Last Chance Saloon
1
Als Sally dem Fremden den Frühstückskaffee bringt, wird sie sich bewusst, dass sie in ihrem ganzen Leben noch keinen Mann sah, der ihr so gut gefiel wie dieser. Aber so viele Männer seines Alters hat sie eigentlich auch noch gar nicht gesehen.
Es ist ja noch nicht lange her, dass sie aus den Hügeln kam. Und dort sah sie jahraus, jahrein nur ihren zumeist betrunkenen Vater und die sieben wilden Brüder, die ebenfalls öfter betrunken als nüchtern waren.
Denn die Mallones lebten von der Schnapsbrennerei, wie andere Familien vom Ackerbau oder von der Viehzucht.
Nun, sie lief dann fort, kam irgendwann in diese kleine, miese Stadt und bekam einen Job in diesem Hotel. Gleich in der ersten Woche verlor sie ihre Unschuld.
Einer der Gäste kam in sein Zimmer, als sie dort das Bett machte. Und sie hatte keine Chance. So geschah es also, und als es vorbei war, da begriff sie, dass sie ihren Job verlieren würde, wenn sie jetzt Theater machte oder gar zum Marshal lief.
Denn der Mann war hier im Land ein angesehener Bursche.
Und sie war nur eine Streunerin, die von irgendwoher gekommen war.
Nein es hatte keinen Sinn, Lärm zu machen. Der Mann würde behaupten, sie hätte sich ihm angeboten.
So war das gewesen vor etwa zwei Wochen.
Sie ist noch keine achtzehn Jahre alt.
Dennoch weiß sie eines: Sie muss weg von hier. Denn wenn sie bleibt, wird ihr das alles in dieser miesen Stadt und in diesem schäbigen Hotel immer wieder passieren.
Da könnte sie ebenso gut gleich eines der Mädchen in Molly Dunns Etablissement werden.
All dies ist ihr wieder bewusst, als sie jenem Mann den Frühstückskaffee bringt. Er ist ein hellblonder und blauäugiger Bursche in einem eleganten Reiseanzug. Sein gefaltetes Hemd ist blütenweiß. Und er hat geschmeidige Hände. Am linken Kleinfinger trägt er einen funkelnden Brillantring.
Als er sie ansieht, lächelt sie.
Sie bemerkt das Staunen in seinen Augen. Wahrscheinlich hat er sie vorher gar nicht so richtig angesehen. Sie ist ja auch sehr ärmlich gekleidet, eben wie ein Siedlermädchen, das die meiste Zeit des Jahres barfuß gehen muss.
Ihr Lächeln hat ihre Schönheit erkennen lassen. Und weil er ein Mann ist, der sich auf schöne Mädchen versteht, stellt er sie sich mit gewaschenen Haaren und reizvoller Kleidung vor, vielleicht auch duftend nach einem Parfüm oder Blumenseife.
O ja, er ist ein Mann, der einen ungeschliffenen Edelstein auch im Dreck erkennen kann.
Und er ist ein höflicher Mann, keiner von diesen groben, primitiven Burschen.
Denn er sagt, wobei er ihr Lächeln erwidert: »Danke, Miss. Oh, ich weiß leider nicht Ihren Namen. Aber ich denke, es wird ein hübscher Name sein, ein Name, der Ihnen angemessen ist.«
»Sally«, hört sie sich leise erwidern. »Ich heiße Sally.«
»O ja«, sagt er und lächelt, »das ist ein hübscher, lustig klingender Name, ein Name wie ein melodisches Lachen. Es tut mir leid, dass ich jetzt gleich mit der Postkutsche weiter muss. Denn ich glaube, es hätte uns beiden Spaß gemacht, wenn wir uns näher und besser kennengelernt hätten.«
Sie nickt, leckt sich über die wundervoll geschwungenen Lippen und muss dann etwas würgend schlucken.
Sie möchte zu ihm sagen: »Bitte nehmen Sie mich mit. Ich muss hier fort. Aber ich habe kein Reisegeld. Denn ich bekomme erst in zwei Wochen meinen Lohn, und das werden auch nur fünf Dollar sein. Bitte nehmen Sie mich mit.«
Ja, das möchte sie sagen. Und sie möchte sogar noch hinzufügen: »Ich will dafür bezahlen, weil ich weiß, dass es auf dieser Erde unter uns Menschen nichts umsonst gibt und man alles irgendwie bezahlen muss.«
Aber sie kommt nicht dazu.
Denn von draußen tönt durch die offene Tür eine harte Stimme in den Speiseraum des Hotels: »Hoy, Whitehead! Komm heraus, Whitehead! Hier sind die Hackets! Komm durch die Vordertür! Hinten warten vier von unseren Reitern auf dich. Komm also, damit wir dich nach Three Forks zurückbringen, wo du nach Recht und Gesetz gehenkt werden wirst. Komm raus, Whitehead!«
Das Lächeln des Mannes verschwindet.
Er blickt auf die offene Tür. Dann sieht er zu Sally empor, die immer noch an seinem Tisch und neben dem Stuhl verharrt.
»Whitehead, das ist mein Name, Sally«, sagte er. »Würden Sie mir einen Gefallen tun?«
»Jeden«, erwidert sie impulsiv. »Fast jeden«, verbessert sie sich dann.
Nun lächelt er wieder, aber sie erkennt – und spürt es auch –, dass sein Lächeln jetzt anders ist. Es ist ein scharfes, blinkendes Lächeln, mehr ein Zähnezeigen.
»Dann treten Sie vor die Tür auf den Gehsteig und sagen Sie den Hackets, dass ich kommen würde, sobald ich das Frühstück beendet hätte. Und dabei merken Sie sich genau die Position der Hackets. Ich will wissen, wo sie stehen. Es müssten drei sein. Wollen Sie das für mich tun, Sally?«
Sie sieht ihn einige Atemzüge lang an.
»Warum will man Sie in Three Forks hängen, Whitehead?« Sie fragte es ernst.
Er lächelte nun wieder anders, nämlich verständnisvoll und nachsichtig.
»Die Frage kann ich verstehen«, murmelte er. »Ich bin ein Spieler, Sally, ein berufsmäßiger Spieler, ein Bursche von der Sorte, die man auch Kartenhaie nennt. Ich habe in Three Forks mit einem Hacket Karten gespielt. Er verlor in einer langen Nacht den Erlös für eine kleine Rinderherde an mich, die er an den Indianeragenten verkauft hatte. Als er pleite war, beschuldigte er mich des Falschspiels und zog seinen Colt. Wenn ich nicht schneller gewesen wäre als er, würde er mich getötet haben. Nun sind sein Vater und seine Brüder hier. In Three Forks hätte ich keine Chance.«
Als er den letzten Satz spricht, erinnert sie sich daran, dass auch sie hier in dieser miesen Stadt keine Chance gehabt hätte, würde sie vor zwei Wochen zum Marshal gegangen sein, um den Mann anzuzeigen, der ihr gegen ihren Willen die Unschuld raubte.
