Otto Schenk

»Ich kann’s nicht lassen«

Otto Schenk

»Ich kann’s nicht lassen«

Rührendes und Gerührtes

Mit einer Laudatio von Michael Niavarani
sowie 87 Abbildungen und
Verzeichnissen der Theaterrollen
und der Regiearbeiten für Schauspiel,
Oper und Operette

Bildnachweis

Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn (Seite 2, 78, 79, 85), Archiv Theater in der Josefstadt/Ernst Hausknost (1, 4, 14, 15, 16, 17, 18), Archiv Otto Schenk (2, 7, 8, 13, 23, 38, 59), Archiv Otto Schenk/Sabine Toepffer (3), Archiv der Salzburger Festspiele/Foto Harry Weber (5, 46, 82), Archiv Theater in der Josefstadt (6, 42, 54, 56, 58), IMAGNO/Theatermuseum (9, 11, 12, 19, 21, 22, 24, 27, 30, 31, 32, 37, 39, 41, 44, 51, 52, 84), Archiv Otto Schenk/Foto Schulda-Müller (10), IMAGNO/Barbara Pflaum (20, 25, 26), Wiener Staatsoper GmbH (28), Ulla Kaatsch (29), Volksoper Wien (33), Copyright Deutsches Theatermuseum München, Archiv Ilse Buhs (34, 35), Deutsches Theatermuseum München/Archiv Rudolf Betz (36), Archiv der Salzburger Festspiele/Foto Heinz Hosch (40), Hamburgische Staatsoper/Helga Kneidl (43), Archiv der Salzburger Festspiele/Foto Oskar Anrather (45), Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf/Fred Kliché (47), Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf/Rudolf Eimke (48, 50), Hamburgische Staatsoper/Joachim Thode (49), Wiener Staatsoper GmbH/Axel Zeininger (53), Victor Mory (55), Archiv Theater in der Josefstadt/Margit Münster (57, 62, 64), Reinhard Werner (60), Archiv Theater in der Josefstadt/Moritz Schell (61, 63, 65, 66, 68, 70, 71, 72, 73, 74), Archiv Theater in der Josefstadt/Johannes Ifkovits (67), Archiv Theater in der Josefstadt/Sepp Gallauer (69, 75, 76), Archiv Theater in der Josefstadt/Rita Newman (77), Archiv Theater in der Josefstadt/Erich Reismann (80, 81), Jan Frankl (Seite 238), Archiv der Salzburger Festspiele/Foto Winfried Rabanus (83)

Der Verlag hat alle Rechte abgeklärt. Konnten in einzelnen Fällen die Rechteinhaber der reproduzierten Bilder nicht ausfindig gemacht werden, bitten wir, dem Verlag bestehende Ansprüche zu melden.

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© 2016 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Inhalt

