Deutschland ist das einzige Land der Welt, in welchem Krankenkassen eine Psychotherapie als Gesundheitsleistung vollständig zahlen. Das kommt Patienten zugute, und einige Zehntausend Psychotherapeuten leben gut davon. Um davon zu profitieren, müssen sie sich an einige Regeln halten. Eine davon ist der „Bericht an den Gutachter“, in welchem Therapeuten den Antrag auf eine Psychotherapie für ihre Patienten begründen müssen.
Nicht wenige Therapeuten haben Probleme mit dem Verfassen des meist dreiseitigen Berichts. Insbesondere die Formulierung der Psychodynamik bereitet vielen Kopfzerbrechen. Dieses Buch will helfen, das Berichteschreiben so schlank wie möglich zu gestalten, ohne dass die Qualität leidet. Besonderes Augenmerk liegt auf der Psychodynamik einer dynamischen Psychotherapie.
Das Buch berücksichtigt die zum 1. April 2017 geänderte Psychotherapie-Richtlinie und Psychotherapie-Vereinbarung.
Privatdozent Dr. phil. Gerald Mackenthun ist niedergelassener Psychologischer Psychotherapeut in Berlin. Seit 2011 Jahren leitet er Kurse zum Berichteschreiben.
Copyright © 2016, 2017 Gerald Mackenthun, Berlin
Internet: geraldmackenthun.de
Für sachdienliche Korrekturen und Hinweise wäre ich dankbar:
gerald.mackenthun@gmail.com
Für weitere Informationen siehe http://geraldmackenthun.de/berichte-schreiben/
1. Auflage August 2016
2., korrigierte und ergänzte Auflage August 2017
ISBN 978-3-7412-4574-9
Druck und Vertrieb:
Books on Demand GmbH, In de Tarpen 42, 22848 Norderstedt
Tel. Zentrale: +49 40 - 53 43 35-0, info@bod.de, www.bod.de
Beispiel 1: Beispielformulierung zu soziodemographischen Daten
Beispiel 2: Beispielformulierung zur Symptomatik
Beispiel 3: Beispielformulierung zu "Erscheinungsweise und Erscheinungsbild"
Beispiel 4: Beispielformulierung zum psychischen Befund
Beispiel 5: Standardfragen zur Krankheitsanamnese
Beispiel 6: Beispielformulierung zum „somatischen Befund“
Beispiel 7: Beispielformulierung für eine Lebensgeschichte
Beispiel 8: Formulierungsbeispiel Psychodynamik
Beispiel 9: Formulierungsbeispiel für Diagnose
Beispiel 10: Formulierungsbeispiel Differenzialdiagnose
Beispiel 11: Formulierungsbeispiel Behandlungsplan und Prognose
Beispiel 12: Sieben Schritte zum Aufbau einer Psychodynamik für eine neurotische Störung (Jungclaussen)
Beispiel 13: Sieben Schritte zum Aufbau einer Psychodynamik für eine Strukturstörung (nach Jungclaussen)
Beispiel 14: Anwendung der sieben Schritte für eine neurotische Psychodynamik
Beispiel 15: Beispiel für die Dynamik eine Strukturstörung in 7 Schritten mit nur einem Behandlungsfokus (Jungclaussen)
Beispiel 16: Beispielformulierungen für Psychodynamik (aus Berichten)
Beispiel 17: Beispielformulierungen zu Übertragung und Gegenübertragung
Beispiel 18: Beispielformulierung TP-Erstantrag mit 60 Stunden
Beispiel 19: Beispielformulierung TP-Erstantrag mit 60 Stunden
Tabelle 1: Anhaltspunkte für die Sozialanamnese nach D. Adler
Tabelle 2: Anhaltspunkte für die Sozialanamnese (eigene Liste)
Tabelle 3: Überblick Antragsarten Erwachsene
Tabelle 4: Überblick Antragsarten Kinder und Jugendliche
Tabelle 5: Liste prognostischer Merkmale
Tabelle 6: Kontraindikationen für eine Psychotherapie
Tabelle 7: Fragen, die der Bericht beantworten sollte (nach Boessmann)
Tabelle 8: Fragen, die die Psychodynamik beantworten sollte
Tabelle 9: Auf was achten in der frühen Biographie?
