgende Bericht.
Der Versuch, die Erlebnisse unserer vierjährigen Weltumseglung in einem einzigen Band zu schildern, hätte den Rahmen eines normalen Buches gesprengt. Andererseits, den Bericht kürzen, um ihn »passend« zu machen, hätte ihn verzerrt, wenn nicht gar verfälscht. Zu viele Details wären unerwähnt geblieben, viele mir wichtig erscheinende Erlebnismomente hätte ich dem Leser vorenthalten müssen. Das wollte ich nicht. Daher erschien es mir nur logisch, die Geschichte in mehrere Bände aufzuteilen und als Fortsetzung herauszubringen. Somit knüpft das vorliegende Buch direkt dort an, wo mein erstes Buch »Unter Segeln zu fernen Zielen« endet, nämlich in Montevideo, Uruguay. Und wenn unser erstes Reisejahr gleichsam auch unser Lehrjahr war, denn es gab da einige Anfangsschwierigkeiten zu bewältigen (eine Menge Lehrgeld zahlen mussten wir auch), gingen wir die Etappe von Montevideo via Magellanstraße in den Pazifik schon versierter an.
Sich am Vormittag einfach in den Bus Richtung Innenstadt zu setzen, um gegen neun Uhr eine bestimmte Behörde aufzusuchen, wäre der normale Vorgang. Aber ganz so leicht ist ein Behördengang in Südamerika nicht. Inzwischen wissen wir: Ausklarieren aus einem südamerikanischen Hafen schafft man nicht an einem Tag. Allein schon, weil die einzelnen Behörden meist in verschiedenen Stadtteilen sitzen. Auch wenn man glaubt, die Schalterstunden zu kennen, bedeutet das nicht notwendigerweise, dass die entsprechende Dienststelle auch geöffnet hat.
Um vorzuarbeiten, suchen wir bereits einen Tag vorher die Immigration auf, die ihre Büros in der Innenstadt von Montevideo hat. Aber einmal mehr stehen wir vor einem verschlossenen Behördentor. Beim zweiten Anlauf – inzwischen haben wir uns in den Straßen von Montevideo etwas die Beine vertreten – klappt es: Die Immigration hat geöffnet; wenig später ziert ein weiterer wunderschöner Ausreisestempel unsere Pässe.
Nachmittags schaue ich bei der Yachtclubverwaltung vorbei. Zum turmähnlichen Gebäude direkt am Hafen ist es nicht weit. Freundlicherweise erlässt man mir die Liegegebühr für die ersten drei Tage, wonach der Begriff »Gastlieger« in Uruguay noch Sinn macht – zumindest im Yachthafen von Buceo.
Zwei Posten, Immigration und Yachtclub, innerhalb eines Tages abgehakt, ist für hiesige Verhältnisse ein guter Schnitt. Bliebe für den nächsten Vormittag nur die Prefectura, das Hafenamt, und sofern es das Wetter zuließe, wären wir bereits mittags unterwegs. So jedenfalls stelle ich es mir vor und hoffe, dass sich der stürmische Südostwind bis zum Tagesanbruch legt.
Was den Wind betrifft, erfüllt sich meine Hoffnung. Bereits seit Mitternacht ist er abnehmend. Wie zur Bestätigung zeigt auch das Barometer steigende Tendenz. Insgesamt gute Aussichten zum Segeln.
Gleich nach dem Frühstück gehe ich ein letztes Mal an Land. Ich eile die Treppen hinauf, jetzt, da ich entschlossen bin auszulaufen, will ich keine Zeit verlieren. Yachtclub und Prefectura befinden sich nicht nur im gleichen Turm, beide arbeiten auch Hand in Hand: Ohne Quittung vom Club, das weiß ich von anderen Gelegenheiten, würde es von der Prefectura keine Ausklarierung geben. Und obwohl ich den geforderten Beleg vorweisen kann, denn ich habe ja beim Club bezahlt, erteilt man mir die Auslaufgenehmigung nicht. Warum, sagt mir der zuständige Marinesoldat:
»El puerto cerrado. Salida es no posible. Llegar otra vez. « Der Hafen sei wegen Schlechtwetter geschlossen, Auslaufen nicht möglich, ich solle später wiederkommen.
Meiner Ansicht nach herrscht genau das richtige Segelwetter, es könnte gar nicht günstiger sein. Ein nüchterner Blick durchs Fenster auf den Rio de la Plata sollte dem Mann eigentlich genügen, mit mir einer Meinung zu sein. Doch weiß ich: versuchen ihn umzustimmen, würde nichts bringen. Befehlsempfänger wie dieser Soldat, halten sich stur an ihre Vorschriften. Wenn der Kommandant Sturm befiehlt, dann hat es gefälligst zu stürmen! Basta! Was ich daraus lerne? Wetterentwicklungen lassen sich mit ziemlicher Sicherheit deuten, militärische Denkweisen nicht. Aber ich schaffe es, freundlich zu bleiben und mich nicht zu ärgern. Ich sage: »No problemas. Hasta luego.« Bis später.
In Südamerika lernt man Warten.
Als ich es nach zehn Minuten nochmals versuche, teilt mir der gleiche Soldatenmensch wohlgelaunt mit, der Kommandant habe soeben den Sturm für beendet erklärt, der Hafen sei nunmehr geöffnet. Ich finde das großartig. Anstandslos bekomme ich jetzt meine Ausklarierung, dieses wichtige Papier, das man hier zu Lande Zarpe nennt.
Um zehn Uhr werfen wir die Mooringleine los. Schon gleitet MATANGI aus dem Schutz der Mole hinaus auf die weite Bucht. Der Wind ist noch immer Südost, auf unseren Kurs bezogen, genau von vorne. Aber die Windrichtung bereitet mir im Moment keine Sorgen; rasche Winddrehungen sind im La-Plata-Gebiet die Regel. Ich bin einfach froh, draußen zu sein, von der Küste wegzukommen, den Absprung geschafft zu haben.
