Cover
Kathy Reichs: Totgeglaubte leben länger
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die amerikanische Originalausgabe erschien
unter dem Titel »Cross Bones«
bei Scribner, New York.
Copyright © der Originalausgabe 2005 by Temperance Brennan, L. P.
Published by arrangement with the original publisher,
Scribner, an imprint of Simon & Schuster, Inc.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005
by Karl Blessing Verlag, GmbH, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: HildenDesign, München nach einem Umschlagdesign
von Hauptmann & Kompanie, München, Zürich,
unter Verwendung einer Fotografie von © Corbis
MD · Herstellung: HN
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-13828-8
V004
www.blanvalet.de
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Buch
Autorin
Widmung
Danksagung
Vorbemerkung des Übersetzers
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Aus den forensischen Akten von Dr. Kathy Reichs
Die Tatsachen
Danksagungen
Copyright

Danke für die Jahre der Unterstützung
und der Ermutigung.

 

 

Genießt Euren Ruhestand!

Danksagungen

Wie immer stehe ich bei vielen Kollegen, Familienangehörigen und Freunden tief in der Schuld für ihre Zeit, ihr Fachwissen und ihren Rat.

Dr. James Tabor, der Vorsitzende der Abteilung für Religiöse Studien der University of North Carolina in Charlotte, entzündete bei mir den Funken für Totgeglaubte leben länger, gab mir Einblick in seine persönlichen Notizen und Forschungsergebnisse, überprüfte tausende von Details und war mir in Israel ein charmanter Führer.

Dr. Charles Greenblatt und Kim Vernon von der Hebräischen Universität in Jerusalem und Dr. Carney Matheson vom Paläo-DNS-Labor der Lakehead University berieten mich in Bezug auf historische DNS. Dr. Mark Leney, DNS-Koordinator des U. S. Army Central Identification Laboratory, und Dr. David Sweet, Direktor des Instituts für forensische Zahnmedizin der University of Columbia, beantworteten mein Fragen über moderne DNS.

Azriel Gorsky, der emeritierte Leiter des Labors für Fasern und Polymere der Abteilung für Identifikation und Forensik der israelischen Polizei, beriet mich in Bezug auf die Haar- und Faseranalyse und die Arbeitsweisen der israelischen Ermittlungsbehörden.

Brigadier-General Dr. Elazor Zadok, Direktorin der Abteilung für Identifikation und Forensik der israelischen Polizei, ermöglichte mir eine Besichtigung ihres forensischen Instituts. Chief Inspector Dr. Tzipi Kahana, forensischer Anthropologe in der Abteilung für Identifikation und Forensik der israelischen Polizei, machte mich mit dem israelischen gerichtsmedizinischen System vertraut.

Dr. Shimon Gibson von der Jerusalem Archaeological Field Unit führte mich zu Grabungsstätten in ganz Israel und beantwortete meine vielen Fragen über sein Heimatland.

Debbie Sklar von der Israel Antiquities Authority ermöglichte mir eine private Besichtigung des Rockefeller Museum.

Officer Christopher Dozier vom Charlotte-Mecklenburg Police Department und Sergent-détective Stephen Rudman, Superviseur (i.R.) der Abteilung Analyse et Liaison der Police de la Communauté Urbain de Montréal lieferten mir Informationen über die Beschaffung von Telefondaten.

Roz Lippel half mir, das Hebräische korrekt zu halten, Marie-Eve Provost tat dasselbe beim Französischen.

Ein besonderer Dank geht an Paul Reichs für seine hilfreichen Kommentare zum Manuskript.

Hervorheben muss ich noch zwei Bücher, die im Text Erwähnung finden: Masada. Der letzte Kampf um die Festung des Herodes, von Yigael Yadin (Hoffmann und Campe, Hamburg 1972/4. Auflage) und The Jesus Scroll von Donovan Joyce, Dial Press 1973.

Zu guter Letzt geht mein von Herzen kommender Dank an meine Lektorin Nan Graham. Ihre Ratschläge haben Totgeglaubte leben länger zu einem viel besseren Buch gemacht. Dank auch an meine Lektorin auf der anderen Seite des großen Teichs, Susan Sandon.

