Deutsch von Astrid von dem Borne
VERLAG FREIES GEISTESLEBEN
«Lizzie! Hör mit dem verfluchten Gefiedel auf!»
Lizzie fixierte ungerührt die Noten auf dem Pult und spielte weiter.
«Ich kann bei dem schrecklichen Gekratze nicht denken!», rief ihr Bruder.
Dass er bei der Musik denken konnte, mit der er sich selbst die Ohren volldröhnte, war auch schon ein Wunder.
«Wenn du nicht sofort aufhörst», schrie er, «komm ich und hau’ sie in Stücke!»
Lizzie beachtete ihn gar nicht. Sebastian stieß immer solche Drohungen aus.
Elizabeth Barrett – kurz Lizzie genannt – war elf. Sie war nicht sehr groß, aber kräftig gebaut und hatte ein markantes Gesicht und ein stark ausgeprägtes Kinn. Sie galt als «schwierig», was nichts weiter bedeutete, als dass sie gern ihren Willen durchsetzte. Es gab heftige Szenen, wenn ihr das nicht gelang. Sie bestand darauf, ihr braunes Haar in zwei langen Zöpfen zu tragen, und weil sie kurzsichtig war, brauchte sie eine Brille. Natürlich hatte sie sich ein rundes schwarzes Gestell ausgesucht, mit dem sie erst richtig «toll» aussah.
Sie lebte mit ihren Eltern und dem älteren Bruder in West London in einem Reihenhaus mit drei Schlafzimmern. Das war nichts Besonderes. Ringsum waren die Straßen von ähnlichen Häusern gesäumt. Alle hatten kleine Vorgärten, Garagen an der Seite und nach hinten größere Gärten.
Wie alle Familien hatten die Barretts ihre Hochs und Tiefs, aber im Allgemeinen waren sie ganz glücklich miteinander. Das heißt, sie waren es bis vor etwa einem Jahr gewesen, als Lizzie verkündet hatte, Geige spielen zu wollen. Sie hatte immer schon gern gesungen und Musik gehört. In der Grundschule hatte sie Blockflöte gespielt und mit der Klarinette angefangen. Aber damit war sie überhaupt nicht zurechtgekommen und hatte bald aufgegeben. Dann wollte sie plötzlich am allerliebsten Geige spielen. Sie wusste nicht warum. Sie wollte es einfach.
Nach dem Reinfall mit der Klarinette waren ihre Eltern zurückhaltend gewesen, was ein weiteres Instrument betraf. Aber Lizzie hatte sie unentwegt gequält, bis sie schließlich mit einem Lehrer der Abteilung für Schulmusik sprachen. Der war ihnen behilflich gewesen, über das Internet eine Geige zu kaufen, und hatte ihnen eine Musiklehrerin empfohlen. Damals ahnten sie nicht, was für Probleme damit auf sie zukommen sollten.
Alles begann damit, dass Lizzie fest entschlossen war, das Geigenspiel schnell zu beherrschen. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, verlorene Zeit aufholen zu müssen. Sie übte jeden Tag nach der Schule, machte aber überhaupt keine Fortschritte. Ja, je mehr sie übte, desto schlechter schien sie zu werden. Das war schrecklich frustrierend und sie wurde dadurch verkrampft und unsicher. Besonders der rechte Arm wurde so steif, dass sie den Bogen nicht mehr richtig unter Kontrolle hatte. Aber sie wollte sich nicht geschlagen geben und machte verbissen weiter, in der Hoffnung, dass es eines Tages schon gut werden würde.
Sie wurde aus dem Wohnzimmer verbannt und musste bei geschlossener Tür in ihrem eigenen Zimmer üben. Aber da Sebastians Zimmer daran angrenzte, bekam er jeden schrägen Ton in voller Lautstärke ab. Er war ein hoch aufgeschossener Vierzehnjähriger, der seine Schwester bestenfalls als nervtötend empfand. Und ihr Spiel machte ihn rasend.
An diesem Abend waren die Töne, die sie mit ihrer Geige produzierte, wirklich nicht zum Aushalten. Man konnte unmöglich sagen, ob sie sauber spielte oder nicht, denn wenn sie mit dem Bogen hin und her strich, kratzte und rutschte er über die Saiten, dass es fürchterlich schrill klang.
«Lizzie», das war die Stimme ihrer Mutter unten vom Treppenabsatz. «Kannst du bitte leiser spielen?»
«Ich versuche, meine Hausaufgaben zu machen», schrie Sebastian.
«Ich muss üben», konterte Lizzie und sägte weiter mit ihrem Bogen auf und ab. «Ich habe morgen Unterricht.»