Niemals ist so ein Aufbruch leicht. Auch wenn wir uns in diesem Fall nicht unmittelbar von netten Menschen trennen müssen – haben wir doch allen Freunden und Bekannten schon vor Tagen Lebewohl gesagt –, werden uns Uruguay und seine Bewohner in lebendiger Erinnerung bleiben.
Wie lange waren wir in diesem Land? Viel zu kurz jedenfalls, will es uns vorkommen. Bis hierher hatten wir uns, von Brasilien kommend, während der Wintermonate vorgewagt. Wir wollten bereits weit im Süden sein, wenn der Sommer Einzug hielte und das Wetter die Weiterreise zuließe. Gute Planung, was die beste Reisezeit betrifft, war wichtig, wollten wir Patagonien, diesen stürmischen Südzipfel des amerikanischen Kontinents, unbeschadet runden. In Uruguay verharrten wir gewissermaßen in Warteposition. Wochen, die wir jedoch nicht tatenlos verstreichen ließen. Da wir schon mal hier waren, wollten wir vom Land so viel wie möglich sehen. Zunächst segelten wir entlang der Küste, besuchten Häfen und Buchten, navigierten kleine Flussläufe hinauf, bis die Weiterfahrt wegen zu geringer Wassertiefe unmöglich wurde. Wir erlebten Amüsantes und Spannendes gleichermaßen – ja, manchmal gerieten wir gar in haarsträubende Situationen. Wir erfuhren, wie unberechenbar das Wetter in der La-Plata-Region sein kann. Was Sturm- und Regenhäufigkeit angeht, steht der Frühlingsmonat Oktober seinem Konterpart, dem April der Nordhalbkugel, in nichts nach. Gerade die plötzlich auftretenden Gewitterstürme, die berüchtigten Pamperos, erteilten uns im Fach Wetterkunde immer wieder neue Lektionen, um nach ihrem Durchzug, fast übergangslos, uns dieses reizvolle Land am Rio de la Plata in einem umso lieblicheren Licht zu präsentieren. Ganz im Gegensatz zum launischen Wetter empfanden wir die Bewohner des Landes. Ihre gelassene Lebensart, die keinerlei Hektik zu kennen scheint, die sogar der Landeshauptstadt Montevideo etwas Ländliches gibt, imponierte uns. Wir lernten interessante Menschen kennen, schlossen neue Freundschaften.
So gerne wir noch geblieben wären, so stark drängte es uns weiterzuziehen. Denn wieder überkam uns dieses Gefühl der Unrast. Manche nennen es Reisefieber; unweigerlich stellt es sich ein, vor jedem Aufbruch neu. Sogar MATANGI schien die Spannung zu spüren. Diesen Eindruck hatte man, wenn der Katamaran unter einfallenden Windböen nervös an seiner Verankerung zerrte.
Tage und Wochen vergingen mit umfangreichen Reisevorbereitungen. Tausend Dinge waren zu erledigen. Proviant heranschleppen, Proviant konservieren, Proviant in allen möglichen Stauräumen verstauen; Trinkwasserergänzung, Kontrolle der Ausrüstung, diverse Reparaturen ausführen, Seekarten checken, Briefe schreiben, Behördengänge und vieles mehr. Wir arbeiteten mit System, nach einer durch Zeit und Erfahrung verfeinerten Routine. Ich habe mir da eine innere Checkliste angeeignet, nach der ich vorgehe. (Manches notiere ich auch auf Papier oder bitte Dim mit ihrem ausgezeichneten Gedächtnis, mich an bestimmte Dinge zu erinnern, was sie immer zuverlässig tut.) Nichts durfte ausgelassen, nichts vergessen werden. Das hört sich nach Stress an, war es aber nicht, denn wir erledigten alles ohne Hast. Schafften wir manches nicht an einem Tag, hoben wir es für den nächsten auf. Unsere Verabredung mit der Magellanstraße erforderte nicht die Pünktlichkeit von Stunden oder Tagen; auf eine Woche mehr oder weniger kam es wirklich nicht an. Nein, von Hektik und Stress, diesen Krankmachern der Zivilisation, hatten wir uns längst befreit.
Es sollte ein Aufbruch werden zu neuen Zielen und Abenteuern. Von Montevideo aus würde unser Kurs in höhere Breiten führen. MATANGIS Bugspitzen immer nach Süden gerichtet, wollten wir uns während des heraufziehenden Frühlings in kurzen Etappen entlang der argentinischen Küste zur Südspitze des Kontinents vorarbeiten. Das diesen Breiten eigene Wettergeschehen würde unser Reisetempo bestimmen. Zum Beginn des Südsommers, zum Jahreswechsel etwa, hofften wir die Magellanstraße zu erreichen. Von dort sollte es im Schutz der Patagonischen Kanäle Chiles wieder nordwärts gehen.
Unser unmittelbares Ziel, der argentinische Hafen Mar del Plata, liegt zunächst nur eben jenseits des Rio de la Plata. Ich hole die Schoten dicht und bringe den Katamaran hart an den Wind. Mit zunehmendem Abstand verblasst die uruguayische Küste achteraus zu einem unwirklichen Streifen, vergeht bald vollständig im leichten Seedunst. Nicht gerade bequem holpert MATANGI über eine noch immer grobe See. So dauert es nicht lange, bis Dim und Moana auf dem Salonsofa in die Horizontale gehen. Im Liegen, das wissen sie, kann man die Seekrankheit leichter ertragen.
Nachmittags dreht der Wind über Süd auf West. Doch dort im Westen türmen sich unheildrohende Kumuluswolken auf. Vorsorglich steige ich schon mal in Ölzeug und Gummistiefel; wenig später jagt eine heftige Bö heran. Ich beeile mich, das Großsegel auf Kleinstgröße zu reffen, will mich auf nichts einlassen. Knapp geschafft! Schon fegt ein heftiger Regenschauer über uns hinweg. Unter der noch verbleibenden Segelfläche spurtet der Kat los. Ich verstelle die Windfahnensteuerung, lasse MATANGI abfallen und einen raumen Kurs laufen, das entlastet Segel und Rigg. So rasch er eingetreten ist, so unvermittelt hat der Spuk ein Ende. Zwar stehen noch immer mehrere dieser gewaltigen Wolkenambosse über den südwestlichen Horizont verteilt, doch haben wir erst mal freie Fahrt. Ich schütte alle Reffs aus den Segeln und bringe das Schiff wieder auf Kurs.
