DIE KRAFT
DES MITGEFÜHLS STÄRKEN
Mit einem Nachwort von
Khyongla Rato und Richard Gere
Aus dem Englischen
von Michael Wallossek
Die amerikanische Originalausgabe
An Open Heart – Practicing Compassion in Everyday Life
ist 2001 erschienen bei Little, Brown and Company, USA
Copyright © 2001 Seine Heiligkeit der Dalai Lama
Copyright des Vorwortes © 2001 Nicholas Vreeland
Copyright des Nachwortes © 2001 Khyongla Rato und Richard Gere
Copyright der deutschen Ausgabe © 2002, 2017
Theseus in J. Kamphausen Mediengruppe GmbH, Bielefeld
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Michael Wallossek
Lektorat: Doris Wolter
Coverdesign: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld, mbedesign.de
Innensatz: Sabine Schiche, ad department
E-Book Gesamtherstellung: Bookwire GmbH, Frankfurt a. M.
ISBN Printausgabe: 978-3-95883-061-5
ISBN E-Book: 978-3-95883-062-2
www.weltinnenraum.de
1. Auflage der Neuausgabe 2017
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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INHALT
VORWORT
VON NICHOLAS VREELAND
EINFÜHRUNG
CENTRAL PARK, NEW YORK, 15. AUGUST 1999
KAPITEL 1
DAS VERLANGEN NACH GLÜCK
KAPITEL 2
MEDITATION – EIN ANFANG
KAPITEL 3
DIE MATERIELLE UND DIE IMMATERIELLE WELT
KAPITEL 4
KARMA
KAPITEL 5
DIE GEISTESTRÜBUNGEN
KAPITEL 6
DAS WEITE UND DAS TIEFGRÜNDIGE: ZWEI ASPEKTE DES WEGES
KAPITEL 7
MITGEFÜHL
KAPITEL 8
ÜBER MITGEFÜHL MEDITIEREN
KAPITEL 9
UNVOREINGENOMMENEN GLEICHMUT ENTWICKELN
KAPITEL 10
BODHICHITTA
KAPITEL 11
RUHIGES VERWEILEN
KAPITEL 12
DIE NEUN STUFEN IN DER MEDITATION DES RUHIGEN VERWEILENS
KAPITEL 13
WEISHEIT
KAPITEL 14
BUDDHASCHAFT
KAPITEL 15
BODHICHITTA HERVORBRINGEN
NACHWORT
VON KHYONGLA RATO UND RICHARD GERE
Als Mitgefühl bezeichnet man im Buddhismus den Wunsch, dass sämtliche Wesen von Leid frei sein mögen. Doch leider liegt es nicht in unserer Macht, die ganze Welt von ihrem Leid zu befreien. Darin kann also unsere Aufgabe nicht bestehen. Ebensowenig gibt es einen Zauberstab, mit dessen Hilfe sich schmerzliche Erfahrungen in Glück verwandeln ließen. Allerdings können wir die positiven Eigenschaften des eigenen Geistes weiterentwickeln und dadurch anderen helfen, dies ebenfalls zu tun.
Im August 1999 kam Seine Heiligkeit der Dalai Lama auf Einladung des Tibet Center und der Gere Foundation zu einer Vortragsreihe nach New York. Aus diesen Vorträgen wurde Mit weitem Herzen – Die Kraft des Mitgefühls stärken zusammengestellt. Auf den folgenden Seiten zeigt Seine Heiligkeit der Dalai Lama, wie wir unser Herz öffnen und für alle Wesen Mitgefühl entwickeln können, das Bestand hat.
Das gesamte Leben Seiner Heiligkeit zeugt davon, welche Kraft in der Offenherzigkeit liegt. Die spirituelle Ausbildung Seiner Heiligkeit begann, als er noch ein Kind war. Nachdem er im Alter von zwei Jahren als Wiedergeburt des Dreizehnten Dalai Lama anerkannt worden war, brachte man ihn aus seiner Heimat im Nordosten Tibets in die Hauptstadt Lhasa. Bereits als 16-jähriger übernahm er die politische Verantwortung für sein Land, und durch den brutalen Überfall der rotchinesischen Armee auf Tibet wurden seine von Gewaltlosigkeit und Toleranz getragenen Überzeugungen unweigerlich härtesten Prüfungen unterzogen. Er tat sein Möglichstes, um das tibetische Volk zu schützen und den chinesischen Aggressoren Einhalt zu gebieten. Zugleich setzte er seine Studien fort und übte sich in der Praxis des buddhistischen Weges zur Erleuchtung.