Vorwort

Briefe

Kindergarten

Verluste

Aufklärung

Mandel-OP

Bettnässer

Hochzeit

Kreuzworträtsel

Die Mutti

Tiere

Flüggewerden

Reisen

Reiseunlust

Wien

Straßenbahn

Lieblingsessen

Frühstück

Gemütlichkeit

Bewunderung

Für wen Maler malen

Ungesammeltes

Pantoffelheld

Das absolute Gehör

Musikhören

Details

Hals-Nasen-Ohren-Sänger

»Carmen«

Das Märchen in der Oper

Barockopern

Direktor/Regisseur

Türln

Stehplatzpublikum

Meinungen

Philosophie

Astronomie

Buddhismus

Jüdische Begriffe

Furtwängler

Zote

Volksmund

Stilblüten

Helfer

Reden

Erzbischof

Pointen

Der kleine Franzi spielt Eisenbahn

Kammerspiele

Helmuth Lohner

Kein Drama ohne Schwächen

Lachen und Weinen

Hund und Katze

Warum ich als Zuschauer selten lache

Gipfel

Lehrtätigkeit

Bühnenkampf

Fantasie

Kostüm

Stanislawski

Shakespeare

Goldoni

Natürlich und selbstverständlich

Petitionen

Gänsehaut

Das Zucken ins Ehemalige

Unterhaltung

Wirkungskobold

Für die schwerhörige Tante

ORF

Fernseher

»Tatort«

Fernsehsendung und Eislaufen

Unter- und Übertitel

Beim Fotografen

Orden

Popularität

Ott-Syndrom

Neuerungen

Verpackungen

Vergesslichkeit

Kobolde

Unarten

Überraschungen

Tempo

Uhren

Einsamkeit

Konzentration

»Zu blöd um alt zu sein«

Insulares Auftreten

Publika (Mehrzahl von Publikum)

Komplimente

Das ist der berühmte Fragebogen von Marcel Proust

Michael Niavarani

Laudatio Otto Schenk

Verzeichnis der Theaterrollen sowie der Regiearbeiten für Schauspiel, Oper und Operette

Vorwort

Man glaubt, das Rührende und das Gerührte sind Gegensätze, aber zumindest am Theater gibt es nichts Rührendes, das nicht gerührt wurde. Wenn wir dem Wort genau auf der Spur sind, ist das gerührte Rührende sogar etwas Magisches. Es hat etwas von einer Hexenküche, von einem Wunder. Was rührt man denn? Wozu rührt man? Und aus was rührt man Gerührtes?

Eine Mixtur ist alles, was man rührt, und eine Mixtur ist alles, was am Theater rührt. Es kommt natürlich auf die Ingredienzien an, auf die Zutaten, auf das Prisengefühl des Rührers, der diesen seltsamen, duftenden Brei von Wirklichkeit und Fantasie und Atmosphäre und Verzweiflung und Humor zusammenstellt. Durch eine Prise Unlust, eine Prise falschen Würzens, ein übertriebenes Gemisch, das man untermischt in den gerührten Brei, wird die Götterspeise zur unverträglichen Geschmacklosigkeit, wird sie zu unverträglichem Quark erstarren. Rühren muss man können. Es bedarf einer fast gesegneten Hand, so zu rühren, dass das Gerührte rührt.

Mein innerer Widerstand, etwas Formuliertes von mir zu geben, ist eine Alterserscheinung, die ich nicht unbekämpft verstreichen lassen will. Ich habe, wie schon oft gesagt, erst sehr spät eine Formuliersucht in mir entdeckt, die zum Druck drängt. Es ist verdächtig, wie das Reden darüber schon einen geradezu fäkalen Anstrich bekommt. Druck, Hartleibigkeit, Verstopfung könnte man auch noch amikal dazuordnen.

Aber diese Schwierigkeit, etwas sagen zu wollen und nicht gleich zu können, erzeugt Hemmungen und zugleich Lust, diese Hemmungen zu überwinden. Ein Verstopfter will die Erlösung. Die Erlösung, wenn sie passiert, macht aus ihm einen anderen Menschen. Im Schwank kommt Armin Berg von der Toilette zurück zum Tisch, strahlend über das ganze Gesicht, und setzt sich zum Kartenspiel mit den Worten: »Man ist ein anderer Mensch.«

Das geschieht auch, wenn einen plötzlich ein Einfall formulierfreudig umfängt und man deutsche Sätze loswird, wie man sie in der Schule, in der Grammatik, am Theater, in der Konversation, im Leben benützt hat, die einem dann beim Durchlesen fast wie von einem anderen Stern geschenkt wirken. Da entsteht etwas, was man bei aller Schwierigkeit und Verklemmtheit nicht lassen kann. Man muss einfach von Zeit zu Zeit etwas loswerden. Man ist ein anderer Mensch, wenn man’s loswird.

Wenn man sagt, ich kann’s nicht lassen, meint man ja nicht, ich tu’s gern. Man meint ja nicht, ich tu’s zwangsläufig. Man meint, es hat etwas über einen Gewalt ergriffen und ob man will oder nicht, es geht nicht mehr anders. Man muss loswerden, was in einem schwelt, und je älter man wird, desto mehr schwelt in einem.