Sie ist plötzlich ganz und gar auf Whiteheads Seite.
Und so nickt sie. »Ich mache das«, sagt sie leise und geht zur Tür. Langsam tritt sie hinaus auf den Plankengehsteig in die Morgensonne.
Und da sieht sie die drei Hackets.
Sofort wird sie wieder an ihren Vater und ihre Brüder erinnert. Denn auch diese sahen stets so wild und verwegen aus, so rücksichtslos und unduldsam.
Ja, diese Sorte kennt sie.
»He, Süße«, sagt einer der Hackets, »sitzt er da drinnen? Hat er es gehört?«
»Er hat mich rausgeschickt«, erwidert sie, »um Ihnen zu sagen, dass er nach dem Frühstück kommen wird. Sie möchten sich ein wenig gedulden. Es dauert nicht mehr lange, dann steht er Ihnen zur Verfügung.«
Sally bemüht sich, klar und präzise zu sprechen, so wie sie es als Kind von ihrer Mutter lernte, die einst Lehrerin war, bevor sie die Dummheit beging, Jim Mallone in die Hügel zu folgen und dort in einer Hütte zu leben und jedes Jahr ein Kind zu gebären. Sie bemühte sich, wie eine Lady zu reden, nicht wie ein Siedler- oder Farmermädchen.
Sie wartet auch gar nicht auf eine Erwiderung der Hackets, sondern kehrt in den Speiseraum des Hotels zurück, dessen Eingang sich etwa zehn Schritte neben dem Hoteleingang befindet, sodass man das Restaurant auch als Passant betreten kann, ohne Hotelgast zu sein.
Whitehead sitzt noch am Tisch und genießt die frischen Bisquits.
»Nun, Sally?« Er fragt es kauend.
Sie tritt wieder zu ihm. Dann sagt sie: »Der Alte steht genau vor dem Eingang mitten auf der Fahrbahn. Die beiden anderen stehen rechts und links auf dem Plankengehsteig. Sie haben Revolver und Schrotflinten. Ein Stück weiter links – fast schon dort, wo sich der Store befindet – sind sieben Sattelpferde angebunden.«
»Gut«, nicht Whitehead. »Wollen Sie mir noch einen Gefallen tun, Sally?«
Sie sieht auf ihn nieder.
»Ich will, Whitehead«, erwiderte sie.
»Mein Vorname ist Tyrel«, lächelte er. »Meine Freunde nennen mich einfach nur Ty. Und wir sind jetzt gute Freunde, Sally.«
»All right, Ty«, erwidert sie. Es ist ein etwas spröder Klang in ihrer Stimme.
Denn sie denkt dabei: Was nützt mir seine Freundschaft, wenn sie ihn mitnehmen nach Three Forks – oder wenn er gleich mit ihnen kämpft und von ihnen getötet wird? Oh, was nützt mir da noch seine Freundschaft?
Er leert die Kaffeetasse.
Dann deutet er zum Durchgang, der hinüber in die Hotelhalle führt, von der man auf den Gehsteig treten kann wie hier aus dem Speiseraum auch.
»Dort in der Halle steht eine große Tonvase«, spricht er. »Sally, du könntest sie durch die offene Tür auf den Plankengehsteig werfen, sodass sie zerbricht. Das könnte mir helfen.«
Sie schluckt etwas mühsam und nickt dann.
»Wann?« So fragt sie schlicht.
»Sobald ich angefangen habe, mit den Hackets Worte zu wechseln. Möglichst früh also, kaum dass wenige Worte geredet wurden. Und du sollst das Ding nur herauswerfen, nicht selbst herauskommen, verstehst du?«
»Genau«, sagt sie und betrachtet ihn fest.
»Dann geh, Sally«, murmelt er. Jetzt lächelt er nicht mehr. Sein Gesicht ist ganz ausdruckslos. Es ist das Pokergesicht eines Spielers. Nur in seinen Augen erkennt sie das Funkeln eines Wolfs. Ja, sie sah schon einmal in die Augen eines in die Enge getriebenen Wolfs.
Daran erinnert sie sich jetzt. Und sie weiß, dass er kämpfen wird wie ein in die Enge getriebener Wolf.
Sie wendet sich wortlos ab und geht hinüber.
Der Hotelbesitzer – das weiß sie sicher – liegt mit seiner fetten Frau noch im Bett. Denn sie waren bis nach Mitternacht auf. Sie wird bei Ty Whitehead noch für das Frühstück einen halben Dollar kassieren müssen. Das Zimmer hat er gestern schon bezahlt. Das ist in diesem Hotel so üblich.
Sie ist also allein in der kleinen Vorhalle, verharrt auf dem abgenutzten, schon durchlöcherten Teppich.
Nach zwei Atemzügen nimmt sie die große Tonvase auf. Aber dann stellt sie diese wieder hin und entscheidet sich für die beiden Messingspucknäpfe. Sie ist der Meinung, dass diese Messingdinger sehr viel mehr scheppern und Krach machen als die Tonvase. Die Hackets werden einen Sekundenbruchteil abgelenkt sein.
Indes sie die Spucknäpfe nimmt und dicht an den offenen Aus- und Eingang tritt, auf den Wortwechsel wartet, der für sie das Zeichen sein soll, da denkt sie: Wie kann er das schaffen? Ich hätte vorher für das Frühstück kassieren sollen.
Dann hört sie die Stimmen.
Und sie tut genau das, was Whitehead ihr aufgetragen hat. Sie wirft die Dinger mit aller Kraft durch den offenen Ausgang auf die Gehsteigplanken.
Es scheppert gewaltig, etwa so als würde ein Beckenschläger seine topfdeckelähnlichen Instrumente zusammenschlagen.
Und dann krachen auch schon die Schüsse. Zuerst hört sie das schnelle Krachen eines Colts – einmal, zweimal, dreimal. Und dazu brüllen Männerstimmen. Dann krachen Schrotflinten.
Das alles geschieht binnen ein oder zwei Sekunden.
Oh, wie lang können Sekunden sein, wenn Gewalttat ausbricht und Männer sich gegenseitig umzubringen versuchen!
Dann ist es still für einen Moment.
Aber bald schon hört man Männer stöhnen, Männer, die getroffen wurden und vielleicht ihre letzten Atemzüge tun.
Sally tritt auf den Plankengehsteig.
