Zsolnay E-Book
Henning Mankell
Die rote Antilope
Roman
Aus dem Schwedischen
von Verena Reichel
Paul Zsolnay Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 2000 unter dem Titel Vindens son bei Norstedts in Stockholm.
ISBN 978-3-552-05678-7
© Henning Mankell 2000
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2001
2. E-Book-Auflage 2017
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
Zur Erinnerung an Jan Bergman
PROLOG
Schonen 1878
Die Krähen zankten sich. Sie tauchten hinab in den Lehm, rissen sich wieder empor, und ihr Gezeter tönte schneidend durch den Wind. Es hatte lange geregnet, in diesem Augustmonat 1878. Die Unruhe der Krähen kündigte den Herbst an und einen langen, strengen Winter. Aber einer von den Kätnern, die zum Schloß Kågeholm gleich nordwestlich von Tomelilla gehörten, wunderte sich über die Krähen. An ihrer Unruhe war etwas, das er nicht kannte. Und Krähenschwärme hatte er schon sein ganzes Leben lang gesehen. Spät am Nachmittag ging er an einem Graben entlang, der mit Wasser gefüllt war. Fast bis zuletzt blieben die Krähen sitzen. Aber als er zu nahe kam, verstummten sie und flatterten weg. Und er, der gekommen war, um zu sehen, was die Unrast der Vögel verursachte, entdeckte sofort, was es war. Da lag ein totes Mädchen, zur Hälfte unter einem Reisighaufen begraben.
Im selben Moment begriff er, daß das Mädchen ermordet worden war. Jemand hatte auf ihren Körper eingestochen und ihr die Kehle durchgeschnitten. Aber als er sich nah zu ihrem Gesicht beugte, bemerkte er etwas Eigentümliches. Etwas, das ihn mehr erschreckte als die durchschnittene Kehle. Derjenige, der sie getötet hatte, hatte sie mit Lehm erstickt, ihn ihr in Rachen und Nasenlöcher gestopft. So fest hatte er gepreßt, daß das Nasenbein gebrochen war. Das Mädchen mußte einen qualvollen Tod erlitten haben.
Er lief denselben Weg zurück, den er gekommen war. Da es sich offensichtlich um Mord handelte, forderte der Polizist Landkvist in Tomelilla Hilfe von der Kriminalpolizei in Malmö an.
Das tote Mädchen hieß Sanna Sörensdotter und galt bei allen, einschließlich des Dorfpfarrers David Hallén, als zurückgeblieben. Als man sie fand, hatte man sie in ihrem Elternhaus in Kverrestad bereits seit drei Tagen vermißt.
Dem Arzt zufolge, der den Körper untersuchte, Doktor Madsen aus Simrishamn, war sie aller Wahrscheinlichkeit nach keinem sexuellen Übergriff ausgesetzt gewesen. Da sich der Körper bereits in Verwesung befand und die Krähen ihn stark entstellt hatten, mußte er sich jedoch vorbehalten, daß die Wahrheit auch eine andere sein könnte.
Es gingen viele Gerüchte über den möglichen Mörder um. Ein besonders hartnäckiges lautete, in der Gegend sei ein polnischer Seemann gesehen worden, kurz bevor Sanna Sörensdotter aus ihrem Elternhaus verschwunden war. Obwohl die Fahndung landesweit ausgeschrieben war, und außerdem sogar in Dänemark, wurde der Mann nie gefunden.
Der Mörder befand sich auf freiem Fuß.
Er allein wußte, was er getan hatte.
Und weshalb.
TEIL I
Die Wüste
Er war schon sehr lange in der glühenden Hitze unterwegs. Während der letzten vierundzwanzig Stunden hatte ihn mehrmals heftiger Schwindel befallen, und er hatte geglaubt, er müsse sterben. Das hatte ihn mit Furcht erfüllt, oder vielleicht war es eher Raserei, und er hatte sich wütend weiter vorangekämpft. Die Wüste war endlos. Er wollte nicht sterben, noch nicht, und er hatte Amos, den fetten Neka und die anderen schwarzen Männer angetrieben, die er in Kapstadt gedungen hatte und die seine drei Ochsen mit dem Wagen führten, auf dem sein ganzes Leben verpackt und mit Stricken befestigt war. Irgendwo vor ihnen, tief drinnen in der gleißenden Hitze, lag eine Handelsstation, und hätte er diese erst erreicht, würde alles gut werden. Er würde nicht sterben. Er würde weiter nach seinen Insekten suchen, nach dieser verdammten Fliege forschen, die keiner vor ihm entdeckt hatte und der er seinen Namen würde geben können, Musca bengleriensis. Er konnte jetzt nicht aufgeben. Er hatte sein ganzes Leben in diese Jagd auf eine unbekannte Fliege investiert. Und so war er weitergelaufen, und der Sand und die Sonne hatten sich wie Messer in sein Bewußtsein gebohrt.