Tabelle 10: Einige für eine Biographie relevante Fragen (nach Boessmann)
Tabelle 11: Neurosenstrukturen
Tabelle 12: Konflikte und korrespondierende Ängste (nach Mentzos)
Tabelle 13: Konflikttypen nach OPD
Tabelle 14 Übersicht über die wichtigsten Abwehrmechanismen
Tabelle 15: Bindungstypen nach Bowlby und Ainsworth
Tabelle 16: Übersicht über Charakterstrukturen (nach Leichsenring)
Tabelle 17: Übersicht über Charakterstrukturen (nach Jungclaussen)
Tabelle 18: Persönlichkeitsstörung versus Persönlichkeitsstil (-struktur)
Tabelle 19: Persönlichkeitsakzentuierungen nach Beck & Freeman
Tabelle 20: Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10
Tabelle 21 Liste von Strukturbestandteilen (nach OPD)
Tabelle 22: Strukturbestandteile nach OPD (nach Leichsenring)
Tabelle 23: Beschreibung gestörter Strukturbestandteile (nach Rudolf)
Tabelle 24: Strukturelle Störung im Vergleich zur neurotischen Störung
Tabelle 25: Die vier Strukturniveaus nach Rudolf und OPD
Tabelle 26: Abgrenzung von Konflikt- und Strukturstörung
Tabelle 27: Innere und äußere Bewältigungsressourcen
Es gibt gute Bücher zur Frage, wie Psychotherapeuten schnell und unkompliziert Berichte an den Gutachter schreiben können. Die meisten sind nicht unter 39,90 Euro zu haben und sie sind groß und dick. Die Arbeitshilfe zur neuen Psychotherapie-Richtlinie 2017 vom Forum Verlag Herkert soll sogar 141,61 € kosten (Stand September 2017). Mit diesem bewusst schmal gehaltenen Buch versuche ich, eine kompakte und zugleich komplette Anleitung zum Schreiben von Berichten an den Gutachter vorzulegen.
Ich konzentriere mich auf die häufigste Antragsform, den Erstantrag für eine bis zu 60-stündige Psychotherapie im tiefenpsychologischen Verfahren für einen Erwachsenen.
Auf speziellere Probleme wie beispielsweise die Kinder- und Jugendlichentherapie oder die Gruppentherapie gehe ich kaum ein, auch Verlängerungsanträge oder der Widerspruch im Obergutachterverfahren kommen kaum oder nicht vor. Wer hier Hilfe benötigt, möge in anderen Büchern nachschlagen oder erfahrene Therapeuten fragen. Doch wer den Bericht grundsätzlich verstanden hat, wird auch mit den anderen Formaten gut zurechtkommen.
Die gesetzlichen Grundlagen werden hier ebenfalls nicht behandelt oder dokumentiert. Die entsprechenden Texte sind im Internet leicht zu finden.
Das Buch beruht auf eigenen Erfahrungen mit Schreiben von Berichten in tiefenpsychologischen und analytischen Verfahren. Seit über fünf Jahren biete ich dazu an meinem Ausbildungsinstitut in Berlin Kurse an. Die Ablehnungsquote durch Gutachter beträgt bei mir zwischen zwei und drei Prozent, mit sinkender Tendenz. Aus diesen Kenntnissen heraus entstand dieses Buch, von dem ich hoffe, dass es vor allem den Ausbildungskandidaten von Nutzen ist.
Berlin, im Sommer 2017
Hinweis: Aktualisierungen und Korrekturen werden unter
http://geraldmackenthun.de/berichte-schreiben/ eingestellt.
Warum fällt es vielen so schwer, einen Bericht zu schreiben? Die Gründe sind vielfältig.
Da wäre zunächst das Geld. Die Berichte werden nur unzulänglich honoriert. Im Durchschnitt braucht ein Therapeut drei bis vier Stunden für die Abfassung, honoriert wird der 2- bis 3-seitige Bericht mit nur 55 €.
Einige Therapeuten fühlen sich durch den Bericht beobachtet und in der Intimität mit den Patienten gestört. Der Gutachter wird zu einem „verfolgenden Objekt“, der sich gar nicht in die Psyche des Patienten einfühlen könne. Oder sie haben Angst, dass ihre Therapie unter den strengen Augen des Gutachters, der in gewissem Sinne Vertreter des Gesetzes ist, nicht bestehen wird. Die Angst vor Ablehnung durch den Gutachter lähmt auch ambitionierte Berichteschreiber.
Einige Therapeuten können sich nicht eingestehen, dass sie die Herleitung der Psychodynamik noch gar nicht verstanden haben. Andere haben Mühe, die vielfältigen Theorien der dynamischen Psychologien auf den konkreten Patienten anzuwenden. Einige Therapeuten schätzen es nicht, sich selbst kritisch zu betrachten.
Es gibt Therapeuten, die fühlen sich aus der Symbiose mit ihren Patienten herausgerissen, wenn sie einen Bericht schreiben müssen. Das Berichteschreiben erscheint ihnen wie ein Fremdkörper.
Obwohl Psychotherapeuten das Abitur geschafft und ein fünfjähriges Studium absolviert haben, sind nicht wenige immer noch grundsätzlich unsicher im Schreiben und Formulieren.