Am Abend dreht der Wind weiter auf Nord. Damit beschert er uns eine herrliche Backstagsbrise. Ich traue mich, die Genoa zu setzen. Schon zieht der Katamaran mit flotten neun Knoten dahin. Die Rümpfe durchpflügen die braunen Fluten des Rio de la Plata wie fruchtbaren Ackerboden. Das ist Segelfreude pur. Aber nicht lange währt der Spaß. Bereits eine Stunde später herrscht Flaute. Mit schlagenden Segeln bockt das Schiff in der nun toten Windsee. Zur Schonung des Materials fiere ich die Segel an Deck, mache mir aber nicht die Mühe, sie aufzutuchen.
Wir treiben und warten.
Erst spät am Abend regt sich ein neues Lüftchen. Ich erkenne es an der Flagge, die sich träge bewegt. Ein Windhauch aus Nord, nicht stark, doch ausreichend, um Groß und Genoa eben zu füllen. Gemächlich setzt sich der Katamaran in Bewegung, läuft bald drei Knoten; nicht besonders schnell, geht es immerhin voran. Dieses Gefühl, dass etwas geschieht …
Das lähmende Warten hat ein Ende.
Während der Nacht nimmt die frische Brise stetig zu. Wenigstens werden in der Dunkelheit keine weiteren Segelmanöver nötig, was die Nachtwache für mich einigermaßen erleichtert. Diese bleibt sowieso mal wieder am Skipper alleine hängen, denn die Crew ist, wie meist nach längerem Aufenthalt in geschützten Gewässern, nun tatsächlich seekrank und somit vom Wachdienst befreit.
Der Morgenhimmel unseres zweiten Seetages ließe eigentlich nichts Böses vermuten, wären da nicht der zunehmende Wind und das fallende Barometer. Morgens um sieben weht es bereits mit vier, fünf Windstärken aus Westnordwest. Zeit, die Genoa in den Sack zu stopfen und Arbeitsfock zu setzen. Ins Groß binde ich sicherheitshalber das erste Reff. Es dauert auch nicht lange, bis es aus allen Knopflöchern pfeift. Ich ahnte es, aber es bleibt genug Zeit, die Segel zu reduzieren. Ich reffe das Großsegel dreifach und tausche die kurz zuvor gesetzte Arbeitsfock gegen die Sturmfock. Um zehn Uhr steht das Barometer auf 1016, der Wind weht mit satten acht Beaufort. Schließlich berge ich das Groß und binde es fest. Nur unter Sturmfock laufen wir vor raumem Wind über eine grobe, weißgestreifte See. MATANGIS Bugspitzen zielen nach Süden.
Die Mittagsposition des 29. Oktober ergibt eine seit Abfahrt Buceo zurückgelegte Distanz von 125 Seemeilen. Nicht mal so schlecht, wie ich finde. Wir stehen bereits unter der argentinischen Küste und haben etwas Schutz. Zumindest bauen sich hier, bei dieser Windrichtung, keine schweren Seen auf.
Um sechzehn Uhr zeigt das Barometer wieder steigende Tendenz, nachdem es zwei Stunden vorher mit 1009 seinen Tiefstand hatte. Die Zeichen deuten auf Wetterbesserung. Der Wind ist leicht abnehmend und rückdrehend. Mich beunruhigt die Richtung, in die er sich voraussichtlich einpendeln wird. Denn wenn er weiter rückdreht, könnte es ungemütlich werden. Genauso kommt es. Um achtzehn Uhr weht es aus Süd, uns genau auf die Nase. Erst am Wind segelnd merkt man, wie grob die See tatsächlich ist. Aber es nützt nichts – wollen wir nicht zurückversetzt werden, muss ich MATANGI hart am Wind halten. Eine Strömung aus Süd erschwert das Kreuzen zusätzlich. Wenigstens kann ich im weiter abflauenden Wind bald die Arbeitsfock setzen. Was unter dem Strich herauskommt? Wir können gerade mal unsere gutgemachte Position halten! Erst als ich auch das Großsegel wieder setzen kann, verbessert sich die Fahrt, und wir machen Luvgewinn. Wendemanöver und Reffmanöver halten mich bis Mitternacht auf Trab. Schließlich bleibt nur eine leichte Brise aus Südwest. Der Wind ist kurz vorm Einschlafen; mir geht es ebenso, ich bin hundemüde, aber dicht unter der Küste kann ich mir Schlaf nicht leisten. Ich bringe MATANGI auf einen Südostkurs, der parallel zur Küstenlinie verlaufen soll. Dann dreht der Wind erneut auf Nordwest und wieder zurück auf West und nimmt wieder zu. Jetzt läuft MATANGI gute Fahrt in die gewünschte Richtung. Am Mittag des dritten Tages errechne ich ein Etmal von 69 Seemeilen. Angesichts der ganzen Plackerei ein akzeptables Ergebnis. Von unserer jetzigen Position aus gesehen liegt Mar del Plata im Südwesten. Genau von dort kommt der Wind. Wieder nimmt er zu … und wieder ab! Kreuzen, Einreffen, Ausreffen – den ganzen Nachmittag und die folgende Nacht. Ab Mitternacht wieder Flaute. Mir kommt es vor, als liege dem Wettergeschehen, diesem sich seit zwei Tagen wiederholenden Ablauf, eine bestimmte Regelmäßigkeit zugrunde, ein bestimmtes Muster. Doch konzentriere ich mich lieber auf das Ziel: Noch dreißig Meilen bis Mar del Plata!