Vor zwei Jahren hatte er in seinem Studentenzimmer in der Prästgatan in Lund gesessen und draußen die Hufe der Pferde übers Pflaster klappern hören, während er eine unvollständige deutsche Karte der Kalahariwüste studierte. Sein Finger war an der Küste von Deutsch-Südwestafrika entlanggefahren, hatte sich in nördlicher Richtung bewegt, bis zur Grenze von Angola, dann nach Süden zum Land der Buren, und schließlich ins Innere, ins Zentrum von Südafrika, das keinen Namen hatte. Damals, 1874, war er 27 Jahre alt, und er hatte bereits jeden Gedanken daran aufgegeben, sein Studium zu Ende zu bringen und ein Universitätsexamen abzulegen. Als er von der Kathedralschule in Växjö nach Lund gekommen war, hatte er erst vorgehabt, Arzt zu werden, aber bereits beim ersten Besuch in der Anatomie war er ohnmächtig geworden und umgefallen wie ein schwerer Baum. Der Seminarleiter, Professor Enander, hatte, bevor die Türen des Anatomischen Theaters geöffnet wurden, ausführlich berichtet, sie würden jetzt eine Herumtreiberin obduzieren, eine unverheiratete Frau, die in einem Kopenhagener Bordell im Suff zu Tode gekommen sei und die man in einem Sarg wieder nach Schweden transportiert habe. Eine Mamsell Andersson aus Kivik, die der Sünde verfallen sei und schon mit fünfzehn ein uneheliches Kind geboren habe. Sie habe ihr Glück in Kopenhagen gesucht, wo sie nichts anderes erwartet habe als Unglück. Er erinnerte sich an die fast lüsterne Verachtung, die Professor Enanders Einführung prägte.
–Wir werden einen Leichnam aufschneiden, der schon zu Lebzeiten ein Kadaver war. Einen Hurenkadaver aus Österlen.
Danach waren sie geschlossen in das Anatomische Theater eingezogen, sieben Kandidaten der Medizin, lauter Männer, einer so bleich wie der andere, und anschließend hatte Professor Enander angefangen, den Bauch aufzuschneiden. Da war er in Ohnmacht gefallen. Er hatte sich den Kopf an einer der harten Stahlkanten des Obduktionstisches aufgeschlagen, davon war ihm ein Mal geblieben, eine Narbe gleich über dem rechten Auge.
Daraufhin hatte er alle Gedanken an eine medizinische Karriere aufgegeben und erwogen, zum Militär zu gehen, hatte aber nur ein sinnloses Ritual von marschierenden und schreienden jungen Männern vor sich gesehen. Er hatte mit der Philosophie geliebäugelt und mitunter überlegt, ob er Pfarrer werden sollte, wenn er mit den Kommilitonen zusammensaß und trank, aber es gab keinen Gott, und schließlich war er bei den Insekten gelandet.
Er konnte sich noch genau an diesen frühen Sommermorgen erinnern. Er war mit einem Ruck aufgewacht, als hätte ihn etwas gestochen, und als er das Fenster öffnete, hatte der Gestank von der Straße ihm Übelkeit verursacht. Als wäre er einer plötzlichen Gefahr ausgesetzt, hatte er sich hastig angezogen, seinen Spazierstock genommen und war stadtauswärts gewandert, in Richtung Staffanstorp. Unterwegs war er müde geworden, war von der Straße abgewichen und hatte sich in den Schatten eines Baums gelegt, um sich auszuruhen und vielleicht ein wenig zu onanieren. Und als er da lag, ließ sich ein bunter Schmetterling auf seiner Hand nieder. Es war ein Zitronenfalter, aber er war noch etwas anderes gewesen als das. Das Farbenspiel auf den Flügeln, die sich langsam öffneten und schlossen, hatte sich immerzu verändert. Die Sonnenstrahlen, die durchs Laubwerk fielen, verwandelten das Gelb in Rot, in Blau, dann wieder in Gelb. Der Schmetterling hatte lange auf seiner Hand gesessen, als hätte er eine wichtige Botschaft für ihn, und dann, als er plötzlich aufgeflogen und verschwunden war, hatte er es gewußt.
Insekten.
Die Welt war voller Insekten. Die keinen Namen hatten, nicht katalogisiert waren. Insekten, die auf ihn warteten. Die darauf warteten, sortiert, beschrieben und klassifiziert zu werden. Er war nach Lund zurückgekehrt, hatte sich in der Botanik um die Zulassung beworben, und obwohl er schon ein älteres Semester war, hatte der Professor ihn freundlicherweise angenommen. Im Sommer hatte er sein Elternhaus in Småland besucht, wo der Vater als Rentner auf dem Familienhof außerhalb von Hovmantorp lebte. Seine Mutter war gestorben, als er fünfzehn war, seine beiden Schwestern waren älter, und da beide verheiratet waren und im Ausland wohnten, in Berlin beziehungsweise Verona, war der Vater allein mit der alten Haushälterin zurückgeblieben.
Das Haus verfiel im gleichen Takt, wie sein Vater langsam dahinsiechte. In seiner Jugend hatte er sich in Paris die Syphilis zugezogen, und nun saß er jeden Sommer eingesperrt in einer Laube, allein auf einem Stuhl. Die Laube war so zurechtgestutzt, daß man durch ein Loch dicht über dem Boden hineinkriechen mußte. Im Herbst schloß sich der Vater in seinem Schlafzimmer ein und blieb das ganze Winterhalbjahr über im Bett, regungslos, an die Decke starrend, mit mahlenden Kiefern, bis die Frühlingswärme zurückkehrte. Der Großvater war mit seinen Finanzspekulationen während der Napoleonischen Kriege erfolgreich gewesen, noch immer war ein gewisses Kapital vorhanden, auch wenn es allmählich zusammengeschmolzen war. Der Hof war bis unters Dach mit Hypotheken belastet, und jedesmal, wenn er sein Elternhaus besuchte, wurde ihm aufs neue klar, daß er kein nennenswertes Erbe zu erwarten hatte. Nichts als diese monatlichen Zahlungen, die ihm das Überleben in Lund ermöglichten.
