Sarah Stankewitz
Die Liebe gleicht einer
Melodie,
die einem nie mehr aus dem Kopf geht.
- Marliese Zeidler -
Es gab eine Zeit, in der ich dachte, dass Blitze durch
meine Venen schießen werden, wenn ein Mann mich berührt. Der Mann,
dem ich mein Herz schenke und in dem ich meine Zukunft sehe, wenn
ich ihm in die Augen blicke. Doch jetzt weiß ich, dass diese Blitze
nichts als Schmerzen hinterlassen. Tiefe Spuren auf meiner Seele.
Ich werde niemals ein Kribbeln auf meiner Haut spüren, wenn man
mich berührt. Stattdessen wird es mich verbrennen.
Mittlerweile ist mir bewusst, dass Blitze nichts
anderes sind als elektrische Entladungen in den Wolken, die
schließlich krachend auf unsere Erde hinabschießen. Früher habe ich
sie geliebt. Doch dann kam er. Und hat alles, was ich einst
liebte, in meine persönliche Hölle verwandelt. Seit dieser einen
Nacht hasse ich sie. Doch diese Nacht hat mir auch gezeigt, dass
Blitze einem nichts anhaben können, auch wenn man sie fürchtet.
Menschen hingegen schon. Sie können dich brechen.
Ein leises Grollen kündigt sich am Himmel an. Schon
beim Geräusch des Donners beginnt mein Körper sich zu verkrampfen.
So stark, dass ich mir meine Fingernägel ins Fleisch bohre, bis das
Blut aus den frischen Wunden herausquillt. Mom wird mich auf meine
wunden Stellen ansprechen und ich werde nicht wissen, wie ich es
ihr erklären soll. Schnell lasse ich meinen Blick zum Fenster
schweifen und schon Sekunden später sehe ich die ersten
Verzweigungen des Blitzes, der die Nacht erhellt. Früher, als ich
noch kleiner war, fand ich dieses Schaubild der Natur immer
wundervoll. Mittlerweile treibt es mir Tränen in die Augen. Mit
einem Schluchzen ziehe ich mir die Decke über den Kopf und warte.
Das ist alles, was ich tun kann. Jede Nacht warte ich einfach nur
darauf, dass die Türklinke nach unten gedrückt wird. Darauf
hoffend, mich in Luft aufzulösen, bevor er kommt. Ich warte. Die
Sekunden verstreichen, die Minuten ziehen vorüber und die Hoffnung
keimt auf, dass es heute anders sein wird. Dass ich gerettet werden
kann.
Schnell ziehe ich die Decke wieder herunter und
starre verloren auf die Tür meines Zimmers. Durch den unteren Spalt
kann ich erkennen, dass draußen alles dunkel ist. Zu dunkel. Zu
ruhig. Irgendetwas stimmt hier nicht. Plötzlich höre ich seine
Schritte vor meinem Zimmer. Klack. Klack. Jeder einzelne
Schritt seiner Sohlen sorgt dafür, dass mein Herz immer schneller
zu schlagen beginnt. Klack. Klack. Einen Wimpernschlag
später wird die Tür leise aufgemacht. So leise, dass niemand es
hören kann. Als die weiche Matratze unter mir nachgibt, wird es mir
bewusst: Es war sinnlos zu glauben, dass ich eines Tages gerettet
werden könnte.
»Aufwachen.« Dunkler Rauch schlingt sich um seine
Gestalt, während mein Körper noch immer wild unter mir zittert. Es
dauert nicht mehr lange, dann wird er mein Zimmer wieder verlassen.
Halte durch. Mein Herz donnert gegen meinen Brustkorb. Meine
Haut fühlt sich an, als würde sie brennen. Nein, als wäre sie
verseucht. Seine Hände umfassen meine Hüfte. Tränen rinnen mir über
die Wange. Seine Hand gleitet tiefer. Mein Herz … bleibt stehen.
»Hey, aufwachen.« Verschlafen blinzle ich gegen das helle Licht
über mir an. Mein Nacken schmerzt ungemein und als ich mich wieder
daran erinnere, wo ich bin ... warum ich hier bin, schrecke ich
hoch. Die alte Dame neben mir zerrt an meinem rechten Ärmel, wobei
ihre wilde, bereits ergraute Lockenmähne wie im Takt hin und her
wippt. Als sie ihren mit rotem Lippenstift beschmierten Mund zu
einem Lächeln verzieht, erscheinen vereinzelte Fältchen um ihre
Augen. Sie erinnern mich an die Verzweigungen des Blitzes, der sich
eben in meine Träume geschlichen hat. Prompt schüttele ich den
Kopf, reibe mir meine müden Augen und blicke ihr, ebenfalls
lächelnd, ins Gesicht. »Wir landen gleich«, sagt sie lauter, als
ich in diesem Moment ertragen kann. Ein pochender Schmerz kündigt
sich in meinem Schädel an. Wir landen gleich. Und danach
werde ich allein aussteigen. Ich werde allein meine Koffer
schnappen und keine Ahnung haben, was dann mit mir geschieht.
Schnell lasse ich meinen Blick nach draußen
schweifen, beobachte die weißen Wolken, die mir immer das Gefühl
geben, auf Zuckerwatte zu landen. Eine von ihnen sieht aus, als
wäre sie ein riesiger Baum, der inmitten dieser zuckerwatteartigen
Heimat seine Wurzeln geschlagen hat. Ich liebe es, die Formen der
Wolken zu deuten und mir vorzustellen, dass sie sich beliebig
verwandeln können. Sie können anders sein, wenn sie wollen. Wir
Menschen haben dieses Glück leider nicht, wir sind in unseren
Körpern gefangen, bis unsere Herzen ein letztes Mal schlagen.
Manchmal wünsche ich mir, dass dieses letzte Mal für mich schneller
kommt, als es von der Natur vorgesehen ist. »Wie spät ist es?«,
frage ich die Dame, die sich vorhin neben mich gesetzt hat, weil
ihr Mann auf der anderen Seite des Flugzeuges zu laut schnarchte.