Und natürlich an Jennifer Rudolph Walsh, Co-Head des Worldwide Literary Department, Executive Vice President und eine der ersten beiden Frauen, die es in den Board of Directors der William Morris Agency geschafft haben. Du hast es wirklich drauf, Mädchen. Danke, dass du meine Agentin geblieben bist.

Autorin

Kathy Reichs, geboren in Chicago, lebt in Charlotte und Montreal. Sie studierte u. a. Archäologie und ist heute als eine von nur fünfzig zugelassenen forensischen Anthropologen in Kanada und den USA tätig. Ihre Tempe-Brennan-Romane werden in dreißig Sprachen übersetzt und sind überaus erfolgreiche internationale Bestseller.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.kathy-reichs.de

Aus den forensischen Akten von Dr. Kathy Reichs

Die meisten Romane mit meiner Heldin Temperance nehmen ihren Ursprung in einer Vermischung meiner realen forensischen Fälle.

Ich fange an mit dem Skelett eines Kindes, das auf einem Acker gefunden wurde, gebe ein Körperteil hinzu, das im Keller eines Hochhauses gefunden wurde, und vermenge dann alles. Die vorliegende Geschichte begann mit Ausrissen aus der Boulevardpresse, einem Schwarz-Weiß-Foto, einem ganzen Stapel schlechter Fotokopien und einer sehr merkwürdigen Geschichte.

Dr. James Tabor, ein Kollege an der University of North Carolina in Charlotte, trägt zwei Hüte. Er ist sowohl biblischer Archäologe und Gelehrter wie auch Experte für moderne apokalyptische Bewegungen. Unter letzterer Kopfbedeckung beriet er das FBI bei dem Konflikt mit der Davidianer-Sekte in Waco und half mit beim Schreiben von Knochenarbeit. Als biblischer Gelehrter hat er über die Schriftrollen vom Toten Meer gearbeitet und in Qumran gegraben, wo sie gefunden wurden, wie auch in der »Johannes der Täufer«-Höhle westlich von Jerusalem, und er hat ausführlich über Masada recherchiert, Israels berühmteste archäologische Stätte.

Im Herbst hatte ich Totenmontag eben abgeschlossen und begann mit der Sondierung und Stoffsammlung, die letztendlich zu meinem achten Roman führen sollten. Eines Morgens rief Tabor mich an und erzählte von geplünderten Gräbern und gestohlenen Skeletten. Er arbeitete gerade an einem Sachbuch, The Jesus Dynasty, in dem er historische Fakten über die Jesus-Familie präsentieren wollte, so weit sie nach neuesten historischen Forschungen und Endeckungen bekannt waren. Ob ich Lust auf eine Geschichte hätte, die mir vielleicht als Vorlage für ein neues Temperance-Brennan-Abenteuer dienen könnte?

Und ob ich Lust hatte. Immerhin hatte ich meine Karriere als Archäologin begonnen. Warum das alte Mädchen nicht an einer archäologischen Intrige teilhaben lassen? Wir verabredeten uns, und beim Mittagessen zeigte Tabor mir Fotos und Zeitungsausrisse und erzählte mir das Folgende:

Von 1963 bis 1965 gräbt der israelische ArchäologeYigaelYadin mit einem internationalen Team aus Freiwilligen die israelische Stätte Masada aus. Fünfundzwanzig Skelette und ein Fötus werden in einer Höhle unter der Kasemattenmauer an der Südflanke des Gipfels gefunden.Yadin spricht über diese Knochen nicht mit der Presse, obwohl er ausführlich auf drei Skelette eingeht, die in dem Ruinenkomplex am nördlichen Ende des Gipfels gefunden werden. Und auch vom biologischen Anthropologen des Projekts, Nicu Haas, werden die Knochen aus der Höhle nirgendwo dokumentiert. Bis auf eine Erwähnung in einem Anhang, werden die Knochen oder der Inhalt der Höhle in den sechs Bänden der letztgültigen Ausgrabungspublikation über Masada kein einziges Mal erwähnt.

Dreißig Jahre vergehen. Plötzlich taucht ein Foto von einem einzelnen, vollständigen Skelett auf, das in derselben Höhle liegt, in der Yadins Team die fünfundzwanzig durcheinander geworfenen Individuen fand. In veröffentlichten Berichten oder Interviews erwähnt Yadin dieses Skelett nie.