Und da sieht sie es.
Der Alte liegt mitten auf der Fahrbahn am Boden, so wie er in den Staub fiel. Vor ihr – mit dem Rücken zu ihr – kniet einer seiner Söhne auf den Planken, hält sich die Hände und Unterarme gegen den Leib.
Und auf der anderen Seite des Eingangs zum Speiserestaurant hält sich der andere Sohn am Stützbalken des vorgebauten Obergeschosses fest. Nun rutscht er daran zu Boden und legt sich auf die Seite.
Ty Whitehead aber lehnt neben dem Ausgang an der Hauswand, noch den rauchenden Colt in der Faust. Mit der freien Hand hält er sich die Seite.
Sally geht langsam zu ihm. Aber er blickt an ihr vorbei die Straße hinunter. Dort kommt nun die Postkutsche herangerollt.
Aber es kamen auch überall Menschen aus den Häusern und dem Store. Der Storehalter, der zugleich auch für das symbolische Gehalt von einem Dollar Town Marshal ist, kommt herangelaufen und ruft: »Was war das? Verdammt, was war das?«
Als er bei Sally und Whitehead ist, sagt dieser: »Halten Sie sich nur heraus, Mann. Dies ist nichts, um was sich diese Stadt kümmern sollte. Verstanden?«
Er sieht dann Sally an.
»Danke, Sally«, sagt er auf sie nieder. »Danke, kleine Sally.«
Aber sie schüttelt den Kopf.
»Nimm mich mit, Ty«, verlangt sie. »Du bist mir etwas schuldig. Nimm mich ein Stück auf deinem Weg mit, ja?«
Die Postkutsche kommt nun heran, und wie immer hält sie beim Hotel, nachdem sie im Wagenhof soeben das Gespann wechselte.
»Nimm mich mit aus diesem armseligen Nest, in dem einige Dreckskerle wohnen«, sagt Sally wieder, und aus ihren grünen Augen steigt eine flehende Bitte zu ihm empor.
Er ist angeschossen, hat Schmerzen und ganz gewiss einige Sorgen.
Doch er nickt.
»Sicher, Sally«, sagt er, »dich nehme ich mit. Denn ich glaube, du bist ein noch ungeschliffener und ungefasster Edelstein. Oha, ich werde dich noch zum Funkeln und Strahlen bringen. Da, nimm meine Reisetasche. Und dann hinein in die Kutsche.«
Sie sieht seine Reisetasche, die er schon mit hinausgenommen hat, erst jetzt und nimmt sie ihm ab.
Er öffnet ihr trotz seiner Verwundung den Schlag der anhaltenden Kutsche.
Der Fahrer fragt zum Storehalter nieder: »Dürfen sie mit, O’Connor?«
»Ja, nimm sie mit. Die Stadt will mit dieser Fehde nichts zu tun haben. Fort mit ihnen!«
2
In der neunsitzigen Abbot-&-Downing-Kutsche sind noch drei Plätze frei. Es ist die ganze hintere Bank. Also haben sie Platz.
Als sie sitzen, sagt Ty Whitehead: »Sieh in meiner Reisetasche nach, Sally. Da muss ein sauberes Handtuch sein. Gib es mir.«
Sie findet das Handtuch schnell, reicht es ihm. Er hat indes sein Hemd aufgeknöpft. Nun sieht sie die Wunde. Es ist eine blutige Furche über einer Rippe. Das ganze Hemd ist schon blutig. Er drückt nun das Handtuch auf die Wunde und hält es dort fest aufgepresst.
Einer der Fahrgäste sagt: »Mister, Sie hatten wohl Ärger in dem Nest?«
»Ach«, erwidert Whitehead, »der Ärger vergeht. Doch die Freude bleibt. Denn ich hatte auch Freude in dieser Town – und habe sie immer noch.«
Dabei sieht er Sally an. Sie begreift seine Worte sofort.
Und sie nimmt sich vor, ihm wirklich nur Freude zu machen.
Wahrscheinlich begreift sie noch nicht richtig, was mit ihr geschehen ist. Aber irgendwie ist dieser Ty Whitehead für sie eine Art Ritter, der sie wie im Märchen aus der Gewalt des Drachen befreite wie eine Prinzessin, oder eine Art Königssohn, der sie erwählte und aus dem missachteten Aschenputtel eine strahlende Schönheit machen wird.
Sie begreift jetzt schon, dass dieser Ty Whitehead ihr die große und weite Welt zeigen wird, dass sie viele Abenteuer erleben werden und dass es wunderschön sein wird, an seiner Seite alle Wege zu wandern.
Ja, das glaubt sie.
Denn sie hält ihn für einen ganz besonderen Mann – und das nicht nur deshalb, weil er furchtlos gegen die drei Hackets kämpfte und sie besiegte, oh, nein, nicht nur deshalb.
Sally lief ihrer Sippe weg, weil sie in die weite Welt wollte.
Und nun befindet sie sich an der Seite eines Spielers und Abenteurers.
Oh, was alles wird sie nun erleben können!
Sie ist begierig darauf.
***
Zwei Tage später erreichen sie Saint Louis und steigen in einem kleinen Hotel bei den Anlegebrücken ab. Tys Wunde hat sich etwas entzündet.
Sie lassen einen Arzt kommen, der die Wunde endlich richtig versorgt, sodass es Ty Whitehead bald schon sehr viel besser geht.
Sie lassen sich eine Badewanne in ihre noblen und miteinander verbundenen Zimmer bringen. Dann bestellt Whitehead von einem Modegeschäft eine ganze Auswahl der schönsten Sachen zur Anprobe, lässt für Sally auch eine Friseuse kommen. Sally staunt nur und hält das alles nicht für möglich.
Einmal fragt sie: »O Ty, das alles kostet doch eine Unmenge Geld?«
»Oh, ich befinde mich zurzeit in einer Glückssträhne«, erwidert er. »Wir können uns alles leisten. Mach dir nur keine Sorgen wegen der Kosten. Du bist ein noch ungeschliffener Edelstein. Aber ich sagte es ja schon mal: Sally, ich bringe dich zum Funkeln und Strahlen. Du bist ein wunderschönes Mädchen. Das Schicksal hat uns zusammengeführt. Es hat gewiss Großes mit uns vor.«
In dieser Nacht erlebt Sally das, was sie für die große, reine und so wunderbare Liebe hält. Sie hat manchmal davon geträumt und sich gewünscht, dass sie es mal erleben könnte.
Als ihr vor etwas mehr als zwei Wochen jener Kerl im Hotel Gewalt antat, da glaubte sie, dass sie nie wieder etwas mit einem Mann zu tun haben könnte, ja, dass sie die Männer nur noch hassen und verachten müsste.