Ihre Mutter seufzte hilflos. «Meinetwegen, noch fünf Minuten.»
Fünf Minuten! Lizzie hob die Schultern und schnaubte: Pah! Sie schnaubte so heftig, dass der Bogen über die Saiten abrutschte und gegen den Steg stieß.
«Hörst du, was wegen dir passiert ist!», rief sie. Lizzies Geigenlehrerin war eine ältere Frau, sie hieß Mrs. Stokes. Sie war im Alter korpulent geworden und langsamer in ihren Bewegungen. Aber von ihrer Geigenkunst hatte sie nichts verloren und ihr Gehör war so gut wie je.
Sie war in Deutschland geboren, sprach mit deutschem Akzent und trug entsprechende Kleidung: bestickte Blusen mit kleinem Stehkragen und weite Röcke. Ihr graues Haar war immer zu einem ordentlichen Knoten gedreht, der von einem Schildpattkamm zusammengehalten wurde. Bevor sie einen Engländer heiratete, hatte sie in einem Berufsorchester in Deutschland gespielt. Inzwischen war sie Witwe und lebte mit ihrer Katze in einer kleinen Erdgeschosswohnung.
Mrs. Stokes gab seit fast vierzig Jahren Geigenunterricht und im Lauf der Zeit waren viele Schüler unterschiedlichster Begabung durch ihre Hände gegangen. Aber kein Einziger war wie Lizzie gewesen. Selbst ihre Katze, die es gewöhnt war, allerlei komische Geräusche zu hören, konnte Lizzies Spielen nicht ertragen. Beim ersten Ton rannte sie aus der Wohnung.
Jeden Mittwoch, wenn sich die Zeit von Lizzies wöchentlichem Unterricht näherte, fühlte Mrs. Stokes wachsendes Unbehagen. Manchmal hoffte sie sogar, Lizzie könnte krank sein und wegbleiben. Aber Lizzie war nie krank.
In dieser Woche kam sie wie immer Punkt fünf Uhr mit ihrem Geigenkasten und einer Plastiktüte mit Noten. Es war ein kalter Oktobernachmittag und sie war fest in eine wattierte Jacke eingepackt. Neben dem Eingang befand sich ein Schild mit Klingelknöpfen für jede Wohnung und dem Namen der Bewohner daneben. Lizzie drückte fest auf den Knopf neben Mrs. Stokes’ Namen.
Kurz darauf knisterte es und eine blecherne Stimme tönte aus der kleinen Sprechanlage: «Wer ist da?»
«Ich bin es, Mrs. Stokes», erwiderte Lizzie.
«Oh, Lizzie …» Die Stimme klang resigniert. «Ich lasse dich rein.»
Das Schloss summte kurz, Lizzie stieß die Tür auf und ging in den Hausflur, von dem eine Treppe nach oben zu den anderen Wohnungen führte; noch nicht abgeholte Post lag auf einem Tisch.
Mrs. Stokes wartete im Eingang ihrer Wohnung, sie hatte sich einen Wollschal um die Schultern gewickelt.
«Da bin ich», verkündete Lizzie fröhlich. Sie verehrte Mrs. Stokes, weil sie so wunderbar Geige spielte.
«Hallo Lizzie», antwortete ihre Lehrerin, wobei ihr ein Lächeln gelang. «Komm rein.»
Sie trat zur Seite, um Lizzie vorbeizulassen, schloss die Tür, seufzte und folgte ihr durch den Flur ins Wohnzimmer.
Es war ein kleiner Raum, vollgestellt mit altmodischen Möbeln. Überall lagen Fotos herum, die Mrs. Stokes in jüngeren Jahren oder zusammen mit ihrem Mann zeigten, und an den Wänden hingen Bilder mit Ansichten von den Alpen. Ein Klavier, auf dem sich Noten stapelten, war zwischen dem Kamin und der Stirnwand eingezwängt. Durch die Verandatür blickte man auf einen überwucherten Garten.
Lizzie fühlte sich hier ganz zu Hause. Sie legte ihre Jacke ab und wischte mit ihrem Pulloverärmel kurz über ihre Brillengläser, die von der Wärme des kleinen elektrischen Kaminfeuers beschlagen waren. Dann öffnete sie eifrig den Kasten und nahm Geige und Bogen heraus. Mrs. Stokes’ rote Katze lag zusammengerollt auf ihrem Lieblingsstuhl und beobachtete wachsam, wie Lizzie den Bogen spannte und die Haare kräftig mit Kolophonium bearbeitete.
«Fertig zum Stimmen.»