Neugierig geworden, spürt Tabor Mitschriften der Teambesprechungen auf, die anstelle von Ausgrabungstagebüchern verfasst wurden. Die Seiten aus den Tagen der Entdeckung und Bergung des Skeletts fehlen.

Tabor entdeckt auch Nicu Haas’ originale handschriftliche Notizen. Aus seinem Knocheninventar wird klar, dass er das komplette, anatomisch korrekt angeordnete Skelett nie gesehen hat.

Tabor recherchiert nun Zeitungsartikel aus der Zeit der Masada-Ausgrabung. Er findet eine Aussage Yadins gegenüber einem Journalisten in den späten Sechzigern, in der er angibt, es sei nicht seine Aufgabe, eine Radiokarbon-Untersuchung in Auftrag zu geben. Tabor schaut in der Zeitschrift Radiocarbon nach und entdeckt dort, dass Yadin in den Sechzigern durchaus Proben von anderen Ausgrabungsstätten für eine Radiokarbon-Untersuchung eingeschickt hat.

Ich sah mir das kleine Schwarz-Weiß-Foto dieses einzelnen Skeletts an. Ich sah mir Fotokopien von Haas’ Notizen und den Mitschriften der Teambesprechungen an. Ich hatte Blut geleckt. Aber Tabor war noch nicht fertig.

Ein Zeitsprung in den Sommer 2000. Bei einer Exkursion mit Studenten im Hinnom-Tal stolpern Tabor und der israelische Archäologe Shimon Gibson über ein frisch geplündertes Grab. Sie starten eine Ausgrabung und entdecken dabei zertrümmerte Ossuare und in ein Leichentuch gewickelte skelettale Überreste. Eine C-14-Datierung ergibt, dass das Leichentuch aus dem ersten Jahrhundert stammt. Eine DNS-Sequenzierung ergibt Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Individuen in diesem Grab. Ossuar-Fragmente tragen die Namen Maria und Salome.

Noch ein Zeitsprung. Oktober 2002. Ein Antiquitätensammler gibt die Existenz eines Ossuars aus dem ersten Jahrhundert mit der Inschrift »Jakobus, Sohn des Joseph, Bruder des Jesus« bekannt. Der Sammler behauptet, der Kasten sei 1978 erworben worden, aber Tabor hat Indizien dafür gefunden, dass das Ossuar bei der Plünderung seines Grabs mit dem Leichentuch zwei Jahre zuvor gestohlen worden war. Die Bauweise entspricht den gefundenen Fragmenten. Die Verzierung ebenfalls. Und in Jerusalem sind Gerüchte aufgetaucht.

Tabor zieht nun ernsthaft die Möglichkeit in Betracht, dass er über das Familiengrab Jesu gestolpert sein könnte. 2003 bittet er um Knochenproben aus dem »Jakobus-Ossuar« für eine mitochondriale DNS-Untersuchung. Er will die Sequenzierung dieser Knochen mit den Sequenzierungen der Proben aus dem » Leichentuch«-Grab vergleichen. Der Direktor der Israelischen Archäologiebehörde lehnt diese Bitte mit der Begründung ab, der Fall liege in den Händen der Polizei, die eben eingehende Ermittlungen anstelle.

Mysteriöse Skelette. Verschwundene Seiten. Geplünderte Gräber. Das Familiengrab Jesu? Heiliger Bimbam! Ich würde zu meinen archäologischen Wurzeln zurückkehren und Tempe ins Heilige Land schicken. Während ich noch Tabors Fotos und Karten studierte, entstand in meinem Kopf bereits eine Geschichte. Aber wie sollte ich Ryan und die anderen da mit hineinbringen?

Manchmal müssen Coroner und Leichenbeschauer trotz der Proteste von Familienangehörigen Autopsien anordnen. Gelegentlich haben solche Proteste ihren Ursprung in religiösen Überzeugungen.