Nicht wenige Therapeuten halten das Gutachterverfahren für reine Schikane; sie wollen sich von niemandem reinreden lassen und lehnen es auch ab, Rechenschaft über die Verwendung der Gelder der Krankenkassen (die ja Beiträge der Patienten sind) ablegen zu müssen.
Die Psychodynamik macht vielen Therapeuten die größte Angst. Man kann sie aber auch als Herausforderung und als Chance zum Lernen begreifen. Dieter Adler beispielsweise (Literaturangaben am Schluss) beschreibt sie wie das Auflösen eines Rätsels um die Ursachen der absonderlichen Störung eines Patienten (Adler, S. 31). Ich begreife sie als Herausforderung, die psychodynamischen Geheimnisse des Patienten zu erkennen und einen roten Faden von der Kindheit bis in die Gegenwart herauszuarbeiten. Auf welche Bedingungen stieß sein jeweils spezifischer Charakter und wie reagierte er darauf? Und was bedeutet das für die Lösung bzw. Unfähigkeit zur Lösung seiner aktuellen Probleme?
Ich halte es nicht für sinnvoll, den Antragsbericht ohne Verstehensgewinn schnell zusammenzuschustern. Er gibt mir Gelegenheit, zusammenhangsmäßig über die Vita der Patientin (zwei Drittel der Patienten sind Frauen) nachzudenken. Ich kann mir noch einmal das Gewordensein der Patientin vergegenwärtigen und zugleich selbstkritisch meinen Therapieplan und mein Vorgehen darauf abstimmen.
Das Berichteschreiben ist nicht nur sinnvoll, es ist auch machbar. Dieses Buch soll dabei helfen, die Angst vor dem Schreiben zu nehmen.
Mit den Änderungen in den Psychotherapie-Richtlinien vom April 2017 wurden einige Vereinfachungen eingeführt. Die kürzeren Therapieformen sind nur noch anzeigepflichtig, lediglich die Langzeittherapie ist gutachterpflichtig. Dieser Bericht kann jetzt kürzer gehalten werden. Ausbildungskandidaten und Psychotherapeuten werden mit diesem Verfahren leben müssen.
Bitte beachten, dass der Bericht weiterhin „Bericht an den Gutachter“ heißt. Der Gutachter schreibt ein „Gutachten“, obwohl dieses oftmals nur wenige Zeilen umfasst.
Es gibt professionelle Helfer, die beim Abfassen der Berichte helfen. Ein Erstantrag ist bereits ab 130 Euro zu haben. Die Kassenärztlichen Vereinigungen bestehen allerdings darauf, dass Therapeuten ihren Bericht selbst schreiben. Das müssen sie mit ihrer Unterschrift versichern. Die Helfer beim Berichterstellen nennen ihre Tätigkeit deswegen ausweichend „Berichtssupervision“.
Unabhängig davon sollte weiterhin für eine Erhöhung des Honorars für einen Bericht gestritten werden.
Ziel des Berichts ist es, den Gutachter davon zu überzeugen, dass das Geld der Krankenkasse in diesem Fall gut angelegt ist. Der Gutachter muss prüfen, ob eine Therapie bei diesem Patienten Sinn hat, ob ein angemessenes Verfahren gewählt wurde, ob eine andere Behandlung besser wäre und ob der Erfolg ausreichend erscheint.
Zu den „anderen Beratungs- und Unterstützungsangeboten“ zählen die Schuldnerberatung, die Ehe-, Paar- und Familienberatungsangebote sozialer Einrichtungen, stationäre und teilstationäre Angebote von Kliniken oder Selbsthilfegruppen. Jeder Therapeut sollte sich eine derartige Adressenliste zusammenstellen. Die „anderen Beratungs- und Unterstützungsangebote“ können uns Therapeuten daran erinnern, dass nicht jeder Hilfesuchende eine Psychotherapie braucht und wir nicht jeden potenziellen Patienten annehmen müssen.
Im Jahre 2015 arbeiteten für die Verfahren der Tiefenpsychologie und der analytischen Psychologie bundesweit nur 100 Gutachter und 13 Obergutachter. Diese haben im genannten Jahr 179.957 Gutachten und 1824 Obergutachten erstellt. 3,7 % aller Anträge wurden nicht befürwortet (gleich 6658). Der strengste Gutachter (von den Gutachtern für Tiefenpsychologie und Psychoanalyse) lehnte 10 % der Berichte ab, die mildesten nur ein Prozent. Von den 1824 Obergutachterverfahren wurden 25,9 % endgültig abgelehnt (gleich 472).