Und wahrscheinlich ist meine Sucht, zu formulieren und loszuwerden, was in mir so wuchert, eine Alterserscheinung und zwar die Alterserscheinung eines Menschen, der nicht mehr lange Zeit hat zu sagen, was er zu sagen hat, und der wahrscheinlich keine großen Rollen mehr in Hülle und Fülle zu spielen bekommt, bekommen kann, der keine große Inszenierung mehr machen will. Und was bleibt übrig? Lesen. Vorlesen. Schreiben. Und Formulieren. Formulieren ist Schreiben und Lesen zugleich. Vorlesen ist Formuliertes wiedergeben. So wiedergeben, wie es der Dichter meint und der Halbmüde unten verstehen kann. Oft auch der Schwerhörige. Nur wenn man die Schwerhörigen gewinnt, hat man gewonnen am Theater, am Pult und beim Buchschreiben.

Mein Theaterleben in Bildern …

1–6 Maskenspiele: Von Frosch über Gluthammer bis Volpone

7/8 Theater am Parkring 1952: Mit Luzi Neudecker in »Ein Strich geht durchs Zimmer« von Valentin Katajew (oben) und mit Robert Werner und Helmut Qualtinger in »Broadwaymelodie« von Jura Soyfer

9–11 Volkstheater 1953: Mit Maria Gabler in »Das Haus der Temperamente« von Johann Nestroy (links), mit Hilde Sochor in »Der gestrige Tag« von Georg Hutter (rechts) und als Schmock mit Theodor Grieg in »Die Journalisten« von Gustav Freytag

12–14 Oben: Als Edmund mit Otto Woegerer (Kent) in »König Lear« von William Shakespeare (links) und als Spineto in »Androklus und der Löwe« von George Bernard Shaw, Volkstheater 1953. Unten: Mit Maria Emo in »Der Heiratsantrag« von Anton Tschechow, Theater in der Josefstadt 1960

Briefe

Die längste Epoche meines Lebens war die, in der ich nicht geschrieben habe. Dabei wollte ich Dichter werden. Aber als ich zum Theater ging, hat das Theatertalent wie eine Krake jede Formulierfreude schriftlicher Art aufgefressen. Ich war plötzlich eine Art Analphabet, was das Schreiben betrifft. Gelesen habe ich weiterhin begeistert, aber eklektisch, immer nur hineinfahrend in ein Werk und es wieder wegschleudernd. Als ich Direktor der »Josefstadt« wurde, war ich verpflichtet, Briefe zu schreiben, und da war die Frau Khek diejenige, die mir die Briefe abverlangt hat. Das heißt, ich musste widerwillig – wie ich alles tue – dem Direktor von Sowieso erklären, warum er schlechte Sitze bekommen hat. Und dabei entdeckte ich in mir eine Sucht, Briefe nicht direkt zu schreiben, sondern in jeden Brief etwas Besonderes einzupacken. Wenn ich einer Polizeidirektion eine Strafe bestätigt habe, dann habe ich mich bemüht, es nicht im Polizeijargon zu schreiben, sondern: »Ich armer Tölpel bin wieder einmal in eine Falle getappt und bitte um Entschuldigung.« Ich bin drauf gekommen, dass mit einem persönlichen Satz ein offizielles Schreiben nicht gerade im Herzen, aber wenigstens in der Erinnerung dessen landet, der sonst die hunderttausend Briefe, die er jeden Tag bekommt, sofort weitergibt. »Das ist der, der geschrieben hat«, sagt er dann meistens im Dialekt oder in Hochdeutsch, je nachdem.