Seit ich für das Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médecine Légale arbeite, wurden eine Reihe von Autopsien an ultra-orthodoxen Juden durchgeführt, die Opfer von Gewalttaten geworden waren. In diesen Fällen wurden, so weit möglich, die eigentlich vorgeschriebenen Vorgehensweisen und Arbeitsmethoden so verändert, dass den religiösen Belangen Rechnung getragen werden konnte.

Das war’s! Ich würde mit einem Mord in Montreal anfangen und dann Tempe nach Jerusalem und ins Westjordanland schicken.

Ein Jahr lang brütete ich über Mitschriften, Katalogen und Zeitungsartikeln. Ich studierte Fotos von Ossuaren und der Masada-Ausgrabung. Ich las Bücher über das römische Palästina und den historischen Jesus. Mit Tabor flog ich nach Israel und besuchte Museen, Ausgrabungsstätten, Gräber und historische Orte. Ich sprach mit Antiquitätenhändlern, Archäologen, Wissenschaftlern und Beamten der israelischen Polizei.

Und wie’s so schön heißt, der Rest ist Geschichte.

 

Für eine ausführliche Diskussion der Fakten hinter Totgeglaubte leben länger, warten Sie bitte auf James Tabors in Kürze erscheinendes Buch The Jesus Dynasty (www.jesusdynasty.com).

Die Tatsachen

> Von 1963 bis 1965 wurde Masada, der Schauplatz einer jüdischen Revolte gegen die Römer im ersten Jahrhundert, von dem israelischen Archäologen Yigael Yadin und einem Team aus internationalen Freiwilligen ausgegraben.Yadins Mitarbeiter bargen die fragmentarischen und vermischten Überreste von ungefähr fünfundzwanzig Skeletten aus einem Höhlenkomplex mit der Bezeichnung Loci 2001/2002, der sich unter der Kasemattenwand an der südlichen Flanke des Gipfels befand. Im Gegensatz zu anderen menschlichen Überresten, die man innerhalb des Hauptruinenkomplexes am Nordrand von Masada fand, wurden diese Knochen nicht sofort der Presse gemeldet.

In den 1990ern tauchte ein Foto eines einzelnen intakten Skeletts auf, das bei der Ausgrabung von 1963 bis 1965 ebenfalls in Loci 2001/2002 entdeckt wurde. Dieses Skelett wurde vom biologischen Anthropologen des Projekts, Nicu Haas, weder erwähnt noch beschrieben. Es wurde auch von Yadin in seinen veröffentlichten Berichten und Interviews nie diskutiert.

– Formelle Feldnotizen wurden während der Masada-Ausgrabungen nicht geführt, es gab jedoch regelmäßige mündliche Lagebesprechungen zwischen Yadin und seinem Team. Schriftliche Protokolle dieser Sitzungen sind auf dem Campus der Hebräischen Universität auf dem Berg Scopus archiviert. Einige Seiten über die Entdeckung und Bearbeitung der Loci 2001/2002 fehlen.

– Weder die Knochen der fünfundzwanzig vermischten Individuen noch das korrekt angeordnete Skelett, noch der Inhalt der Loci 2001/2002 sind in den sechs Bänden der letztgültigen Publikation über die Masada-Ausgrabung beschrieben.

– Obwohl Nicu Haas die Knochen mehr als fünf Jahre lang in seinem Besitz hatte, veröffentlichte er nichts über die vermischten Individuen oder über das bei Loci 2001/2002 gefundene, komplette Skelett. Haas’ handschriftliche Notizen, darunter auch ein komplettes Knocheninventar, deuten darauf hin, dass er das komplette Skelett nie erhalten hatte.

– Ende der 1960er behauptete Yigael Yadin in einem Presseinterview, dass eine Radiokarbon-Untersuchung selten vorgenommen werde und dass es nicht seine Aufgabe sei, derartige Tests in Auftrag zu geben. Die Zeitschrift Radiocarbon legt jedoch den Schluss nahe, dass Yadin in dieser Zeit durchaus Proben, die von anderen israelischen Ausgrabungen stammten, für Radiokarbon-Untersuchungen eingeschickt hatte. Trotz der Unsicherheit bezüglich des Alters der Loci 2001/2002-Überreste schickte Yadin nie Proben von dort für eine Radiokarbon-Untersuchung ein.