Als die Streitkräfte des kommunisitschen Chinas 1959 seinen Sommerpalast unter Granatbeschuss nahmen, musste der 24-jährige Dalai Lama seine Heimat verlassen. Mehr als 100000 Tibeter folgten ihm im Laufe der Zeit. Die nun in Indien und in vielen anderen Ländern der Welt lebenden Exil. Tibeter führen einen bemerkenswerten – gewaltlosen – »Feldzug« für ein freies Tibet. Seine Heiligkeit der Dalai Lama hat seither seinen Wohnsitz in der kleinen, in die Ausläufer des Himalaya eingebetteten nordindischen Stadt Dharamsala.
Dort stellte er bereits Anfang der sechziger Jahre sicher, dass die politische Interessenvertretung seines Volkes in die Hände einer demokratisch gewählten Exil-Regierung überging – die Vertretung der Interessen seiner noch in Tibet verbliebenen Landsleute, einer großen Anzahl von Tibetern, die in Flüchtlingssiedlungen auf indischem Boden leben, wie auch derjenigen, die in anderen Ländern eine Bleibe gefunden haben. Seine Heiligkeit hat keinen Aufwand gescheut, wenn es darum ging, alle Aspekte der tibetischen Kultur zu bewahren. Aber im Mittelpunkt seiner Bemühungen steht die Bewahrung der spirituellen Überlieferungen Tibets, da Spiritualität und Kultur in Tibet untrennbar verbunden waren. Die eigene Praxis – Studium, Kontemplation und Meditation – hat er stetig fortgeführt und Menschen in aller Welt unermüdlich den buddhistischen Weg zur Erleuchtung erläutert. Mit aller Energie hat er sich dem neuerlichen Aufbau von Klöstern für Mönche und Nonnen gewidmet, damit diese wieder dem Studium und der Praxis in ihrer traditionellen Form nachgehen und die von Buddha Shakyamuni, dem Begründer des Buddhismus, dargelegten Einsichten lebendig halten können.
Mit der Entstehungsgeschichte des Buddhismus werden viele Leserinnen und Leser bereits vertraut sein: Rund fünfhundert Jahre vor Christi Geburt führte Prinz Shakyamuni ein privilegiertes Dasein im Königreich seines Vaters (auf dem Territorium des heutigen Nepals). Doch schon in jungen Jahren erkannte Shakyamuni, dass sein Leben inmitten all des Wohlstands banal und bedeutungslos blieb. Der Anblick von Alter, Krankheit und Tod bei seinen Mitmenschen versetzte ihn in die Lage, hinter die trügerische Fassade von Wohlstand und irdischem Glück zu blicken. Eines Nachts verließ der – erst unlängst vermählte – Prinz seinen Palast, seine Gemahlin und seinen kleinen Sohn, schnitt mit dem Schwert sein Haar ab und machte sich auf den Weg, ein Leben in den Wäldern zu führen. Dort wollte er versuchen, Freiheit vom weltlichen Dasein und den – wie ihm jetzt klar geworden war – mit solch einem Dasein unauflöslich verbundenen leidvollen Erfahrungen zu erlangen.
Bald darauf begegnete dieser junge Mann fünf Asketen. Gemeinsam verbrachten sie viele Jahre mit strikter Meditationspraxis, und sie nahmen vielerlei Entbehrungen auf sich. Irgendwann wurde ihm jedoch klar, dass ihn all die Askese seinem Ziel – jener Weisheit und Erleuchtung, die er erreichen wollte – keinen Schritt näher brachte. Daraufhin verließ er seine Gefährten, und nachdem er mit ihrer rigiden Lebensführung gebrochen hatte, beschloss er, sich nun allein der Suche nach letztgültiger Wahrheit zu widmen. Er setzte sich unter den Bodhi-Baum und gelobte, erst dann wieder von dort fortzugehen, wenn ihm höchste Verwirklichung zuteil geworden sei. Mit großer Beharrlichkeit gelangte er an dieses Ziel: Durch Einsicht in die tatsächliche Seinsweise sämtlicher Phänomene erreichte Prinz Shakyamuni den vollkommen erleuchteten und allwissenden Zustand eines Buddha.