Ich schloss sie sofort in mein Herz, auch wenn ihre roten Lippen
und das entsetzliche Lächeln mich an einen Clown erinnerten. »Es
ist gleich 12 Uhr. Zeit fürs Mittagessen«, antwortet sie, während
sie ihre bunt lackierten Fingernägel in ihre Tasche steckt und ein
labbriges, triefendes Sandwich daraus befreit. Sekunden später hält
sie es mir entgegen und allein schon beim Gedanken daran, dieses
pappige Etwas in meinen Mund zu stecken, wird mir speiübel. Dankend
schüttele ich den Kopf und warte darauf, dass sie es wieder in ihre
Tasche legt, in der es ungestört vor sich hin gären kann. Doch
anstatt es verschwinden zu lassen oder es selbst zu essen, legt sie
es mir in die Hände, die noch immer zitternd in meinem Schoß
liegen. »Falls du später noch Hunger bekommst, nimm es ruhig,
Kindchen. Ich mache die besten Sandwiches in ganz Port Macquarie.«
Port Macquarie. Mein neues Zuhause. Auch wenn ich so schnell
wie möglich Abstand zu meinem wirklichen Zuhause gewinnen wollte,
wäre meine Wahl niemals auf diesen Ort gefallen.
Mom hat mich früher zum Flughafen gebracht, als
ursprünglich geplant, weshalb ich einen früheren Flug nehmen
konnte. Was ich nicht bedacht habe: Ich bin vollkommen allein.
Allein in einem Land, das ich nur aus Fernsehserien kenne, das so
anders ist als meines. Doch was willst du tun, wenn deine eigene
Mutter nicht mehr in der Lage ist, dir in die Augen zu sehen? Wenn
der unbändige Hass in ihrem Blick immer stärker wird? Dann sitzt du
in einem Flugzeug, tausende Meilen über sicherem Boden, und begibst
dich auf die Reise - eine Reise, von der du keinen blassen Schimmer
hast, wo sie endet. Schnell stopfe ich mir das triefende Sandwich
in die Handtasche und lasse meinen Blick wieder aus dem Fenster
schweifen. Immer wieder gleiten meine Gedanken zu ihr, obwohl ich
unseren Streit zu verdrängen versuche. Wenn man bedenkt, dass ich
ein Jahr lang von Zuhause weg sein werde, könnte man meinen, dass
unser Abschied emotionsgeladen hätte sein müssen, dass wir uns in
den Armen gelegen und geweint hätten. Stattdessen hat sie mich nur
herzlos umarmt und mich dann, mit all meinen Ängsten, Gedanken und
meiner Panik, allein gelassen. Der Mensch, von dem man immer denkt,
dass er der größte Anker im Leben ist, hatte mich verstoßen.
»Wissen Sie, wie ich zur Wohnsiedlung am Rocky
Beach komme?«, frage ich meine Nachbarin. Ich könnte mir in den
Hintern beißen, dass ich mir die genaue Adresse nicht
aufgeschrieben habe. Aber damals ging ich noch davon aus, dass sie
mich abholen würden. Doch wie soll ich ihnen jetzt sagen, dass ich
schon früher hier bin? »Kindchen, ohne Taxi wirst du nicht weit
kommen. Holt dich denn niemand ab?« Schon beim Gedanken daran,
vollkommen allein in diesem Flughafen zu stehen, wird mir
schwindelig. Mein Puls beschleunigt sich so stark, dass ich die
Adern unter meiner Haut pochen sehe. »Doch, eigentlich schon. Aber
ich bin früher angereist als geplant und ich konnte ihnen noch
nicht Bescheid geben«, antworte ich, während ich mich an meinem
Sitz festkralle. Die Stellen an meinen Oberschenkeln schimmern im
Licht leicht violett, während sie sonst kaum noch zu erkennen sind.
Schnell wende ich meinen Kopf wieder der alten Dame zu. Es wird
Zeit, dass ich an etwas anderes denke.
»Bernie und ich müssen leider in eine andere
Richtung, sonst hätten wir dich mitnehmen können, Kindchen. Wenn du
dich beeilst, ergatterst du vielleicht noch ein Taxi. Hast du denn
keine Telefonnummer von deiner Gastfamilie?« Gastfamilie.
Allein schon dieses Wort sorgt in meinem Inneren für einen wilden
Strudel aus Gedanken, dem ich nicht zu entkommen weiß. Was ist,
wenn sie ganz anders sind, als ich es mir vorgestellt habe? Es ist
ein seltsames Gefühl, zu wissen, dass ich ein ganzes Jahr lang in
einem anderen Land verbringen werde. Andere Menschen um mich haben
werde und nicht mehr in meinem eigenen Zimmer schlafen kann. Obwohl
ich seit dieser einen Nacht kaum mehr ein Auge in meinem Bett
zumachen konnte, war es dennoch meines. Kein fremdes, von dem ich
nicht weiß, wann die Bettwäsche das letzte Mal gewechselt wurde.
Meine Mom sagte, dass die Mutter am Telefon nett geklungen hätte.
Super! Nett ist der kleine Bruder von scheiße. Jedenfalls wenn wir
der Logik meiner Mutter folgen. »Ich weiß die Nummer leider nicht.
Meine Mom hat sie, aber heute Morgen ging alles so schnell, dass
ich kaum Zeit hatte, an alles zu denken. Ist es weit bis zum Rocky
Beach?«, hake ich noch einmal nach in der Hoffnung, dass ich es
irgendwie schaffen werde, dort heil anzukommen.
»Zu Fuß wirst du es garantiert nie erreichen,
Kindchen.« Bevor die Dame, deren Namen ich noch nicht einmal kenne,
weitersprechen kann, werden wir von der Stewardess unterbrochen.