Doch dann kam Ty Whitehead.
In dieser Nacht wird das Mädchen Sally Mallone in den Armen des Spielers und Abenteurers Ty Whitehead zu einer glücklichen Frau. Ja, sie liebt ihn über alle Maßen und schwört sich, dass sie ihm nicht nur eine wunderbare Geliebte, sondern auch eine wirkliche Gefährtin durch dick und dünn sein wird.
Sie erzählt Ty Whitehead auch, was ihr kürzlich geschah.
Er hält sie fest im Arm dabei, und sie spüren die Wärme ihrer Körper und den Schlag ihrer Herzen.
Nach einer Weile murmelt er: »O Sally, du bist zwar beschmutzt worden, aber vergiss es. Doch wenn wir diesem Kerl mal begegnen sollten, dann zeig ihn mir. Und ich werde ihn töten.«
Er spricht es ganz ruhig. Dennoch spürt sie, dass er es wirklich tun wird. Und so erzittert sie in seinem Arm. Aber sie denkt dabei: Oh, er wird mich immer beschützen. Ich bin sein kostbarster Besitz geworden. Wie sehr hat sich mein Leben geändert. Ich bin ja so glücklich.
***
Sie bleiben eine Woche in Saint Louis, und Ty Whitehead rührt in dieser Woche keine einzige Karte an.
Dafür bringt er am fünften Tag eine Mrs. Rosa Marbeth mit ins Hotel. Mrs. Marbeth sieht ungemein würdig und seriös aus, ganz und gar wie eine gutsituierte Lady, etwa die Frau eines wichtigen und großen Mannes. Und sie spricht bestes Bostoner Englisch.
Whitehead bringt Mrs. Marbeth mit herauf in die Zimmer und stellt ihr Sally vor.
»Das ist sie, Rosa. Wie gefällt sie dir?«
Mrs. Marbeth geht langsam um Sally herum und begutachtet diese eingehend. Dann verlangt sie, dass Sally einige Schritte im Zimmer auf und abgehen, sich setzen und auch wieder aufstehen soll.
Und dann beginnt sie mit ihr ein wenig zu plaudern, ihr Fragen zu stellen und sie mehr und mehr in ein eigentlich belangloses Gespräch zu verwickeln.
Das alles dauert fast zehn Minuten.
Dann wendet sich Mrs. Rosa Marbeth an Whitehead und nickt ihm zu.
»Ja, sie ist ein ungeschliffener Edelstein. Aus der mache ich äußerlich eine perfekte Lady. Ob sie es von Charakter sein wird, lässt sich nicht einstudieren. Sie ist ziemlich wild aufgewachsen.«
»Aber meine Mutter war Lehrerin und unterrichtete mich, bis ich zehn Jahre alt war«, sagt Sally etwas trotzig. »Ich könnte Ihnen sogar ausrechnen, wie viel Wasser in Ihren Hut hineingeht.«
Da nickt Mrs. Marbeth freundlich. »Wie schön für dich, Sally, dass du so klug bist und ich dir deshalb so viel werde beibringen können. Wie schön für dich.«
Da sieht Sally Ty mit funkelnden Augen an.
»Was soll das? Bin ich dir so, wie ich bin, nicht gut genug?«
»Du bist prächtig.« Er grinst. »Aber du sollst funkeln und strahlen wie ein wunderschöner Diamant. Du sollst all diese Burschen blenden, die ich ausnehmen will wie gerupfte Puter oder denen ich das Fell über die Ohren ziehen werde. Wir treten als jungvermähltes Paar auf der Hochzeitsreise auf. Ich bin ein reicher Minenbesitzer, der seiner jungen Frau New Orleans zeigen will – oder der mit ihr von New Orleans wieder auf dem Heimweg zu seinen Minen ist. Und Rosa Marbeth ist meine Schwiegermutter, deine Mutter also, die darauf achtet, dass ihrem Engelchen nichts geschieht, die sich immer wieder in unsere Ehe einmischt, sodass ich manchmal wütend werde und mir einen antrinke und auch spiele, dich deshalb allein oder bei der Mutter weinen lasse in der Kabine. Verstehst du?«
Sally nickt. »O ja«, erwidert sie. »Du willst dich tarnen wie ein Wolf, der sich einen Schafspelz umhängt. O ja, ich habe verstanden.«
»Und? Gefällt es dir nicht?«
Er fragt es fast lauernd.
Da nickt sie heftig. »O ja, es gefällt mir. Es ist eine besondere Art von Jagd, die ich gerne kennenlernen möchte. Du möchtest die Satten, Selbstgefälligen, die sich für groß, nobel und erfolgreich halten und von den Kleinen, Dummen und Schwachen leben, ausnehmen. O ja, das wird mir gefallen.«
»Na siehst du«, sagt er. »Und deshalb wird Rosa aus dir eine Lady machen. Du wirst sie großartig spielen. Bei mir – und besonders wenn wir zusammen im Bett liegen – kannst du wieder das wilde Mädchen aus den Hügeln sein, so wie ich ja im Grunde auch ein wilder Comanche aus Texas bin.«
Er wendet sich Rosa Marbeth zu.
»Also gut, meine liebe alte Freundin, gehen wir an die Arbeit.«
»Woher kennst du sie?« Sally fragt es neugierig.
»Aus Frisco«, erwidert er. »Sie war dort mal Geschäftsführerin des nobelsten Bordells der ganzen Westküste. Aber nun wollte sie sich zur Ruhe setzen. Ich habe sie hier zufällig getroffen und konnte sie davon überzeugen, dass ihr die Ruhe zu eintönig werden würde. Du kannst wirklich viel von ihr lernen, Sally.«
»Das glaube ich«, erwidert sie und sieht fest in die Augen der erfahrenen Mrs. Rosa Marbeth. »Ja, das glaube ich«, wiederholt sie. »Und ich bin begierig darauf. Ich habe begriffen, dass ich eine Menge über die Menschen erfahren werde.«
Für Sally, das Mädchen aus den einsamen Antelopehügeln, wo sie unter primitivsten Verhältnissen mit wilden Brüdern und einem Vater lebte, die alle Säufer waren, ist das alles wie ein Wunder, zumal sich herausstellte, dass die Vergewaltigung im Hotel ohne Folgen blieb.
Sie fahren ständig zwischen New Orleans und Saint Louis auf den Luxussteamern, wohnen in noblen Luxuskabinen und führen ein Leben wie die verwöhnten Reichen.
Ja, sie spielen ein ganzes Jahr lang ein junges Ehepaar auf der Hochzeitsreise, das ständig die Schwiegermutter des Mannes am Hals hat, sodass der Mann immer wieder Trost beim Spiel und an der Bar sucht.