Die Varianzbreite lag 2011 (neuere Zahlen liegen nicht vor) zwischen 551 und 3578 Gutachten pro Gutachter. Die hohe Zahl von Fällen pro Gutachter mag mit erklären, warum es Gutachter bei ihrer Zustimmung häufig bei standardisierten Floskeln belassen. Ein Gutachter erhält für ein Gutachten von der Krankenkasse (Stand 2011) für einen Kurzzeittherapieantrag 18,40 €, für einen Langzeittherapieantrag 38,80 €. Für ein Obergutachten bei Langzeittherapie bzw. Fortführungsantrag zahlen die Kassen ein Honorar von 76,70 €. Diese Honorare haben sich seit Jahren nicht verändert.
Eine Ablehnung des Antrags auf Kostenübernahme kann verschiedene Gründe haben. Es ist wichtig, diese genau ins Auge zu fassen. Aus den Ablehnungsgründen ergibt sich die Reaktion des Therapeuten. Er kann den Gutachter anrufen und mit ihm ausmachen, was nachgeliefert oder geändert werden müsste.
Falls der Therapeut mit dem Gutachter nicht einig wird, kann ein Obergutachterverfahren angestrebt werden. Obergutachter folgen überwiegend den Argumenten der Therapeuten. Es lohnt sich also nicht, Angst vor der Reaktion des Gutachters zu haben. Im Gegenteil, man lernt viel daraus.
Die neue Psychotherapie-Richtlinie von April 2017 geht auf eine alte Kritik der ausschließlich tiefenpsychologisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen ein. Bisher wurden sie von analytisch ausgebildeten Gutachtern begutachtet. In einem neuen Ausschreibeverfahren (Juli und August 2017) wurden auch Gutachter mit einer ausschließlichen Qualifikation als tiefenpsychologisch fundiert arbeitende Psychotherapeuten bestellt.
Auf den Internetseiten der KBV kann man unter „Qualitätsbericht“ grundlegende Informationen über Anzahl der Gutachter, ihre Verteilung unter den Therapieverfahren, Ablehnungsquote usw. abrufen. Derzeit (Ende 2017) liegt als aktuellster Bericht der von 2015 vor (http://www.kbv.de/media/sp/KBV_Qualitaetsbericht_2016.pdf; ausgegeben Januar 2016).
Das Gutachterverfahren ist ein Prüfsystem, das den legitimen Forderungen der Solidargemeinschaft folgt, die von ihr aufgebrachten Gelder für Psychotherapie auch nachvollziehbar einzusetzen. Da kann man in den für meinen Begriff nicht allzu sauren Apfel beißen und Berichte scheiben, zumal es bislang keine Alternative zu ihnen gibt. Wie alles im menschlichen Leben ist eben auch das Berichteschreiben ambivalent. Beispielsweise muss qualifiziert und geordert und es muss eine Diagnose gestellt werden. Man muss sich festlegen und entscheiden. Dadurch schafft man Ordnung.
Psychodynamik bezeichnet das gesamte Wechselspiel intrapsychischer und zwischenmenschlicher Kräfte. Die kindlichen Beziehungserfahrungen und die Qualität der Befriedigung kindlicher Bedürfnisse werden als Lernerfahrung verinnerlicht und konturieren die weitere Beziehungsgeschichte, ebenso die Persönlichkeit (Ich-Struktur, Charakter) mit ihren bewussten und unbewussten Anteilen. Je nach Qualität der Ausbildung der Ich-Struktur reagiert das Individuum bei potenziell pathogenen Ereignissen und Auslösern unterschiedlich: gesund, neurotisch oder persönlichkeitsgestört. Rudolf definiert Psychodynamik so:
Der Zusammenhang zwischen einer inneren, lebensgeschichtlich gewachsenen Disposition (unbewusste, vorherrschende Bedürfnisse und Gefühle) und äußeren Ereignissen, welche das bestehende psychische Gleichgewicht labilisiert, wird als Psychodynamik bezeichnet. Der Begriff meint das nicht bewusste, innere Kräftespiel im Hintergrund des bewussten Erlebens und Verhaltens. (Rudolf 2005, S. 305, zit. in Jungclaussen 2013, S. 105)
Die traditionelle Indikation für psychodynamische Therapien (Tiefenpsychologie und Psychoanalyse) bis 2009 umfasste nur die unbewusste Psychodynamik aktuell wirksamer neurotischer Konflikte. In der Neufassung der Psychotherapie-Richtlinien aus dem Jahr 2009 wurden ausdrücklich zusätzlich strukturelle Störungen zum Indikationsbereich mit aufgenommen. Sich nur auf die aktuellen, unbewussten Konfliktstörungen zu konzentrieren, entsprach nicht der Realität in den Psychotherapie-Praxen. In vielen Fällen fand sich einfach kein klar umgrenzter Konflikt, wie dies eigentlich von den Richtlinien gefordert wird. Außerdem tauchten Trauma-Folgestörungen auf, die von der Analytischen Psychologie wegen der dort erwarteten und gewünschten Regression nicht behandelt werden können.