Buddha Shakyamuni verharrte nun nicht länger in Meditation, sondern zog zu Fuß durch Nordindien. Dabei begegnete er schließlich auch seinen fünf asketischen Gefährten von einst. Diese waren zunächst fest entschlossen, ihm keinerlei Beachtung zu schenken, da er sich ihrer Meinung nach vom wahren spirituellen Weg abgekehrt hatte. Die Ausstrahlung dieses erleuchteten Wesens berührte sie jedoch derart, dass sie den Buddha schließlich inständig baten, ihnen mitzuteilen, was er herausgefunden habe.
Daraufhin legte der Buddha die Vier Edlen Wahrheiten dar: die Wahrheit von der leidvollen Natur des bedingten Daseins, vom Ursprung des Leids, der Möglichkeit seines Aufhörens und dem Weg zu jenem Zustand, in dem man nicht mehr leidet. Der Buddha hat uns also die wahre – leidvolle und beschwerliche – Natur unseres Daseinszustands vor Augen geführt; die Ursachen für die Entstehung dieser Situation erläutert; deutlich gemacht, dass es einen Zustand gibt, in dem unser Leid ein Ende hat und auch kein neues Leid verursacht wird; und schließlich hat er die Methode gelehrt, durch die man diesen Zustand erreichen kann.
Während seines Aufenthalts in New York sprach Seine Heiligkeit der Dalai Lama an drei Abenden vor den Zuhörern, die sich im Beacon Theatre eingefunden hatten. Thema dieser Vorträge waren in erster Linie die buddhistischen Methoden zur Verwirklichung höchster Erleuchtung. Dazu hat er maßgebliche Textpassagen aus zwei Schriften miteinander verflochten. Bei diesen handelte es sich um die mittellange Fassung von »Stufen der Meditation« des indischen Meisters Kamalashila, der im achten Jahrhundert gelebt hat, und um »Die 37 Praktiken der Bodhisattvas« von Thogme Sangpo, einem tibetischen Praktizierenden aus dem 14. Jahrhundert.
Die Niederschrift von »Stufen der Meditation« erfolgte, als Trisong Detsen, der 33. König von Tibet, den indischen Autor nach Tibet einlud. Kamalashila sollte jenen analytischen Zugang zur buddhistischen Praxis, den man in den großen indischen Klosteruniversitäten Nalanda und Vikramalasila bevorzugte, argumentativ vertreten. Der chinesische Mönch Hashang hatte diese von Kamalashilas Meister Shantarakshita in Tibet eingeführte Form des Buddhismus in Frage gestellt. Der von Hashang vertretenen Auffassung zufolge war jedwede Geistesaktivität zu missbilligen.
Um ein für allemal zu klären, welche Form des Buddhismus man in Tibet praktizieren werde, sollten die kontroversen Auffassungen in Gegenwart des Königs ausdiskutiert werden. In dieser Debatte konnte Kamalashila einen unwiderleglichen Beweis für die große Bedeutung rationaler Überlegungen im Kontext von spiritueller Entwicklung antreten, und so setzte seine philosophische Position sich in dem Streitgespräch durch. Der König bat den indischen Weisen, diese Position schriftlich festzuhalten. Daraufhin verfasste Kamalashila eine lange, eine mittlere und eine kurze Version von »Stufen der Meditation«.
Kamalashilas Text umreißt klar und präzise, was man als die »weiten« und die »tiefgründigen« Stufen des Weges zu höchster Erleuchtung bezeichnet hat. In Tibet wurde ihm vielfach nicht die gebührende Beachtung zuteil. Doch handelt es sich hier um ein Buch von unschätzbarem Wert, und Seine Heiligkeit hat sich nachdrücklich bemüht, es den Menschen außerhalb Tibets ebenfalls zugänglich zu machen.