Sein Vater war nur ein Schatten. Er war nie etwas anderes gewesen. Trotzdem machte Bengler in diesem Sommer einen Besuch in Hovmantorp, um sich seinen Segen zu holen. Dahinter stand die vage Hoffnung, der Vater würde ihm für die Expedition, die er plante, eine gewisse finanzielle Unterstützung gewähren.
Außerdem, und das war das Wichtigste, sah er ein, daß es Zeit wäre, sich zu verabschieden. Sein Vater würde bald fort sein.
Von Växjö aus nahm ihn ein Handlungsreisender mit, der nach Lessebo wollte. Der Wagen war unbequem, die Straße war schlecht und der Pelz des Handlungsreisenden roch stark nach Schimmel. Denn einen Pelz trug er, obwohl es Anfang Juni war, zwar noch nicht Hochsommer, aber schon ziemlich warm.
–Hovmantorp, sagte er nach einer Stunde. Das klingt schön. Aber es ist nichts dahinter.
Dann machten sie sich miteinander bekannt. Dazu war es am Vorabend nicht gekommen, als er ihn bei seinem Rundgang durch die Herbergen der kleinen Stadt angesprochen hatte, auf der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit.
–Hans Bengler.
Der Handlungsreisende überlegte einige Kilometer lang, ehe er antwortete.
–Das klingt nicht schwedisch, sagte er. Aber was ist schon schwedisch, außer endlosen Straßen durch ebenso endlose Wälder. Mein Name ist auch nicht schwedisch. Ich heiße Puttmansson, Natanael Puttmansson, und gehöre zum auserwählten und dennoch vertriebenen Volk. Ich verkaufe Bürsten und Hausmittel gegen Kinderlosigkeit und Gicht.
–Ein Teil ist wallonisch, erwiderte Hans Bengler. Ein anderer ist französisch. Einen Hugenotten gibt es auch in der Verwandtschaft, außerdem einen Finnen. Und einen französischen Rittmeister, der unter Napoleon diente und bei Austerlitz eine Kugel in die Stirn bekam. Aber der Name ist echt.
Sie rumpelten noch ein paar Kilometer dahin. Ein See glitzerte zwischen den Bäumen. Er ist nicht besonders gesprächig, dachte Bengler. Große Wälder lassen die Leute entweder verstummen oder bringen sie dazu, endlos zu plappern. Ich bin dankbar, daß dieser Handlungsreisende, der nach Schimmel riecht, ein Mensch ist, der den Mund hält.
Dann starb das Pferd.
Es hielt mitten im Schritt inne, versuchte sich aufzubäumen, als sei ihm plötzlich ein unsichtbarer Feind begegnet, und sank gleich darauf in sich zusammen. Der Handlungsreisende schien nicht erstaunt.
–Hereingelegt, sagte er nur. Jemand verkauft mir unter falschen Vorspiegelungen ein Pferd. Und das einzige, was ich niemals zu beurteilen gelernt habe, sind nun mal Pferde.
Sie trennten sich ohne große Umstände. Hans Bengler nahm seinen Rucksack und legte die letzte Meile nach Hovmantorp zu Fuß zurück. Da er nun ein Mensch war, der sich den Insekten widmete, blieb er mitunter stehen, studierte verschiedene Flügeltiere und bereitete sich auf die Begegnung mit dem Vater vor. Kurz bevor er Hovmantorp erreichte, fing es an zu regnen. Er suchte Unterschlupf in einer Scheune, onanierte eine Weile und dachte dabei an Matilda, die seine Hure war und in einem Bordell gleich nördlich vom Dom arbeitete. Es dauerte einige Stunden, bis die Regenwolken abzogen. Er saß da und betrachtete den dunklen Himmel, während er sein Glied trocknen ließ, dachte, die Wolken sähen aus wie eine Karawane, und überlegte, wie es sein würde, in einer Wüste zu leben, wo fast nie Regen fiel.
Weshalb hatte er sich eigentlich für die Wüste entschieden?
Das wußte er nicht. Als er angefangen hatte, die Karten zu studieren, hatte er zunächst an Südamerika gedacht. Aber die Bergketten schreckten ihn ab, weil ihm unwohl war, wenn er sich in großer Höhe aufhalten mußte. Den Turm des Doms zu besteigen, um bis hinaus zu den Feldern schauen zu können, hatte er nie gewagt. Allein bei dem Gedanken war ihm schwindlig geworden. In Frage kamen eigentlich nur die großen Ebenen im Reich der Mongolen, die arabischen Wüsten und die weißen Flecken im südwestlichen Afrika. Daß er sich schließlich für die Kalahari entschieden hatte, hing sicher mit der deutschen Sprache zusammen. Er sprach Deutsch, weil er ein paar Jahre zuvor mit einem Kommilitonen eine Fußwanderung gemacht hatte. Sie waren bis hinunter nach Tirol gekommen. Dann hatte sein Reisegefährte plötzlich Fieber bekommen und war bald unter schweren Brechanfällen verstorben, und er selber war schleunigst nach Hause zurückgekehrt. Aber Deutsch hatte er gelernt.