Ihre Lehrerin wappnete sich für das, was auf sie zukam, ging ans Klavier und schlug ein A an. Sie zuckte zusammen, als Lizzie anfing, die A-Saite mit dem Wirbel zu spannen, wobei sie gleichzeitig mit dem Bogen auf und ab säbelte.
«Lass mich es für dich machen», schlug sie vor.
«Ich kann es doch», sagte Lizzie, die immer darauf bestand, alles selbst zu tun.
Als sie alle vier Saiten gestimmt hatte, war von der Katze nichts mehr zu sehen und Mrs. Stokes war dabei, sich Watte in die Ohren zu stopfen.
«Möchten Sie meine Tonleitern hören?», fragte Lizzie.
«Ja bitte», sagte ihre Lehrerin – sie gab sich Mühe, es so zu betonen, als wollte sie das wirklich.
Lizzie begann mit der tiefsten Saite und spielte die G-Dur Tonleiter. Sie war noch nicht weit, als ihre Lehrerin schrie: «Halt! Halt!»
«Stimmt was nicht?»
«Großer Gott! Kind!», rief Mrs. Stokes und ihr deutscher Akzent wurde deutlicher, wie immer, wenn sie sich aufregte. «Dein Bogen verrutscht ständig, halte ihn ruhig.»
«Das versuch ich doch.»
«Entspanne deinen rechten Arm, er ist so steif … wie soll ich sagen … so steif wie ein Schürhaken. Bitte schau mir zu.»
Mrs. Stokes nahm ihre eigene Violine und führte mit fließenden Bewegungen ihres Bogens vor, wie die Tonleiter gespielt werden sollte.
«Jetzt mach du es», sagte sie, «aber halte den Bogen ruhig.»
Mit grimmiger Entschlossenheit gab Lizzie ihr Bestes, aber der Bogen schien nach wie vor ein Eigenleben zu führen. In ihrer Verzweiflung packte Mrs. Stokes Lizzies rechte Hand und bewegte ihren Arm für sie hin und her. Aber kaum ließ sie sie los, begann das schreckliche Getöne von Neuem.
«Nicht so fest!», schrie sie. «Arm locker!»
Lizzie ließ mit dem Druck nach, aber der Bogen hüpfte nach wie vor über die Saiten. Dann drückte sie etwas fester und versuchte, den lockeren Armbewegungen ihrer Lehrerin nachzueifern. Das Ergebnis war katastrophal, der Bogen rutschte hin und her und brachte schrille Quiekser hervor, die Weingläser hätten zum Platzen bringen können.
Mrs. Stokes stand da und schwieg schaudernd. Was hätte sie auch sagen sollen, wo sie doch seit Wochen versuchte, Lizzies Bogenführung zu verbessern?
«Wie war das?», fragte Lizzie, als sie endete.
«Vielleicht ein bisschen besser», antwortete Mrs. Stokes ohne rechte Überzeugung.
Lizzie fasste das als Lob auf und freute sich entsprechend. «Ich wollte, meine Familie könnte das hören, sie mögen mein Geigenspiel nämlich nicht.»
«Ach wirklich?» Mrs. Stokes konnte den leisen Spott in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
«Die meinen, ich soll aufgeben.»
Ihre Lehrerin war geneigt, dem zuzustimmen.
«Sie denken doch nicht, dass ich aufgeben soll?»
Die Antwort «Ja!» lag Mrs. Stokes auf der Zunge. Aber sie konnte es nicht über sich bringen. Sie hatte Schüler gehabt, die von sich aus beschlossen aufzuhören, aber noch keinem hatte sie es selbst empfohlen. Das widersprach all ihren Prinzipien als Lehrerin, und bei einer so eifrigen Schülerin war es undenkbar.
«Nein, natürlich nicht», fühlte sie sich verpflichtet zu sagen.
«Dann ist ja alles klar», sagte Lizzie und lächelte erleichtert. «Soll ich die Tonleiter noch einmal spielen?»
«Nein!» Der entsetzte Schrei rutschte Mrs. Stokes heraus, bevor sie daran denken konnte, ihn zurückzuhalten, und brachte sie ganz außer Atem. Sie legte eine Hand auf ihre wogende Brust und keuchte: «Nein, danke.»
«Ich bin sicher, dass ich’s jetzt besser kann.»
«Heute nicht mehr, Kind», wehrte ihre Lehrerin standhaft ab, «ein anderes Mal. Nehmen wir jetzt die Musikstücke dran.» Dabei gab es wenigstens die Begleitung auf dem Klavier, mit der sie alles übertönen konnte. Lizzie war im sechsten Jahr an der Gesamtschule. Sie war eine der Jüngsten in ihrer Klasse. Sebastian besuchte dieselbe Schule, aber wie das bei älteren Brüdern oft der Fall ist, tat er sein Möglichstes, um ihr dort nicht zu begegnen.