Der zweite Text, »Die 37 Praktiken der Bodhisattvas«, beschreibt auf treffende, gut verständliche Art und Weise eine dem Wohl der anderen Wesen verpflichtete Lebensweise. Thogme Sangpo, der Autor dieses Textes, regt uns an, unsere gewohnheitsmäßigen selbstbezogenen Neigungen zu verändern und bei all unseren Handlungen in Rechnung zu stellen, dass wir auf unsere Mitmenschen und auf andere Wesen angewiesen sind. Thogme Sangpos Leben war das eines einfachen Mönchs, dessen Praxis darin bestand, sein Herz für Liebe und Mitgefühl zu öffnen, um so sein Dasein selbstlos dem Wohl der anderen Wesen zu widmen.
Geshe Thubten Jinpa, dem Übersetzer des Dalai Lama, ist es auf bewundernswerte Weise gelungen, die subtilen Aspekte der buddhistischen Philosophie, die Seine Heiligkeit im Laufe der Vorträge entfaltet hat, sprachlich wiederzugeben. Mehr noch: Zugleich konnte er uns auch den herzlichen Humor nahebringen, der in den Unterweisungen Seiner Heiligkeit stets gegenwärtig ist.
An einem Sonntagmorgen, dem letzten Tag dieses Besuchs Seiner Heiligkeit in New York, haben sich über 200 000 Menschen auf dem East-Meadow-Areal des Central Parks versammelt, um den Ausführungen des Dalai Lama über die »Acht Strophen zur Schulung des Geistes« zuzuhören. Dieser Verstext stammt aus der Feder von Langri Thangpa, einem tibetischen Weisen, der im 11. Jahrhundert lebte. Der Dalai Lama hat bei dieser Gelegenheit Englisch gesprochen.
Anhand eigener Erfahrungen hat er uns veranschaulicht, wie wir Stolz in Bescheidenheit und Hass in Liebe verwandeln können. Er hat seine Besorgnis über die Kluft zwischen Arm und Reich zum Ausdruck gebracht und abschließend in Form eines Gebets dem Wunsch Ausdruck verliehen, dass sämtlichen Wesen Glück zuteil werden möge. Die Niederschrift des Vortrags im Central Park wurde hier – als Einführung – den Erläuterungen Seiner Heiligkeit zu den Texten von Kamalashila und Thogme Sangpo vorangestellt.
Ich hoffe und bete, dass dieses Buch allen Menschen weiterhelfen möge, die es auf ihrer Suche nach Glück lesen. Und möge dieses Glück wiederum so auf andere ausstrahlen, dass sämtliche Wesen auf die eine oder andere Weise ihr Herz öffnen.
Brüder und Schwestern, guten Morgen.
ICH GLAUBE, DASS JEDER MENSCH den Wunsch in sich trägt, glücklich zu sein und nicht zu leiden. Und unser eigentlicher Lebenszweck besteht meiner Ansicht nach darin, dieses Glück zu erfahren. Jeder von uns verfügt, so glaube ich, über das gleiche Potenzial, inneren Frieden zu entwickeln und dadurch Glück und Freude zu empfinden. Unabhängig davon, ob wir reich sind oder arm, gebildet oder ungebildet, schwarz oder weiß, aus dem Osten oder aus dem Westen kommen, unser Potenzial ist gleich groß. Wir alle gleichen einander in geistiger und emotionaler Hinsicht. Manche von uns haben zwar eine größere Nase, und es kann gewisse Unterschiede in der Hautfarbe geben, doch im Grunde genommen sind wir physisch gleich. Die Unterschiede spielen eine eher untergeordnete Rolle. Geistig und emotional sind wir gleich beschaffen. Darauf kommt es an!
Jeder von uns hat Emotionen, die ihm oder ihr Probleme bereiten; ferner positive Empfindungen, die uns innere Kraft geben und heiter und gelassen stimmen. Ich halte es für wichtig, dass wir uns über unser Potenzial im Klaren sind und daraus Selbstvertrauen schöpfen. Manchmal betrachten wir die Dinge von ihrer Schattenseite und fühlen uns entmutigt. In meinen Augen ist dies die falsche Perspektive.