Wie er da in der Scheune saß, sein Glied in der Hand, hatte er gedacht, er sei im Grunde ein Schüler, ausgesandt vom toten Meister Linné. Aber dann kam ihm der Gedanke, daß er eigentlich gar nicht dafür geeignet war. Er konnte Schmerzen schlecht ertragen, war nicht besonders kräftig, und oft fürchtete er sich vor lauten Geräuschen. Eine einzige Sache konnte ihm zum Vorteil gereichen, und das war sein Eigensinn. Eng mit dem Eigensinn verbunden war die Eitelkeit. Irgendwo würde er einen Schmetterling finden, oder vielleicht eine Fliege, die in den Katalogen der Botanik nicht vorkam, und er würde ihr seinen Namen geben.
Dann ging er nach Hause. Der Vater saß völlig durchnäßt in der Laube, als er durch die Hecke kroch. Die Kiefer mahlten, der Vater war jetzt verwittert, kahl, die Haut hing in losen Falten, und er erkannte seinen Sohn nicht. Es war ein lebender Leichnam, der da in der Laube saß, die Kiefer mahlten wie Mühlsteine ohne Korn, es knirschte in seinem Skelett, das Herz pumpte wie ein Blasebalg, und Bengler erschien seine Wallfahrt zum Haus der Kindheit nun wie das Eintreten in einen Alptraum. Trotzdem blieb er eine Weile sitzen und redete mit seinem geisteskranken Vater. Dann ging er hinauf ins Haus, wo die Haushälterin sich freute, ihn zu sehen, das war aber auch alles, und sie machte ihm das Bett in seinem alten Zimmer und bereitete einen Imbiß für ihn zu. Während sie geräuschvoll in der Küche hantierte, ging er durchs Haus und steckte alles Silber ein, was da herumlag. Er holte sich sein Erbe im voraus und begriff, daß er als ein sehr armer Insektenforscher in die afrikanische Wüste reisen würde.
Nachts lag er wach. Die Haushälterin holte den Vater gewöhnlich bei Sonnenuntergang herein und bettete ihn auf ein Sofa im Erdgeschoß. Irgendwann im Laufe der Nacht war er hinuntergegangen und hatte seinen Vater betrachtet. Selbst im Schlaf mahlten seine Kiefer weiter. Irgend etwas hatte Bengler plötzlich angerührt, eine Trauer, die ihn überraschte, und er war hingegangen und hatte dem Vater über den kahlen Kopf gestrichen. In diesem Moment, mit dieser Berührung, hatte sich der Abschied vollzogen. Es war, als würde er bereits am Grab stehen und zusehen, wie man einen Sarg in die Erde senkte.
Anschließend hatte er wach gelegen und auf die Morgendämmerung gewartet. Es hatte keinen Inhalt in diesem Warten gegeben, keine Unruhe, keine Träume, als wäre sein Inneres eine glatte, kalte Felswand.
Er war aufgebrochen, ehe die Haushälterin aufgewacht war.
Drei Tage später war er wieder in Lund. Schon in der ersten Woche war er über den Sund gefahren und hatte das Silber in Kopenhagen verkauft. Genau wie befürchtet, hatte er nicht viel Geld für das bekommen, was er anzubieten hatte. Das einzige, was Geld gebracht hatte, war eine Schnupftabakdose aus dem Besitz eines Verwandten, dem man bei Austerlitz das Gehirn weggeschossen hatte.
Im folgenden Jahr hatte er alles gelernt, was er jetzt über Insekten wußte. Der Professor war freundlich gewesen, und als dieser gefragt hatte, wieso ein älteres Semester sich plötzlich vom kleinsten Getier faszinieren ließ, hatte er nur geantwortet, das wisse er eigentlich selber nicht. Er hatte in den Sälen des biologischen Instituts farbige Tafeln und in Spiritus eingelegte Insekten studiert, die schwerelos in den stummen Regalen in ihren Gläsern schwebten. Er hatte gelernt zu unterscheiden und zu identifizieren, hatte Flügel ausgerissen und Leiber aufgeschnitten. Gleichzeitig hatte er sich bemüht, etwas über Wüsten zu erfahren, über den afrikanischen Kontinent, der noch zu großen Teilen unbekannt war. Aber in Lund hatte es keinen Professor gegeben, der etwas über Wüsten wußte, und kaum einen, der sich mit Afrika auskannte. Er hatte alles gelesen, was er auftreiben konnte, und war mehrmals in Kopenhagen gewesen, um in Nyhavn Seeleute aufzusuchen, die nach Kapstadt oder Dakar gefahren waren und etwas über Afrika zu erzählen hatten.
Er hatte niemanden in seine Pläne eingeweiht, außer Matilda. Sie besuchte ihn jeden Donnerstag zwischen vier und sechs Uhr nachmittags. Außer daß sie miteinander schliefen, immer in der gleichen Stellung, sie auf ihm, wusch sie seine Hemden, und danach tranken sie Portwein und schwatzten. Matilda war neunzehn und aus Landskrona geflüchtet, nachdem ihr Vater erst versucht hatte, sie zu vergewaltigen, und anschließend, sie anzuzünden. Für kurze Zeit hatte sie als Dienstmädchen gearbeitet, bis sie die Schürze und die Unterwürfigkeit ablegte und den Weg ins Bordell fand. Sie war flachbrüstig, aber sanftmütig, und er hatte keine anderen Ansprüche an die Erotik, als daß sie sanftmütig sein sollte, weder qualvoll noch ekstatisch. Ihr erzählte er von der Reise, die er im folgenden Jahr anzutreten gedachte, zu Beginn des Frühlings, wenn es in Südafrika nicht zu warm war, wie er meinte. Sie hatte ihm zugehört, ohne ein anderes Interesse, als daß sie sich jetzt einen neuen Stammkunden suchen müßte.