All die harten und erfolgreichen Burschen an Bord, die Bankiers, Großgrundbesitzer, Schiffslinienpräsidenten, Wirtschaftsmanager und auch die getarnten Berufsspieler, sie neiden ihm seine schöne, junge Frau, und sie bedauern ihn, weil er mit ihr auch seine Schwiegermutter geheiratet hat, die sich in alles einmischt.
Das Kleeblatt spielt seine Rolle gut.
Man kommt gar nicht auf die Idee, dass Ty Whitehead ein getarnter Kartenhai ist. Und so wird er eingeladen oder aufgenommen in Spielrunden, die niemals einen berufsmäßigen Kartenhai an ihrem Tisch dulden würden.
Und wenn er wie fast immer gewinnt, bedauern sie ihn manchmal auch dann noch. Glück im Spiel und Pech in der Liebe, denken sie oder sagen es ihm auch. Einmal fragt ihn sogar ein ziemlich finsterer Kerl, was er zahlen würde, wenn seine Schwiegermutter plötzlich über Bord fallen sollte.
Ein Jahr vergeht auf diese Weise, ein langes und dennoch so kurzes Jahr – lang, weil Sally so viel über die Welt und die Menschheit lernt, wie die meisten Frauen ihr ganzes Leben nicht, und kurz, weil alles so wunderschön ist auf den Luxusschiffen des mächtigen Mississippi und jeder Tag und jede Nacht immer wieder neue Abenteuer und Erlebnisse bringen. Die schöne und scheinbar so reiche und verwöhnte junge Frau wird von allen verehrt und bewundert. Alle machen ihr den Hof, wollen ihr melodisches Lachen hören, ihr Lächeln sehen und die Schönheit ihrer klassischen Gesichtszüge bewundern.
Ein ganzes Jahr vergeht also.
Als sie sich dann wieder einmal auf einem Steamer New Orleans nähern, da sagt Ty Whitehead zu Rosa Marbeth, indes sie an der Reling lehnen und die vorübergleitende Uferlandschaft genießen: »Wir müssen hier auf dem Mississippi aufhören. Unsere Masche zieht immer weniger. Man kennt uns schon, besonders die Zahlmeister der Schiffe. Aber auch einige Geschäftsleute fahren mehrmals im Jahr diese Strecke. Vorhin fragte mich ein Mann, der in Kansas City einige Schiffsladungen Büffelhäute ersteigerte, wie oft ich mit meiner jungen Frau und der bösen Schwiegermutter denn auf Hochzeitsreise ginge. Ich habe zunehmend Schwierigkeiten, in seriöse Spielrunden hineinzukommen. Wir müssen uns ein anderes Jagdgebiet suchen, Rosa.«
»Nicht mehr mit mir, Ty«, erwidert die als alte Lady getarnte Wölfin. »Nicht mehr mit mir, mein großer Junge. Ich habe ein Jahr lang mit euch Spaß gehabt. Es machte mir Freude, Sally Wissen, Lebenserfahrung und Selbstsicherheit im Umgang mit den gebildeten Menschen beizubringen. Ja, es machte mir Freude. Sie war eine gute Schülerin. Und sie wird jetzt stets ein gewisses Niveau behalten. Denn sie kennt jetzt die Unterschiede. Ich habe auch gut bei euch verdient. Mir ein Drittel deiner Gewinne zu geben, war nobel. Doch ich hatte es zuvor schon nicht mehr nötig, Geld zu verdienen. Ich bleibe in New Orleans. Diese so französisch lebende Stadt ist richtig für mich. In Frisco hatte ich immer Angst vor dem nächsten Erdbeben. Und es ist ja auch in Frisco nie so warm wie in New Orleans. Unsere Wege trennen sich, Ty, mein großer Junge. Ich wünsche euch viel Glück.«
»Das braucht man immer«, murmelt er, und er weiß, dass er Rosa nicht umstimmen kann. Rosa wurde älter in diesem Jahr. In ihrem Alter zählt jedes Jahr unterwegs doppelt.
Rosa wird sich ein schönes Haus kaufen, sich eine Dienerschaft halten, in einem schönen Wagen ausfahren und vielleicht ein Damenkränzchen gründen, das sich irgendeinen wohltätigen Anstrich gibt.
»Ja, Glück braucht man immer«, murmelt er. »Ich habe jetzt für Sally und mich etwas mehr als zwanzigtausend Dollar. Wenn ich fünfzigtausend habe, höre ich auch auf. Vielleicht kaufe ich mir eine kleine Stadt, ich meine als Bankier, der fleißigen Siedlern Kredite gibt. Oder eine Ranch in Texas mit zwanzigtausend Rindern auf der Weide. Du weißt, ich war einmal ein Cowboy. Auch so ein Luxussaloondampfer wäre nicht schlecht. Aber zuerst muss ich fünfzigtausend Dollar angesammelt haben.«
»Du musst wissen, was du tust«, erwidert sie. »Nur einen Rat gebe ich dir. Bleib Sally treu. Sie ist das Kostbarste, was du je besitzen wirst.«
Sally weint wirklich, als sie sich in New Orleans von Rosa trennen.
Rosa sagt noch einmal: »Mein Engel, ich habe dich alles wissen und begreifen lassen in einem kurzen Jahr, wozu ich fast mein ganzes Leben gebraucht habe. Du bist in diesem Sinne eine schon uralte und erfahrene Frau, und ich weiß nicht, ob das gut ist. Denn dem Alter nach müsstest du eigentlich noch viele Fehler machen und Irrwege gehen. Nun, viel Glück, Kleines, viel Glück.«
Mit diesen Worten geht sie davon, folgt dem Gepäckträger zu einer der an der Landebrücke wartenden Kutschen.
Sally blickt zu Ty empor.
»Und nun?«
»Wir nehmen das nächstbeste Schiff stromauf«, erwidert er und wendet sich an den wartenden Gepäckträger, der ihr Gepäck auf einen kleinen Handwagen lud.
»Von welcher Landebrücke geht das nächste Schiff hinauf?«
»Das ist die Sultan«, antwortet der Mann. »Eine Viertelmeile stromauf. Sie müssen zum Office der Three-Star-Reederei, um die Passage zu buchen. Ich werde an der Landebrücke mit Ihrem Gepäck warten.«
Sie bekommen auch wirklich noch zwei gute Kabinen und fahren wenige Stunden später wieder den Mississippi hinauf.
