Die Handlung und die handelnden

Personen sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits

verstorbenen Personen ist zufällig.

1. Auflage 2017

ISBN 978-3-7460-7014-8

© 2016

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung und Vervielfältigung – auch auszugsweise – ist nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Autors gestattet. Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes, liegen beim Autor. Zuwiderhandlung ist strafbar und verpflichtet zu Schadenersatz.

Titelfoto: Tatiana Popova / Shutterstock

Lektorat: Catrin Stankov, Bernau

Umschlaggestaltung und Satz: Julia Karl / www.juka-satzschmie.de

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Gewidmet meinen Enkelsöhnen
Daniel und Felix

Freude, schöner Götterfunken,

Tochter aus Elysium,

Wir betreten feuertrunken,

Himmlische, dein Heiligthum!

Deine Zauber binden wieder,

Was die Mode streng getheilt;

Alle Menschen werden Brüder,

Wo dein sanfter Flügel weilt.

Seid umschlungen, Millionen!

Diesen Kuß der ganzen Welt!

Brüder – überm Sternenzelt

Muß ein lieber Vater wohnen.

(Friedrich Schiller, »Dichter der Freiheit«)

Inhaltsverzeichnis

  1. Teil
  2. Teil

… anstatt eines Vorwortes

»Des Herzens Woge schäumte nicht so schön empor
und würde Geist, wenn nicht der alte stumme Fels,
das Schicksal, ihr entgegenstände.«

(Friedrich Hölderlin)

»Der Mensch, hingerissen vom Drang nach Freiheit und der Sehnsucht nach Geborgenheit (Kant), lebt zeitlebens in dieser Zerrissenheit.«

Hölderlin hatte ein Gespür für die menschlichen Höhen und Tiefen, dieses Gefühl kommt besonders in seinen Gedichten und Briefen zum Ausdruck:

»Man kann wohl mit Gewissheit sagen, dass die Welt noch nie so bunt aussah wie jetzt. Sie ist eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Widersprüchen und Kontrasten. Altes und Neues! Kultur und Rohheit. Boshaftigkeit und Leidenschaft. Egoismus im Schafspelz. Egoismus im Wolfspelz. Aberglauben und Unglauben. Knechtschaft und Despotismus. Unvernünftige Klugheit, unkluge Vernunft. Geistlose Empfindung, empfindungsloser Geist. Geschichte. Erfahrung. Energie ohne Grundsatz. Grundsätze ohne Energie. Strenge ohne Menschlichkeit. Menschlichkeit ohne Strenge. Heuchlerische Gefälligkeit. Schamlose Unverschämtheit. Altkluge Jungen, läppische Männer.

Man könnte diese Litanei von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fortsetzen und hätte kaum ein Tausendteil des menschlichen Chaos genannt, des Menschengeschlecht.«

Eine tiefe Analyse, die jedoch nicht ohne ein Positivum endet:

Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnung und Vorstellungsarten, die alles Bisherige schamrot machen wird.

Gewandt an die Dichter: ›O weckt, ihr Dichter! Weckt sie vom Schlummer auch, die jetzt noch schlafen, gebt die Gesetze, gebt uns Leben, siegt, Heroen! Ihr nur habt der Eroberung Recht, wie Bacchus.‹«

Der schwäbische Dichter Friedrich Hölderlin entfesselt den Genius Freiheit. Er lässt ahnen, dass Freiheit ein immer wiederkehrender Prozess in der Entwicklung des Menschen ist und bleibt.

Aus der Verwesung des Alten wird Neues sich entfalten.

1. TEIL

Am späten Nachmittag

Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos durchstreiften den Innenraum des Fahrzeuges, durchzogen die schemenhaften Schatten der beiden Insassen. Es nieselte leicht. Das Zubringer-Taxi fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch die Nacht. Auf der Autobahn tauchte ein Vorwegschild auf, er las: noch zwanzig Kilometer bis zum Flughafen Dresden.

Die Bilder der letzten Tage hatten ihn wieder gefesselt. Er hatte Mühe, sie zu verdrängen.

Nach raschen Handlungen und Aufregungen der Flucht, nach dem Wirbel der letzten Tage, saß er neben dem Fahrer. Noch tief erstaunt, dass alles so glatt verlaufen war, sank Kurz ganz und gar in sich zusammen. Er sah die grellen Lichter, die vorbeifliegenden Silhouetten entlang der Autobahn. Aus dem Radio vernahm er Musik, hin und wieder unterbrochen von Nachrichten.

Es war drei Uhr morgens. Noch genügend Zeit bis zum Flughafen, dachte er, die Maschine nach Athen startete erst 5.30 Uhr. Soweit lief alles gut. Er spürte seine Unsicherheit, seine Hände schwitzten. Er fühlte sich vom Fahrer beobachtet, spürte seine Unruhe. Nicht auffallen, lief es durch seinen Kopf. Er wollte sich ablenken, die Gedanken verscheuchen, sein Zittern unterdrücken.

Er griff in seine Jackentasche und holte eine Schachtel Zigaretten hervor, bot dem Fahrer eine Zigarette an, beide rauchten schweigend. Die Stille wurde von belanglosen Wortfetzen unterbrochen, vom Wetter, dem Woher und Wohin. Das Taxi erreichte den Flughafen, er bezahlte, stieg aus, nahm seine Koffer, die ihm der Fahrer reichte, verstaute sein Gepäck auf einen nahe stehenden Gepäck-Kuli und schob ihn Richtung Abflug-Terminal. Noch hatte er fast zwei Stunden Zeit. Langsam schob er seinen Gepäck-Kuli zu einem Bistro, bestellte einen Cappuccino, zitternd rührte er mit dem Löffel im Kaffee. Die Bilder der letzten Tage drängten immer wieder in sein Bewusstsein. Gedankenverloren griff er in die Innentasche seines Jacketts. Das mit dem Geld war in Ordnung, er hatte es bei sich, das Bündel Tausender war sicher in seiner Brusttasche verborgen.