Ein zweiter Entwicklungsstrang ist der, dass sich unter dem Einfluss der modernen Psychotherapieforschung mehr und mehr eine Behandlungsmethodik durchsetzt, die die alten Grenzen der Theorieschulen überwindet und verschiedene Techniken integriert. Für viele Psychotherapeuten, auch in Kliniken, ist dies mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden.
Die Formulierungen im seit April 2017 gültigen „Leitfaden zum Erstellen des Berichts an den Gutachter“ (Formular PTV 3; „PTV“ heißt „Psychotherapie-Vereinbarung“) nimmt darauf nicht wirklich Rücksicht, aber faktisch dürfen Therapeuten diese Entwicklung aufgreifen.
Die Ausweitung der Indikation und die Methodenintegration kann man „modifizierte Tiefenpsychologie“ nennen (Jungclaussen 2013, S. 19). Damit wird der alltäglichen Therapiepraxis auch sprachlich Rechnung getragen. Die Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Autoren wie Jaeggi und Riegels (2009), Wöller und Kruse (2010) oder Rudolf (2001) haben nichts dagegen, weitere Techniken einzubeziehen, die aus anderen Verfahren stammen, wie zum Beispiel übende oder edukative Aspekte aus der Verhaltenstherapie, imaginative und ressourcenorientierte Ansätze und vielleicht auch körperorientierte Interventionen. Aber es ist zu beachten, dass einige dieser Techniken nicht zum regulären tiefenpsychologischen Bereich zählen und im Bericht nicht erwähnt werden sollten, auch wenn sie dann später in der Therapie angewendet werden.
Das zentrale Wesensmerkmal der tiefenpsychologischen Indikation ist laut Jungclaussen trotz aller Modifikationen die sogenannte aktuelle Konfliktdynamik. Gemeint ist, dass das frühere, lebensgeschichtlich erworbene Unbewusste in der Gegenwart in Aktion tritt. Die Tiefenpsychologie fokussiert im Unterschied zur Analytischen Psychologie eher auf das Gegenwartsunbewusste, also auf die aktuelle Konfliktdynamik. Eine andere Formulierung dafür lautet „aktuell wirksamer unbewusster Konflikt" (für das Jungclaussen das schreckliche Akronym AWUK gewählt hat; S. 20).
In der Tiefenpsychologie benötigt man die Vergangenheit insoweit, wie sie zum Verständnis der aktuellen sozialen Probleme und Symptome erforderlich ist. Dazu können bewusste wie unbewusste Konflikte gehören. Im Unterschied dazu sucht die Analytische Psychologie über den Weg der „neurotischer Übertragung“ den roten Faden zurück in die Vergangenheit. Mit „neurotischer Übertragung“ ist gemeint, dass ein Mensch alte – oftmals verdrängte – Gefühle, Affekte, Erwartungen (insbesondere Rollenerwartungen), Wünsche und Befürchtungen aus der Kindheit unbewusst auf neue soziale Beziehungen überträgt und reaktiviert. Diese Unbewusstheit ist aber oftmals gar nicht gegeben. Vielmehr können viele Patienten ihre Konflikte klar benennen, nur finden sie alleine nicht heraus und bedürfen der Unterstützung.
Man kommt der Psychodynamik auf verschiedenen Arten auf die Spur. Eine probate scheint mir zu sein, sich in den Lebensweg des Patienten hinein zu versetzen und zu erfassen, in welchem Dilemma er steckt und wie er da hinein kam. Das setzt ein erhebliches theoretisches Wissen und eine umfangreiche Menschenkenntnis voraus.
Der von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) herausgegebene „Leitfaden“ (vom April 2017) legt nahe, dass man auf der intrapsychischen Konfliktebene und dem aktualisierten intrapsychischen Konflikt verbleibt. Aber genau darin liegt eine Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit, weil das psychoanalytische Entwicklungsmodell vielfach infrage gestellt, verworfen, überarbeitet, neu formuliert und durch andere wichtige Erkenntnisse stark relativiert wurde.
Man geht heute nicht mehr davon aus, dass bestimmte Entwicklungsphasen spezifische Konflikte und Neurosenstrukturen hervorbringen. Umgekehrt kann man auch nicht aus der Spezifik von Symptomen auf spezifische frühe Störungen schließen. Diese Versuche haben sich als falsche Fährte erwiesen. Es ist eigentlich nicht plausibel, dass theoretische Versatzstücke in den Bericht einfließen sollen, an die heute kaum noch einer glaubt.