Und daraus sind sieben Bände von Briefen, eine Uransammlung von Briefen, entstanden, die mir die Frau Khek und meine Mitarbeiter haben binden lassen. Mein Agent Herbert Fechter hat dann gefunden: »Das muss man veröffentlichen!«, und so wurde die Erinnerung an meine Epoche im Theater in der Josefstadt satirisch festgehalten. Wenn man diese Briefe liest, weiß man, wie unüblich ich dieses Theater geführt habe und wie ich versucht habe, nicht Direktor zu sein, sondern mit allen Menschen auf gleicher Höhe zu stehen.

Das geht vom Dank für die Vanillekipferl bis zu den traurigen Briefen, wenn zum Beispiel mein Freund Kurt Sowinetz gestorben ist. Die Briefe spielen alle Farben.

Dann ist die Frau Sinhuber gekommen und hat gemeint, ich habe ein Talent zu formulieren. Zu schreiben weiß ich ja gar nicht, geschrieben habe ich ja keine Zeile. Ich habe ja alles anfallsmäßig vor mich hin diktiert, so wie heute. Und mit dem Abschied vom Theater, der ja bevorsteht oder in meiner heutigen Epoche schon schwelt, ist eine Schreiberepoche aufgebrochen, eine spärliche – bis jetzt ein Buch pro Jahr –, wahrscheinlich wird das aber auch aufhören. Ich habe immer die größten Sorgen, dass mir nichts mehr einfällt, was ja auch der Fall ist.

Man muss mir so alles entlocken, und wenn nichts mehr da ist, kann man nichts mehr entlocken.

Ich habe mich immer geweigert, eine Biografie zu schreiben, weil ich mein Leben als Ganzes als langweilig empfinde und nur Momente, sporadische Explosionen, gerne schildere und nicht das Fade, das dazwischen liegt. Jahreszahlen waren mir schon im Geschichtsunterricht ein Gräuel. Ich bin da sehr großzügig mit Epochen herumgesprungen, manchmal auch mit großem Erfolg. Es gibt große Schriftsteller oder Philosophen, Oswald Spengler zum Beispiel, die das auch tun. Der ist plötzlich in China und plötzlich in Indien und vergleicht Mohammed mit weiß Gott wem, und die sind tausend Jahre auseinander, und er hupft herum, wenn auch sehr gebildet. Das kann ich nicht, aber ich bin unbedenklich mit Jahreszahlen umgegangen. Für mich ist manches neulich, das zwanzig Jahre zurückliegt, und manches, das ich vorgestern gesehen habe, ist bereits vergessen. Ich bin jetzt nicht mehr fähig, mir Theaterabende zu merken. Das kann aber auch an den Theaterabenden liegen und nicht nur an mir, denn ich habe mir ein paar neue Theaterabende in der Oper und auch im Theater sehr wohl gemerkt. Zum Beispiel von Patrice Chéreau »Aus einem Totenhaus« von Leoš Janáček, was ich für eine großartige Operninszenierung halte.

Kindergarten

Ich kann mich noch an meinen ersten Besuch im Kindergarten erinnern. Mir war alles am Kindergarten peinlich. Schon die Art, wie die Teta, so hieß die »Tante« damals, mit mir sprach. Sie sprach wie zu einem Kind, und das wollte ich wirklich nicht mehr sein. Die Spiele waren von unendlicher Läppischkeit. Ich war ja schon mit der Sehnsucht nach Märklin-Eisenbahnen ausgestattet, zu der es finanziell bei uns aber nicht reichte. Auch eine Dampfmaschine hätte mich eventuell fasziniert. Aber die von Urpädagogen konstruierten Holzpflöcke, Staberln, vertrottelten Eisenbahnen, denen meist ein Radl fehlte, Ringerln zum Werfen oder zu sonst was haben meine Fantasie nicht belebt. Dass wir uns an der Hand fassen mussten und im Kreis herumgeführt wurden und dazu auf besonders unnatürliche Art unsinnige Verserln herunterratschen sollten, war für mein frühes Theaterempfinden zu konventionell und einfach nur idiotisch. Das einzige interessante Gespräch mit einem mir sympathischen Burschen konnte nicht zu Ende geführt werden, weil immer wieder ein Vorschlag zu einer sinnlosen Beschäftigung unser vernünftiges Blödeln unterbrach.