*

Es war vor drei Tagen. Am Dienstag ließ ihn der Geschäftsführer seiner Firma zu sich rufen, er solle gegen 18 Uhr in sein Büro kommen. Er hatte ein ungutes Gefühl. Was wollte er von ihm? Er vermutete einen Zusammenhang mit seinem dreiwöchigen Lehrgang im Mai des Jahres, als ihn das Neue Forum zu einer Regionalzeitung nach Bonn geschickt hatte. Die Schulung diente der Vorbereitung der ersten gemeinsamen Wahl nach der Wiedervereinigung. Sein Abteilungsleiter, bis zur Wende ein tausendprozentiger SED-Genosse, war der Erste, der sein Parteibuch hingeschmissen hatte, mehr theatralisch als aufrichtig. Dieser Wendehals war strikt dagegen gewesen, dass er den Bildungskurs besuchen sollte. Er hatte deshalb vorbeugend einen schriftlichen Antrag vom Neuen Forum an die Geschäftsleitung eingereicht. Am Tag vor seiner Abreise hatte sein Chef verkündet, dass der Antrag abgelehnt worden sei. Nach Rücksprache mit der Unternehmensleitung hatte man ihm schließlich grünes Licht gegeben. Am nächsten Tag, er war schon in Bonn, hatte ihn seine Frau angerufen. Sein Abteilungsleiter fordere ihn auf, sofort an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren, ansonsten drohe ihm eine sofortige Entlassung. Er hatte damals die Drohung einfach ignoriert. Wochen später wurde bekannt, dass sein Abteilungsleiter zum Geschäftsführer erhoben worden war. Seine Angelegenheit schien im Sande zu verlaufen.

Am späten Nachmittag, kurz nach Büroschluss, die Mitarbeiter waren bereits gegangen, lief er hinüber zur Geschäftsleitung. Oben im ersten Stock brannte Licht. Er ging die Stufen hinauf, trat in den langen Korridor und begab sich zum Büro des Geschäftsführers Trommler. Er hörte im Flur eine Stimme, die nach ihm rief: »Kommen Sie zum Bad.« Trommler lag in der Badewanne. Er wandte sich zu Kurz: »Ich habe Sie rufen lassen, um Ihnen Wichtiges mitzuteilen. Gehen Sie in mein Büro, auf dem Schreibtisch liegt ein offenes Kuvert, bringen Sie den Brief her.«

Kurz ging ins Büro und holte den Brief.

»Lesen Sie den Brief.«

Kurz nahm das Schreiben. Er las: »Sehr geehrter Herr Kurz, zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen wegen Rationalisierungsmaßnahmen per 30. Oktober kündigen.«

Er stockte. »Was soll das?«, wollte er von Trommler wissen. »Haben Sie mich deshalb rufen lassen? Nach meinem Wissen hat das Unternehmen volle Auftragsbücher bis weit ins nächste Jahr hinein.«

Trommler begann sich einzuseifen. Nach einer Pause wandte er sich Kurz zu. »Wissen Sie, Sie sind der Erste, den ich entlassen werde. Ihnen möchte ich es gern persönlich mitteilen. Ich will Ihnen noch was verraten. Der ganze Laden wird zum Jahresende dichtgemacht. Es ist für mich eine Genugtuung, Ihnen das zu sagen. Ich habe mit Ihnen noch eine Rechnung offen. Erinnern Sie sich, im Mai hatte ich Ihnen untersagt zu fahren, Sie haben sich meiner Anweisung widersetzt, dafür erhalten Sie heute die Quittung. Sie werden bald am eigenen Leibe spüren, was Ihnen Ihre stille Revolution gebracht hat.« Er nahm ein Glas, füllte es mit Cognac, sprach: »Auf Ihr Wohl, Herr Kurz«, und leerte das Glas in einem Zug. »Sie sollen noch mehr erfahren, öffnen und lesen Sie.«

Kurz öffnete das Kuvert.

»Hier, trinken Sie«, wandte er sich zu ihm.

Kurz ignorierte das Angebot, er las den Brief. »Die Kündigung beeindruckt mich wenig, aber ich möchte fragen, ob Sie dies mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, einfach 90 Mitarbeiter auf die Straße zu setzen.«

»Warten Sie, lesen Sie dies hier.« Er gab Kurz einen Brief aus dem Umschlag.

Kurz stockte, nachdem er diesen überflogen hatte. »Haben Sie die Firma verschleudert?«

Trommler lächelte. »Ich habe nur meine Chance genutzt, mein Lieber. Wissen Sie, Kurz, jeder hat im Leben seine Chance. Ich habe stets meinen Vorteil gesucht und genutzt. Übrigens, Kurz, Sie werden bald merken, was Ihnen Ihre ›Revolution der Kerzen‹ gebracht hat.«

»Können Sie mir Ihre Gründe zur Schließung der Firma nennen?«, fragte Kurz.

Trommler lächelte. »Marktbereinigung nennt man dies.«

»Sie waren über 40 Jahre in der SED, haben Sie diese Skrupellosigkeit in Ihrer Partei gelernt?«

»Ach, lassen Sie diese Phrasen, Kurz. Jeder ist sich selbst der Nächste, dies war immer mein Prinzip. Das Hemd war mir immer näher als der rote Rock. Nun will ich Ihnen etwas Persönliches sagen. Sie mit Ihrem moralischen Gefasel von Gerechtigkeit, Ihrem Glauben. Was hat er Ihnen denn im Leben gebracht? Ich konnte Sie nie leiden, Kurz. Sie waren mir schon immer ein Dorn im Auge. Jetzt, heute, kann ich mir Genugtuung holen, Sie winseln lassen, wenn Sie auf der Straße liegen.« Er hatte die Seife noch in der Hand, seifte seinen behaarten Brustkorb ein. »Ich will Ihnen noch was zeigen. Holen Sie von meinem Schreibtisch den dicken braunen Umschlag.« Er nahm einen Schluck vom Cognac. Kurz holte den Umschlag. Trommler wandte sich an Kurz: »Öffnen Sie den Umschlag.«

Kurz öffnete das Couvert, darin war ein großes Bündel DM-Banknoten zu erkennen. »Warum zeigen Sie mir das?« Kurz wollte gehen.