Sie steht nur einen Meter von unseren Plätzen entfernt und beginnt
uns auf die Landung vorzubereiten. Ich glaube nicht, dass ich dafür
bereit bin. Niemals. Schnell greife ich nach meinem Gurt und
schnalle mich an. Bald sind alle Passagiere gesichert und wir
setzen zur Landung an. Der Kaugummi in meinem Mund wird von Minute
zu Minute klebriger und zäher, aber ich kaue dennoch in
Höchstgeschwindigkeit auf der weichen Masse herum. Als wir an Höhe
verlieren, beginnt das Flugzeug unangenehme, beängstigende
Geräusche von sich zu geben. Ich muss mich an meinem Sitz
festkrallen, während die Wände um mich herum wild vibrieren.
Schnell werfe ich wieder einen Blick aus dem kleinen Fenster und
sehe, wie wir durch das zuckerwatteartige Paradies
hindurchrauschen. Die Wolken ziehen so schnell an uns vorbei, dass
ich keine einzige in ihrer Form und Gestalt deuten kann. Umgehend
schließe ich meine Augen und warte einfach nur darauf, diese
Landung endlich hinter mich zu bringen.
Nachdem die Reifen letzte quietschende Geräusche von sich gegeben haben, kommen wir endlich zum Stillstand. Meine Nachbarin springt augenblicklich auf, beugt sich über mich und gibt mir einen feuchtfröhlichen Kuss auf meine rechte Wange. »Auf dass du hier alle Antworten findest, die du immer gesucht hast«, flüstert sie mir ins Ohr und tätschelt meine Wange mit ihren vom Sandwich klebrigen Fingern. »Willkommen in Australien!«, setzt sie noch hinzu und sorgt damit dafür, dass ich zu realisieren beginne: Ich bin in Australien. Und eines steht fest: Auf die Fragen, die ich habe, werde ich hier keine Antworten erhalten. Niemals. Dafür ist es längst zu spät.
Draußen angekommen, empfängt mich
sofort eine wohlige Hitze, die mir ein vertrautes Gefühl gibt. Auch
wenn die Wärme in Texas nicht mit dieser zu vergleichen ist, gibt
sie mir ein gewisses Gefühl von Verbundenheit. Schnell greife ich
nach meinem Strohhut, platziere ihn gekonnt auf meinem Kopf und
schnappe mir meinen viel zu schweren Koffer. Als mein Blick
letztendlich am Port Macquarie-Hastings Council vor mir landet,
wird mir bewusst, wie anders hier alles ist. Frisco, meine Heimat,
war mit all ihren Farben und Lichtern, die die Nacht erhellen,
schon immer eine sehr impulsive Stadt. Der kleine Flughafen vor mir
würde in unseren vermutlich fünf Mal hineinpassen. Es ist, als wäre
ich in eine komplett andere Welt gereist. Sogar die Luft riecht
hier anders, so würzig und erfrischend. Ich marschiere auf das
kleine Abfertigungsgebäude zu und lasse meinen Blick über das
restliche Flughafengelände schweifen. Viele Passagiere werden mit
offenen Armen empfangen, während ich, mit meinem Koffer kämpfend,
auf den Eingang des Flughafengebäudes zusteuere. Sobald ich die
großen Glastüren geöffnet habe, betrete ich das Innere des
Flughafens und bin erstaunt darüber, wie modern hier drin alles
aussieht, im Gegensatz zum äußeren Erscheinungsbild.
Die Rollen meines Koffers geben quengelnde
Geräusche von sich, als sie über die hellbraunen Fliesen gleiten.
Unverzüglich beginne ich in meiner Handtasche zu kramen, bis ich
das Foto gefunden habe. Ich weiß, dass es sinnlos ist, nach ihr
Ausschau zu halten, aber ich möchte mir das Gesicht so schnell wie
möglich einprägen. Schließlich wird sie in den nächsten zwölf
Monaten meine Ersatzmutter sein. Miranda hatte uns dieses Foto von
sich zukommen lassen, damit ich sie am Flughafen schneller erkenne,
wenn sie mich abholt. Dumm nur, dass sie mich erst in drei Stunden
hier erwartet. Ich betrachte noch einmal das Foto: Ihre dunklen
Haare gehen ihr knapp bis zu den Schultern und die kleinen,
zierlichen Lachfältchen erinnern mich an die Dame aus dem Flugzeug.
Sie hat strahlend braune Augen, die mich sofort an einen
Schokoladencookie denken lassen. Ob man hier genauso gern Cookies
isst wie in den Staaten?
Ich muss zugeben, dass ich mir kaum Gedanken
darüber gemacht habe, wohin es mich verschlagen wird, als meine Mom
mich dazu überredete, dieses Austauschjahr anzutreten. Mittlerweile
bereue ich es. Wirklich. Ich hätte mich außerdem vorher viel mehr
mit dem Leben hier vertraut machen sollen. Tja, jetzt ist es so
oder so zu spät. Verloren starre ich also auf das Foto in meinen
Händen, während ich wie ein begossener Pudel durch die doch recht
gemütliche Eingangshalle gehe. Einige der Menschen um mich herum
sehen mich an, als wäre ich von einem anderen Stern. Was denn? Habt
ihr noch nie eine echte Texanerin gesehen? Kaum vorstellbar, doch
vielleicht hätte ich zumindest an meinem ersten Tag auf meinen Hut
und die geliebten Stiefel verzichten sollen. Schnell stopfe ich das
Foto von Miranda in die Tasche meiner kurzen Shorts und als ich
meinen Blick hebe, ist eine harte Männerbrust alles, was ich sehe.
Der graue Stoff des T-Shirts direkt vor meiner Nase, hält mich in
seinem Bann gefangen.