Endlich. Am frühen Samstagmorgen haben wir es geschafft. Wir machen am Steg außerhalb des Yachthafens fest. Wie zur Begrüßung stecken dicht vor MATANGIS Bug zwei Seelöwen neugierig die Köpfe aus dem Wasser.
Ich gehe an Land und frage mich nach der Prefectura durch. Dort sagt mir ein ernst dreinblickender Soldat, der diensthabende Offizier sei im Moment abwesend, ich solle später wiederkommen. Beim zweiten Anlauf, eine Stunde später, erfahre ich, dass besagter Offizier erst am Montag wieder im Dienst ist, erst dann könne einklariert werden. Pasado manaña – übermorgen. Schön, wenn man weiß, was so läuft. Also, Montag.
Besucheryachten scheinen in Mar del Plata nicht alltäglich zu sein. Nicht nur zufällig flanieren Spaziergänger an unserem Liegeplatz vorbei. Kaum einer, der nicht stehen bleibt und schaut. MATANGI ist Gegenstand des allgemeinen Interesses. Hier, außerhalb des Yachthafens, liegen wir auch ziemlich exponiert. Starker, böiger Wind hält den ganzen Tag an, weshalb ich erst am Abend wage, den relativ breiten Katamaran durch die enge Einfahrt in den Yachthafen zu fädeln, wozu der Hafenmeister extra eine Brücke hochklappen muss.
Innerhalb gibt es zwei Yachtclubs. Der Yachtclub Argentino sei derjenige, erfahren wir vom Hafenmeister, bei dem Fahrtensegler immer willkommen sind. Zwar wirkt dieser Club im Vergleich zum gegenüberliegenden etwas mondänen Club Nautico, dessen Stege sowieso alle belegt sind, eher bescheiden, was uns nur recht sein kann. Hier gibt es viele freie Boxen; ohne Mühe finden wir einen geräumigen Platz für MATANGIS Überbreite.
Strom- und Wasseranschluss gibt es direkt am Steg. Ein Komfort, den wir lange nicht hatten. Wo sich die Duschen befinden, zeigt uns der freundliche Nachtwächter. Am nächsten Morgen erfahren wir vom Clubmanager, dass Besucheryachten den ersten Monat umsonst liegen dürfen, danach – dem Mann scheint das peinlich zu sein – werde leider eine kleine Liegegebühr erhoben. Wir jedoch finden diese Regelung überaus großzügig. Wie lange wir denn bleiben möchten? Vielleicht eine Woche, sage ich. Fast enttäuscht nimmt der Mann zur Kenntnis, dass wir so bald schon weiter wollen.
Am Sonntagvormittag unternehmen wir einen längeren Spaziergang, in dessen Verlauf wir uns irgendwann inmitten des Fischereihafens wiederfinden. Obwohl oder gerade weil Sonntag ist, herrscht reger Betrieb. Der Hafen bietet ein farbenfrohes Bild. Unzählige Fischkutter, alle grellgelb oder ockerfarben bemalt und mit Nummern gekennzeichnet, liegen in dichten Päckchen vertäut. Die Piers sind belegt mit Trawlern, die geschäftig ihren Fang löschen. Schwere Fischkisten werden mit knatternden Winden an Land gehievt, dort gestapelt oder auf Lastwagen verladen. Ein Tallymann steht mit Block und Bleistift dabei und notiert. Hier klarieren Fischer Netze, dort wird mit kräftigem Wasserstrahl Deck gewaschen, schleimige Fischabfälle direkt über Bord gespült. Vor Gier laut kreischend stürzt sich ein Schwarm Möwen darauf; gehässig jagen die Vögel einander die besten Happen ab. Über allem liegt die würzige, auf mich immer wieder anregend wirkende Geruchsmischung von Fisch, Seetang, Öl, Teer und Salz. Besitzer empfindlicher Nasen mögen es auch schlichtweg Gestank nennen. Alle Fischereihäfen der Welt riechen so. Dazu weist dieser Hafen eine Besonderheit auf. Es ist kaum zu glauben: Die braunen Bündel dort an Deck der Fischkutter sind keine zusammengeknüllten Netze oder Jutesäcke. Nein, es sind schlafende Seelöwen. Da liegen drei oder vier dieser possierlichen Tiere – 250 Kilo Lebendgewicht – faul an Deck, alle auf einer Schiffsseite, und lassen sich die Sonne auf den pelzigen Bauch scheinen. Manche Boote krängen regelrecht unter dieser einseitigen, unseemännischen Beladung und zeigen beachtliche Schlagseite. Wohin man schaut: Seelöwen! Einige aalen sich träge im öligen Hafenwasser, andere liegen hoch und trocken über der Wasserlinie auf dem Balkenunterbau der Piers. Da man Seelöwen biologisch nicht unbedingt unter Klettertiere einordnet, können sie dorthin nur beim letzten Hochwasser gelangt sein. Sogar direkt auf den Piers, inmitten des geschäftigen Hafenbetriebs, haben einige dreist und ungerührt der Passanten ihre massigen Körper gefläzt. Wie sie da liegen, gleichen sie braunen Riesenwürsten. Fußgänger machen einen Bogen darum: Hindernisse, denen man besser ausweicht. Einer dieser fetten Kerle (ich meine die Seelöwen, nicht die Passanten) wird von drei Hunden verbellt. Doch den Lobo, wie man Seelöwen hier nennt, stört das keineswegs. Seine einzige Reaktion auf das Hundegekläff ist ein müdes Blinzeln mit dem linken Auge. »Was wollt ihr kleinen Kläffer! Trollt euch, ihr stört meine Ruhe«, mag das vielleicht heißen.