»Warten Sie, lesen Sie den Briefzettel.«

Kurz nahm den Zettel und las: »Sehr geehrter Herr T. Gemäß unserer Vereinbarung erlauben wir uns, Ihnen als erwiesene Anerkennung zunächst einen Betrag von 1.000.000 DM zu überreichen. Mit freundlichen Grüßen …« Weiter las er nicht. »Sie sind ein Schwein!«

Trommler lächelte. »Wie gesagt, ich habe nur meine Chance genutzt. Wie damals als Kommandant im Zweiten Weltkrieg oder als Abteilungsleiter oder später in der SED. Und jetzt als Steuermann der Firma.« Er lachte laut auf. »Und Sie, Sie haben nur leeren Schaum im Kopf, ja, leere Schaumblasen.« Er lachte und trank den Rest seines Cognacs aus.

»Kennen Sie so was wie ein Gewissen?«, fragte Kurz. Er sah, wie Trommler abwinkte, die Flasche nahm, sein Glas vollgoss und einen großen Schluck trank. Kurz sah ihm zu. »Sie sind ein skrupelloses, gieriges Schwein, es kotzt mich an, Sie noch länger anzuhören. Was die Kündigung betrifft, können Sie mir damit nichts anhaben. Persönlich habe ich schon längst mit Ihnen abgeschlossen. Es ist für mich eine Erleichterung, Ihnen nicht mehr über den Weg laufen zu müssen. Aber wie Sie mit Ihren Mitarbeitern umgehen, werden Sie vielleicht eines Tages noch verantworten müssen.«

Als er zur Tür ging, fiel sein Blick auf ein Radiogerät, das leise vor sich hin dudelte. Er sah den Wannenrand und plötzlich durchfuhr es ihn: Wenn jetzt ein Unfall passierte, das Radio ins Wasser gleiten würde? Er sah, wie Trommler sein Glas nahm und es in einem Zug leerte, seine Augen schloss, den Kopf an den Wannenrand angelehnt. Kurz machte einen Schritt zurück zur Wanne und blieb am Rand stehen. Trommler hatte ihn nicht bemerkt, er schnarchte. Mit dem Knie schob er vorsichtig das Radio über den Wannenrand, das Gerät platschte fast leise ins Wasser. Er kehrte schnell um und lief aus dem Bad. Nach ein paar Schritten hörte er aus dem Bad laute Geräusche. Er ging zurück. In der Wanne sah er Trommler zusammengesackt im Wasser liegen, die Augen wie Glas, die aus den Augenhöhlen hervorquollen. Alles lief wie ein Sekundenwerk ab. Er nahm die Kündigung und den braunen Umschlag, kehrte um, ging in das Büro, sah eine braune Brieftasche, klappte sie auf und fand ein Bild von seiner Frau. Auf der Rückseite las er »Mein lieber Trommi«. Er nahm das Foto heraus. Es lief ihm eiskalt über den Rücken. Hatte seine Frau ein Verhältnis mit diesem fiesen Kerl? Er lief aus dem Büro, die Treppen hinunter und eilte über den Hof. Nur ruhig bleiben, schoss es ihm durch den Kopf, der Hof war wie leer gefegt. Er ging zum Parkplatz, stieg in seinen Wagen und fuhr nach Hause. Es war ein Unfall, redete er sich ein, ein Unfall, keiner würde ihn verdächtigen. Er wollte sich beruhigen. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, schoss es ihm durch den Kopf.

*

Die Maschine hatte bereits Dresden verlassen, sie überflog die Alpen. Er sah unten die weißen Bergkuppen und die weit ins Tal ziehenden Gletscher. Wie im Traum kam es ihm vor. Die Adria blitzte unten auf, die Küste Albaniens trat aus dem Wolkenfeld heraus. Er erblickte Umrisse wie im Schulatlas, es waren neue Eindrücke, die er heute das erste Mal wahrnahm. Es war sein erster Flug. Warum gerade nach Süden, was trieb ihn dorthin, war es Zufall? Er hatte blindlings diese Flugroute ausgewählt, er wollte fort, wohin, war ihm egal. Jetzt wurde ihm bewusst, dass er einen Menschen getötet und eine Million Mark bei sich hatte, er fühlte die Brieftasche. Es war alles glattgelaufen. Die Ungewissheit, entdeckt zu werden, hatte ihn zu diesem Schritt getrieben. Sie trieb ihn weg von zu Hause. War es nur die Mordtat, die ihn forttrieb? Gedanken brachen immer deutlicher aus ihm hervor, klare Bilder schälten sich aus der Unklarheit der letzten Tage heraus. Er fühlte, dass diese Spontanität kein Zufall war. Zufall war vielleicht der Zeitpunkt, zu dem dieser Entschluss durchbrach. Nein, er wollte schon immer weg. Heraus aus diesem Dunst, der ihn ein Leben lang umhüllte. Er sah den Nebel seiner Kindheit, sah die Gemeinheiten gegen Andersdenkende, sah den Zwiespalt der Kommunisten, begriff die Heuchelei und die brutale Gewalt. Spürte die dem Klassenkämpfer innewohnende Hybris: »Willst du nicht mein Bruder sein, schlage ich dir den Schädel ein.« Er sah die Falschheit, die zur Unerträglichkeit wuchs, Dummheit und Hinterhältigkeit gewannen an Raum. Was wurde nicht alles zerstört, wehe, es traute sich einer in seiner Naivität, die eigene Meinung zu sagen, das Fallbeil der roten Inquisition sauste über ihn hinweg und löschte seinen unbekümmerten kritischen Geist aus. Er wollte fort aus der Enge, die ihm die Kehle zuschnürte. Die Zeit war geprägt von Hilflosigkeit, aufkommender Wut, die ständig unterdrückt wurde und in ihm gärte. Lüge, ja, auf Lüge war alles aufgebaut, dies begriff er zeitig, Lügen und Niederträchtigkeiten, die blinden Gehorsam und Unterwürfigkeit forderten. Entweder anpassen oder sich auflehnen und dem Gespött der Systemtreuen ausgesetzt sein.