Unter ihm zeichnen sich bereits die Konturen von
Brustmuskeln ab, die mich sofort ein Stück nach hinten weichen
lassen. Sie erinnern mich zu sehr an etwas, das ich niemals in
meinem Leben haben kann. Sobald ich dem zum Körper gehörendem
Gesicht in die Augen sehe, verschwimmt alles vor mir. Ich habe noch
nie einen Mann attraktiv gefunden, weil ich weiß, was sie mit einem
machen können. Ihr gutes Aussehen kann einen in den Bann ziehen und
nie wieder freigeben, auch wenn man damit in seinen eigenen Abgrund
spaziert. Doch jetzt blicke ich in so schokoladige Augen, dass ein
Cookie locker einpacken könnte. Es ist, als hätte man seine Augen
aus einem Schokobrunnen hervorgezaubert. Als ich meinen Blick über
den Rest seines Gesichts schweifen lasse, bleibt mein Herz kurz
stehen. Dabei hasse ich dieses Gefühl, meinen eigenen Herzschlag
nicht mehr spüren zu können. »Cassidy?« Erst als dieser Name seine
Lippen verlässt, werde ich aus meiner Starre gerissen. Seine Augen
beginnen zu glänzen, doch etwas in ihnen verrät mir, dass er durch
mich hindurchschaut, anstatt mich anzusehen. Als würde er hinter
mir jemanden ausmachen, der ihm diese Tränen in die Augen treibt.
Das Verlangen in seinem Blick sorgt sofort dafür, dass ich ihm am
liebsten das geben würde, wonach er sich sehnt. Obwohl ich weiß,
dass ich es niemals könnte.
»Ähm … entschuldige«, antworte ich ihm und mache
mich daran, so schnell wie möglich aus seinem Sichtfeld zu
verschwinden. Er darf mich nicht so ansehen. Niemand darf das.
Sekunden später packt mich der Fremde an meinem rechten Unterarm
und zieht mich zurück in seine Richtung, doch als sein Blick erneut
in meinem Gesicht landet, sehe ich etwas in ihm. Enttäuschung.
»Sorry, ich dachte, du wärst jemand anderes«, sagt er tonlos, wobei
seine Stimme leicht zu vibrieren beginnt. Seine Haut an meiner zu
spüren fühlt sich falsch an. Niemand darf mich auf diese Art und
Weise berühren. Sofort entziehe ich ihm meinen Arm, räuspere mich
und lasse mich letztendlich doch darauf ein, ihn eingehend zu
mustern. Seine braunen Haare schimmern im Licht blond, stehen in
verschiedene Richtungen ab und sehen unendlich weich aus. Seine
Lippen sind zu einer schmalen Linie verzogen, während sein Blick
noch immer glasig auf mich gerichtet ist. Unter dem Shirt kann ich
seine Brust pochen sehen, so, als würde sein Herz im nächsten
Augenblick aus ihr heraus springen. Seine Oberarme wirken markant
und einige seiner Muskeln scheinen sich anzuspannen, als er seine
Reisetasche fest umklammert. »Okay«, flüstere ich leise, während
ich mir erneut meinen Koffer schnappe. Als ich mich bücke, befreit
sich Mirandas Bild aus meiner Hosentasche und rieselt wie in
Zeitlupe auf den Boden. Bevor ich danach greifen kann, hat der
Fremde sich ebenfalls nach vorn gebeugt und das Foto aufgehoben.
Sobald sein Blick wieder meinen streift, wird er blass. Seine
Lippen beben kaum merklich, als er immer wieder zwischen dem Foto
in seinen Händen und mir hin und her schaut. »Warte, woher hast du
das?«, fragt er mich barsch, wobei er das Bild in meine Richtung
dreht und es mir vors Gesicht hält. Weil sich alles in meinem
Inneren verkrampft, schaffe ich es nicht, ihm zu antworten.
»Woher du das hast, hab ich dich gefragt! Bist
du … bist du Melody?«, setzt er noch einmal hinterher und beinahe
fühlt es sich an, als würde er meinen Namen ausspucken. Als würde
er mich schon jetzt verabscheuen. Woher zur Hölle weiß er, wer ich
bin? »Ja, das bin ich«, ist alles, was ich mit zittriger Stimme
über meine Lippen bringe. Sofort tritt ein Zorn in seinen Blick,
der mich erneut zurückweichen lässt. Ich kenne diesen Ausdruck zu
gut, als dass ich ihn noch eine weitere Sekunde ertragen könnte.
»Verdammt, das kann doch jetzt nicht dein Ernst sein!«, donnert er,
während er vor meinen Augen auf und ab zu laufen beginnt. Seine
Tasche hat er mittlerweile auf den Boden fallen lassen. Anstatt
etwas zu sagen, starre ich ihn weiterhin einfach nur stumm an. Es
geht nicht anders – mein Herz scheint jeden Moment stehen zu
bleiben. Gleich wird mich alles wieder einholen, auf eine Art und
Weise, wie es mich nie wieder einholen sollte. »Du kannst deiner
Mutter sagen, dass die Sache abgeblasen ist«, presst der Typ vor
mir nun angespannt hervor und fesselt mich noch Sekunden später mit
seinem Blick. Als könnte er es nicht fassen, dass ich hier bin. Was
hat dieser Kerl eigentlich für ein Problem? Als ich in meinem
Gehirn nach irgendeinem Anhaltspunkt suche, was ihn mit meiner
Mutter verbinden könnte, versteift sich mein ganzer Körper. Auf
einmal ist es, als wäre alles sonnenklar, was sonst im Dunkeln lag.
Seine Augen erinnern mich nicht ohne Grund an die der Frau auf dem
Foto.
»Du … du bist Andrew?«, bringe ich stotternd
hervor, während ich mir meinen Hut schnappe und ihn sachte auf
meinen Koffer gleiten lasse. Sobald ich meine Haare befreit habe,
starrt er mich noch entsetzter an als ohnehin schon. Andrew ist der
Junge, mit dem ich den Schüleraustausch vornehmen soll. Ich werde
in seiner Familie sein, während er meine Mutter mit seiner
Anwesenheit beglückt. Ich weiß, dass er es würde, immerhin hat
meine Mom sich immer nur eines gewünscht: mich endlich
auszutauschen. »Blitzmerkerin«, zischt er, während er noch immer
nicht aufhört, mich beängstigend zu mustern. »Was ist dein Problem,
verdammt?«, presse nun auch ich wütend hervor. Wieso zur Hölle
mussten wir uns begegnen? Hätten wir nicht einfach in die jeweils
andere Familie eintauchen können, ohne dass wir uns über den Weg
laufen?