Auf mein Flehen, mich nie wieder in so einen Zirkus zu schicken, sind meine Eltern Gott sei Dank eingegangen, und ich konnte mich wieder gemeinsam mit meiner geliebten Nonna ernsteren Spielen widmen.

Verluste

Der Osterhase war der Erste, der dran glauben musste, schon weil mir als vierjähriger Bub die Sucherei furchtbar auf die Nerven gegangen ist und ich auch nicht wusste, was ich mit den vielen gekochten Eiern anfangen sollte. Spielzeug ist ja damals noch wenig versteckt worden und wenn, dann auch fast nie das richtige. Ich kann mich auch nicht an andere Verstecke als unter Polstern erinnern und fand es eigentlich unzumutbar, dass ich so lange gewisse Zimmer nicht betreten durfte, und unhöflich vom Osterhasen, der ja nichts Heiliges hatte wie das Christkind, dass man ihn nie zu Gesicht bekommen hat. Auch seine Größe konnte ich mir nicht vorstellen. Und gewohnt, dass Hendln Eier legen, denen ich manchmal sogar dabei zuschauen konnte durch meine Großmutter, die eine Hendlfreundin war, konnte ich mir das Produzieren von Eiern bei einem Hasen nicht vorstellen. Und auch nicht, wie so ein Hase in die Wohnung kommt und Eier versteckt und wie er unter die Polster greifen kann. Das Technische des Osterhasen-Mythos war mir sehr früh dubios und als ich endlich meinen Vater beim Eierlegen erwischte, wusste ich, wo der Hase läuft.

Ostern war auch ein geschenkarmes Fest und wurde feiermäßig relativ bald geschwänzt. Ich kann mich nur an ein paar Auferstehungsritualmessen erinnern, die damals noch nachmittags stattfanden.

Mein Glaube an das Christkind hielt sich etwas länger, und der Abschied vom Christkind war wehmütig. Ich war eigentlich froh, dass ich den Osterhasen los war, aber an das Christkind glaubte ich lieber, vor allem wegen des Weihnachtsbaums. Der Weihnachtsbaum ist für mich heute noch unerlässlich. Er ist ja nicht einmal ein christliches Symbol, sondern kommt von heidnischen Bräuchen. Das war mir aber nie bewusst. Der Christbaum, so glaubte ich, war immer vom Christkind durchs Fenster hereingebracht worden, und ich habe lange an das Christkind glauben wollen, es sogar irgendwie persönlich gern gehabt, und als es sich aus meinem Glauben verabschiedet hatte, stand ich ein bisschen blöd da.

Das blödeste Symbol ist wohl der Klapperstorch. Da fällt mir ein Witz ein:

In einem jüdischen Haushalt erwartet die Familie Nachwuchs.

Als es fast so weit ist, fragt der Vater den kleinen Moritz:

»Der Klapperstorch wird dir bald a Geschwisterchen bringen. Was wünschst du dir? A Buberl oder a Mäderl?«

Drauf Moritzl: »Wenn’s die Mama nicht zu sehr strapaziert, hätte ich lieber ein Schaukelpferd.«

Der kleine Moritz konnte nicht mehr daran glauben, dass der Klapperstorch irgendwas zu bringen hat, wenn er das Baucherl der Mutter wachsen sah.

Dass der Klapperstorch die Kinder aus Afrika bringen soll, hat einen wahren Kern, denn die Menschheit stammt ja ursprünglich aus Afrika, wie man heute zu wissen glaubt.

Nikolaus und Krampus wurde ich Gott sei Dank bald los, vor allem den Krampus. Meine Nonna hat mir sehr früh meine Angst genommen, indem sie mir die Krampus-Lüge erklärt hat.