Allerdings sollte man sich besser außerhalb des Nahbereichs der behäbigen Tiere halten. Das scheinen sogar die Hunde zu wissen. Denn so schwerfällig und träge ein Lobo in seinem Mittagsschlaf wirkt, so blitzschnell kann er den Kopf heben und mit seinem Riesenmaul fauchend in Richtung eines allzu mutigen Störenfrieds schnappen. Die großen Fangzähne, die er dabei zeigt, flößen Respekt ein. Ich spreche aus Erfahrung …
Nach dieser für uns echt interessanten Tierschau in »freier Wildbahn« verbringen wir einen geruhsamen Nachmittag an Bord. Immer wieder mal stehen neugierige Leute auf dem Steg. Fast kommt es mir vor, als ob wir auf die Argentinier ähnlich wirken, wie am Vormittag die faulen Seelöwen auf uns. Doch weder fauchen noch schnappen wir, vielmehr beantworten wir geduldig alle Fragen. Die Leute hier sind ein redseliges, wissbegieriges Volk.
»Woher kommt ihr? Wie lange? Wohin? Was, zur Magellanstraße wollt ihr? Ist das nicht gefährlich? Warum nicht gleich um Kap Hoorn?«
Einem der Neugierigen, der uns offenbar per tu als angehende Kap-Hoorniers sehen will, fühle ich mich veranlasst, meine Ansicht über dieses Thema etwas eingehender darzulegen. Ich sage ihm, dass ich Kap-Hoorn-Umrundungen durchaus okay finde für Leute, die das ernsthaft vorhaben. Nonstop durchgeführt – etwa von Valparaiso nach Buenos Aires in einem Rutsch – sei dies sicherlich eine großartige sportliche Leistung. Davor hätte ich Hochachtung. Doch wäre das nichts für mich, schon gar nicht mit Familie. Da ich weder einen Eintrag ins Buch der Rekorde anstrebte, noch hinter irgendwelchen Pokalen her sei, genüge mir die Magellanstraße als Reiseweg vom Atlantik zum Pazifik voll und ganz.
Es gilt ja inzwischen als schick, mit modernen Yachten sogenannte Kap-Hoorn-Umrundungen (falls nötig, mit Motor) zu vollbringen. Nach Absolvierung des Felsens verkriecht man sich dann in den erstbesten geschützten Kanal und lässt sich ob dieser »Leistung« als jüngsten Kap-Hoorn-Bezwinger feiern. Nachdem dort unten inzwischen schon Charterfahrten angeboten werden, befindet sich auch dieses glorreiche Kap nun fest im Griff kommerzieller Vermarktung.
Unbeeindruckt von meiner Argumentation deutet mein Gesprächspartner auf zwei verwahrlost wirkende Boote, die auch uns bereits aufgefallen sind.
»Schaut euch die Yachten da drüben an. Auch Alemanes. Beide sind vor Kap Hoorn gescheitert. Der Eigner der einen hat Selbstmord begangen, weil er das Kap nicht geschafft hat. Der andere ist im Gefängnis gelandet und dort gestorben.«
Ich entsinne mich, mal was über die Sache gelesen zu haben.
»Und jetzt kommen noch mehr Alemanes daher, die es wieder versuchen wollen«, schlussfolgert mein Gegenüber, noch immer nicht von meiner Unheldenhaftigkeit überzeugt.
»Passt auf, dass nicht auch euch so was passiert. Ein Katamaran fehlte noch in unserer Sammlung …«
Der gutgemeinte Rat eines wohlwollenden argentinischen Menschen.
Tatsächlich sind, wie wir im Laufe der nächsten Tage noch hören werden, über das Schicksal der beiden Yachten und ihren Besatzungen unterschiedliche, ja, widersprüchliche Gerüchte im Umlauf. Die Boote bieten ein trauriges Bild. Offenbar hat sich seit Jahren niemand darum gekümmert.
Unterdessen unterhält Dim sich nett mit unseren Stegnachbarn. Diese sind mit ihrer flotten Motoryacht soeben vom Sportfischen zurückgekehrt und sortieren gerade ihren Fang. Wenn es um Fisch geht, ist Dim immer neugierig. Darin gleicht sie einer Katze. Vielleicht durch ihr Interesse animiert, schenken die Leute ihr ein paar Fische. Woraufhin Dim sie auf einen vino zu uns an Bord einlädt. Besonders durch Dim ist auf diese Weise während der Reise so manche Bekanntschaft zustande gekommen. Sie geht einfach auf die Leute zu, sagt: »Hello, so much fish!« oder beginnt sonst wie eine Unterhaltung. Mir fällt das nicht so leicht …
Bei einem vino bleibt es nicht. Dim malt unseren Besuchern aus, auf welch raffinierte Weise sie den geschenkten Fisch zubereiten wird. Argentiniern dürfte Fisch auf dem Speiseplan ja nicht unbekannt sein. Doch Fisch auf thailändische Art hergerichtet kennen die Leute noch nicht; ihnen muss das Wasser im Mund zusammenlaufen. So laden wir unsere neuen Bekannten, Juan-Carlos und Graciella, für den nächsten Abend zum Fischessen ein. Was Juan-Carlos veranlasst, gleich noch ein paar Exemplare seines Fanges herauszurücken. Wie verabredet, sind die beiden tags darauf pünktlich zum Thai-Essen da. Es wird ein amüsanter Abend. Zum Dessert hat Juan-Carlos, der in einer Speiseeisfabrik arbeitet, tatsächlich einen Container Eiscreme mitgebracht.