Wunder habe ich Ihnen nicht anzubieten. Falls jemand über Wunderkräfte verfügen sollte, werde ich ihn oder sie um Hilfe bitten. Offen gesagt bin ich skeptisch, wenn Menschen erklären, ihnen stünden übernatürliche Fähigkeiten zur Verfügung. Allerdings können wir unsere Auffassungen oder Einstellungen verändern, indem wir uns unentwegt bemühen, unseren Geist zu schulen. Dadurch wiederum kann sich unser Leben entscheidend verändern.
Mit einer positiven inneren Einstellung werden wir unsere Geistesruhe nicht verlieren – selbst wenn wir von Feindseligkeit umgeben sind. Ist unsere innere Einstellung hingegen eher negativ, von Furcht, Misstrauen, Hilflosigkeit beeinflusst oder von Abscheu vor uns selbst, so werden wir sogar im Kreis unserer besten Freunde und in behaglicher Umgebung nicht glücklich und zufrieden sein. Die innere Einstellung hat also einen ganz hohen Stellenwert: Von ihr hängt entscheidend ab, ob und wie sehr wir glücklich und zufrieden sind.
Die Erwartung zu hegen, unsere Probleme ließen sich durch Geld oder mittels materieller Annehmlichkeiten lösen, halte ich für falsch. Anzunehmen, aus einer bloßen Äußerlichkeit könne etwas Positives resultieren, wäre unrealistisch. Gewiss, unsere materielle Situation spielt eine wichtige Rolle und kann uns weiterhelfen. Doch unsere inneren, geistigen Einstellungen sind genauso wichtig – wenn nicht wichtiger. Wir müssen lernen, uns von dem Streben nach einem Leben im Überfluss frei zu machen, da es unsere Praxis behindert.
Manchmal kommt es mir so vor, als sei es heute in Mode, dass die Menschen der materiellen Entwicklung allzu große Bedeutung beimessen, die inneren Werte hingegen vernachlässigen. Wir müssen demnach ein besseres Gleichgewicht zwischen der Beschäftigung mit materiellen Belangen und der inneren, spirituellen, Entwicklung herstellen.
Meines Erachtens ist es ganz natürlich, dass wir als gesellschaftliche Wesen handeln. Unsere guten Eigenschaften bestehen in dem, was ich als wahrhaft menschliche Werte bezeichnen würde: Wir sollten uns darum bemühen, solche Eigenschaften zu stärken und zu fördern – zum Beispiel die Bereitschaft, mit anderen zu teilen und uns um andere zu kümmern. Auch müssen wir die Rechte anderer Menschen respektieren. Dadurch tragen wir der Tatsache Rechnung, dass unser künftiges Glück und Wohlergehen von den vielen anderen Mitgliedern unserer Gesellschaft abhängen.
Im Alter von 16 Jahren habe ich meine Freiheit verloren, und im Alter von 24 Jahren musste ich meine Heimat verlassen. Die letzten vier Jahrzehnte habe ich als Flüchtling verbracht – als ein Flüchtling mit schwer wiegender Verantwortung. Blicke ich zurück, so war mein Leben nicht leicht. Allerdings habe ich gelernt, Mitgefühl zu entwickeln, die Fähigkeit, am Geschick anderer Menschen Anteil zu nehmen. Diese Geisteshaltung hat mir innere Stärke verliehen.
Eines meiner Lieblingsgebete lautet:
Solange der unermessliche Raum Bestand hat
und solange noch empfindende Wesen da sind,
will auch ich da sein,
um zu helfen, um zu dienen,
um meinen Beitrag zu leisten.
Die Besinnung darauf verleiht innere Stärke, und man gewinnt Selbstvertrauen. Durch sie hat mein Leben eine klare Ausrichtung gewonnen. Wie schwierig oder verwickelt die Dinge auch sein mögen – mit solch einer Geisteshaltung können wir inneren Frieden haben.
Wir sind gleich, das muss ich noch einmal hervorheben! Vielleicht hat der eine oder die andere von Ihnen den Eindruck, der Dalai Lama sei irgendwie anders. Völlig falsch! Ich bin ein Mensch wie jeder von Ihnen. Wir verfügen alle über das gleiche Potenzial.