Er hatte die Augen geschlossen, er sah sich der Frage ausgesetzt: Warum das alles, warum musste er in die unbekannte Fremde? Er dachte zurück an die Zeit 1989, der friedlichen Revolution. Nein, es gab keine Revolutionäre, die damals auf die Straßen gingen. Es waren einfache Menschen, die Mut gefasst hatten, einfach frei sein wollten, frei von Bevormundung einer Partei, und die mehr Gerechtigkeit forderten. Sie wünschten, dass sich ein Sturm entwickelte, der das alte SED-Regime mit all seinem Mief hätte davontreiben lassen. Er sah in seinen geistigen Augen, wie alles begann.

*

Revolution der Kerzen

Mag es so scheinen. Es war ein langer Prozess, der 1989 mit einer Eruption endete. Deutlich sah er die Anfänge vom Ende der DDR vor Augen. Wie alles begann:

Im Mai 1989, es hatte in der Nacht heftig gestürmt und geregnet. Die Straßen waren zum Teil vom Regenwasser überflutet, Äste von den Bäumen gerissen. Von Freunden erfuhr er, dass in der Friedenskirche an der Leninstraße am Nachmittag ein Gottesdienst besonderer Art stattfindet, Genaues war nicht bekannt. Seine Neugier war geweckt. Mit seinem Trabant fuhr er zur Südstadt und bog ab zur Leninstraße. Unweit der Kirche wollte er parken, traute aber seinen Augen nicht. Der Parkplatz war voll belegt. In einer Nebenstraße konnte er seine »Pappe«, Kosename für den Trabant, in einer Lücke abstellen. Vor der Friedenskirche drängte sich eine große Anzahl von Besuchern. Was war los, warum dieser Andrang? Bald schon wurde ihm der Grund klar. Im Vorraum entdeckte er »Sputniks«. Plakate, die zur Bewahrung der Schöpfung und Gerechtigkeit aufriefen. Der Kirchensaal war proppenvoll. Klappstühle wurden ausgegeben, man konnte sich damit an die Innenseite setzen. Pfarrer Keucher betrat die Kanzel und begrüßte die Gäste. Einige Sätze blieben ihm bis heute in Erinnerung:

»Es ist eine Zeit gekommen, eine Zeit der Entscheidung. Wir alle sind gefordert, uns zu entscheiden. Ihr habt im Vorraum viele Zeitschriften gesehen. Eine davon ist für uns wichtig, sehr wichtig. Ich meine den ›Sputnik‹.« Zwischenrufe ertönten: »Gibt es diesen überhaupt noch?« – »Ja, du hast recht, es gibt ihn nicht mehr so öffentlich. Warum, müssen wir uns fragen, warum verbietet die SED-Staatsführung den weiteren Vertrieb?«

»Weil sie Angst haben vor der Wahrheit«, ertönte ein Ruf.

»Du triffst den Nagel auf den Kopf. Sie haben Angst vor der Wahrheit. Doch die Wahrheit lässt sich nicht für immer leugnen. Die Wahrheit muss ans Licht. Vom Osten kommt ein neues Signal: ›Perestroika‹ und ›Glasnost‹.«

Er sah sich um. Solch deutliche Worte werden von der SED nicht ohne Reaktion bleiben. Beruhigend war, dass die Menschen in der Kirche frei von Angst und Scheu waren. Sie lauschten gespannt den Worten des Predigers. Man spürte die Spannung und den Mut, endlich aufzuwachen, wieder Mensch zu sein. »Wachen wir auf und zeigen unseren Willen durch friedlichen Protest. Nehmen wir zum Abschluss des Gottesdienstes jeder eine Kerze, entzünden sie am Ausgang. In friedlicher Absicht und Demut wollen wir mit der Kerze in der Hand von der Friedenskirche aus in die Innenstadt laufen und auf dem Markt in einer Schweigeminute verweilen. Lasst uns durch die Kerze in der Hand unseren Unmut ausdrücken, durch friedlichen, gewaltlosen Protest. Lasst euch nicht provozieren, erheben wir die Kerze zum Zeichen für das neue Signal.«

Vorn am Ausgang lagen einige Exemplare des »Sputnik«. Seit Jahrzehnten gehörte diese Zeitschrift zum Alltag der sozialistischen Literatur und Propaganda. Von den meisten eher ablehnend behandelt, stellte sie doch einen realitätsfremden Kommunismus der Sowjetunion dar – Potemkin lässt grüßen.

Eher skeptisch nahm er eine Broschüre, der Titel lautete: »Michael Gorbatschows Rede vor der UNO in New York«. Er blätterte darin, las einen Satz, glaubte zu träumen: »Für uns ist auch die Verbindlichkeit des Prinzips der ›Freien Wahl‹ über jeden Zweifel erhaben. Dessen Nichtanerkennung kann die schlimmsten Folgen haben. Dies ist das Recht der Völker.« Welch krasser Gegensatz zur DDR-Wirklichkeit. Eine andere Broschüre erweckte mein Interesse: »Die revolutionäre Umgestaltung – eine Ideologie der Erneuerung« von Michael Gorbatschow. Hinwendung zum Menschen, seinem realen Antlitz. Denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein – vor allem sind es Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit, die den Inhalt des Lebens ausmachen. Ein unglaublicher Affront zur SED-Ideologie. Immer noch werden »Unruhestifter« ohne Rücksicht auf die Öffentlichkeit an die Wand gedrückt, die Presse am Gängelband geführt. Er las weiter: »Kritik ist das Hauptinstrument regierender Parteien, um Mängel und Fehler abzustellen. Das ›Freie Wort‹ bildet ein Grund-Fundament der Menschenrechte.« Resultieren nicht daraus die Grundrechte einer bürgerlichen Gesellschaft?, dachte er in diesem Augenblick. Will nicht Gorbatschow damit zurückkehren zur Demokratie, wo die Grundrechte für jeden Menschen lauten: Recht auf Meinungs-, Rede- und Wahl-Freiheit?