Vor diesem fröhlich-geselligen Essen lag jedoch ein harter Tag. Die Bürokratie des Einklarierens erwies sich nämlich als recht umständlich. Die Reihenfolge sollte eigentlich sein: Sanidar (Gesundheitsbehörde) – Immigration (Einreisebehörde) – Prefectura (Hafenamt) – Zoll. Doch fing ich mit der Immigration an, was mir doppelte Wege einbrachte. Niemand verstand Englisch oder wollte es nicht verstehen. Vielleicht noch die Nachwirkungen des Falklandkonflikts? Aber schließlich und endlich schien alles seine Ordnung zu haben – ganz sicher bin ich mir allerdings nicht …
Im Sonntagstrubel des Vortages haben wir ganz übersehen, dass noch eine andere Fahrtenyacht hier liegt: MAKIKI-III aus Norwegen. Auf dieser nicht stark frequentierten Route ist eine europäische Yacht sogar für uns eine Abwechslung, kann man doch mal wieder nette Langfahrtsegler kennenlernen und Erfahrungen austauschen. Ich gehe mal rüber, um Hallo zu sagen. Kjell und Marit sind die Eigner. Sie haben ebenfalls vor, den Weg durch die Magellanstraße in den Pazifik zu nehmen. Kjell bittet mich an Bord und Marit bietet mir ein Bier an. Das macht mir die beiden gleich sympathisch. Nicht nur diskutieren wir unsere Weiterreise Richtung Feuerland, Kjell erklärt mir auch den Weg zum Kopierladen in der Stadt. Denn in seinem Sortiment hat er genau die Karten, die mir noch fehlen. Zwar sind es auch nur Kopien, aber er stellt sie mir zum nochmaligen Ablichten gerne zur Verfügung.
Am Dienstagvormittag steht somit Stadtbesuch im Programm. Mar del Plata ist eine moderne Stadt, ist sie doch Argentiniens populärster Seebadeort. Aber jetzt zum Frühlingsanfang ist es den Touristen zum Baden noch zu kalt. Im Vergleich zu dem, was wir bislang von Südamerika gewohnt sind, kommt uns hier alles sehr teuer vor. Wir kaufen nur das Allernötigste. Wenn man Acht gibt, kann man trotzdem preisgünstige Sachen finden. Die Hauptsache erledigt, unsere Karten kopiert, sind wir froh, wieder in die trauten vier Bordwände zurückzukehren.
Am Abend sind wir zu Gast an Bord von MAKIKI-III. Hier werden wir vorzüglich bewirtet. Es gibt Norwegischer Eintopf mit Hammelfleisch, Weißkohl und Kartoffeln, serviert auf edlem Porzellan. Die Leute haben Stil. Der kräftige argentinische Rotwein passt ausgezeichnet dazu. Früher hatten wir Hammelfleisch nicht gemocht, besser gesagt, nicht so gekannt. Doch spätestens seit Uruguay wissen wir, wie schmackhaft es wirklich ist; hier erhalten wir einen weiteren Beweis. Dim erfährt von Marit das Rezept. Dieses Gericht soll künftig zum festen Bestandteil von Dims Bordverpflegung werden.
Unterdessen weht es draußen stark. Ich lese auf MAKIKIS Windmesser 42 Knoten ab. Auch ohne Windanzeiger sagt mir das Heulen im Rigg, dass es mit mindestens acht Windstärken stürmt. Genau die richtige Begleitmusik, um hier im gemütlichen Salon den Abend zu verplaudern. Mitternacht ist bereits vorbei, als wir uns verabschieden.
Die Woche vergeht mit Instandhaltungsarbeiten und Vorbereitungen für die Weiterfahrt. An einem Boot ist immer was zu tun. Da es im Yachthafen keine Bunkerstation gibt, schleppe ich Diesel kanisterweise von einer fünfhundert Meter entfernten Tankstelle heran. Vier Touren, in jeder Hand einen Zwanzigliterkanister, das gibt lange Arme. Bei einem Ausrüster für Fischereibedarf finde ich passende Schäkel für mein Ankergeschirr. Schäkel habe ich immer gerne genügend in Reserve. Man kann sie auch in anderen Bereichen gut einsetzen, zum Beispiel als Notbehelf im Rigg. Dafür, dass sie nur verzinkt sind, kosten sie nicht viel. Ich nehme auch gleich zwei Fischerkugeln aus Hartplastik mit. Diese verwende ich mit dem Zweitanker, dort wo die Polyamid-Ankerleine mit dem Kettenvorlauf zusammengesteckt wird. Durch die schwimmfähige Kugel wird die Kette etwas vom Meeresgrund angehoben und so die Leine vor Durchscheuern geschützt. Auch geben die Kugeln ausgezeichnete Markierungsbojen ab, will man den Anker mal am Grund belassen; so kann man die Stelle später leicht wiederfinden. In einem Laden für Anglerzubehör kaufe ich verschiedene Angelleinen, Haken, Bleigewichte und Kunststoffköder. Das Angelzeug soll uns später gute Dienste leisten, nicht nur beim Fischfang, sondern auch als Tauschobjekt.
Eines Tages macht mich Moana auf einen Holzpfahl aufmerksam, der direkt neben unserer Bordwand bei Niedrigwasser nur wenige Zentimeter aus dem Wasser ragt. Bei normaler Tide war dieser Pfahl nicht zu sehen, doch jetzt haben wir Springtide. Ich vermute, dass MATANGIS Bordwand während der ganzen Zeit, seit wir an diesem Platz liegen, daran gescheuert hat. Obgleich ich durch das trübe Wasser keine Kratzer erkenne, habe ich ein ungutes Gefühl. Demnächst werden wir uns also nach einer Sandbank umsehen müssen, wo unser Schiff trockenfallen kann, um die Sache genauer zu untersuchen. Ärgerlich, aber nicht zu ändern.
Ein andermal machen wir Bekanntschaft mit der Crew einer argentinischen Segelyacht, die direkt hinter MATANGI festgemacht hat. Die Leute sind neugierig und möchten unseren Katamaran besichtigen. So sitzen am Abend sieben lustige Argentinier beiderlei Geschlechts in unserem Salon. Sogar ihren eigenen vino haben sie mitgebracht. Wie ich verstehe, sind sie eine Chartercrew und befinden sich auf einem Wochenendtörn. In ihren Augen müssen wir Blauwassersegler etwas Besonderes sein, denn begierig fragen sie uns aus. Zumindest der Skipper scheint sich gut an der argentinischen Küste auszukennen. Von ihm erhalten wir wertvolle Informationen für unsere nächsten Ziele, die da wären: Puerto Madryn, Puerto Rawson und Cabo dos Bahias. Solche Insidertipps sind immer willkommen, ergeben sich daraus doch neue, nicht geplante Möglichkeiten. Zum Beispiel haben wir von Cabo dos Bahias noch niemals gehört. Die hier erhaltenen Informationen werden wir später sehr zu schätzen wissen.