> 1968 wurden die Überreste eines »gekreuzigten Mannes« bei Straßenarbeiten nördlich der Jerusalemer Altstadt gefunden. Der Verstorbene, Yehochanan, starb im ersten Jahrhundert mit circa fünfundzwanzig Jahren. Ein Nagel und Holzfragmente waren in einem Fersenbein Yehochanans eingebettet.

 

> 1973 veröffentlichte der australische Journalist Donovan Joyce The Jesus Scroll. Joyce behauptete, er wäre in Israel gewesen, hätte dort einen Freiwilligen aus Yadins Team kennen gelernt und eine aus Masada gestohlene Schriftrolle aus dem ersten Jahrhundert gesehen, die angeblich den letzten Willen und das Testament von »Jesus, Sohn des Jakobus« enthalte. Laut Joyce wurde die Schriftrolle aus Israel herausgeschmuggelt, vermutlich in die UDSSR.

 

> 1980 entdeckten Straßenarbeiter in Talpiot, direkt südlich der Jerusalemer Altstadt, ein Grab. Das Grab enthielt Gebeinkästen, so genannte Ossuare, die beschriftet waren mit den Namen Mara (Maria),Yehuda, Sohn des Yeshua (Judas, Sohn von Jesus), Matya (Matthäus),Yeshua, Sohn des Yehosef (Jesus, Sohn des Joseph),Yose (Joseph) und Marya (Maria). Das Zusammentreffen dieser Namen in einem Grab ist sehr selten. Skelettproben wurden für eine DNS-Untersuchung eingeschickt.

 

> 2000 entdeckten der amerikanische Archäologe James Tabor und sein Team im Hinnom-Tal außerhalb Jerusalems ein frisch ausgeraubtes Grab. Das Grab enthielt zwanzig Ossuare, alle bis auf einen zertrümmert. In der unteren Kammer fand sich ein Leichentuch, das ein fragmentarisches menschliches Skelett und Haare enthielt. Eine Radiokarbon-Untersuchung ergab, dass das Leichentuch aus dem ersten Jahrhundert stammte. Eine mikroskopische Untersuchung zeigte, dass die Haare sauber und frei von Ungeziefer waren, was darauf hindeutete, dass der Verstorbene von hohem Rang war. Eine anthropologische Untersuchung bestätigte, dass es sich um die Überreste eines erwachsenen Mannes handelte. Eine DNS-Sequenzierung wies Verwandschaftsbeziehungen zwischen den meisten Individuen in diesem Grab nach.

 

> 2002 gab der israelische Antiquitätensammler Oded Golan die Existenz eines Ossuars aus dem ersten Jahrhundert mit der Inschrift »Jakobus, Sohn des Joseph, Bruder des Jesus« bekannt. In diesem Herbst wurde der Gebeinkasten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Experten stimmen zwar darin überein, dass der Gebeinkasten aus dem ersten Jahrhundert stammt, Kontroversen gibt es jedoch über die Authentizität der Inschrift. Indizien legen den Schluss nahe, dass der Gebeinkasten aus der Gegend des Hinnom-Tals stammt, möglicherweise aus Tabors »Leichentuch«-Grab.

> Bei der Israel Antiquities Authority, der israelischen Altertümer- und Archäologie-Behörde, wurde ein formeller Antrag auf eine DNS-Untersuchung des im Jakobus-Ossuar gefundenen Knochenmaterials gestellt. Eine DNS-Sequenzierung würde einen Vergleich der Überreste aus dem Jakobus-Ossuar mit denen aus Tabors » Leichentuch«-Grab im Hinnom ermöglichen. Dieser Antrag wurde abgelehnt.

> Im Januar 2005 wurde gegen Oded Golan und einige andere Anklage wegen der Fälschung von Antiquitäten erhoben. Mr. Golan beteuert weiter seine Unschuld und besteht darauf, dass das Jakobus-Ossuar authentisch ist. Die Experten sind sich weiterhin uneins.

1

Nach einem Osteressen aus Schinken, Erbsen und Kartoffelbrei klaute Charles »Le Cowboy« Bellemare seiner Schwester einen Zwanziger, fuhr zu einem Crack-Haus in Verdun und verschwand.