Lizzie mochte die verschiedenen Fächer und sie war eine gute Schülerin, besonders in Mathematik und in den Naturwissenschaften. Sie sang auch gern im Unterstufenchor. Aber am meisten freute sie sich auf die Donnerstage. Da versammelte sich das Unterstufenorchester während der Mittagspause zur Probe in der Aula. Die Musiker durften an der ersten Essensrunde mit den Oberstufenschülern teilnehmen, damit ihnen möglichst viel Zeit blieb, bis die Glocke zum Nachmittagsunterricht ertönte.
Das Orchester stand allen Schülern der unteren Klassen offen und verfügte über eine ganze Bandbreite an Instrumenten: Violinen, Celli, Flöten, Klarinetten, Trompeten, Posaunen und verschiedene Schlaginstrumente. Der Leiter war Mr. Grimshaw, ein begeisterter junger Lehrer. Er war ein zierlicher blonder Mann, der Geografie unterrichtete und, weil er ein guter Pianist war, in der Musikabteilung aushalf.
Am Anfang hatte sich Lizzie zu den ersten Violinen gesetzt. Aber nachdem Mr. Grimshaw sie einmal gehört hatte, wies er sie zu den zweiten Violinen, den weniger guten Spielern. Keiner wollte Lizzie neben sich haben und bald wurde sie allein an das letzte Pult der Violinen gesetzt, wo alle hofften, dass die Trompeten sie übertönen würden.
Unglücklicherweise war das nicht so.
In dieser Woche hatten sie gerade mit einem der Musikstücke angefangen, die sie beim Halbjahreskonzert aufführen sollten, als Mr. Grimshaw mit einem harten Tata ta ta seines Taktstocks unterbrach.
«Elizabeth Barrett», rief er, «du bist viel zu laut. Kannst du bitte leiser spielen.»
Lizzie rümpfte die Nase, als es von allen Seiten Gekicher und unfreundliche Blicke gab.
«Sie bringt uns raus, Sir», sagte ein Trompeter.
«Uns auch», tönte eine Stimme aus den zweiten Geigen.
«Es ist fürchterlich», rief eine Klarinettistin.
«Das reicht», tadelte Mr. Grimshaw, obwohl er ihnen insgeheim recht gab. «Alle noch einmal von vorn. Nach vier …»
Als er den Taktstock hob, erklärte ein dicker Junge aus den ersten Geigen laut: «Sie sollte überhaupt nicht spielen.»
«Sagen Sie ihr, sie soll gehen», rief jemand aus der Gruppe der Schlagzeuger und andere fielen mit ein. Sie waren alle aufgeregt wegen des Konzerts, zu dem die Eltern eingeladen waren.
Wütend warf Lizzie ihnen finstere Blicke zu.
Mr. Grimshaw klopfte heftig an sein Pult.
«Ich werde keinen auffordern zu gehen», sagte er mit fester Stimme. «Ich will also nichts mehr davon hören. Von vorne.» Er hob den Taktstock und hoffte, dass die Sache damit erledigt wäre. Aber das war sie nicht.
«Wenn sie bleibt», verkündete der dicke Junge aus der ersten Geige, «spiele ich nicht.» Zum Beweis nahm er die Geige vom Kinn und stützte sie auf sein Knie.
«Ich auch nicht», stimmte das Mädchen neben ihm mit ein und tat dasselbe wie er. Sie war die Konzertmeisterin und hatte eine hohe Meinung von ihrem Geigenspiel. «Ich möchte nicht ausgelacht werden», fügte sie geziert hinzu.
«Sie eignet sich höchstens für die Triangel!», rief ein Posaunist, und alle brachen in Gelächter aus.
Das war zu viel für Lizzie. Mit feuerrotem Gesicht sprang sie so abrupt auf, dass ihr Stuhl umkippte. Mit einem lauten Krach fiel er auf den Boden. Aber das war ihr egal. Sie drängte sich durch die Spieler, warf Notenpulte um und rannte an die Seite der Aula, um ihren Geigenkasten zu holen.
Als sie Geige und Bogen einpackte, eilte Mr. Grimshaw zu ihr. «Es tut mir so leid», sagte er nervös. «Bist du sicher, dass du es nicht mit einem Schlaginstrument versuchen willst?»
Lizzie warf ihm einen verächtlichen Blick zu und rauschte aus dem Saal, den Geigenkasten unterm Arm. Hinter ihr fiel die Tür mit einem so lauten Knall zu, dass es im ganzen Saal widerhallte.