An einem anderen Abend wiederum sind die Norweger bei uns zu Gast. Dim hat thailändisch gekocht und das mit Erfolg. Im Gegenzug finden wir uns tags darauf zum Sundowner an Bord von MAKIKI. Doch nehmen wir den Drink nicht im Cockpit ein, wie in den Tropen üblich, sondern im beheizten Salon. Dieses nachbarliche Hin und Her könnte endlos weitergehen, hätten wir nicht den Montag als Auslauftag festgelegt. Es ist schwer, sich loszureißen, doch wir müssen weiter. Die Saison schreitet fort, der Südsommer wartet nicht auf uns.
Vormittags klariere ich aus. Auf der Prefectura legt man mir nahe, mich während der Seereise täglich auf UKW zu melden. Ich erhalte eine Liste, für welches Gebiet welche Funkstation zuständig ist. Der Offizier zeigt mir im Funkraum, wofür das alles gut sein soll. An einer großen Magnettafel, die das argentinische Seegebiet darstellt, haften viele kleine Schiffchen. Eines wird später MATANGI symbolisieren. Entsprechend der eingehenden Positionsmeldungen werden die Schiffchen auf der Tafel umhergeschoben. Bestimmt ein interessantes Spiel mit System, ein herrliches Spielzeug für Militärs; an der ernsten Miene des Mannes erkenne ich die Wichtigkeit seiner Aufgabe.
Noch liegen wir im Hafen und warten ab. Das Wetter zeigt sich launisch, ich kann nicht so recht meine Schlüsse daraus ziehen. Gegen Abend vermag ich meine Ungeduld nicht länger zu zügeln. Ich beschließe auszulaufen. Ich will die Nase hinausstecken und sehen, was sich draußen tut. Kjell und Marit winken uns goodbye; die beiden sind uns inzwischen zu guten Freunden geworden. So hat auch dieser Abschied wieder ein Hauch von Wehmut, dieses bedrückende Gefühl, das wir mittlerweile kennen, stellt es sich doch bei jedem Aufbruch neu ein. Erst der Wind des kommenden Tages wird es mildern und schließlich verwehen.
Wieder geht extra für uns die Klappbrücke hoch. Kaum sind wir draußen, füllt schon eine steife Südsüdwestbrise MATANGIS Segel. Ich lege den Kat auf Backbordbug hart an den Wind. Auf einem Kurs von 160 Grad kommen wir schnell von der südwestlich verlaufenden Küste frei.
»Wegen der vorherrschenden westlichen Winde kann man ohne Gefahr solch einen Abstand zur Küste halten, dass diese gerade noch in der Kimm sichtbar ist. Ein Oststurm, falls er auftreten sollte, kommt niemals ohne eindeutige Warnung«, schlägt hierzu das Handbuch »Ocean Passages For The World« vor. Soweit, so gut. Ich folge dem Rat und beschließe, mich nicht allzu weit vom Land zu entfernen. Auch deshalb, weil unser nächstes Ziel an eben dieser Küste liegt – Puerto Madryn im Golfo Nuevo.
Der Himmel ist bedeckt, der Luftdruck nimmt langsam aber stetig zu. Wobei der Wind noch etwas zulegt und bald mit Stärke vier weht. Um 2230 Uhr gehe ich über Stag. Der neue Kurs bringt uns mit 290 Grad wieder näher an die Küste heran. Ab Mitternacht dreht der Wind auf Süd. Hart am Wind folgt die Windfahnensteuerung selbständig dieser Drehung, so als wüsste der Apparat, wohin die Reise geht. Am nächsten Vormittag geht der Wind weiter herum auf Südost und nimmt zu auf Beaufort sechs. Raumer Wind: ein Zuckerlecken für den Kat. Aus vielleicht übertriebener Vorsicht binde ich alle Reffs ins Groß, belasse aber die Fock. MATANGI zieht mit sieben Knoten glatt durch die See.
Unsere Mittagsposition ergibt eine zurückgelegte Distanz von genau einhundert Seemeilen. Ich bin zufrieden.
In der Luft und im Wasser tummeln sich verschiedene Seevogelarten, darunter auch die großen Albatrosse. Es ist eine Lust, ihrem eleganten Gleitflug zuzuschauen. Dabei vergesse ich sogar meine Kopfschmerzen, die sich oftmals bei mir als Ersatz für Seekrankheit einstellen. Meine Crew ist da schlechter dran: Dim und Moana durchleben mal wieder ihre echte Seekrankheit.
Das Barometer steht konstant auf 1033. Passend dazu behält der Wind Richtung und Stärke bei und zeigt nachmittags eine leicht östliche Tendenz. Penibel registriere ich jede Änderung, bin wettermäßig auf alles gefasst.
Nachts schimmern die Wellenkämme phosphorhell, MATANGI zieht eine leuchtende Doppelspur irisierenden Lichts hinter sich her. Im aufwirbelnden Kielwasser flammen Galaxien auf und erlöschen ebenso rasch. Hier bekommt man eine Ahnung, wie das Universum funktioniert. Betrachte ich den Sternenhimmel über mir, meine ich, dort oben die gleichen Abläufe zu erkennen. Von meinem Lieblingsplatz im Cockpit beobachte ich lange dieses Naturschauspiel. Erst die Kälte der Nacht, die allmählich durch meine Kleidung dringt, ruft mich in die Wirklichkeit zurück.