Einmal hatte er ihr vorgeschlagen, sie solle mitkommen.
–Ich fahre nicht übers Meer, hatte sie erregt erwidert. Da stirbt man, sinkt auf den Boden und kommt nie wieder hoch.
Mehr war nicht gesagt worden.
Der Winter in Schonen war in diesem Jahr sehr mild. Anfang Mai brach Bengler aus der Prästgatan auf. Zu seinen wenigen Freunden hatte er gesagt, er würde sich auf eine kürzere Reise durch Europa begeben. Bald würde er wieder zurück sein.
Ein Fischerboot nahm ihn nach Kopenhagen mit. Drei Wochen lang wohnte er unter Seeleuten in einer billigen Herberge in Nyhavn. An einem Sonntag schaute er bei einer Enthauptung zu. Das Theater besuchte er nie, auch in die Museen ging er nicht. Er unterhielt sich mit den Seeleuten und wartete. Sein Gepäck hatte er auf ein Minimum reduziert. Alles fand in einer einfachen Kiste Platz, die er auf dem Dachboden des Hauses in der Prästgatan entdeckt hatte. Er hatte seine Karten, Tafeln und Bücher eingepackt. Mehrere Hemden, ein Paar Hosen zum Wechseln, Lederstiefel. In Kopenhagen hatte er sich einen Revolver und Munition gekauft. Das war alles. Sein Geld hatte er in Gold umgetauscht. Er trug es in einem Lederbeutel unter dem Hemd.
Außerdem hatte er sich die Haare sehr kurz geschnitten und angefangen, sich einen Bart stehen zu lassen. Und er wartete.
Am 23. Mai erfuhr er, daß ein englischer Schoner, »Der Fuchs«, von Helsingör nach Cardiff fahren würde, und dann weiter nach Kapstadt. Am selben Tag verließ er seine Herberge und nahm den Postwagen nach Helsingör. Er suchte den Kapitän des schwarz gestrichenen Schoners auf und erhielt die Erlaubnis, als Passagier mitzufahren. Eine eigene Kabine konnte er jedoch nicht bekommen. Für die Reise zahlte er ungefähr die Hälfte von dem Inhalt des Lederbeutels.
Am Abend des 25. Mai verließ »Der Fuchs« den Hafen von Helsingör. Er stand an der Reling und fühlte, wie auch in seinem Inneren eine Fahrt begann. Hinter dem Brustbein hatte er Masten, an denen Segel gehißt wurden. Etwas zog an ihm, als wäre sein Herz mit einem Strick zusammengeschnürt gewesen. Plötzlich bekam er Lust, für einen Augenblick wieder zum Kind zu werden. Auf dem sauber gescheuerten Deck Seil zu hüpfen, zu plappern, zu kriechen, laufen zu lernen.
In dieser Nacht schlief er tief und fest.
Am folgenden Tag, in der Morgendämmerung, hatten sie Skagen schon passiert und befanden sich in einer anderen Welt.
Diese Welt war in dichten, kompakten Nebel gehüllt.
Auf dem Schiff wurde er von seinem Namen befreit. Man nannte ihn nie etwas anderes als den Passagier. Ohne daß er richtig wußte, wie ihm geschah, durchlief er ein Ritual, bei dem er seiner bisherigen Identität enthoben wurde. Er wurde der Passagier. Unter diesen bleichen, hart arbeitenden Menschen war er der einzige, der nichts anderes tat als zu reisen. Ohne Namen, ohne Vergangenheit, ohne etwas anderes als eine Koje inmitten der Matrosen. Das war ihm nur recht. Als er seine Identität verlor, verschwand zugleich auch die Vergangenheit. Es war, als würde das salzige Wasser, das über die Reling spritzte, in sein Bewußtsein eindringen und alle schattenhaften Erinnerungen zerfressen, die er mit sich herumtrug. Die mahlenden Kiefer des Vaters verblaßten, Matilda wurde zu einer undeutlichen Silhouette und das Haus in Hovmantorp zur Ruine. Von seiner Mutter und den beiden Schwestern blieb nichts, nicht einmal die Erinnerung an ihre Stimmen. Als er sich in den Passagier verwandelte, entdeckte er zum ersten Mal, daß etwas existierte, wovon er zwar gehört, was er aber nie zuvor begriffen hatte. Freiheit.