Sie lief durch den Gang zu den Umkleideräumen, warf sich ihre Jacke über und hastete in den Pausenhof. Er war voll von Schülern, die die letzten freien Augenblicke genossen, bevor der Nachmittagsunterricht begann. Lizzie bahnte sich ihren Weg zwischen ihnen durch und stürzte zum Schultor hinaus.
Als sie fast zu Hause war, begann es zu regnen. Aber sie war viel zu wütend, um das zu bemerken. Sie lief zum Hintereingang und platzte in die Küche. Ihre Mutter saß bei einer Tasse Tee am Tisch, sie war gerade von ihrem Halbtagsjob als Sekretärin in einem Anwaltsbüro heimgekommen.
«Lizzie», rief sie überrascht. «Was um Himmels willen machst du hier?»
Ohne zu antworten stürmte Lizzie durch die Küche und die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie knallte die Tür hinter sich zu, ließ sich auf das Bett fallen und brach in Tränen aus.
Kurz darauf klopfte es leise und ihre Mutter trat ein.
«Was ist denn nur los?», fragte sie ganz besorgt.
«Sie wollen mich nicht im Orchester», schluchzte Lizzie.
Mrs. Barrett lächelte teilnahmsvoll und setzte sich neben sie. «Das ist doch nicht so schlimm», sagte sie, «das ist doch kein Weltuntergang.»
«Sie haben gesagt, ich soll Triangel spielen.»
«Das hört sich doch gut an.»
«Gut!» Lizzie war empört, sie legte den Geigenkasten aufs Bett und rannte aus dem Zimmer.
«Wo gehst du hin?», rief ihre Mutter.
«Fort! Rad fahren!»
«Es regnet.»
«Ist mir egal!»
Den Kopf dicht über dem Lenkrad, die Füße in die Pedale gestemmt, sauste Lizzie ans Ende der Straße und um die Ecke in die nächste. Rechts und links glitten die Häuser verschwommen vorbei. Sie fuhr so schnell über den Zebrastreifen, dass sich die Reifen von ihrem Rad holpernd vom Boden abhoben. Kurz darauf flitzte sie durch das schmiedeeiserne Eingangstor in den Park.
Er war sehr groß, es gab weite Wiesen, auf denen verstreut alte Eichen und Kastanien standen, und ganze Waldflächen. Versteckt hinter den Bäumen waren Seen, wo Teichhühner, Enten und Wildgänse lebten. An Sommerwochenenden wimmelte der Park von Menschen und Fahrzeugen. Aber an einem feuchten Nachmittag mitten in der Woche war er ganz verlassen.
Lizzie bog in den Rundweg ein und fuhr dann in die entgegengesetzte Richtung. Es regnete jetzt ziemlich stark und ihre Brille war bald nass gespritzt.
«Dass die sich trauen», murmelte sie wütend zum hundertsten Mal, «die Triangel!» Das war die schlimmste Beleidigung gewesen. «Denen werde ich es zeigen!» Sie wusste nicht wie, aber sie war fest entschlossen, es zu versuchen.
Eine Zeit lang war die Fahrbahn ziemlich eben. Dann ging es einen steilen Hügel hinauf. Sonst stieg Lizzie auf halbem Weg ab und schob das Rad das letzte Stück. Aber jetzt hatte sie keine Lust dazu. Sie schaltete den Gang runter, trat verbissen noch fester in die Pedale und fuhr weiter nach oben. Ein zwei Autos spritzten mit rotierenden Scheibenwischern und eingeschalteten Scheinwerfern vorbei.
Oben wurde die Straße wieder eben, aber Lizzie war jetzt erschöpft und musste bald stehen bleiben, um zu verschnaufen. Sie brachte ihr Fahrrad mit quietschenden Bremsen zum Halt und glitt aus dem Sattel. Die Brust bebte, das Haar tropfte, Jacke, Rock und Strumpfhose waren durchnässt, breitbeinig stand sie über der Querstange und schaute um sich. Durch ihre beschlagene Brille sah alles verwischt aus, auch das vertraute Wahrzeichen, das sich etwa hundert Meter von der Straße auf einer ungemähten Wiese befand.
Es war ein Musikpavillon, ein Rundbau mit schlanken Säulen, die ein pagodenförmiges Dach stützten, ringsherum führten Stufen auf das Podium. Lizzie hatte sich oft gefragt, wozu es diente, denn sie hatte noch nie erlebt, dass eine Musikkapelle dort spielte.
Sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf, aber gerade als sie weiterfahren wollte, wurde ihre Aufmerksamkeit von etwas angezogen. Sie wischte mit dem Ärmel über die Brillengläser und schaute noch einmal. Es gab keinen Zweifel: Jemand war auf dem Podest. Eine kleine dunkle Gestalt lief darauf herum. Es sah nach einem Mann aus, der aber sehr eigenartig gekleidet war. Aus dieser Entfernung, dazu im Dämmerlicht, war kaum zu erkennen, was er tat. Dann fingen ihre Ohren schwache Musikfetzen auf. Er spielte Geige! Von Neugier getrieben stieg Lizzie rasch ab, ließ ihr Rad am Wegrand stehen und lief durch das nasse Gras zu dem Pavillon. Die Musik wurde ihr vom Wind in Wellen zugetragen. Es war ein fremdartiger, eindringlicher Klang, der sich da in das Rauschen von Wind und Regen und das Rascheln der Blätter mischte.
Sie blieb vor dem Pavillon stehen, denn sie fürchtete den Geiger zu stören, wenn sie zu nahe kam. Aber er schien sie gar nicht wahrzunehmen, schlurfte über das Podium und spielte dabei weiter.
Es war ein uralter Mann mit zerfurchtem Gesicht und einem langen weißen Bart. Auf dem Kopf trug er einen verbeulten Hut mit breiter Krempe, die im Wind flatterte. Darunter hingen weiße Haarbüschel hervor. Sein Mantel war zerknittert und für ihn viel zu groß. Er war mit einer Sicherheitsnadel am Hals zusammengehalten und mit einem Stück Kordel um die Taille gebunden. Seine Schuhe waren völlig verdreckt und abgetreten. Er sah wie ein Landstreicher aus. Aber sein Geigenspiel …!
Noch nie hatte Lizzie ein solches Spielen gehört, nicht einmal von Mrs. Stokes. Den Regen spürte sie nicht, so gebannt lauschte sie. Vor allem war sie von seiner Bogenführung fasziniert. Langer Bogen. Kurzer Bogen. Abstrich. Aufstrich. Feiner Strich an der Spitze. Sicherer Ansatz am Frosch. Er war ein wahrer Meister.
Als er das Tempo beschleunigte, prickelte es unter ihrer Haut und ihr Herz klopfte vor Erregung. Schneller und schneller ging es, bis der aufblitzende Bogen nur noch ein schemenhafter Strich war, und seine Finger schienen überhaupt nicht nachzulassen. Die Musik schwoll zu einem mächtigen Crescendo an. Und dann endete sie plötzlich mit vier majestätischen Akkorden.
Lizzie musste nach Luft schnappen.
Eine ganze Weile stand der Mann bewegungslos da und der Bogen ruhte auf den Saiten. Dann ließ er die Arme sinken und blickte sich um. Als er Lizzie entdeckte, änderte sich seine Haltung unmittelbar.
«Da bist du ja», rief er und winkte ihr. «Komm rauf!»
Lizzie war sprachlos. Es klang, als hätte er sie erwartet.
«Komm her. Ich kann nicht lange bleiben.»
Lizzie stand unsicher im Gras. Die Mutter hatte ihr gesagt, sie dürfe nicht mit Fremden reden. Aber es war doch gewiss nicht gefährlich, mit einem großen Geiger zu sprechen? Ein wenig fürchtete sie sich, aber sie stapfte in ihren durchnässten Schuhen die Stufen zum Podium hinauf.
Der alte Mann trat ihr mit breitem Lächeln entgegen. «Wie hat dir die Musik gefallen?», fragte er mit einer Stimme. die für einen so armselig gekleideten Mann überraschend tief und kultiviert klang.
«Super!», brach es aus ihr hervor.
Er zuckte bescheiden die Achseln. «Ach, das habe ich mir nur ausgedacht. Ich wollte lediglich die Zeit nutzen, bis du kommst.»
Lizzie war überrascht. Wie in aller Welt konnte er gewusst haben, dass sie genau in diesem Moment vorbeiradeln würde? Gerade als sie ihn das fragen wollte, zog er den Hut und verbeugte sich.
«Alexander Rostikoff», stellte er sich vor. «Und wer bist du?»
«Elizabeth Barrett», stammelte sie.
Er strahlte. «Großartig! Ich wollte es nur prüfen.» Er setzte den Hut mit einem Ruck wieder auf und blickte ihr direkt ins Gesicht. «Du hast also Probleme mit deinem Bogenstrich?»
«Woher wissen Sie das?», fragte sie atemlos.
Er tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Nase. «Ich lausche mit meinem Ohr an der Erde», sagte er und zwinkerte ihr verschmitzt zu. «Ich glaube, ich kann helfen. In der Tat, ich weiß, dass ich es kann.»
«Wie denn? Keiner kann es. Meine Lehrerin versucht es seit Monaten.»