In Saint Louis steigen sie etwa zwei Wochen später auf die sehr viel kleinere Belinda um, einen Heckraddampfer, der imstande ist, den Oberen Missouri zu befahren. Denn sie wollen bis hinauf nach Fort Benton und von dort zu den Goldfundgebieten im nordwestlichen Montana.
Dort sieht der Spieler und Abenteurer Ty Whitehead noch Chancen, ihr Vermögen zu vermehren.
Sie kommen mit oder auf der Belinda etwa siebzehnhundert Meilen den Strom hinauf, bis über Fort Lincoln hinaus in die Höhe von Bismark.
Und dort passiert es. Dort bei Bismark beginnt ihre Pechsträhne, die alles zunichte macht – alles.
3
Es herrscht Hochwasser auf dem Big Muddy, und die Belinda fährt mit äußerster Kraft und kommt dennoch kaum gegen die Strömung an. Wie es so üblich ist, befiehlt der Kapitän dem Maschinisten die Wassereinspritzungen zu schließen und die Sicherheitsventile gegen jeden Überdruck zu blockieren.
»Verdammt, ich brauche Dampf, Dampf, Dampf! Die Belinda schafft sonst die Stromenge nicht. Nur für drei oder vier Minuten brauche ich Überdruck. Dann wird der Big Muddy wieder breiter und hat eine weniger starke Strömung.«
Das sind die Worte des Kapitäns.
Es sind seine letzten Worte.
Denn wenige Minuten später explodieren nacheinander beide Kessel. Die Belinda fliegt auseinander.
Der Knall ist gewaltig.
Menschen werden durch die Luft geschleudert mitsamt den Schiffstrümmern und der zu Fetzen gerissenen Ladung. Auch Sally und Ty werden vom Deck gefegt wie all die anderen Menschen, die sich zum Zeitpunkt der Explosion an Deck befanden.1)
Als Sally aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht, spürt sie zuerst die Schmerzen. Dann kommt die Erinnerung an den Knall – und daran, dass sie durch die Luft und ins Wasser flog. Von da an weiß sie nichts mehr.
Als sie die Augen öffnet, sieht sie Lampen- und Laternenschein.
Sie liegt auf einem Feldbett, so wie es die Offiziere der Armee in ihren Biwakzelten stehen haben.
Der große Raum ist mit Wimmern, Stöhnen und Weinen erfüllt.
Sie begreift, dass sie hier mit vielen Menschen in einem Saal liegt, einer Scheune oder gar Kirche.
Überall bewegen sich andere Menschen, die helfen, pflegen, behandeln. Sie erinnert sich, wie hart sie aufs Wasser schlug. Es war so hart wie Stein. Sie muss aus großer Höhe und nachdem sie viele Meter weit durch die Luft geschleudert wurde, auf das Wasser gefallen sein.
Gewiss brach sie sich einige Rippen. Ihr Gesicht ist angeschwollen wie nach Faustschlägen.
Sie beginnt allmählich zu begreifen.
Und dann denkt sie plötzlich an Ty.
Wo ist Ty? Ist er am Leben? Liegt auch er hier in diesem Raum auf einem Feldbett? Sie möchte es herausfinden, sich erheben. Doch sie schafft es nicht.
Jemand ist nun bei ihr.
Der alte Mann muss Arzt sein. Zwei Frauen und ein Armeesanitäter sind bei ihm.
Sally wird untersucht, und sie hört dann den Doc sagen: »Nichts Schlimmes, nur Blutergüsse und Quetschungen. Vielleicht sind zwei Rippen angeknickt. Nichts gebrochen. Die ist in wenigen Tagen wieder auf den Beinen.«
»Wo ist Ty?« So hört sie sich heiser fragen. »Ty Whitehead meine ich. Wo ist er?«
»Aaah, mein Kindchen, wir haben hier mehr als hundert Verletzte. Und die wenigsten können uns ihren Namen sagen. Ihren Ty Whitehead werden Sie selbst unter den Lebenden oder Toten suchen müssen. Aber viele Tote nahm der Fluss mit. Die werden nie mehr gefunden. Sie haben Glück gehabt, mein Kindchen.«
Sie hört es wie aus weiter Ferne und verliert wieder das Bewusstsein.
Es ist drei Tage später, als sie endlich imstande ist, sich auf die Suche nach Ty zu machen.
Zuvor aber musste sie Bitteres erfahren.
Der Kapitän und Eigner der Belinda kam bei der Explosion ums Leben. Und das Dampfboot war nicht versichert.
Das bedeutet für alle Passagiere: kein Ersatz für Schäden und Verluste. Es ist niemand da, an den sie sich halten könnten.
Die Bürger der kleinen Stadt Bismark haben alte Kleider gesammelt. Und so trägt Sally abermals so altes Zeug wie damals, als Ty Whitehead von ihr im Hotel bedient wurde.
Aber sonst konnten die Bürger von Bismark wenig tun. Die Stadt ist noch klein und arm, befindet sich erst im Aufbau. Eine besondere Hilfsaktion für die Unglücklichen der Belinda ist nicht möglich.2)
Für die Bürger von Bismark sind die Unglücklichen der Belinda eine Belastung, das Unglück fast so schlimm wie eine Naturkatastrophe.
Sally findet Ty Whitehead schließlich in einem Schuppen dicht beim Fluss, wo die Boote einiger Fischer festgemacht haben und in denen sonst die Netze und Reusen aufbewahrt werden.
Auf dem Boden hat man trockenes Schilf gelegt. Darauf liegen oder hocken einige Männer mit gebrochenen Knochen, bösen Verletzungen und schlimmen Verbrühungen. Denn die platzenden Dampfkessel schleuderten kochendes Wasser und heißen Dampf wie aus der Hölle auf alles, was mit ihnen durch die Luft flog nach allen Seiten.
Ty Whitehead liegt still und teilnahmslos da. Er ist halb nackt, so wie es auch Sally war, als man sie aus dem Fluss zog. Man hat ihm noch keine Kleidung geben können.
Als sie sich bei ihm niederhockt und ihn berührt, da kommt sein Blick von irgendwoher in die Wirklichkeit zurück. Er fragt mühsam: »Bist du das, Sally? Ich kann dich nur undeutlich sehen. Und ich kann nichts hören. Mein Kopf dröhnt wie eine Pauke. Ich kann nichts hören. Und einige meiner Knochen sind gebrochen. Bist du das, Sally? Oh, verdammt, was ist mit meinem Kopf geschehen?«
Sie wird sich darüber klar, dass er mit dem Gesicht auf dem Wasser aufgekommen sein muss. Denn es sieht schlimm aus. Fast hätte sie ihn nicht erkannt. Seine Augen sind blutunterlaufen. O ja, sie glaubt, dass in seinem Kopf eine Menge nicht mehr in Ordnung ist. Eine Gehirnerschütterung ist noch das Harmloseste, was sie befürchten muss.