Mittlerweile hasse ich mich dafür, früher als
geplant geflogen zu sein. Diese Unterhaltung ist so surreal, dass
ich nicht einmal mit dem Kopf schütteln kann. Ich bin zu nichts
mehr imstande. »Du bist mein Problem! Ich … ich habe keinen Bock
mehr auf den Scheiß! Ich wollte den Austausch sowieso nie machen,
aber jetzt … flieg einfach zurück nach Hause!« Ungläubig blicke ich
zu ihm auf, während ich verzweifelt nach den passenden Worten
suche. »Ich kann jetzt nicht einfach zurückfliegen! Ich habe kein
Ticket, verdammt! Außerdem steht dieser Austausch seit Wochen
fest.« Ohne mir weiter Beachtung zu schenken, kramt er in seiner
Tasche herum, bis er ein Portemonnaie zückt, etliche Scheine
herauszieht und sie mir in die Hand drückt. Dabei weicht er meinem
Blick bewusst aus. »Flieg einfach wieder zurück, okay?«
»Aber … warum?« Mit zittrigen Fingern umklammere
ich die Geldscheine, die sich so anders anfühlen als unsere. Immer
deutlicher wird mir bewusst, dass ich verloren bin. Tausende
Kilometer von meinem vertrauten Territorium entfernt. »Weil ich
dich hier nicht haben will. Keiner will das. Also dreh dich einfach
um, kauf dir ein Ticket und flieg zurück! Du hast hier nichts
verloren. Und vergiss deinen albernen Hut nicht!« Die Anspannung,
die ihn plagt, scheint sich von Sekunde zu Sekunde zu verstärken.
Seine Worte sind wie ein harter Schlag ins Gesicht. Als würde eine
Faust, die mir allzu vertraut erscheint, erneut auf mich
einschlagen. Zum Glück bin ich diesen körperlichen Schmerz gewohnt,
er ist nichts gegen den seelischen. Ohne ein weiteres Wort zu
verlieren, dreht Andrew sich um, schnappt sich seine Tasche und
lässt mich stehen. Verdutzt. Verletzt. Allein. Unsicher sinke ich
zu Boden und sehe ihm hinterher, während ich mir größte Mühe gebe,
meinen Puls wieder zu regulieren. Willkommen in Australien.
Ihre Augen waren viel zu grau. Viel zu nah an der
Farbe, die es nur ein einziges Mal auf dieser Welt gibt. Die Farbe,
die mich in ihren Bann gezogen hat, seit ich denken kann. Doch
dieses Mädchen ist anders. Sie ist vollkommen anders. Das rede ich
mir jedenfalls immer und immer wieder ein, seitdem ich sie einfach
habe stehen lassen. Es stimmt, ich hatte seit der ersten Sekunde
keinen Bock auf diesen idiotischen Austausch, auch wenn meine Mom
der Meinung war, dass es mir helfen würde. Als würde mir
tatsächlich jemand helfen können. Ich brauche keine Hilfe und vor
allem wäre es keine, bei diesem Mädchen zu Hause in Texas zu
versauern. Ganz ehrlich, wer will schon in Texas leben?
Als diese Frage durch meinen Kopf schießt,
beginnen meine Augen erneut, Flüssigkeit zu produzieren. Ich heule
nicht. Schließlich komme ich mit der ganzen Scheiße bestens allein
zurecht. Nachdem ich sie habe stehen lassen, sah ich noch etliche
Male zurück. Sie tat mir leid. Aber meine Wut war stärker als jedes
Mitleid, das ich empfand. So war es schon immer und so wird es
immer sein, daran wird auch Melody nichts ändern können. Melody.
Sogar ihr Name klingt mir viel zu vertraut. Viel zu ähnlich. Viel
zu … schwungvoll. Donnernd lasse ich meine Faust auf das Lenkrad
fallen, während ich versuche, meine Wut wieder in den Griff zu
bekommen. Ich weiß, was mir helfen könnte. Doch erst einmal muss
ich meiner Mom erklären, dass ich nicht fliegen werde. Definitiv
werde ich weder heute noch morgen oder in drei Wochen nach Texas
fliegen. Diese Sache hat sich, als ich sie gesehen habe, erledigt.
Ich starte den Motor und fahre quietschend aus der Parklücke
heraus, während ich in meiner Hosentasche nach meinem Handy
suche.
Wieso müssen wir Kerle eigentlich unser ganzes
Arsenal in den Hosentaschen verstauen? Die sind doch nicht
ansatzweise groß genug, verdammt! Als ich das Handy endlich aus der
Tasche befreit habe, scrolle ich durch mein Telefonbuch und
verweile auf ihrem Namen, entschließe mich jedoch in letzter
Sekunde, jemand anderen anzurufen. Jemanden, der mich aus diesem
Loch, in das ich gerade falle, bestens herausziehen kann. »Hey,
Alter. Vermisst du mich jetzt schon so doll, dass du es nicht mal
eine halbe Stunde ohne mich aushältst? Hör mal, ich bin gerührt,
aber langsam mache ich mir echt Sorgen«, beginnt Cooper am anderen
Ende der Leitung mich aufzuziehen. »Planänderung. Ich fliege
nirgendwohin!«, antworte ich ihm und umklammere mein Handy so fest,
dass meine Adern hervortreten. Immer wieder presse ich meinen Fuß
aufs Gaspedal, damit ich nicht langsamer werde. »Was laberst du für
einen Müll, Drew? Natürlich fliegst du!« Zynisch lachend schüttele
ich meinen Kopf, nur um dieses Bild aus meinem Gedächtnis zu
verbannen. Ich muss verdammt noch mal diese Farbe aus meinem
Gedächtnis streichen! »Kein Witz, Mann. Ich hab mich umentschieden.