«So! Aber sie hat nicht das, was ich habe.» Mr. Rostikoff fummelte unter seinem Mantel herum und zog einen Geigenbogen hervor. «Der ist schon oft nützlich gewesen. Er wurde von François Tourte gemacht. Ich nehme an, du hast noch nicht von ihm gehört?»
Lizzie schüttelte den Kopf.
«Sagt dir der Name Stradivari etwas?»
«Ich glaube, ich habe von Stradivarius gehört», sagte sie unsicher.
«Ich wünschte, die Leute würden ihn nicht so nennen», sagte Mr. Rostikoff ärgerlich, «sein Name ist Stradivari.»
«Hat er Geigen gebaut?»
«Aber sicher! Die besten, die es je gab! Die großartigsten! Und Tourte ist der Stradivari des Geigenbogens!» Damit reichte er ihr den Bogen. «Hier. Nimm ihn.»
Lizzie starrte ihn mit offenem Mund an.
«Los. Nimm ihn.»
Der alte Mann war so hartnäckig, dass sie das Gefühl hatte, gehorchen zu müssen, aber ihre Hände zitterten, als sie den Bogen entgegennahm.
«Gehe achtsam mit ihm um. Er ist über zweihundert Jahre alt.»
Lizzie hätte ihn beinahe fallen lassen. «Mit dem kann ich nicht spielen!»
«Und ob du das kannst», Mr. Rostikoff kicherte, «du wirst staunen, was er für einen Unterschied macht. Er hat schon vielen jungen Geigern geholfen: Niccolò Paganini, Fritz Kreisler …», stieß er die Namen hervor. «Aber ich muss dich warnen», jetzt klang seine Stimme ernst, «es gibt gewisse Bedingungen. Du darfst niemandem sagen, woher du ihn hast. Und du darfst keinen anderen damit spielen lassen. Wenn du das tust, wird er dir nichts nützen. Und du darfst ihn nur drei Monate behalten. Es gibt für ihn eine lange Warteliste. Eine lange Liste, das kann ich dir sagen. So muss ich ihn zurückbekommen am …», er runzelte die Stirn, «was für ein Datum ist heute?»
Für einen Augenblick konnte Lizzie nicht denken: «Hm … hm …»
«Beeile dich», drängte er.
Plötzlich fiel es ihr ein: «Der sechste Oktober.»
«Also in drei Monaten von heute an ist», sein Gesicht erhellte sich, «Dreikönig! Ausgezeichnet. Ein äußerst passender Tag.» Er klang erfreut. Doch plötzlich geschah etwas Seltsames mit ihm. Er verblasste immer mehr. «Vergiss nicht. Sechster Januar», fuhr er hastig fort. «Viel Glück!»
Seine Gestalt war jetzt so dünn, dass Lizzie durch sie hindurch den Park sehen konnte.
«Wo treffen wir uns?», rief sie verzweifelt.
«Du wirst es wissen» sagte er, während er verschwand. «Und lass die Zöpfe», tönte seine körperlose Stimme.
Lizzie starrte verwirrt auf die leere Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte. Aber es gab nirgends mehr ein Zeichen von ihm.
War alles nur ein Traum? Aber noch während sie das dachte, wusste sie, dass es nicht die richtige Antwort war. Denn sie hielt den Bogen, den Mr. Rostikoff ihr gegeben hatte, immer noch in der Hand.
Es war nicht leicht, nach Hause zu radeln und gleichzeitig den Bogen trocken zu halten. Lizzie versuchte, ihn unter die Jacke zu stecken, aber er stand unten heraus. Dann verstaute sie ihn unter ihrem Pullover und schob ihn durch den lockeren Rockbund. Trotzdem musste sie ganz aufrecht sitzen und den Arm an die Seite pressen, damit der Bogen nicht wegrutschen konnte, und das bedeutete, dass sie die meiste Zeit einhändig fahren musste.
Endlich zu Hause angekommen, fuhr sie ihr Rad in die Garage und schob es zwischen die Wand und das Auto. Sie hatte gehofft, unbemerkt ins Haus schleichen zu können. Aber als sie aus der Garage kam, sah sie Licht in der Küche.
«Verdammt», murmelte sie und warf einen Blick auf ihre Uhr. Sie war überrascht, als sie feststellen musste, dass die Schule schon seit einer halben Stunde aus war. Sebastian war wohl zu Hause und trank mit der Mutter Tee. Nie würde sie an ihnen vorbeikommen, ohne dass man sah, dass sie etwas trug. Sie konnte den Bogen nur in der Garage verstecken und ihn später holen.
Lizzie zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf und holte ihn vorsichtig unter dem Pullover hervor. Zu ihrer großen Erleichterung hatte er keinen Schaden gelitten und war trocken.