»Ja, ich bin es, Ty, ich bin es, Sally«, sagt sie schnell und wird sich erst dann bewusst, dass er sie ja nicht hören kann.
Und so nimmt sie seine einst so kraftvolle und geschmeidige Rechte in ihre Hände und wird sich darüber klar, wie kraftlos diese Hand jetzt ist. Aber er erwidert ihren sanften Druck und murmelt dann: »O ja, du bist es. Wie gut, Sally, dass du davongekommen bist – wie gut.«
Sie denkt immer wieder: Oh, was soll jetzt werden? Mein Gott im Himmel, was soll nun aus uns werden?
Da fällt ihr ein, dass Ty stets einen Geldgürtel auf dem bloßen Leib trug, in dem er tausend Dollar als sogenannten »Notpenny« in kleinen Scheinen aufbewahrte.
Das große Geld befand sich in ihrer Kabine im doppelten Boden eines Koffers.
Aber die tausend Dollar im Geldgürtel …
Sie bricht ihre hoffnungsvollen Gedanken ab. Denn da Ty halb nackt ist in seinem zerfetzten Zeug, kann sie leichter als sonst feststellen, dass er keinen Geldgürtel mehr um die Taille trägt – und es spielt dabei keine Rolle, ob er den Geldgürtel im Fluss verlor oder ob ihm seine Retter das kostbare Ding abnahmen.
Der Gürtel mit den tausend Dollar »Notpenny« ist weg.
Sie sind beide zerlumpte Bettler, Tramps.
Und Sally weiß jetzt schon, dass ihnen hier niemand helfen kann, weil der Hilfsbedürftigen zu viele sind.
Sie verliert einen Moment die Kontrolle über sich, obwohl ständige Selbstbeherrschung zu den ersten Lektionen gehörte, die Mrs. Rosa Marbeth sie lehrte.
Und so ruft sie böse: »Bullshit! Oh, verdammter Bullshit!«
Doch dann hat sie sich auch schon wieder unter Kontrolle.
Einer der Männer auf den Schilfschütten aber sagt heiser: »O Schwester, da hast du ein wahres Wort gesagt. Ja, es ist Bullshit – alles! Wenn wir wenigstens gesund wären, nicht so hilflos. Was soll nur aus uns werden? Die Leute von Bismark sagten uns, dass sie die Armee in Fort Lincoln informiert hätten und wir von dort gewiss Hilfe bekommen würden an Nahrung, Kleidung und Pflege. Und gewiss würde uns auch die Armee dorthin transportieren lassen, wo wir daheim sind. Aber wann endlich passiert was? Warum eigentlich handeln amtliche Stellen und Behörden stets so langsam wie Schnecken? Warum dauert das alles so lange und …«
Sally hört nicht länger mehr zu.
Sie begreift, dass sie hier bei Ty nur Zeit verschwendet. Sie muss etwas unternehmen, in Gang bringen.
Aber was?
Das ist die Frage.
Und sie weiß, dass sie hier in diesem Fischerschuppen am Fluss gewiss keine Antwort auf diese Frage finden kann.
Und so drückt sie Ty nur noch einmal die Hand, streicht ihm sachte mit den Fingerspitzen über die angeschwollene, blutunterlaufene Wange und macht sich dann wortlos auf den Weg.
Nicht einen einzigen winzigen Augenblick denkt sie daran, allein ein Herauskommen zu versuchen und den jetzt so hilflosen Ty der Barmherzigkeit anderer Menschen zu überlassen. Gewiss, die Armee wird die Pflicht haben, den Unglücklichen zu helfen.
Doch Sally wird nicht darauf warten.
Sie macht sich auf den Weg in die kleine Stadt zurück.
***
In Sally ist ein böser und vielleicht auch ungerechter Zorn.
Denn sie denkt immer wieder: Sie haben Ty den Geldgürtel gestohlen. Sie haben uns zu Bettlern gemacht. Verdammt, was ist das für eine miese Stadt!
Als sie die ersten Häuser erreicht, da sieht sie, dass auf dem Wagenweg einige Armeewagen gekommen sind und einige Soldaten dabei sind, Menschen in die Wagen zu helfen.
Ein Sergeant kommt ihr entgegen. »Hey, Honey willst du mit?« So fragt er. »Bei uns im Fort wird es dir besser gehen als hierin diesem armseligen Nest. Du bist ein hübsches Ding, und deshalb wirst du keine Not leiden. Bist du allein? Dann komm mit. Ich werde mich persönlich um dich kümmern.«
Sie sieht in die Augen des Sergeanten, und sie weiß, dass er bei der ersten Gelegenheit versuchen wird, sie zu vernaschen. Dort beim Fort gibt es gewiss ein Bordell, doch sonst nicht genug Frauen.
»Du brauchst ganz bestimmt keine Wäsche für uns Soldaten zu waschen«, grinst er.
Und wieder vergisst sie, dass Rosa Marbeth ihr einprägte, sich stets wie eine beherrschte Lady zu benehmen.
Sie erinnert sich wieder daran, wie sie mit ihren wilden und zumeist betrunkenen Brüdern oftmals umgehen musste, um sich Respekt zu verschaffen. Und so faucht sie den Sergeanten an: »Oh, hau ab, du verdammter Stinker von einem Blaubauchsoldaten! Geh zur Hölle mit deinem Angebot. Platz da! Geh mir aus dem Weg!«
Er gehorcht verblüfft, denn er sieht ihr an, dass sie ihm vor die Schienbeine und vielleicht noch ganz woanders hintreten wird, wenn er ihr nicht aus dem Weg geht.
»Oh, du fauchende Kratzbürste«, murmelt er und grinst hinter ihr her. »Dich würde ich gerne mal ans Schnurren kriegen.«
Aber sie blickt sich nicht nach ihm um.
Ihr Weg führt geradeaus zum Riverboat Saloon, und dieser Saloon ist der größte und nobelste Bau in der ganzen Stadt. Denn er machte von Anfang an die besten Geschäfte. Alle Dampfboote, die hier anlegen, um Waren auszuladen und Holz zu bunkern, entlassen für ein paar Stunden – oder sogar für eine Nacht – Passagiere, denen es an Bord zu eng wurde und die an Land etwas erleben wollen.
Von Norden herunter sind es meist Goldgräber, die mit ihrer Ausbeute heimwollen. Von Süden her sind es zumeist Geschäftsleute und Glücksjäger. Deshalb ist der Saloon von Anfang an eine Goldmine. Und deshalb wurde er bald zum größten und nobelsten Haus der ganzen Stadt an- und umgebaut.