»Wo kann man diese Broschüren beziehen?«, fragte er Pfarrer Keucher, dieser lächelte und zeigte auf eine Zeitungsmeldung. Er las: »(ADN) Wie die Pressestelle des Ministeriums für Post und Fernmeldewesen der DDR (MPF) mitteilte, ist die Zeitschrift ›Sputnik‹ von der Postzeitungsliste gestrichen. Sie bringt keinen Beitrag der Festigung der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft, stattdessen verzerrte Beiträge zur Geschichte.«

In diesem Augenblick wurde ihm deutlich, dass von Glasnost und Perestroika auch in der DDR ein Erdbeben ausgehen wird, das das alte SED-Regime davonwehen wird.

Eine unendliche Menschenschlange zog von der Kirche aus in die Innenstadt. Passanten blieben stehen, staunend über diesen Marsch. Nach einer halben Stunde erreichte der Zug die Innenstadt. Es war ein einzigartiges Gefühl, die Angst war verdrängt. Unbegreiflich, woher der Mut kam, er war auf einmal wieder vorhanden, der Mut eines Menschen, seinen Willen auszudrücken. In der Innenstadt warteten bereits Polizisten auf den Zug der Lichter. Schweigend, ihr Licht schützend, verharrte – in einer Minute der Besinnung – der Zug auf dem Marktplatz. Deutlich war die Nervosität der Polizeiführung zu erkennen. Doch die Menschen mit ihren Kerzen blieben ruhig. Danach wurden die Kerzen gelöscht, jeder ging wieder seines Weges. Unbegreifliches war geschehen. Ein Licht brach an, zeigte eine neue Zeit, die nach Freiheit verlangte, im Januar 1989 wurde sie geboren. Was in Polen mit der Solidarnosc begann, setzte sich auch in der DDR fort. Die Menschen begannen wieder zu erlernen: »den aufrechten Gang«. Er erinnerte sich an die Begegnung mit seinem Freund.

»Bernd, ich möchte mit dir etwas bereden, eine Sache, die uns alle angeht«, sprach ich zu meinem Freund.

»Lass uns vorher ein Bier trinken.«

»Okay, Prost.«

»Nun schieß mal los, ich komme um vor Spannung«, meinte er voller Ironie.

»Vorige Woche war ich in der Friedenskirche, mehr aus Neugier. Dort entdeckte ich diese Broschüre.« Ich holte sie aus der Jackentasche.

»Von Gorbatschow, ja, davon habe ich auch schon gehört.«

Ich schlug wahllos eine Seite auf. »Lies bitte diesen Satz.«

Bernd las vor: »Menschen von allen Fesseln befreien, von ihr hängt ohne Übertreibung alles ab. Nur durch Demokratisierung und Offenheit ist dieses Ziel möglich.« Auf einer Seite stand: »Die Presse von ihrer Bevormundung zu befreien. Den Sozialismus von allem Rost und Unmenschlichkeit befreien, die regierende Partei kann sich nur vom Bürokratismus befreien, wenn sie offen ist für Kritik, Meinungsfreiheit und Freiheit der Diskussion. Versammlungsfreiheit und Redefreiheit sind Grundrechte der Demokratie, dieser Tatsache dürfen wir uns nicht mehr verschließen. In drei Wochen finden Kommunalwahlen statt. Heute ist es Zeit, die Scheuklappen abzulegen.«

Bernd fand das ungeheuerlich. »Ohne zu übertreiben, der Sputnik legt die Wahrheit offen.«

»Dieser Sputnik ist ein echter Knaller, was meinst du, Bernd, die Worte Gorbatschows müssen unter die Leute«, wandte ich mich an meinen Freund.

»Das ist wirklich die Spitze, die Worte öffnen den Menschen die Augen, sie werden Mut fassen. Es wäre super, diese noch vor den Kommunalwahlen zu verteilen.«

»Mir kommt eine Idee. Was hältst du davon, sie vom Sowjetischen Konsulat zu besorgen?«

»Okay, du besorgst die Zeitschriften und ich werde sie in der Stadt, im Rathaus und öffentlichen Gebäuden verteilen.«

»Okay. Ach, noch was«, wandte ich mich an Bernd, »ich sehe in dieser Aktion kein Risiko, ich wette darauf, dass du keiner Gefahr ausgesetzt bist.«

»Warten wir’s ab.«

»Also Hals- und Beinbruch.«

Nach einigen Bieren verabschiedeten wir uns. Wir waren dabei, »den aufrechten Gang« zu erlernen.

Am anderen Morgen, es war Himmelfahrt, ging ich nicht wie gewöhnlich mit Freunden auf Männertags-Party, sondern fuhr zum Konsulat. Die Straße war menschenleer, ich stellte meinen Trabant an der Straße vor dem Konsulat ab, stieg aus und lief zum Eingang. Ich hatte schon den Türgriff in der Hand, als ich plötzlich hinter mir eine Stimme hörte: »Bleiben Sie stehen!«

Ich schaute zurück, hinter mir stand ein Polizist.

»Was machen Sie hier?«, schnauzte er mich an.

»Sie sehen doch, ich will ins Konsulat, wegen meiner Reise nach Moskau, Lenin sehen«, antwortete ich.

»Sie dürfen hier nicht parken, machen Sie, dass Sie hier verschwinden, Ihren Ausweis bitte.«

Ich gab ihm den Pass.

»Das kostet 15 Mark, wegen unerlaubten Parkens.«

Ich merkte, es war nicht gut Kirschen essen mit dem Vopo, ich zahlte und fuhr weg. In einer Nebenstraße stellte ich den Trabi ab. Lief zurück, die Straße war frei. Ungesehen erreichte ich das Konsulat. Aufgeregt betrat ich das Gebäude. Man bat mich in einen Vorraum.

»Was wünschen Sie?«, fragte mich ein Angestellter.