Die Ankunft in Kapstadt sollte ihm als langgezogener, unwirklicher Traum in Erinnerung bleiben. Oder war es vielleicht eher das Ende eines Alptraums, der unmerklich in einen anderen überging? Noch ehe sie Cardiff erreichten, hatte sich gezeigt, daß der Kapitän, der Robertson hieß, an einer periodisch auftretenden Form von Wahnsinn litt. Wenn es wieder soweit war, kam er mit Messern in den Händen in die Mannschaftskajüte gerannt und stach wild um sich. Man war gezwungen, ihn zu fesseln, und erst nach mehreren Tagen, wenn er zu weinen anfing, ließ man ihn wieder frei. Bengler hatte erkannt, daß die Mannschaft ihm in großer Liebe zugetan war. Der Schoner war im Grunde eine schwimmende Kathedrale mit einer Gruppe von Jüngern, die bereit waren, ihrem Meister in den Tod zu folgen. Zwischen seinen periodischen Anfällen war Robertson sehr liebenswürdig und widmete seinem einsamen, schweigsamen Passagier viel Zeit und Aufmerksamkeit. Robertson war um die Vierzig, hatte angeheuert, als er neun war, mit sechzehn eine religiöse Krise durchgemacht und später, als er Kapitän wurde, ein unsichtbares Gewand angelegt, das eigentlich ein Talar war und keine Marineuniform. Seinem Passagier konnte er von vielen Seltsamkeiten auf dem afrikanischen Kontinent berichten. Die Wüste hatte er jedoch nie besucht. Sein Gesicht nahm einen abwesenden, beinahe traurigen Ausdruck an, wenn der Passagier ihm von seinen Plänen erzählte. Allerdings nicht die tiefste Wahrheit, jene von dem geheimnisvollen Schmetterling oder der Fliege, die seinen Namen tragen sollten. Aber von den Insekten, wie er sie katalogisieren, klassifizieren, identifizieren würde, dieses umfassende Ordnen, das notwendig war, damit ein Mensch ein anständiges Leben führen konnte.
Das Reden über die Wüste, über ihre Weiten aus Sand, hatte Robertson bedrückt.
–Im Sand kann man nicht einmal ertrinken, sagte Robertson.
–Aber auch am Sand kann man zugrunde gehen, widersprach der Passagier.
Robertson hatte ihn lange betrachtet, bevor er einen weiteren Kommentar abgab.
–Noch nie hat jemand Gott aus einem Sandkorn auferstehen sehen. Der Teufel dagegen hat zu gewissen Zeiten brennenden Sand aus seinem Maul gespien.
Der Passagier hatte den Sand nie wieder erwähnt. Statt dessen hatte er Robertson dazu gebracht, von den schwarzen Menschen zu erzählen, den kleinwüchsigen und den sehr großen, von Frauen, die sich Dung ins Haar schmierten, von wilden Tänzen, die nichts anderes waren als Schattenbilder erotischer Spiele. Und der Passagier hörte zu. Jeden Abend, ausgenommen während eines schweren Sturms in der Biskaya, hatte er sorgfältig notiert, was der Kapitän sagte. Nachdem er Robertson geholfen hatte, ein stark infiziertes Ohr zu säubern, hatte sich ihr Verhältnis noch vertieft. Als besondere Gunst, oder als würde ihm damit ein heiliges Sakrament zuteil, hatte Robertson ihn in den Gebrauch des Sextanten eingeweiht. Das Gefühl, das Schiff eher in sich zu tragen, als sich an Deck eines Schiffs zu befinden, verstärkte sich immer mehr. Jeden Morgen hißte er seine inneren Segel, je nach Stärke und Richtung des Windes. Abends, oder wenn sich ein Sturm zusammenbraute, beobachtete er die Matrosen beim Klettern in den Masten und traf in sich selbst die gleichen Vorkehrungen.
Am 22. Juni, als die Sonne gerade unterging, rief der Mann im Ausguck, es sei Land in Sicht. Robertson ließ das Schiff in dieser Nacht vor Anker treiben. In der Mannschaftskajüte herrschte eine eigentümliche Stille, als wagte keiner der Matrosen daran zu glauben, daß sie noch einmal eine Reise zum fernen schwarzen Kontinent überlebt hatten. Leise, als würden sie einander Geheimnisse anvertrauen, fingen sie an, die Tage zu planen, die sie an Land verbringen würden. Aufmerksam lauschte Bengler dem Flüstern, das die Kajüte erfüllte. Und es war wie eine gemurmelte Litanei, bei der zwei Dinge ständig wiederholt wurden. Frauen und Bier, Frauen und Bier. Nichts anderes. In der letzten Nacht auf dem Schiff versuchte er in seinen Gedanken all das zusammenzufügen, was er hinter sich gelassen hatte. Aber nicht einmal Matildas Gesicht konnte er sich vergegenwärtigen. Nichts war geblieben.
In der Morgendämmerung verabschiedete er sich von Robertson.
–Wir werden uns nicht wiedersehen, sagte Robertson. Ich spüre immer, wenn ich jemandem zum letzten Mal Lebewohl sage.
Es war, als würde Robertson das Todesurteil über ihn sprechen. Es empörte ihn, weil es ihm angst machte. Konnte Robertson das sehen, was vor ihm lag, in das Unbekannte hineinblicken? Er weigerte sich zu glauben, daß dem so sei. Aber Robertson war einer der rätselhaftesten Menschen, die ihm je begegnet waren. Was war er wirklich? Ein verrückter Pfarrer oder ein durchgedrehter Kapitän? Oder ein Mensch, der tatsächlich die Gabe hatte zu sehen, auf wen der Tod schon wartete?
–Viel Glück, sagte Robertson und reichte ihm die Hand. Jeder hat seinen Weg zu gehen. Das ist nicht zu ändern.