In diesem Sommer wurde das Haus für teures Geld verkauft. Im Winter ärgerten sich die neuen Besitzer über den schlechten Abzug ihres Kamins. Am Montag, den siebten Februar, öffnete der Herr des Hauses den Rauchfang und stocherte mit einem Rechenstiel nach oben. Ein vertrocknetes Bein fiel in den Aschekasten.

Papa rief die Polizei. Die Polizei rief die Feuerwehr und das Bureau du coroner. Der Coroner, der Leichenbeschauer also, rief das forensische Institut an. Pelletier bekam den Fall.

Pelletier und zwei seiner Techniker standen binnen einer Stunde nach Entdeckung des Beins auf dem Rasen. Zu sagen, dass große Verwirrung herrschte, wäre ungefähr so, als würde man den D-Day als hektisch bezeichnen. Entrüsteter Vater. Hysterische Mutter. Überdrehte Kinder. Neugierige Nachbarn. Verärgerte Polizisten. Ratlose Feuerwehrmänner.

Dr. Jean Pelletier ist der älteste und ranghöchste der fünf Pathologen am Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médecine Légale, Quebecs zentrales forensisches und gerichtsmedizinisches Institut. Er hat schlechte Gelenke und schlechte Zähne und null Toleranz, was die Vergeudung seiner knappen Zeit angeht. Er warf nur einen Blick auf die Szene und bestellte eine Abrissbirne.

Die Außenwand des Kamins wurde pulverisiert. Eine gut durchgeräucherte Leiche wurde herausgezogen, auf eine Bahre geschnallt und in unser Institut gebracht.

Am nächsten Tag warf Pelletier auch auf die Überreste nur einen kurzen Blick und sagte: »Ossements.« Knochen.

Auftritt meiner Wenigkeit, Dr. Temperance Brennan, forensische Anthropologin für North Carolina und Quebec. La Belle Province und Dixie? Eine lange Geschichte, die anfängt mit einem Fakultätsaustausch zwischen meiner Heimatuniversität UNC-Charlotte und der McGill in Montreal. Als das Austauschjahr zu Ende war, ging ich wieder in den Süden, arbeitete aber weiter als externe Beraterin für das Institut in Montreal. Ein Jahrzehnt später pendle ich noch immer zwischen beiden Orten hin und her und dürfte inzwischen, was Bonusmeilen für Vielflieger angeht, auf der Rangliste ziemlich weit oben stehen.

Pelletiers demande dexpertise en anthropologie lag auf meinem Schreibtisch, als ich für meinen Februar-Turnus in Montreal eintraf.

Inzwischen war es Mittwoch, der sechzehnte Februar, und die Knochen aus dem Kamin bildeten auf meinem Arbeitstisch ein komplettes Skelett. Obwohl das Opfer kein Freund regelmäßiger Kontrolluntersuchungen gewesen war, was einen Vergleich des Gebisses mit zahnärztlichen Unterlagen ausschloss, deuteten alle skelettalen Indikatoren auf Bellemare hin. Alters –, Geschlechts –, Abstammungs- und Größenschätzungen sagten mir, neben zwei Stahlstiften im rechten Schien- und Wadenbein, dass ich den lange vermissten Cowboy vor mir hatte.

Abgesehen von einem Haarriss an der Schädelbasis, der wahrscheinlich von dem ungeplanten Sturz in den Kamin herrührte, fand ich keine Hinweise auf äußere Verletzungen.

Ich überlegte mir gerade, wie und warum ein Mann auf ein Dach klettert und dann in einen Kamin fällt, als das Telefon klingelte.

»Wie es aussieht, brauche ich Ihre Unterstützung,Temperance.« Nur Pierre LaManche nannte mich bei meinem vollen Namen, den er auf der letzten Silbe betonte, so dass er sich auf »La France« reimte. LaManche hatte sich selbst einen Kadaver zugewiesen, der, wie ich vermutete, Verwesungserscheinungen aufwies.

»Fortgeschrittene Fäulnis?«

»Oui.« Mein Chef hielt kurz inne. »Und andere komplizierende Faktoren.«

»Komplizierende Faktoren?«

»Katzen.«

O Mann.