Ferner hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein Mensch nicht nur an unbewussten inneren Konflikten leidet. Vielmehr gibt es häufig klar erkennbare, aktuelle Konflikte mit dem Partner, dem Vorgesetzten, den Kindern, den Eltern etc. Dies sind vielfältige Gründe, die Hilfe eines Therapeuten in Anspruch zu nehmen. Die Verbindung zur Vergangenheit besteht darin, dass die Unmöglichkeit, diese zwischenmenschlichen Konflikte zu lösen, in Kindheit und Jugend liegen können. Sie können sich aber auch in jüngerer Vergangenheit aufgeschaukelt haben und die Ressourcen des Patienten aktuell überfordern (Anpassungsstörung). Und dann gibt es noch traumatische Belastungen aus jüngerer oder fernerer Vergangenheit, die auch einen eigentlich Gesunden überfordern.
Die Vorschläge im „Leitfaden“ zur Formulierung der Psychodynamik sind also eindeutig zu eng gefasst. Der Therapeut sollte keine Hemmung haben, die bunte Vielfalt des Lebens in seinem Bericht zu beschreiben und die engen Grenzen herkömmlicher psychodynamischer Vorstellungen zu überwinden.
Das Verharren vieler Psychoanalytiker bei Freud und den Freudianern hat vielleicht auch mit der Angst zu tun, sich in dem Dschungel der Theorien und Paradigmen zu verlieren. Indem man bei Einführungen in die Tiefenpsychologie bei der Psychoanalyse stehen bleibt, vermeidet man die narzisstische Kränkung, genauso wenig Durchblick zu haben wie alle anderen.
Viele haben Probleme damit, die vielfältigen Theorien (oder ihre Versatzstücke) umzuwandeln in eine stringente Psychodynamik eines konkreten Patienten. An dem Gebäudekomplex der psychodynamischen Theorien (auch Flickenteppich, babylonische Sprachverwirrung oder Gemischtwarenladen genannt) haben seit 100 Jahren viele Architekten mitgearbeitet. Selbst Rudolf, ein ausgewiesener Kenner dieses unübersichtlichen Gebäudes, beklagt (2010, S. 1 und 10), dass man immer etwas anderes erzählt bekommt. Studenten und Auszubildende lernen viele Theorien kennen, aber viele bekennen, dass ihnen das Fundament fehlt. Auf welche Theorie soll man denn im Antrag Bezug nehmen?
Jungclaussen sagt unter Bezugnahme auf Sasse (2001) ziemlich klar: „Es gibt keine offizielle oder standardisierte Sichtweise darüber, nach welcher psychoanalytischen Theorie Sie den Antragsbericht zu schreiben haben, die von allen Beteiligten – ob Therapeuten oder Gutachter – geteilt werden“ (Jungclaussen 2013, S. 35). Oder Karl König:
In der Psychoanalyse haben wir bis dato kein überzeugendes Modell, das alle aus verschiedenen Perspektiven beobachteten und beobachtbaren Phänomene integrieren könnte. Vielleicht ist der Wunsch, ein solches Modell zur Verfügung zu haben, Ausdruck der Jagd nach einer Utopie; der Utopie, die menschliche Psyche in ihrer Komplexität aus einer Perspektive erfassen zu können. Vielleicht muss uns die Integration mehrerer Perspektiven für immer unmöglich bleiben, ähnlich wie es unmöglich ist, eine Stadt aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig zu erfassen. (König 2004, S. 27, zit. in Jungclaussen 2013, S. 82)
Man kann nicht alle theoretischen Konzepte verinnerlichen. Jungclaussen hat auf der Basis der analytischen Hauptströmungen einen 12-seitigen Fragebogen entwickelt, den er SAFT nennt: Schulenübergreifender ambulanter klinischer Fragebogen für Therapeuten. Dort finden Sie viele weitere therapierelevante Fragen. Aber die Theoriebestandteile stehen auch hier meist unverbunden nebeneinander.
Tipp: Internet-Suche mit „jungclaussen ingo saft fragebogen“.
Ein Anfängerfehler besteht darin, zwischen den theoretischen Perspektiven hin und her zu springen. Der Bezug zum konkreten Patienten fehlt dann meist. Die theoretischen Versatzstücke wirken dann wie übergestülpt oder aufgeklebt. Theorie und Individuum werden nicht miteinander abgeglichen.
Entscheiden Sie sich für zwei bis drei Perspektiven (siehe Kapitel 7 bis 11), von denen Sie glauben, dass Sie sie verstanden haben. Sie brauchen nicht irgendein aufgeschnapptes Schlagwort einer Koryphäe einfließen lassen. Versatzstücke von Theorien sollten so gewählt werden, dass keine Widersprüche entstehen.