Ich bleibe«, sage ich, bewusst entspannt, damit Cooper merkt, wie
ernst es mir ist. »Was soll der Scheiß? Deine Mutter wird
ausrasten!« Beim Gedanken daran, wie enttäuscht Mom sein wird,
verspüre ich sogar etwas Reue. Aber die Wut überlagert noch immer
jedes andere Gefühl in meinem Inneren. »Sie wusste von Anfang an,
dass ich keinen Bock auf den Scheiß habe. Weder auf ihre Familie
noch auf diese beschissene Stadt.«
»Was ist mit Melody?«, fragt er mich und allein
beim Klang ihres Namens keimt der Zorn in mir wieder so stark auf,
dass ich alles um mich herum in Kleinholz verwandeln könnte. »Ich
habe sie am Flughafen getroffen und ihr gesagt, dass sie nach Hause
fliegen soll. Ganz einfach.«
»Ganz einfach? Du kannst sie doch nicht einfach
nach Hause schicken, Mann. Was hast du gemacht? Sie da einfach
sitzen lassen?« Langsam, aber sicher bemerke ich, dass Cooper alles
andere als begeistert über meinen plötzlichen Sinneswandel ist.
Dabei kann es ihm vollkommen egal sein, wie ich sie behandle. »Ich
habe ihr Geld für das Ticket in die Hand gedrückt und ihr 'n guten
Heimflug gewünscht. Keine Sorge, die kommt schon klar.« Ihr einen
guten Heimflug gewünscht? Dass ich nicht lache. Vermutlich sitzt
sie jetzt heulend am Flughafen und hat keine Ahnung, was sie machen
soll. Doch ich darf nicht daran denken, sonst komme ich noch auf
die blöde Idee zurückzufahren, um sie mitzunehmen. Und das wäre
mein Untergang. »Das ist nicht zu fassen. Sag mir, wie sie
aussieht, dann hol ich sie ab!« Während ich mich von meinem besten
Kumpel anschnauzen lasse, rufe ich mir ihr Bild in Erinnerung.
Diese Haut, die aussah, als wäre sie von der Sonne geküsst. Ihr
blondes Haar, das viel zu nah an dem Blond ist, das ich liebe. »Du
brauchst sie nicht abzuholen. Sie ist bestimmt schon wieder auf dem
Weg zurück«, antworte ich ihm, während ich mir ihr Bild aus dem
Gedächtnis schüttele. Mein Blick ist stur auf die Straße gerichtet,
während ich mich darauf konzentriere, dass dieser Wagen unter mir
nicht ausbricht. »Du glaubst doch nicht, dass sie so schnell einen
Flieger bekommen hat. Sie ist ganz allein da, Mann. Sie kennt hier
keinen, vergiss nicht, dass sie in einem völlig fremden Land auf
einem beschissenen Flughafen festsitzt.«
»Sie steht das schon durch. Die Kleine wird auch
ohne dich klarkommen, Cooper! Sie kommt aus Texas. Sie hatte sogar
einen beschissenen Cowboyhut auf!« Natürlich weiß ich es besser.
Das Äußere hat nichts mit dem Inneren eines Menschen zu tun. Melody
war so still und verunsichert, dass sie das Bild, das ich von so
einem Mädchen wie ihr hatte, sofort vollkommen veränderte. »Das ist
dein Problem, oder? Dass sie aus Texas kommt. Du dachtest, du
würdest damit fertigwerden, aber das kannst du nicht«, stellt
Cooper fest und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Aber es ist
mir egal, was er von mir hält. Im Hintergrund höre ich lautes
Planschen im Wasser, weibliche Stimmen, die so viele Oktaven in die
Höhe steigen, dass es in meinen Ohren schmerzt. Wie hält Cooper das
nur ständig aus? »Ist Lily bei dir?«, frage ich ihn, ohne auf seine
Bemerkung näher einzugehen. Sobald ich ihren Namen ausgesprochen
habe, beruhige ich mich. Nicht, weil ich Gefühle für sie habe,
sondern weil sie meine Gefühle für immer aus mir verbannt.
Zumindest solange sie bei mir ist. Dieses Mädchen macht es mir
unmöglich, etwas für sie zu empfinden, und genau deshalb brauche
ich ihre Nähe jetzt dringender denn je. »Ja, ist sie. Soll ich dich
weiterreichen?«
»Nein, sag ihr einfach, dass sie zu mir kommen
soll. JETZT!«, antworte ich ihm und lege all meine Willenskraft in
diese Worte. Ich muss mich wieder leer fühlen.
»Ich sags ihr. Aber jetzt nochmal zu Melody. Sag
mir einfach, wie sie aussieht. Ich werde sie da garantiert nicht
allein sitzen lassen!« Jetzt, da er sie wieder in mein Gedächtnis
zurückruft, verpufft meine letzte Selbstbeherrschung. Ich
umklammere das Handy so fest, dass es knackende Geräusche von sich
gibt. »Könntest du aufhören, dich wie Mutter Teresa aufzuführen? Du
kennst sie nicht mal. Lass es einfach gut sein.« Ich erreiche die
offene Straße in Richtung Rocky Beach und drücke aufs Gaspedal, bis
der Motor heulend aufschreit. »Und heute Abend gehen wir feiern«,
setze ich noch hinterher und beende damit das Gespräch, um mich
voll und ganz auf die rasende Geschwindigkeit zu konzentrieren, die
mich von allem wegbringt.
Noch immer presche ich durch die
Straßen von Port Macquarie, meinem Zuhause. Wie konnte ich mich
ernsthaft auch nur eine Sekunde darauf einlassen, diesen Ort zu
verlassen? Ich darf ihn nicht verlassen, immerhin sind Erinnerungen
mit ihm verknüpft, die nur er mir geben kann. Immer wieder
schleicht Melody sich in meinen Kopf und schafft es, dass ich mich
beschissen fühle. Allein schon deshalb will ich, dass ich ihre Nähe
nie wieder spüren muss. Sobald ich in unsere Nachbarschaft
einbiege, reduziere ich meine Geschwindigkeit und lasse die Häuser,
die mir nur allzu vertraut sind, an mir vorbeiziehen.
Für mich sind sie vertraut. Für sie ist all das
hier fremd. Neuland. Und doch habe ich sie einfach da sitzen
lassen. Einige Dinge, die über mich im Umlauf sind, versuche ich
immer abzustreiten. Aber eine Sache, die über mich erzählt wird,
ist wahr. Ich bin ein Arschloch. Ein ganz gewaltiges. Und das,
obwohl sie Arschlöcher gehasst hat. Vermutlich bin ich
deshalb genau dazu geworden. Zu dem, was sie verabscheut. Damit es
nicht mehr so verflucht wehtut.