Hier ist das Meer gesättigt von Plankton. Es bildet die Grundlage für den immensen Fischreichtum dieser Gewässer. Eines ergibt das andere: zahlreiche Fischer, die in diesem Irrlicht nur schwer auszumachen sind. Was auf der Magnettafel der Prefectura abstrakt dargestellt ist, spielt sich hier draußen real ab. Deshalb halte ich aufmerksam Ausguck. Um der Pflicht Genüge zu tun, gebe ich abends über UKW eine Positionsmeldung durch. Zu meinem Erstaunen spricht man anderen Ende klar verständliches Englisch.
Der Wind meint es gut mit uns. Am Morgen des elften November dreht er weiter auf Ost und nimmt etwas ab, weshalb ich ein Reff aus dem Groß schütte und den Baum ganz nach Steuerbord auffiere. Gleichzeitig baume ich die Arbeitsfock nach Backbord aus. Der jetzt achterliche Wind treibt den Kat kräftig an. Zeitweise läuft er acht Knoten. Die Mittagsposition ergibt ein traumhaftes Etmal von 178 Seemeilen, das bisher beste der gesamten Reise. Ich kann es nicht glauben, rechne nochmals, doch es gibt kein Vertun, es stimmt!
In der dritten Nacht zeigt sich der Vollmond. Und wieder diese herrliche phosphoreszierende See. Inzwischen hat der Wind auf Nord gedreht. Um 0230 Uhr nehme ich den Passatbaum weg, halse und lasse MATANGI einen mehr westlichen Kurs laufen. Ich will wieder dichter unter die Küste gelangen, denn wir stehen bereits nordöstlich von Peninsula Valdez.
Am frühen Morgen des zwölften November kommt die Halbinsel in Sicht. In der Seekarte sieht man, wie sich die Landmasse halbkreisförmig um den Golfo Nuevo schmiegt, dessen nördliche Begrenzung bildet. Der weitläufige Golf ist nur durch eine relativ enge Einfahrt südlich der Halbinsel zugänglich. In seinem Westteil liegt der Hafen Puerto Madryn. Wir haben gehört, dass sich im Golfo Nuevo alljährlich zahlreiche Wale zur Paarung und zum Gebären der Kälber einfinden sollen. So hoffen wir, die mächtigen Tiere sehen zu können.
Tatsächlich – als wir eben außerhalb der Einfahrt stehen, hören wir ein lautes, abgehacktes Schnaufen. Ein riesiger Wal, offenbar aus dem Golf kommend, zieht in hundert Metern Abstand an unserer Steuerbordseite vorbei – Richtung See. Bevor ich noch die Kamera klarmachen kann, ist er schon weg und taucht nicht wieder auf.
»Wenn das mal nicht der Letzte der Saison war!« scherze ich noch.
In der Einfahrt zieht MATANGI mit gut achteinhalb Knoten durchs Wasser, muss aber dem auslaufenden Gezeitenstrom drei Knoten opfern. Sobald wir innerhalb des Golfs stehen, wird der Wind, wie befürchtet, durch die Küste abgelenkt und kommt aus Nordwest. Indem ich den Kat hart am Wind halte, können wir unseren Westkurs nach Puerto Madryn dennoch knapp beibehalten. Erst als wir von der Halbinsel freikommen und die weite Wasserfläche des Golfs gewinnen, pendelt der Wind wieder auf Nord, womit der Katamaran wieder etwas abfallen kann.
Am Abend erreichen wir den Hafen. Sofern man den langen, in die offene See ragenden Fingerpier so bezeichnen kann. Nördlich davon versuchen wir zu ankern. Der Seegrund ist dermaßen schlecht, außerdem steht grober Seegang aus Nord, dass der Anker erst beim vierten Anlauf hält. Sehr viel Vertrauen habe ich trotzdem nicht; ich werde unsere Ankerposition öfters kontrollieren müssen. Der Tag war anstrengend, weshalb ich mir das Einklarieren an diesem Abend erspare. Das kann bis morgen warten – manaña.
Nach einer nicht sehr ruhevollen Nacht muntert Dim die Crew mit einem kräftigen Frühstück auf. Der Wind weht noch immer auflandig, dabei ist die See an dieser Stelle erstaunlich flach. Ich entscheide, erst mal alleine an Land zu fahren. Dim und Moana sollen vorläufig an Bord bleiben – für alle Fälle. Ich gebe Dim Anweisungen, sofort die Motoren zu starten, sollte der Anker während meiner Abwesenheit nicht halten. In Gummistiefeln und Ölzeug steige ich ins Beiboot und düse los.
Vor dem Strand hat der auflandige Wind einen dreißig Meter breiten Streifen aus Seetang und Algen gebildet. Dieser Seetanggürtel erfüllt eine Doppelfunktion: Zum einen absorbiert er die Brandung, welche ansonsten sicher recht steil wäre, zum anderen verhindert er wirksam den Zugang von See zum Strand. Aber irgendwie muss ich diese Barriere überwinden. Unmöglich, mit dem Außenborder durch diese schlüpfrige, schwabbelnde Masse zu kommen. Ich klappe den Motor hoch und versuche es mit Rudern. Nicht einen Zentimeter komme ich vorwärts. Von Land aus sieht das sicher lustig aus, wie einer da im Gummiboot sitzt und Trockenrudern exerziert. Was bleibt mir übrig? Ich steige in die wabblige, würzig riechende Masse und versuche das Boot hinter mir herzuschleifen. Zwar ist das Wasser nur mehr knietief, aber es reicht aus, mir die Stiefel bis zum Rand zu füllen. Nicht nur das Gefühl, Klumpfüße zu haben, nein, Seetang und Algen saugen an meinen Beinen, halten mich wie Tentakel fest. Mit knautschendem Stiefelgeräusch setze ich mühsam einen Fuß vor den anderen. Schritt für Schritt arbeite ich mich vor zu festerem Terrain. Das Beiboot, das ich an der Leine hinter mir her schleppe, verhält sich eher störrisch. Es schwimmt nicht, sondern hüpft widerstrebend über die glitschige Algenschicht. Immer wieder muss ich anhalten und es mit einem Ruck zu mir herziehen.
»Unterlass’ das Fotografieren gefälligst!«