Spirituelle Weiterentwicklung setzt nicht zwangsläufig Religiosität voraus. Lassen Sie uns daher über ethische Werte in einem weltlichen Verständnis sprechen.
Die Methoden zur Stärkung unseres Altruismus – unserer Fähigkeit, Mitgefühl für andere zu empfinden und jene Einstellung zu entwickeln, die uns eigene Anliegen weniger wichtig nehmen lässt als die der anderen – gehören meiner Ansicht nach zum Gemeingut aller großen religiösen Überlieferungen. Zwar können wir feststellen, dass es Unterschiede in den philosophischen Auffassungen und in den Riten gibt. Aber in ihrer Grundaussage stimmen die Religionen weitgehend überein. Sie alle fordern uns auf, liebevoll miteinander umzugehen, mitfühlend zu sein und einander zu vegeben. Und selbst wenn Menschen sich zu keinem religiösen Glauben bekennen, so können sie doch erkennen, welche Qualitäten den menschlichen Grundwerten innewohnen.
Da schon unsere bloße Existenz und unser Wohlergehen auf dem Zusammenwirken und auf der Mitwirkung zahlloser anderer Menschen beruhen, müssen wir – obwohl wir häufig dazu neigen, diese Grundtatsache zu vergessen – für den Umgang mit ihnen eine angemessene Einstellung entwickeln. Durch die Globalisierung der modernen Wirtschaft sind Landesgrenzen heutzutage weitgehend bedeutungslos geworden. Nicht nur Länder sind aufeinander angewiesen, sondern auch die Kontinente. Wir sind in hohem Maß voneinander abhängig.
Wenn wir uns die zahlreichen Probleme anschauen, mit denen die Menschheit heutzutage konfrontiert ist, können wir erkennen, dass wir sie hervorgebracht haben. Ich spreche hier nicht von Naturkatastrophen. Aber all die Konflikte, das Blutvergießen, die Probleme, die auf Nationalismus und dem Vorhandensein nationalstaatlicher Grenzen beruhen, sind vom Menschen verursacht.
Könnten wir vom Weltraum aus einen Blick auf die Erde werfen, so bekämen wir keine Landesgrenzen zu sehen. Wir hätten bloß einen kleinen Planeten vor Augen – einen Planeten. Allerdings brauchen wir lediglich eine Linie in den Sand zu zeichnen, und schon entsteht bei uns der Eindruck, hier seien »wir« und dort »die anderen«. Je stärker dieser Eindruck wird, umso weniger sind wir in der Lage, die tatsächliche Situation zu erfassen. In vielen Ländern Afrikas und in jüngerer Zeit auch in einigen osteuropäischen Ländern wie zum Beispiel dem früheren Jugoslawien herrscht ein sehr engstirniger Nationalismus. In gewisser Weise macht jedoch die Vorstellung von »wir« und »die anderen« inzwischen kaum noch Sinn, da die Interessen unserer Nachbarn weitgehend mit unseren eigenen Interessen übereinstimmen. Kümmern wir uns um die Interessen unserer Nachbarn, so kümmern wir uns also im Grunde genommen um unsere eigene Zukunft. Das ist heutzutage die schlichte Realität: Wer seinem Feind Schaden zufügt, kommt selbst zu Schaden.
Infolge des modernen technischen Fortschritts, der globalisierten Wirtschaft und des dramatischen Bevölkerungswachstums hat sich unsere Welt meiner Meinung nach in hohem Maß verändert: Sie ist viel kleiner geworden. Unsere Wahrnehmungen haben sich dagegen nicht im gleichen Tempo entwickelt. Wir halten weiterhin an überkommenen Landesgrenzen fest, und ebenso an den alten Gefühlen von »wir« und »sie«.
Der Krieg scheint in der Menschheitsgeschichte einen festen Platz einzunehmen. Wenn wir uns die Situation auf unserem Planeten in früheren Zeiten anschauen, so waren damals Länder, Regionen, ja selbst Dörfer wirtschaftlich voneinander unabhängig. Unserem Feind eine vernichtende Niederlage beizubringen lief unter solchen Voraussetzungen vielleicht auf einen Sieg für uns hinaus.