Wie ich, glaube ich, schon erzählt habe, bin ich das Gespenst des Todes deshalb nicht losgeworden, weil meine Mutter mir auf die Fragen »Gibt’s das Christkind?«, »Gibt’s den Osterhasen?«, »Gibt’s den Nikolaus?«, »Gibt’s den Krampus?« immer gesagt hat:

»Nein, keine Angst, die gibt’s alle nicht.«

Aber auf meine Frage:

»Und gibt’s den Tod?«, meinte sie:

»Ja natürlich, den gibt’s.«

Darauf hatte ich beim Arzt oder im Museum vor dem Skelett, das ich mit dem Tod identisch fühlte, ständig Angst. Bei jedem leuchtenden Kürbis ging es mir eiskalt über den Rücken. Und die Angst vor diesem Gespenst ist mir eigentlich nie ganz vergangen.

Ich verstehe den Tod einfach nicht. Der Mensch ist nicht zum Sterben konzipiert. Der Mensch hat etwas Ewiges in sich. Schon das Kind will ewig leben. Und so schrecklich ewiges Leben wäre, wir kokettieren alle ein bisschen mit der Ewigkeit. Und das Ende bewältigen wir nicht, vor allem das Ende der Anderen, der Umgebung nicht, der Freunde, der Eltern.

Das eigene Ende ist noch ein Honiglecken dagegen. Und wie schon Rilke sagt: Wenn es wenigstens ein eigener Tod wäre, den man stirbt, aber die vielen aufgezwungenen Tode, die vielen läppischen Tode, die vielen Unglücke, sind gefühlsmäßig nicht zu bewältigen. Da hat der Mensch dann die Begriffe Schicksal und Jenseits erfunden und versucht etwas linkisch mit diesen Begriffen umzugehen.

Aufklärung

Nach dem Krieg, als die Schule sich sehr bemühte, wieder offen und modern zu sein, hielt unsere Schule es für wichtig, uns eine Aufklärungsstunde sexueller oder erotischer Art zu bieten. Es war ein bisschen verspätet für uns, denn mein Freund Rudolf Melichar hatte schon eine uneheliche Tochter, und in unsere Hosentaschen hatten sich schon die ersten Präservative eingeschlichen. Aber höflich wie wir waren, wohlerzogene Buben, saßen wir alle bereit. Es kam ein soignierter Herr in einem schlichten grauen Anzug und begann, etwas speichelarm möchte ich fast sagen, nicht unverlegen, aufs Natürliche Wert legend, zu sprechen:

»Meine lieben jungen Freunde, es gibt«, da stockte er ein bisschen, »den Hahn und die Henne, den Bock und die Geiß, die Kuh und den Stier, die Hündin und den Rüden«, kleine Pause, »und es gibt den Mann und die Frau.«

Darauf rief mein Freund Rudi Melichar ganz laut: »Und es gibt das Pudern!«

Damit war der Reiz der Aufklärung dahin.

Bei uns in der Familie ging das so vonstatten. Ich nahm meinen vierjährigen Sohn Konstantin beiseite, was schon schwierig war, denn er ließ sich nicht gerne beiseite nehmen, und begann stockend:

»Koki, ich will dir jetzt erklären, wie du auf die Welt gekommen bist. Der Papa und die Mama waren nebeneinander … Der Papa hatte, also nahm, wie soll ich sagen, hat versucht, die Mama von, weißt du, wir waren zusammen und weil wir zusammen waren, da, das heißt ganz zusammen … Verstehst du? Ich hatte in der Hand, nein, von selber also …«

Darauf unterbrach mich Konstantin:

»Papa, darf ich wieder spielen gehen?«

Ich ließ ein paar Jahre verstreichen. Vier war vielleicht zu früh. Und das war der zweite Anlauf meiner Aufklärung.

»Konstantin«, begann ich, als wir einmal allein waren, »ich möchte dir jetzt erklären, wie du auf die Welt gekommen bist.«

»Warum?«, fragte er.