Dann wurde er an Land gerudert. Der Tafelberg ragte, wie ein geköpfter Hals, hoch über der Stadt auf, die unter dem Berg eingeklemmt lag. Am Kai herrschte großes Gedränge, Menschen schrien und rempelten sich an, ein paar schwarze Männer mit Ringen in den Ohren fingen an, an seiner Kiste zu zerren, und er mußte sie mit den Fäusten verteidigen. Er sprach deutsch, aber keiner verstand ihn, rings um ihn her wurde nur englisch geredet. Robertson hatte ihm zwei Adressen gegeben, die von einer überwiegend läusefreien Herberge und die von einem alten englischen Lotsen, der aus unerfindlichen Gründen schwedischer und norwegischer Honorarkonsul in Kapstadt war. Als er sich mühsam zu der Herberge durchgefragt hatte, war er schweißgebadet. Die weiße Frau, der die Pension gehörte, schrie eine dicke Mulattin an, sie solle dem neuen Gast Wasser bringen. Und er trank und wußte sofort, daß etwas mit seinem Magen passieren würde. Er bekam ein Zimmer, in dem die Laken gemangelt waren, aber dennoch klamm. Alles schien feucht zu sein, die Dielen waren porös, und er legte sich aufs Bett und dachte: Jetzt bin ich also angekommen, und ich weiß überhaupt nicht, wo ich bin.
Am nächsten Tag, als er bereits mit der ersten Diarrhöe zu kämpfen hatte, suchte er den schwedisch-norwegischen Honorarkonsul auf. Dieser wohnte in einem weißen Haus an einer Straße, die sich in die Berge hochschraubte. Ein schwarzer Mann, dem die Zähne fehlten, ließ ihn ein, und er mußte zwei Stunden auf einem Holzschemel warten, bis Konsul Wackman aufgehört hatte zu schnarchen und sich erhoben und angekleidet hatte. Er hatte einen vollständig kahlen Schädel, keine Brauen und eigentümlich abstehende Ohren, die an Schwalbenflügel erinnerten. Seine Beine waren kurz, um den Bauch hatte er ein indisches Tuch gebunden, und an der nackten Brust hatten sich zwei Blutegel festgesaugt. Er überflog den Brief, den Robertson geschrieben hatte, und warf ihn dann von sich.
–Immer diese verrückten Schweden. Warum müssen sie ausgerechnet nach Afrika kommen? Was wir hier brauchen, sind Ingenieure. Erfahrene Leute, die praktische Probleme lösen können oder jede Menge Kraft haben, oder ein bißchen Kapital mitbringen. Aber nicht diese ganzen Verrückten, die entweder kommen, um die Heiden zu bekehren, oder um die Scheiße aufzusammeln, die die Elefanten fallen lassen. Und jetzt das. Insekten. Wer braucht schon Fliegen und Mücken in Katalogen?
Mit seinen Wurstfingern griff er nach einer kleinen Silberglocke und läutete. Ein schwarzer Diener, bis auf einen dünnen Lendenschurz unbekleidet, kam herein und kniete nieder.
–Was möchten Sie? fragte Wackman. Gin oder was sonst?
–Gin.
Der schwarze Mann verschwand. Draußen vor den Fenstern konnte Bengler sehen, daß jemand einen Geier an den Füßen aufgehängt hatte und mit einem Holzstock auf ihn einschlug.
Dann tranken sie.
–Ich habe vor, meinen Lebensunterhalt mit Straußen zu verdienen, sagte der Passagier, der jetzt langsam seinen Namen wiederkehren fühlte. Er war dabei, wieder Hans Bengler aus Hovmantorp zu werden.
Wackman betrachtete ihn lange, bevor er antwortete.
–Na schön, Sie Narr, sagte er schließlich. Sie wollen Strauße jagen und die Federn für Damenhüte exportieren. Das wird sich kaum lohnen. Die Federn sind verfault, bevor das Schiff auch nur den Hafen verlassen hat.
Damit war das Gespräch beendet. Wackman ließ jedoch eine resignierte Freundlichkeit erkennen und versprach Hilfe bei der Beschaffung von Ochsen und einem Wagen sowie beim Anheuern einiger Ochsentreiber. Aber dann müsse er sehen, wie er allein zurechtkäme. Außerdem meinte Wackman, er täte gut daran, ein Testament zu hinterlegen. Falls es etwas zu erben gäbe. Oder wenigstens die Adresse eines Angehörigen, der erfahren sollte, daß die Gebeine des Verwandten jetzt an unbekanntem Ort in einer endlosen Wüste ruhten.
Sie sprachen weiter dem Gin zu. Er dachte an den milden Portwein, den er mit Matilda getrunken hatte. Diese Welt erschien ihm jetzt wie eine rätselhafte Luftspiegelung. Der rauhe Gin brannte in seinem Hals. Und Wackman erzählte stöhnend, als könnte er jeden Moment den Geist aufgeben, die merkwürdige Geschichte, wie er, aus Glasgow gebürtig, nach Kapstadt geraten war und hier nun als Bordellbesitzer lebte und außerdem die schwedisch-norwegische Union repräsentierte.