Sobald ich die Karre in der Garage
geparkt habe, steige ich aus, schlage die Tür wütend zu und mache
mich auf den Weg ins Haus. Schon jetzt kann ich das Wasser riechen,
das nur wenige Meter von unserem Strandhaus entfernt ist. Am
liebsten würde ich sofort, ohne mit meiner Mom zu reden, zum Strand
gehen und mich von den Wellen vollkommen einnehmen lassen. Das.
Ist. Alles. Was. Ich. Will. Und doch muss ich mich jetzt dem Mist
stellen, den ich verzapft habe. Die Treppe unserer Veranda
hinaufzusteigen fühlt sich gut und gleichzeitig falsch an. Ich habe
alles durcheinandergebracht. Alle Pläne. Alles, was meine Mom
mühsam versucht hat, aufzubauen. »Mom?«
Meine Stimme klingt entschlossen, aber dennoch
muss ich mir größte Mühe geben, nicht sofort abzuhauen. »Andrew?«
Die Stimme meiner Schwester sorgt dafür, dass ich meinen Kopf
sofort in die entsprechende Richtung reiße. Ohne darüber
nachzudenken, was ich jetzt tun soll, renne ich ihr entgegen und
sofort wirft Amber sich in meine Arme und umklammert mich so fest,
dass ich kaum noch Luft bekomme. »Was … was machst du hier?« Als
ich ihr ins Gesicht sehe, bemerke ich, dass ihre Augen noch immer
rot unterlaufen sind. Amber konnte den Gedanken nicht verkraften,
ein Jahr lang von mir getrennt zu sein. So wie ich. Meine kleine
Schwester bedeutet mir alles. Mit ihren knapp ein Meter sechzig
blickt sie zu mir auf, während sie sich die Überreste ihrer Tränen
aus dem Gesicht wischt. »Ich habs mir anders überlegt. Wie kann ich
dich allein lassen? Nicht, dass Cooper dich noch auffrisst«,
stichele ich und sehe sofort, dass ihre Augen aufblitzen, sobald
ich seinen Namen ausspreche. Sie ist verknallt in ihn. So stark,
dass sie jede Nacht traurige Emosongs hört, Herzchen an die Wände
malt und ihn jedes Mal mit ihren Blicken auszieht, wenn er zu
Besuch ist.
Cooper ist ein Blindgänger – er checkt es
einfach nicht. Dabei ist Amber mit ihren sechzehn Jahren nur ein
Jahr jünger als er und deutlich reifer als andere in diesem Alter.
Okay, das widerspricht jetzt den Emosongs und den Herzchen, ich
gebs zu. Aber in anderen, wichtigen Dingen ist sie wirklich weitaus
älter, als sie es biologisch ist. »Mom wird dich umbringen, das
weißt du, oder?«, fragt sie und drückt ihren Rotschopf an meine
Brust. Die Brust, auf die Melody vorhin wie sabbernd gestarrt hat.
Damit ich nicht wieder im Selbstmitleid versinke, hebe ich meine
Schwester hoch, werfe sie auf meinen Rücken und mache mich auf in
die Höhle des Löwen. Hoffentlich wird sie mich nicht kastrieren,
wenn ich ihr sage, dass ich Melody einfach habe sitzen lassen.
Oh doch und wie sie mich kastrieren wird. Meine Mom freut
sich schon wochenlang auf dieses Mädchen, beinahe so, als hätte sie
lieber noch eine Tochter, als mich. »Na und? Ich hätte es nicht
verantworten können, dass du ein Jahr lang auf Coopers nackten
Oberkörper verzichten musst, weil ich nicht da bin, um mit ihm
surfen zu gehen. Glaub mir, du liegst ihr am Herzen. Wenn wir ihr
einfach nur verklickern, dass du süchtig nach verschwitzten
Cooper-Düften bist, dann wird sie das verstehen.«
»Wage es ja nicht, ihr davon zu erzählen!«,
kreischt Amber, als ich sie wieder absetze und durch die Gegend
wirble. »Keine Sorge, ich würde es anders ausdrücken. Sonst kann
Mom wahrscheinlich nie wieder ruhig schlafen, wenn er hier ist. Und
das wäre für mich genauso mies wie für dich«, sage ich lächelnd,
während ich ihr eine Strähne hinter das Ohr schiebe, die sich aus
ihrem Dutt gelöst hat. Seit sie geboren ist, habe ich keinen
Menschen getroffen, der mir so viel bedeutet wie sie. Okay, das ist
gelogen, aber wenn ich es mir selbst lange genug einrede, dann
werde ich vielleicht eines Tages wirklich daran glauben. »Kommt
Cooper heut vorbei? Jetzt, wo du hierbleibst, wollt ihr euch doch
bestimmt in die Wellen stürzen«, sagt Amber verführerisch und ich
sehe, dass sie in dieser Sekunde wieder zu dem dreizehnjährigen
Mädchen mutiert, das sabbernd vor dem Backstreet-Boys-Poster in
ihrem Zimmer sitzt und Brian anschmachtet. Damals habe ich sie
damit immer aufgezogen und auch jetzt verliert diese Angelegenheit
nicht ihren Reiz.
»Andrew?« Die Stimme meiner Mutter reißt mich
aus dem Gespräch mit meiner Schwester, die mich nur verängstigt
ansieht. Schnell drehe ich mich um und blicke in das schockierte
Gesicht von Miranda McCaw. Und glaubt mir, das Gesicht gleicht in
diesem Fall einem Serienmörder aus einem schlechten
Achtziger-Jahre-Horrorfilm. Unsicher lasse ich meinen Blick an mir
hinabwandern, um mich schon mal von meinem besten Stück zu
verabschieden.