»Ich finde, du solltest es wissen.«

»Wenn du glaubst.«

»Dein Vater und deine Mutter«, ich vermied absichtlich »Papa und Mama«, um den Erwachsenen herauszukehren, »haben sich vereint. Er nahm das, was also zwischen den Beinen ist bei einem Mann …«

Sagt er:

»Ja ich weiß, der Penis! Und dann habt ihr geschnackselt.«

Da wurde ich etwas rot und begann von etwas anderem zu reden.

Wer ihn wirklich aufgeklärt hat, möchte ich bis heute gerne wissen.

Mandel-OP

In einer Zeit, als es Mode war, allen Kindern die Mandeln wegzuoperieren, bin ich auch unters Messer geraten. Es wurde damals ohne Narkose operiert, weil man der Ansicht war, dass der Patient zu viel Blut schlucken könnte. Die Lokalanästhesie war noch nicht am Höhepunkt ihrer Meisterschaft angelangt, und so spürte man erstaunlich viel von den Klammern, die man einem in den Hals zwickte. Mit langen Stielen waren die und ragten aus dem Mund. Der war aufgesperrt durch eine seltsame Vorrichtung, und nur durch ständiges Recken konnte man ein paar Sekunden der Ruhe erzielen.

Die Sache ging dann irgendwie vorüber, und ich wurde in ein Solozimmer zur Beruhigung gelegt. Das war in der Nachkriegszeit, wo jedes Essen ein kleines Fest war und man sich von Buttersemmel zu Buttersemmel, wenn es überhaupt Butter gab, gesehnt hat. Ich lag also ziemlich benebelt in meinem Bett, es öffnete sich die Tür, und eine Schwester schwebte herein, die mich nicht stören wollte, und stellte ein Tablett mit einer Schinkensemmel auf mein Krankenhausnachttischchen. Ich sah auf diese Semmel mit zwiespältigem Gefühl. Nach einer Operation so eine Semmel zu bewältigen, war schier unmöglich. Aber Schinkensemmel! Schinkensemmel! Es war ein Traum. Es konnte gar nicht Wirklichkeit sein. Ich tappte nach dieser Schinkensemmel und quälte sie mir über die blutigen Mandeln hinweg. Fast hätte ich geschrien bei jedem Bissen herunter.

Dann kam die aufgeregte Schwester herein und fragte:

»Bitte, wo ist die Schinkensemmel, die ich hereingebracht habe?«

Ich lallte nur mit Tränen in den Augen:

»Gegessen.«

»Um Gottes willen, die war doch nicht für Sie bestimmt«, sagte sie.

Ich konnte nicht mehr antworten, weil ich einer Ohnmacht nahe war.

Dieselbe Schwester sagte dann:

»Sie müssen unbedingt Stuhl haben, weil Sie Blut geschluckt haben.« – Ich war nicht fähig zu antworten. – Sie legte mir ein in Stanniol gewickeltes Zäpfchen hin. »Dieses Zäpfchen müssen Sie einschieben, möglichst lange durchhalten und wenn es gar nicht mehr geht, gehen Sie aufs Klo und entleeren sich.«

Ich nickte stumm vor mich hin. Als ich mich etwas beruhigt hatte, schob ich das Zäpfchen ein. Ich wartete. Der Drang wurde immer stärker, fast unerträglich. Und obwohl ich schwach war, dachte ich: Jetzt muss es sein. Ich schleppte mich, mit letzter Kraft zurückhaltend, was sich herausdrängte, ging aufs Klo, es machte »Blubb« und das Zäpfchen lag in der Muschel. Allerdings noch in Stanniol gewickelt.