Ich erzählte ihm von meinem Interesse für die Sputniks und bat um einige Exemplare. Er bat mich zu warten. Nach einer Weile kam er zurück, in der Hand einen großen Karton. »Wir wissen, dass eure Staatsführung unsere neue Politik der Perestroika und Glasnost ablehnt. Doch sie werden die Zeit des Umbruchs nicht aufhalten können. Der Mensch ist für die Freiheit geboren und wird früher oder später seine Ketten abwerfen.«

»Spasibo, otschen choroscho«, antwortete ich auf Russisch. Mit dem Karton lief ich hinaus und direkt in die Arme des Vopos.

»Was haben Sie da?«

»Private Sachen.«

»Öffnen Sie den Karton.«

Ich sagte, dass es private Sachen seien und er kein Recht dazu habe. Ich merkte, dass er unsicher wurde. Er drehte sich um und ich lief schnell zur Seitenstraße, sah mich um, die Luft war rein, stieg in mein Auto und brachte die wertvolle Fracht sicher nach Hause.

Eines Abends, meine Frau und ich saßen beim Abendbrot, klingelte es. Vor der Tür stand Karin, Bernds Frau. Sie war völlig aufgelöst. »Hast du Bernd gesehen? Ihr wart am Wochenende doch zusammen.«

»Ja, das schon«, erwiderte ich.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wo er ist.«

»Du sagst, seit drei Tagen ist er wie vom Erdboden verschwunden? Er muss ja irgendwo sein. Gehen wir zur Polizei, vielleicht wissen sie mehr.« Mit dem Pkw fuhren wir zur Polizeistation. Es war schon nach 19 Uhr. Ich klingelte, nach einer Weile kam ein Vopo heraus.

»Was wollen Sie? Wir sind bei Dienstübergabe, kommen Sie später.«

Mein hartnäckiges Drängeln hatte Erfolg. Nach einer Stunde Wartezeit kam ein Uniformierter und bat uns in einen Vorraum. »Was wollen Sie?«, fragte er.

»Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben, seit über drei Tagen wird mein Mann vermisst.«

Der Uniformierte blätterte in einem Buch. »Uns ist kein Bernd S. bekannt. Tut mir leid«, verabschiedete er uns.

Ohne Erfolg traten wir den Heimweg an. Ich brachte Karin zu ihrer Wohnung. Nach Hause wollte ich nicht. Mir fiel ein, dass die Kirchengemeinde von einem Anwalt betreut wird. Es war Büroschluss, das Gemeindebüro öffnete erst am nächsten Morgen um 9 Uhr. Bleib ruhig, sprach ich zu mir, Ruhe bewahren. Vielleicht löst sich alles schon bald auf. Trotzdem hatte ich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.

Vor 9 Uhr ging ich zum Gemeindebüro. Ich war erleichtert, als ich sah, dass Wolf Dienst hatte. »Kannst du dir erklären, wo Bernd stecken könnte?«

»Ich will dir keine Furcht einflößen, riecht irgendwie nach Stasi. Hier, nimm die Visitenkarte vom Rechtsanwalt Müller. Er ist für solche heiklen Angelegenheiten der richtige Mann, er kann euch sicherlich weiterhelfen.«

Telefonisch vereinbarte ich mit Rechtsanwalt Müller einen Termin. Ich hatte Glück, schon am nächsten Tag konnte ich bei ihm vorsprechen. Ich fuhr am späten Nachmittag hin, hielt vor einer Villa, einem Prachtbau im Jugendstil, die Fassade ziemlich verkommen. Herr Müller saß in einem Rollstuhl und begrüßte mich sehr freundlich: »Was kann ich für Sie tun?«

Ich hatte Vertrauen zu diesem Anwalt, war er doch Mitglied in unserer Kirchengemeinde. Ich erzählte ihm von unseren Aktionen und dem Verschwinden von Bernd. Er notierte sich Einzelheiten.

»Nach der geschilderten Sachlage hat die Stasi die Hand im Spiel«, sprach er. »Wir werden dort anrufen.« Er wählte eine Nummer, bekam aber keine Auskunft. »Dann probieren wir halt diese Nummer.« Er wählte. Sein Gesicht hellte sich auf. »Zumindest wissen wir jetzt, wo Ihr Freund steckt.«

»Und wo ist er?«, fragte ich.

»Ihr Freund ist in Untersuchungshaft, in Bautzen, im ›Gelben Elend‹. Es muss ein ziemlich schwerwiegender Fall sein, nach Bautzen werden nur schwere Fälle eingeliefert.«

»Vielen Dank für Ihre Hilfe. Was können wir jetzt tun?«

»Schreiben Sie an das MfS, vielleicht erhalten Sie Antwort.«

Ich verabschiedete mich von RA Müller und fuhr nach Hause. Meine Frau erwartete mich aufgeregt.

»Gerade war ein Mann bei uns, er wollte dich sprechen.«

»Was wollte er?«

»Darüber gab er keine Auskunft. Er sagte nur, dass er morgen gegen Abend wiederkommen würde.«

Am anderen Tag, heftiger Regen fiel vom Himmel, wir waren gerade beim Abendbrot, klingelte es. Vor der Tür stand ein schlanker, großer Mann, auf dem Kopf einen grauen Hut mit Krempe. »Ministerium für Staatssicherheit der DDR«, sagte er und zog einen kleinen Ausweis aus seiner Jackentasche. Meine Frau trat hinzu.

»Herr Kurz, zur Klärung eines Tatbestands bitte ich Sie mitzukommen.«

»Warum?«, wollte meine Frau wissen.

»Die Antwort kann Ihnen Ihr Mann geben. Ziehen Sie sich an«, forderte er mich nun drastischer auf, »und kommen Sie mit!«

Wir fuhren mit einem Wolga zur Innenstadt. Vor einem grauen Gebäude, am Eingang verriet mir ein mit großen Lettern versehenes Schild »Ministerium für Staatssicherheit«, hielten wir an. Er führte mich hinauf in die zweite Etage, nach wenigen Schritten erreichten wir sein Büro. Er wählte eine Nummer auf seinem roten Telefon. Nach einer Weile kam ein Mann herein, er stellte sich ebenfalls als Mitarbeiter der Stasi vor.

»Sie wissen, warum Sie hier sind?«

Ich verneinte.

»Kennen Sie das?« Er holte eine Broschüre aus der Schublade seines Schreibtisches.