Anfänger im Berichteschreiben unterliegen manchmal einigen Irrtümern, die man vermeiden kann.
Der erste besteht darin, dann man alles, was man über den Patienten weiß, in den Bericht aufnehmen muss. Das ist nicht der Fall. Wählen Sie die biographischen Daten im Hinblick auf die aktuelle Symptomatik aus. Welche Belastungen erfuhr der Patient und welche (unzureichenden) Bewältigungsressourcen bildete er im Laufe seines Lebens aus, so dass er jetzt eine Psychotherapie aufsuchen muss?
Zweitens: Begrenzen Sie die Zeit, die sie auf das Schreiben des Berichts verwenden. Wie alle Tätigkeiten, die zu einem Erfolg führen sollen, müssen diese in einer begrenzten Zeit erledigt werden. Anfänger werden für Berichte länger brauchen als die Profis, die schon einige Jahre im Beruf arbeiten. Aber auch Anfänger sollten die Zeit, die sie auf das Berichteschreiben verwenden, begrenzen. Wer sich eine begrenzte Zeit vornimmt, wird schon von vornherein verschiedenes Material gar nicht erst heranziehen, weil er weiß, dass das Einarbeiten dieser Passagen in den Berichtstext zu aufwändig wäre. Der Bericht sollte in der Regel nicht länger als drei Seiten sein, formatiert in lockerer Schrift mit deutlichen Absätzen und keinem zu schmalen Rand. Vermeiden Sie es, in immer kleinere Schrift, geringeren Zeilenabstand und schmaleren Seitenrand auszuweichen, um immer mehr Text unterzubringen.
Ein dritter Irrtum besteht darin, wenn man meint, man müsse dem Gutachter zeigen, was man theoretisch alles drauf hat. Das führt dazu, in einem abgehobenen, patientenfernen Fachjargon zu schreiben. Tatsächlich kann der Bericht fast frei von Fachvokabular verfasst sein, wenn nur eine stringente Geschichte erzählt wird. Jungclaussen (2013, S. 84) plädiert für einen eigenständigen Umgang mit den Theorien und für Eigenständigkeit im Formulieren. Die vielen Theorien würden eben auch mehr Freiheit bedeuten. Niemand muss sich mehr allein an den Theorien Freuds abarbeiten.
Schreiben Sie mit lebendigen Worten. Nutzen Sie Bilder oder Metaphern, schreiben Sie zum Beispiel vom kleinen Prinzen, der vom Thron gestoßen würde, statt von einer Krise in der ödipalen Phase. Damit wird zwar belegt, dass man die Theorie beherrscht, aber distanzierte Formulierungen lassen kaum erahnen, dass man mit dem Patienten mitschwingt und ihn verständnisvoll und wohlwollend betrachtet.
Es ist durchaus möglich, sich fast völlig von den manchmal umfangreichen Notizen zu lösen und anhand einer freien Erinnerung den Bericht zu formulieren. Steht dieser einigermaßen, kann man noch einmal die Notizen durchforsten, ob man etwas Wesentliches vergessen hat. Sofern man seinem Patienten aufmerksam zugehört hat, wird man aber nichts Zentrales übersehen.
Der Berichteschreiber sollte bedenken, dass das, was der Schreiber nicht in seinem Bericht hinein packt, vom Gutachter nicht gewusst werden kann! Es ist viel wichtiger, eine ansprechende und konsistente Geschichte zu erzählen, als sämtliche relevante und unrelevante Fakten in den Bericht hinein zu quetschen.
Relativ wenige Gutachter begutachten relativ viele Berichte. Wiederholungen in den Berichten, die aus Textbausteinen bestehen, können auffallen und werden von den Gutachtern nicht geschätzt. Andererseits wiederholen sich viele Lebens-ereignisse in den Biographien, so dass man Formulierungen aus früheren Berichten durchaus heranziehen kann. Es sollte aber immer darauf geachtet werden, die Patientin (die meisten unserer Schutzbefohlenen sind Frauen) lebendig und ihre Eigenart deutlich werden zu lassen. Es lohnt sich gleichwohl, eine kleine Sammlung von Beispielformulierungen anzulegen.
Hinweis: In diesem Skript finden Sie einige Textvorschläge, u.a. vollständige Berichtsbeispiele am Schluss.
Hinweis: In diesem Skript sind zudem mehrere Tabellen aufgeführt. Diese geben weitere Formulierungshilfe. Die Tabellen, übernommen aus einschlägigen Büchern und manchmal ergänzt durch eigene Erfahrungen, listen psychodynamische Reaktionsmöglichkeiten auf. Sie sind geeignet zum Nachschlagen und geben Anregungen zur Formulierung des eigenen Antrags.