Es hocken drinnen einige Gäste herum, denn nicht alle Überlebenden der Belinda-Explosion wurden ausgeplündert wie Ty. Viele konnten sich selbst an Land retten und besitzen noch etwas Geld. Nun warten sie auf das nächste Dampfboot nach Norden.
Derweil vertreiben sie sich hier die Zeit.
Mallegan, der bullige Wirt, steht selbst hinter der Bar. Als Sally zu ihm tritt, grinst er über die Bar hinweg auf sie nieder und sagt: »Nun, Kleine, wonach juckt es dich?«
Sie sieht hinauf zu ihm und starrt in seine Augen, die ihr vorkommen wie die eines Fisches. Dabei denkt sie: Der ist noch verkommener als der Sergeant, ja, noch verkommener.
Aber sie hört sich sagen: »Ich brauche ganz schnell genügend Geld, denn ich verlor alles auf der Belinda. Sogar die Kleidung, die ich jetzt trage, bekam ich geschenkt. Und nur in einem Saloon wie diesem kann ich binnen kurzer Zeit möglichst viel Geld verdienen. Geben Sie mir eine Chance – und ich gebe Ihnen die Hälfte von meinem Gewinn. Ich brauche nur ein hübsches Kleid und hundert Dollar Kredit. Na, kommen wir ins Geschäft?«
Er staunt auf sie nieder.
Dann murmelt er: »Ich habe schon vier Mädchen, die oben ihre Freier zufriedenstellen. Aber ich besitze für diese Zwecke kein freies Zimmer mehr und …«
»Ich bin kein solches Mädchen«, unterbricht sie ihn. »Ich brauche nur einen Spieltisch. Verstehen Sie, ich bin eine Spielerin. Ihren Mädchen möchte ich auf deren Gebiet keine Konkurrenz machen.«
Nun grinst der Wirt. »Eigentlich schade«, sagt er. »Denn bei dir hätten vor allen Dingen die Jungs von Fort Lincoln Schlange gestanden. Und auch mir gefällst du sehr. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie du in einem bunten Flitterkleid aussehen wirst, hahaha.«
»Bekomme ich nun die Chance oder nicht?« So fragt sie herb.
Er beginnt nun mit einem Lappen auf dem Schanktisch herumzuwischen. Und er betrachtet sie dabei nachdenklich mit seinen Fischaugen.
»Hundert Dollar Vorschuss …«, sagt er. »Oha, wenn du sie verlierst gegen die hartgesottenen Burschen hier – oder wenn sie dich bei einem Kartentrick erwischen, dann geht es dir dreckig. Dann wirst du deine Schulden auf andere Weise abarbeiten müssen.«
»Ich weiß«, erwidert sie und starrt ihm in die Augen.
Und es ist ihr, als verspürte er nun doch einen gewissen Respekt.
Denn er nickt.
»Na gut, Süße«, sagte er. »Versuchen wir es.«
Draußen graut schon der Tag, als der letzte Gast den Saloon verlässt und der Wirt die Türen der beiden Eingänge verriegelt.
Er wendet sich Sally zu, die noch in der Ecke am runden Pokertisch sitzt und das Geld zählt, das sie in dieser langen Nacht von Soldaten, Scouts und einem Wagenzugführer gewann, die alle mit einer Dampfbarkasse von Fort Lincoln gekommen sind.
Sally stapelte das Geld in zwei Haufen.
Langsam tritt der fischäugige Wirt näher und starrt auf das Geld.
»Wie viel hast du gewonnen, Süße?«
»Dreihundertsiebenundfünfzig Dollar«, erwidert sie ernst und blickt zu ihm auf. Sie deutet auf einen der Geldscheinhaufen: »Das ist Ihr Anteil, einhundertachtundsiebzig Dollar und fünfzig Cents, dazu die hundert Dollar Kredit. Ich gehe mich jetzt umziehen in der kleinen Kammer, die Sie mir zur Verfügung stellten. Und dann können Sie mich noch hinauslassen. Ich komme erst morgen am späten Abend wieder. Gut so?«
Er starrt auf das Geld.
Dann starrt er auf sie. Und nun erkennt sie die Gier in seinen Fischaugen. Ja, er will sie haben.
Und kaum ist ihr dies bewusst, da hört sie ihn sagen: »Komm mit auf mein Zimmer, Süße. Es wird Zeit, dass du mir deine Dankbarkeit zeigst. Ich wette, du machst mehr Spaß als meine vier Mädchen zusammen. Komm schon! Du weißt ja längst, wo es langgeht auf dieser Erde. Komm!«
Er deutet die Treppe hinauf. »Das Geld kannst du da liegen lassen. Hier kommt nichts weg. Gehen wir!«
Sie erhebt sich langsam, und sie weiß, dass sie sich ihren Anteil am Spielgewinn jetzt noch einmal verdienen soll.
Sie schluckt hart.
Und sie fühlt sich hoffnungslos eingekeilt.
Oh, sie braucht das Geld für Ty und sich. Es wird ihnen ein wenig weiterhelfen, zumindest so lange, bis Ty wieder einigermaßen auf den Beinen ist. Ja, sie glaubt fest daran, dass er gesund werden wird.
Zuerst ist bitterste Resignation in ihr, und sie erinnert sich wieder an jenen Kerl damals im Hotel, dem sie hilflos ausgeliefert war.
Damals sah alles hoffnungslos aus für sie. Ihre Zukunft war schwarz.
Doch dann kam Ty Whitehead.
Jetzt braucht er sie, so wie sie damals ihn brauchte.
Der Gedanke an Ty hilft ihr. Nein, sie wird sich den Wünschen dieses fischäugigen Dreckskerls nicht fügen. Plötzlich hat sie sich wieder unter Kontrolle. Sie kann mit einem Mal wieder klar denken. Rosa Marbeth hat ihr immer wieder eingeschärft, niemals die Beherrschung zu verlieren.
Daran denkt sie wieder.
Und so lächelt sie und nickt ihm zu. Sie gleitet hinter dem Tisch hervor und sagt dabei lachend: »Aber ich darf mir doch zuerst noch eine gute Flasche aussuchen, die wir mit nach oben nehmen, ja?«
Er lässt sie tatsächlich an sich vorbei. Ihr Lächeln, das Locken in ihrer Stimme und die Bereitwilligkeit, auf seine Wünsche einzugehen, erzeugten in ihm eine freudige Erwartung – und lähmen wohl auch sein Hirn.
Denn sie ist schon weit genug von ihm weg, als er die Gefahr erkennt und hinter ihr her springt.
Doch es ist zu spät für ihn.