»Ja, ich kenne den Sputnik, als Mitglied der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft sind sie uns ein wertvoller Helfer beim Aufbau des Sozialismus«, erklärte ich mit ironischem Unterton.

»Man hat Anzeige gegen Sie erstattet, verbotene Literatur zu besitzen.«

»Seit wann verbieten Sie Literatur aus unserem Bruderland?« Ich spielte etwas Schwejk. »Die Sowjetunion hat uns befreit von der braunen Pest, unser Land hat eine Zukunft, eingebunden im Warschauer Vertrag. Wir sind stolz auf die unverbrüchliche Freundschaft mit der ruhmreichen SU.«

»Lassen Sie Ihre Witze. Woher haben Sie die Broschüren?«, fragte er.

»Was für Broschüren meinen Sie?«

»Wenn Sie so weitermachen, kann es für Sie eine lange Nacht werden, wir haben ganz andere Kerle als Sie weichgeklopft.«

Er zündete sich eine Zigarette an und verließ mit seinem Mitarbeiter den Raum. In mir wühlten Wut und Abscheu. Was treibt den Menschen dazu, solche Widerlichkeiten dem Anderen anzutun? Waren es nicht die gleichen Methoden, wie sie die Gestapo während der Nazidiktatur praktizierte? Ich hatte viel darüber gelesen. Es waren Schulthemen. Und jetzt erlebte ich dies und konnte nachfühlen, was die Menschen damals erlitten haben, wenn sie in die Mühle der Gestapo geraten waren. Meine Gedanken wurden unterbrochen, die Tür öffnete sich, beide Männer kamen zurück.

»Ihr Freund Bernd hat uns gestanden, dass er die von ihm verteilten Broschüren von Ihnen erhalten hat«, sprach der Hagere. »Woher haben Sie diese Sputniks?«

»Ich verstehe Ihre Anschuldigungen nicht.« Woher haben sie diese Information, dachte ich, ich konnte mir nicht vorstellen, dass Bernd mich verraten hatte. Doch sie schienen alles genau zu wissen. Ich stellte meine Taktik um und ging in die Offensive. »Wieso behaupten Sie, der Sputnik sei verboten?«

Er holte ein Dokument hervor vom Ministerium für Post der DDR. »Die Zeitschrift Sputnik wird aus dem Vertrieb genommen, sie stellt eine Verkehrung der politischen Realität dar. Der Sputnik ist verboten, und wer ihn vertreibt, begeht eine Strafhandlung.«

»Das müssen Sie mir schon näher begründen. Wenn eine Zeitschrift nicht mehr angeboten wird, dann stellt sie noch lange kein Verbot dar, da sind Ihre Gesetze weich und undurchsichtig wie Milch.«

»Werden Sie nicht frech, Sie sind ein arroganter Mensch!«

Es wurde bereits dunkel, die Nacht brach an. »Kann ich telefonieren?«, bat ich.

»Was Sie dürfen, das entscheiden wir«, antwortete er abrupt.

»Ich bin Bürger der DDR und habe ein Recht darauf, einen juristischen Beistand zu nehmen. Ich lehne es ab, Ihnen noch weitere Fragen zu beantworten, ich bin mir keiner Schuld bewusst.« Ich schwieg, ihre Fragen gingen mir in das eine Ohr und verließen sie durch das andere. Ich war mir bewusst, dass sie sich ihrer Sache selbst nicht sicher waren. Es waren elende Vollzugsgehilfen der SED-Machthaber, Mielke lässt grüßen, dachte ich. Ich ging auf Durchschaltung.

»Wie Sie wollen, wir haben Zeit«, antworteten sie wiederholt, »wir haben die ganze Nacht Zeit.« Mit einem zynischen Lächeln auf den Gesichtern verließen sie den Verhörraum. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich allein im Zimmer gesessen hatte. Es muss um Mitternacht gewesen sein, als beide wieder hereinkamen.

Der Hagere legte mir ein Formular auf den Tisch. »Lesen Sie und unterschreiben!«, forderte er mich in einem barschen Ton auf.

Ich nahm das Blatt. Darin musste ich erklären, dass über dieses Gespräch nicht mit Dritten gesprochen werden dürfe. Ich war wahnsinnig müde. »Kann ich dann gehen?«, erkundigte ich mich gähnend.

»Ja, Sie können verschwinden.«

Ich unterschrieb und machte mich auf den Heimweg, es war bereits ein Stunde nach Mitternacht. An der Bushaltestelle wartete ich eine Stunde auf den Bus, und erst als ich saß, kam Erleichterung auf. Sie mussten mich ziehen lassen. Auf einmal wurde ich hellwach. Woher wussten sie so genau Bescheid?

Erst im Herbst 1989 erfuhr ich die Wahrheit. Die Quelle hieß Rechtsanwalt Müller – welch Missbrauch einer Vertraulichkeit. Müller war Major des MfS. Viele Wehrdienstverweigerer baten ihn um Rat, viele suchten bei ihm Hilfe. Wie weit muss ein Mensch sinken, skrupellos seine Position auszunutzen und Menschen Schaden zuzufügen? Ich war geschockt. Bernd kam nach wenigen Wochen wieder aus dem Gefängnis. Von ihm erfuhr ich, dass er nicht weich geworden war.

»Mensch, Bernd, bin ich froh, dass sie dich aus dem Knast herausgelassen haben. Wie geht’s dir?«

Er sah ziemlich mitgenommen aus, an seinen Augenhöhlen war erkennbar, dass er dort gelitten hatte.

Seine Augen funkelten. »Ach, ganz gut, außer, dass ich todmüde bin, geht’s mir ganz gut«, antwortete er.

»Du musst meine Frage entschuldigen, aber woher hat die Stasi ihre Information über unsere Aktion?«, fragte ich. »Mir riecht das nach einem Informanten. Wem hast du etwas erzählt?«

»Eigentlich niemandem, deine Frau ausgeschlossen. Aber Karin traue ich nicht zu, ihren eigenen Mann zu bespitzeln«, entgegnete ich.