Ob er wirklich zweihundert Jahre alt war, fragte sie sich, als sie ihn im schwächer gewordenen Licht betrachtete. Das Holz hatte eine wunderschöne satte Farbe und glänzte, es erinnerte sie an alte Möbel. Der Bogen war elegant geformt, dagegen sah ihr eigener ziemlich grob aus. Die Spitze lief in einem eleganten Schwung aus und am Griff war der Frosch auf beiden Seiten mit einem Perlmuttstern verziert. Die Schraube zum Spannen der Haare war aus Ebenholz und Messing mit einem eingelassenen Silberring. Im Gegensatz zu allem Übrigen schienen die Bogenhaare neu und unbenutzt. War der Bogen eigens für sie neu bespannt worden?
Es war ein einziges Rätsel, wie alles, was Mr. Rostikoff betraf. Wer war er? Was war er? Er schien kein Geist zu sein. Aber er war eigentlich auch nicht ganz Wirklichkeit. War er eine Art Zauberer? Egal was er war, der Bogen fühlte sich echt genug an und sie war begierig darauf, ihn auszuprobieren. Doch zunächst einmal musste sie ihn verstecken.
Sie drückte sich am Auto vorbei zur Rückwand der Garage und legte den Bogen vorsichtig hinter ein paar gebrauchten Farbdosen ab, die auf einem alten Hasenverschlag aufgetürmt waren. Dann lief sie aus der Garage durch den Regen zur Hintertür.
Wie sie schon gedacht hatte, saßen Sebastian und die Mutter beim Tee.
«Lizzie», rief ihre Mutter, «wo in aller Welt bist du gewesen?»
«Ich hab es dir doch gesagt, ich bin Rad gefahren.»
«Du bist klatschnass!» – Die Mutter stand vom Tisch auf. – «Runter mit der Jacke und den Schuhen. Dann nach oben zum Umziehen.» Sie wollte, dass Lizzie schnell aus dem nassen Zeug kam, öffnete die Jacke und zog sie ihr aus. «Warum hast du keinen Regenmantel genommen?», fuhr sie fort, während sie die Sachen über einen Stuhl neben dem Boiler hängte.
Sebastian schaute von einem Ohr zum anderen grinsend zu. «Du hörst also mit dem Geigen auf?»
«Du spinnst.»
«Hätte gedacht, du tust es, nach dem, was gelaufen ist.»
«Sebastian …», die Mutter versuchte ihn zu bremsen.
«Das weiß doch jeder, Mum. Das Orchester hat sich geweigert, mit ihr zu spielen.»
«Sebastian, es reicht», warnte die Mutter jetzt in entschiedenem Ton, denn sie fürchtete einen von Lizzies Wutausbrüchen.
Aber Lizzie war viel zu aufgeregt wegen des Bogens, um sich von ihrem Bruder reizen zu lassen.
«Schon gut, Mum», sagte sie unbekümmert, «er kann sagen, was er will. Es macht mir nichts.» Sie gab ihr die Schuhe und rauschte aus dem Zimmer.
Nachdem sie sich trockene Sachen angezogen und die Zöpfe mit einem Handtuch trocken gerieben hatte, setzte sie sich an den Tisch, an dem sie ihre Hausaufgaben erledigte, und machte ihren Laptop an. Sie wollte sehen, ob Google ihr etwas über François Tourte sagen konnte. Das Problem war, sie wusste nicht, wie man seinen Nachnamen buchstabiert. Sie versuchte «Tort», «Turt» «Turte» – ohne Erfolg. In ihrer Verzweiflung fing sie mit den Buchstaben T-O-U-R-T an und ja! ja! da war es: «François Tourte».
Es stand eine ganze Menge über ihn da – zu viel, um alles zu lesen, denn sie konnte es kaum erwarten, den Bogen auszuprobieren. Aber sie erfuhr schnell, dass er 1747 in Frankreich geboren und 1835 dort gestorben war. Ursprünglich hatte er Uhrmacher gelernt und war später der berühmteste Bogenbauer seiner Zeit geworden. Lizzie staunte, als sie las, dass kürzlich ein Bogen von ihm für über 30.000 Pfund verkauft worden war!
War der, den Mr. Rostikoff ihr gegeben hatte, so viel wert? Was war, wenn sie einen Unfall hatte und er kaputt ging? Das musste er bedacht haben, sonst hätte er ihn ihr doch nie geliehen? Egal, wenn sie ihn nun einmal hatte, beabsichtigte sie keineswegs, ihn nicht auszuprobieren.
Sie schaltete den Laptop aus, nahm den Notenständer, den Geigenkasten und ihre Noten und trug alles nach unten.