15 Mit Susi Nicoletti in »Moral« von Ludwig Thoma, Kammerspiele …

16 …und mit Franz Messner in »Die Nashörner« von Eugène Ionesco, Theater in der Josefstadt, beide 1960

17/18 Theater in der Josefstadt 1962 und 1969: Als Wladimir mit Leon Askin und Franz Messner in »Warten auf Godot« von Samuel Beckett (oben) und mit Renee Michaelis in »Herzliches Beileid« von Georges Feydeau

19/20 Wiener Staatsoper 1965 und 1966, Regie: »The Rake’s Progress« von Igor Strawinsky mit Anneliese Rothenberger, Waldemar Kmentt, Eberhard Waechter, Frederick Guthrie (oben) und »Carmen« von Georges Bizet mit Christa Ludwig und Giuseppe di Stefano (Hauptprobenfoto)

21 Wiener Staatsoper, Regie: »Don Giovanni« von Wolfgang Amadeus Mozart mit Cesare Siepi und Graziella Sciutti, 1967 …

22 … und 1968 »Lulu« von Alban Berg mit Anja Silja und Hans Hotter als Schigolch

Bettnässer

Im Krieg war ich als Zwölf- bis Vierzehnjähriger in meinen Ferien in einem geliebten Kinderheim am Semmering. Wir wurden dort relativ streng erzogen, aber liebevoll gehalten, und bei irgendeiner Strafe, ich weiß nicht, was ich angestellt hatte, wurde ich strafweise ins Zimmer der beiden Bettnässer zur Nächtigung verdammt. Das waren sehr liebe, gescheite Buben und ihr Vergehen wurde mehr oder weniger als Krankheit toleriert. Der etwas säuerliche Geruch im Zimmer hat mich beim Einschlafen nicht gestört.

In der Früh erwachte ich durch ein lebhaftes Gespräch der beiden Bettnässer, die sich darüber unterhielten, ob sie die Toilette aufsuchen sollten, die weit jenseits des nicht geheizten Ganges lag. Nach einiger Überlegung sagte der eine ein erlösendes »A was« und sie beschlossen, die erlaubte Notdurft in ihren Betten zu entrichten.

Eine andere Bettnässer-Geschichte erzählte mir mein Freund Peter Weck, der bei den Sängerknaben war. Da gab es einen Sängerknaben, der als Bettnässer geführt wurde, und daher war sein Bett am Gang untergebracht. Am Gang neben der Toilette, die auch sehr weit in der Nähe des Gartens und mühselig zu erreichen war, besonders im Winter. Angeblich hatte der Knabe als kleines Nebengeschäft eingerichtet, dass die vorbeigehenden Sängerknaben, die den weiten Weg scheuten, gegen ein kleines Entgelt ihm ins Bett machen durften. Ich weiß nicht, ob die Geschichte wahr ist.

Wie hoch der Betrag war, hat mir Peter Weck allerdings nicht mehr sagen können. Ich bin überzeugt, dass er selbst, wie ich ihn kenne, energisch den weiten Weg zur kalten Toilette geschritten ist.

Hochzeit

Renee und ich haben schnell geheiratet, aber nicht heiraten müssen, weil etwa meine Frau schwanger gewesen wäre. Die Hochzeitsreise haben wir im Voraus begangen nach meinem geliebten Triest und dort gestanden wir meinen Tanten, dass wir heiraten werden. Ein italienischer Jubel unfassbarer Lautstärke brach aus. Meine Frau wurde fast zu Tode geküsst. Ich konnte mich noch retten. Es gab unbeschreibliche Scampi, Cannelloni, seltsame Muscheln, alles Getier des Meeres, das wir so liebten bei meiner Tante Ise und Tante Etta. Sie hießen Ines und Antonietta, aber für mich waren sie Ise und Etta. Meine Schwester hatte sie so getauft als Kleinkind.

Meine Eltern wussten noch nichts von unserem Unternehmen. Ich kam also in Wien an und habe zu meinem Vater gesagt: »Papa, morgen heiraten wir.«

»Bist du deppert?«, war seine spontane Antwort. »Wie kannst du heiraten, wenn du deine Frau nicht erhalten kannst? Willst du zum armen Schlucker werden?«