»Hey, Mom«, begrüße ich sie, als ich meinen
Blick wieder nach oben gleiten lasse und sehe, wie sie mit
verschränkten Armen dasteht. »Was zur Hölle machst du hier? Du
solltest schon längst im Flieger sitzen! Ich muss gleich Melody
abholen!« Nervös trete ich von einem Bein aufs andere und gehe ihr
ein Stück entgegen. Sicherheitshalber ziehe ich Amber hinterher,
damit meine Mom nicht auf doofe Gedanken kommt. Die Kastration wird
sie doch wohl nicht vor den unschuldigen Augen ihrer eigenen
Tochter durchführen. Oder doch?
»Du brauchst sie nicht abzuholen. Ich habe keine
Lust auf den Kram, Mom. Du wusstest es von Anfang an. Es tut mir
leid, dass ich deine kostbaren Pläne durcheinanderbringe, aber ich
muss einfach hierbleiben und auf Amber aufpassen. Außerdem muss ich
besser werden – die Wellen in Texas sind dafür bekannt, nicht
existent zu sein«, beginne ich mein Fehlverhalten in ein positives
Licht zu rücken. Irgendwie muss ich es ihr erklären, ohne den
wahren Grund zu verraten. »Das kannst du unmöglich ernst meinen,
Andrew! Wir hatten das wochenlang ausdiskutiert und du hast dich
dafür entschieden, mitzumachen! Und was ist mit Melody? Es geht
hier nicht nur um dich, Andrew!« Ihre Worte sind schneidend, und
wenn ich noch fünf Jahre jünger wäre, dann würde ich spätestens
jetzt in Tränen ausbrechen. »Ich habe sie am Flughafen getroffen
und ihr gesagt, dass sie wieder nach Hause fliegen kann. Keine
Sorge, ich habe ihr das Geld fürs Ticket gegeben. Sie hatte auch
nicht sonderlich Bock auf all das hier.« Sobald diese Worte meinen
Mund verlassen haben, bekomme ich Panik. Meine Mutter konnte schon
immer diesen teuflischen Blick aufsetzen, aber jetzt scheinen ihre
Augen beinahe zu glühen – vor Wut. Gleich zerscheppert sie etwas.
Ganz sicher. Amber krallt sich währenddessen an meinem Arm fest und
ich ziehe sie noch ein Stück näher an mich heran.
»Das hast du nicht gesagt, oder? Verdammt noch
mal, was ist dein Problem? Du kannst sie nicht einfach wieder
zurückschicken! Und vor allem kannst du sie nicht einfach alleine
in einem völlig fremden Land auf dem Flughafen sitzen lassen! Ich
kann es vielleicht noch verstehen, dass du nicht fliegen wolltest,
aber dieses Verhalten ist unter aller Sau! Das Mädchen kann nichts
dafür, dass du dich nicht entscheiden kannst!« Natürlich kann sie
nichts dafür. Und dennoch gebe ich ihr in jeder einzelnen Sekunde
die Schuld an meiner Misere. Obwohl ich weiß, dass es unfair ist.
Das Leben war mir gegenüber auch nie fair, also scheiß auf
Fairness! Meine Mom geht an mir vorbei, ohne mich anzusehen.
Sekunden später hat sie ihren Korb auf dem Tisch abgestellt, sich
ihre Schlüssel geschnappt und macht sich auf den Weg zur
Veranda.
»Was machst du, Mom?«, fragen Amber und
ich wie im Chor und können ein Lachen nicht unterdrücken.
»Ich hole Melody vom Flughafen ab! Und, Andrew,
das wird noch Konsequenzen haben!« Mein Lachen wird im Keim
erstickt. Sie wird sie mit nach Hause bringen. Alles bricht in
dieser Sekunde in mir zusammen. Die Konsequenzen haben bereits
begonnen, als ich dieses Haus betreten habe. Einen Augenaufschlag
später ist meine Mom verschwunden. Zu meinem Glück höre ich schon
einen Moment später klackende Absätze auf der Veranda, die mich
wieder in die Realität zerren. Lily erscheint im Wohnbereich, mit
einem so kurzen Rock, dass ich es kaum schaffe, meine Augen von
ihren nackten Beinen zu lassen. Ihre braunen Haare sind noch vom
Wasser feucht und Tropfen davon perlen auf ihr sonnengebräuntes
Dekolleté herab, das sie mir genüsslich präsentiert, als sie näher
kommt. »Hey, Babe«, schnurrt sie, während sie mir einen Kuss auf
den Mund presst, der mir beinahe den Atem raubt. Nicht, weil er
mich anturnt, sondern weil sie auch nach einer gefühlten Ewigkeit
nicht von mir ablässt. »Oh Gott, ich gehe kotzen«, sagt Amber
würgend und verkriecht sich nach oben in ihr Zimmer. Sofort greife
ich Lilys Hand und zerre sie ebenfalls nach oben - in mein Zimmer.
Weg von all dem, was mich heimsucht.
Als ich die Tür hinter mir geschlossen habe,
beginnt sie, sich aus dem Rock, der ihre Haut eng umschließt, zu
befreien. Und noch immer rührt sich nichts in mir. Ich sehe ihr in
die Augen und es passiert nichts. Kein einziges echtes Gefühl
überkommt mich, außer das körperliche Verlangen, das von Sekunde zu
Sekunde stärker wird. Ruppig ziehe ich Lily an mich und mache mich
daran, ihr Bikinioberteil zu öffnen, um es letztendlich hart von
ihrem Körper zu entfernen. Und dann sehe ich sie an. Für viele mag
sie perfekt sein. Für mich ist sie ein Mittel zum Zweck, auch wenn
ich niemals so enden wollte. Lily macht sich daran, mich aufs Bett
zu ziehen und ihre Schenkel um meinen Oberkörper zu schlingen.
Einen Augenblick später senke ich meine Lippen auf ihre. Als ich
meine Augen öffne und erwarte, in ihre braunen Augen zu sehen,
erstarre ich. Sie sind nicht braun. Sie sind grau. Es ist dieses
seltsame, faszinierende Grau, das mich ab jetzt ein Jahr lang
verfolgen wird.
»Geh mir aus den Augen.«