„Nutzen Sie als Gradmesser für die Stichhaltigkeit einer Theorie Ihren gesunden Menschenverstand“, mahnt Jungclaussen (2013, S. 85). Mit zunehmender klinischer Erfahrung und Kompetenz werden Psychotherapeutinnen die Teilaspekte zu einer selbst erarbeiteten Theorie integrieren und flexibel an die jeweiligen Patienten anpassen.
Therapeutinnen (die Mehrzahl der Therapeuten sind heute Frauen) sind nicht wirklich gezwungen, sich an die Vorgaben des KBV-Leitfadens zum Erstellen eines Berichts zu halten. Die Gliederungspunkte sind als Hilfestellung gedacht und müssen nur bei Relevanz beachtet werden! Die mitgeteilten Informationen sollen begrenzt werden auf die Ursachen, das Verständnis und die Behandlung der beobachteten psychischen Störung. Mehr ist im Prinzip nicht gefordert. Wer das beherzigt, erspart sich eine Menge Arbeit.
Zugleich ist der Leitfaden eine wertvolle Hilfe beim Abfassen des Berichts. Man kann eine freie Form wählen. Aber gerade Anfänger tun gut daran, die genannten Punkte hintereinander abzuarbeiten. Dann kann man sicher sein, nichts vergessen zu haben.
Ich möchte im Folgenden zeigen, dass die 6 bis 7 Punkte dieses Berichtsmusters sinnvoll aufeinander abgestimmt sind. Es ist also angebracht, sich zunächst der inneren Logik des Berichtsmusters zuzuwenden. Ich werde die einzelnen Punkte nacheinander kurz durchgehen.
Hinweis: Der Leitfaden steht als PDF-Datei zur Verfügung in der KBV-Mustersammlung auf S. 7 unter
http://www.kbv.de/media/sp/02_Mustersammlung_PT.pdf (Stand Mai 2017).
Tipp: Drucken Sie sich dieses Blatt aus, bevor Sie fortfahren.
Neu ist ab April 2017, dass es nur noch einen Leitfaden für alle drei erlaubten Verfahren gibt: Verhaltenstherapie (VT), Tiefenpsychologie (TP) und Psychoanalyse (AP). Der Leitfaden gibt jeweils an, wer was beachten soll.
Hinweis: Der Bericht zu einem Antrag für eine Langzeittherapie soll zwei Seiten nicht überschreiten. In der Regel werden Sie tatsächlich drei Seiten benötigen, besonders in einer Kinder- und Jugendlichentherapie, weil hier noch die Eltern mit hineinkommen, die ja auch beschrieben werden müssen. Die Seiten sollten locker gestaltet sein. Es ist nicht günstig, immer mehr Material durch eine immer kleinere Schrift unterzubringen. Achten Sie auf ausreichende Seitenränder. Die Patienten-Chiffre sollte auf jeder Seite erscheinen, am besten auch noch der Name des Therapeuten.
Hinweis: Bitte beachten, dass die Form der Antragstellung ausschließlich auf Deutschland zutrifft.
Im Folgenden wird der „Leitfaden“ (PTV 3) ausführlich vorgestellt. Die dort auftauchenden Punkte werden einzeln erläutert, wobei zunächst der Inhalt des jeweiligen Punktes des Berichts laut Informationsblatt zitiert wird. Diese Vorgaben werden sodann erläutert. Der jeweilige Berichtspunkt schließt ab mit einer Beispielformulierung.
Vor dem April 2017 begann der Bericht mit den „Spontanangaben des Patienten“. Das fand ich sinnvoll. Der Patient kam mit Sorgen, Problemen und Klagen. Diese sollten vom Therapeuten angehört und notiert werden. Das war für meine Kollegen und mich ein guter Einstieg in den Bericht.
Jetzt also: „relevante soziodemographische Daten“
Im Leitfaden wird erläutert:
Ob so ein Einstieg optimal ist? Immerhin erhält der Gutachter einen ersten Überblick darüber, wen er sozial (nicht psychologisch) vor sich hat.
(Chiffre N 260295; diese fingierte Chiffre dient dem Wiederfinden des fortlaufenden Berichts in den folgenden Punkten) Die 22-jährige Patientin kommt auf eigenen Wunsch zur Therapie. Sie wohnt mit ihrem Partner zusammen und ist ausgebildete MTLA (Medizinisch-technische Laborassistentin). Seit einigen Wochen ist sie krankgeschrieben; ihr Arbeitgeber hat ihr jetzt in der Probezeit gekündigt.
Im Leitfaden finden sich folgende Hinweise:
Punkt 2