Seine Geschichte handelte von Bären und einer Lithographie, die er einmal als Jugendlicher in Glasgow im Schaufenster einer Buchhandlung gesehen hatte. »Bärenjagd im Schwedischen Wermland«. Dieses Bild hatte ihn nicht mehr losgelassen. Mit ungefähr zwanzig Jahren hatte er seine Pilgerfahrt unternommen und war mitten in einem furchtbaren Winter nach Karlstad gekommen. Mehrmals wäre er beinahe an dem Grauen gestorben, das die Kälte in ihm hervorrief, nicht an der Kälte selbst. Einen lebenden Bären hatte er nie zu Gesicht bekommen, obgleich er sich mehr als zwei Monate in dieser entsetzlichen Kälte aufhielt. Wohl aber ein Bärenfell, bei einem pensionierten Artilleriehauptmann, der am Marktplatz von Karlstad wohnte. Danach hatte er Schweden Hals über Kopf verlassen und war auf sonderbaren Wegen nach Kapstadt gelangt, wo er sich für den Anblick des Bärenfells dankbar erweisen wollte, indem er es auf sich nahm, der Konsul dieses Landes und der Union zu sein.
Am späten Nachmittag waren beide Männer sturzbetrunken. Wackman ließ seinen Wagen vorfahren, und gemeinsam rollten sie die steile Straße hinab und machten vor dem flachen Zementgebäude halt, in dem er sein Bordell betrieb. In den niedrigen Räumen, in denen es stark nach unbekannten Gewürzen roch, schälten sich halbnackte schwarze Frauen aus dem Dunkel. Wackman verschwand, und plötzlich bemerkte Bengler, daß sich schwarze Schlangen um ihn ringelten: Frauenarme, Beine, Füße, Bäuche, und er trieb im Ginnebel dahin und wußte nicht, ob es Robertsons Schoner war, der langsam zum Meeresboden sank, oder das Schiff, das er in sich trug.
Am nächsten Tag wurde er in einem Zimmer auf dem Fußboden wach, neben seinem Kopf ein einsamer Schleier. Als er mühsam auf die Beine gekommen war, bemerkte er eine blaue Spinne, die in der Ecke zwischen zwei Wänden gerade ihr kunstvolles Netz webte. Er besann sich auf seinen Auftrag, ging durch das Bordell, in dem jetzt alle zu schlafen schienen, und fand Wackman vornüber auf einem altertümlichen Schaukelstuhl liegend. Obwohl sich der Konsul im Tiefschlaf befand, hatte er ihn offenbar erwartet. Als Bengler hinter ihm stand, fuhr er hoch.
–Ich benötige neun Tage, sagte er. Und alles an Bargeld oder Goldsand, was Sie in diesem Beutel haben, der Ihr Hemd ausbeult, das übrigens schmutzig ist und gewaschen gehört. Neun Tage, nicht mehr. Dann können Sie aufbrechen. Und ich werde Sie nicht wiedersehen. Aber einen Rat will ich Ihnen geben. Einen Rat für die Zukunft.
–Welchen?
–Das Pianoforte.
–Das Pianoforte?
–Ist in England groß in Mode. Wird sich über den Kontinent verbreiten. Die jungen Mamsellen spielen Piano. Schwarze und weiße Tasten. Für diese Pianos braucht man Tasten. Und für die Tasten braucht man Elfenbein.
Bengler begriff. Wackman meinte, er sollte sich der Elefantenjagd widmen.
–Ich bin wegen der kleinen Tiere hergekommen, erwiderte er. Nicht wegen der großen.
–Dann sind Sie selbst schuld. Dann sterben Sie halt, erwiderte Wackman. Niemand wird Sie vermissen, keiner wird sich an Sie erinnern.
Doch Wackman, der mit Vornamen Erasmus hieß, hielt sein Versprechen. Am neunten Tag war alles bereit. In Ermanglung eines Besseren hatte Bengler Wackman schließlich die Adresse der Haushälterin in Hovmantorp hinterlassen. Für den Fall, daß er sterben sollte. Sie sollte dem Vater den Brief zwischen die mahlenden Kiefer stopfen, so wäre die letzte Erinnerung an ihn ausgelöscht.
Trotzdem wußte er, daß dies nicht geschehen würde. Ohne daß er es erklären, geschweige denn rechtfertigen konnte, war er sich seines Überlebens gewiß.
Der Sand würde ihn nicht überlisten.
An einem der ersten Tage im Juli brach er aus Kapstadt auf.
Die trägen Ochsen bewegten sich langsam. Er hatte sich einen Tropenhelm gekauft und ein Gewehr über die Schulter gehängt. Um sein Gesicht, vom Schweiß angelockt, schwirrten Insekten. Er dachte, sie würden ihm den richtigen Weg zeigen. Sie waren seine wichtigsten Reisefährten.
Der Kompaß, in London hergestellt und in Messing gefaßt, wies ihnen den Kurs genau nach Norden, vielleicht mit einer Abweichung von einem hundertstel Grad nach Westen.
Am ersten Abend zog er sich um, bevor er sich hinsetzte, um das Abendessen einzunehmen, das Amos, sein Koch, servierte. Sie hatten das Lager am Ufer eines kleinen Flusses aufgeschlagen. Der Sternenhimmel war klar und nah. Plötzlich sah er den Großen Wagen. Aber er stand auf dem Kopf. Als letzten Gruß an all das, was er zurückgelassen hatte, überraschte Bengler seine Ochsentreiber damit, daß er sich auf den Kopf stellte, um den Großen Wagen so betrachten zu können, wie er ihn als Kind gesehen hatte.
Sie glaubten, er bete zu einem Gott.
Danach lag er lange wach und wartete darauf, ein Raubtier in der Nacht brüllen zu hören.
Aber es blieb ganz still.