»In Bautzen hörst du noch viel schlimmere Sachen. So habe ich erfahren, dass ein Pflegesohn seinen Adoptiv-Vater denunzierte und dass Kinder ihre Eltern bespitzelten. Das MfS schreckt vor nichts zurück. Es ist unglaublich«, sprach er.

»Weißt du was, wir fahren in meinen Garten, dort kannst du mir mehr erzählen«, schlug ich vor. Gesagt, getan. Es war Freitagnachmittag, voller Freude fuhr ich mit dem Trabant und glaubte sogar zu hören, dass der Motor besonders gut lief. Meine Pappe brachte uns in den Garten. Ich hatte einen Kasten Bier und Esserei mitgenommen.

»Prost, Bernd, lass uns auf deine Rückkehr trinken, alter Junge.« Ich erzählte ihm, dass sich unsere Aktion »Sputnik« gelohnt hätte. Die Kommunalwahlen waren ein Desaster für die SED geworden. Das Wahlergebnis hatten die Behörden zu fälschen versucht, es war zu einem Protest-Sturm im ganzen Land gekommen. Viel später erfuhren wir, dass Egon Krenz, als verantwortlicher Wahlleiter, den Wahlbetrug eingestehen musste.

»Wie waren deine Haftbedingungen?«

»Das Schlimmste ist, du bist isoliert, hast keinen Kontakt zur Außenwelt. Sie quetschen dich aus, machen die Gefangenen mürbe«, meinte er. »Und doch erst, wenn du drinnen bist in der Hölle von Bautzen oder auch anderswo in den Stasi-Gefängnissen, wird dir klar, es sind nicht die Menschen, es ist dieses teuflische System, das Stalin entwickelte, die staatliche Tyrannei«, erklärte er. »Dieses System wurde voll und ganz von den Kommunisten nach ihrer Machtergreifung in der DDR schonungslos eingeführt und perfektioniert. Die SED hat ein gewaltiges Spitzelsystem aufgebaut, flächendeckend wurden die Menschen eingeschüchtert, tyrannisiert. Menschen mit fiesen Mitteln gezwungen, anderen Menschen brutalen Schaden zuzufügen. Über 100.000 ›ehrenamtliche‹ Mitarbeiter der Stasi sorgten immer wieder für ›Nachschub‹, die Bürger zu nötigen und hörig zu machen. Nur hin und wieder durfte ich auf Hofgang. Ich erfuhr, dass die Stasi Hunderttausende Spitzel beschäftigt.«

Bernd holte tief Luft und sprach weiter: »Ein Fall erregte mich maßlos. Ich ging in Hungerstreik, als ich erfuhr, dass sie einen todkranken Mann unmenschlich behandelten. Seinen Körper konnten sie zum Wrack machen, doch aus seinen Augen sprühte ein heller Geist, den sie nicht zerstören konnten. Manches Mal dachte ich, wenn wir uns trafen, dass er nicht von dieser Welt sei, so viel Leid zu ertragen und zutiefst menschlich zu sein. Ich habe noch nie solch einen Menschen gesehen. Von ihm ging eine Kraft aus, die einen beflügelte, in der Wahrheit zu bleiben. Einmal auf einem Hofgang nahm er mich zur Seite. ›Ihr jungen Leute‹, sprach er kaum hörbar, ›wenn ihr draußen seid, denkt daran: Gott will, dass alle Menschen gerettet werden, die Sünder und Abwegigen. Durch Vergebung der Schuld und die Bekenntnis eigener Verirrung kann diese menschliche Tragödie überwunden werden.‹ Dies sprach ein Mann, den sie fast umgebracht hatten. Welche Liebe zu den Menschen muss in ihm stecken. Er meinte, wir dürfen keine Rache, keinen Hass in uns aufkommen lassen, Hass vergiftet die Menschen. Beten wir zu Gott, dass er die verlorenen Schafe wieder einsammelt, denn sie wissen nicht, was sie tun. Der Teufel hat sie in Ketten der Unfreiheit gelegt.

Wir wurden gemeinsam in unsere Zellen geführt, seine Zelle wurde zuerst aufgeschlossen, mir gelang ein flüchtiger Blick in das Innere. Ein finsteres Loch, ich hatte den Eindruck, einen mittelalterlichen Kerker zu sehen. In mir stieg unbändige Wut gegen diese Unmenschen auf. Ich flehte Gott an um Erbarmen diesem alten Mann gegenüber.

Trotz der Qualen, die sie ihm antaten, konnten sie seinen freiheitlichen Geist nicht brechen. Meine Zelle lag unmittelbar neben seiner. Ich konnte hören, wenn sie die Tür aufschlossen, hörte oft Schreie, die dann jäh verstummten, scheinbar war er in Ohnmacht gefallen, die Tür wurde zugeschlagen, Schritte verhallten, dann wurde es wieder still.«

»Bernd, trinken wir darauf, dass du den Henkern entronnen bist. Ich habe einen Vorschlag: Wir schreiben an die Botschaft der Sowjetunion, dass du wegen der Verteilung von Hetzzeitschriften im Gefängnis warst. Diese Zeitschriften kommen aus ihrem Land, Sputnik genannt.«

»Gute Idee, ich habe in Bautzen erfahren, dass die SED den Russen, unserem Brudervolk, nicht mehr über den Weg traut.«

Mit einem Glas Wodka besiegelten wir das Vorhaben. Am frühen Morgen, in der ersten Stunde, war der Brief fertig geschrieben. Trotz Wodka und Bier verließen uns nicht die Klarheit und Fantasie. Wir schliefen dann bis Mittag wie die Ratten so fest, wurden geweckt von unseren Frauen, die gekommen waren, um mit uns das Wiedersehen zu feiern. Wir dankten Gott im Gebet für die Gnade, dass er uns so viel Gutes getan und Schlimmeres verhindert hatte. Uns war klar, wir lebten in einer abscheulichen Welt, spürten doch Hoffnung, beteten um Vergebung aller vom Weg abgekommenen Menschen. Möge Gott ihnen die Augen öffnen, dass sie begreifen, was sie tun.