»Ich bin gleich unten.«

Nachdem ich den Bellemare-Bericht auf einer Diskette abgespeichert hatte, verließ ich mein Labor, ging durch die Glastüren, die die rechtsmedizinische Abteilung vom Rest der Etage abtrennen, bog in einen Nebenkorridor ein und drückte auf den Knopf neben einem einzelnen Fahrstuhl. Zugänglich nur von den beiden gesicherten Etagen des LSJML und vom Büro des Leichenbeschauers, hat dieser Lift nur ein einziges Ziel: die Leichenhalle.

Während ich in den Keller hinunterfuhr, wiederholte ich im Geiste noch einmal, was ich bei der Personalbesprechung an diesem Morgen erfahren hatte.

Avram Ferris, ein sechsundfünfzigjähriger orthodoxer Jude, war eine Woche zuvor verschwunden. Gestern am späten Nachmittag war Ferris’ Leiche in einer Abstellkammer im Obergeschoss seines Geschäftsgebäudes entdeckt worden. Keine Hinweise auf einen Einbruch. Keine Hinweise auf einen Kampf. Die Angestellte sagte, er habe sich in letzter Zeit merkwürdig verhalten.Tod durch einen selbst zugefügten Pistolenschuss lautete die Einschätzung vor Ort. Die Familie des Opfers beharrte jedoch stur darauf, dass ein Selbstmord ausgeschlossen sei.

Der Coroner hatte eine Autopsie angeordnet. Ferris’ Verwandte und der Rabbi hatten dagegen Einspruch erhoben. Die Verhandlungen waren ziemlich hitzig verlaufen.

Ich sollte nun gleich den Kompromiss sehen, den man erreicht hatte.

Und das, was die Katzen angerichtet hatten.

Vom Aufzug aus ging ich nach links und dann nach rechts auf die Leichenhalle zu. Als ich mich der äußeren Tür des Autopsieflügels näherte, hörte ich Geräusche aus dem Familienzimmer, einer tristen, kleinen Kammer, die für diejenigen reserviert war, die man für eine Identifikation der Toten einbestellt hatte.

Leises Schluchzen. Eine Frauenstimme.

Ich stellte mir den trostlosen kleinen Raum mit seinen Plastikpflanzen und Plastikstühlen und dem diskret mit einem Vorhang verhängten Fenster vor und spürte den üblichen Schmerz. Wir im LSJML machen keine Krankenhausautopsien. Keine Leberzirrhose im Endstadium. Kein Pankreaskrebs. Wir treten in Aktion bei Mord, Selbstmord, Unfällen und plötzlichen und unerwarteten Todesfällen. Im Familienzimmer warten diejenigen, die eben vom Undenkbaren und Unvorhergesehenen überfallen wurden. Deren Kummer rührt mich immer.

Ich zog eine hellblaue Tür auf und lief einen schmalen Korridor entlang, vorbei an Computerterminals, Trockengestellen und Edelstahlrollbahren zu meiner Rechten und weiteren blauen Türen zu meiner Linken, alle mit der Aufschrift SALLE D’AUTOPSIE. Vor der vierten Tür atmete ich einmal tief durch und trat dann ein.

Neben den Skelettierten bekomme ich die Verbrannten, die Mumifizierten, die Verstümmelten und die Verfaulten. Meine Aufgabe ist es, die Identität zu rekonstruieren, die der Tod ausgelöscht hat. Saal vier benutze ich ziemlich häufig, weil er mit einem speziellen Belüftungssystem ausgestattet ist. An diesem Morgen hatte das System gegen den Fäulnisgestank kaum eine Chance.

Einige Autopsien finden vor leerem Haus statt. Andere ziehen Publikum förmlich an. Trotz des Gestanks gab es bei Avram Ferris’ Autopsie nur Stehplätze.

LaManche. Lisa, seine Autopsietechnikerin. Zwei uniformierte Beamte. Ein Detective der Sûreté du Québec, den ich nicht kannte. Ein großer Kerl, sommersprossig und blasser als Tofu.

Ein SQ-Detective, den ich kannte. O Mann. Andrew Ryan. Eins sechsundachtzig. Sandblonde Haare. Wikingerblaue Augen.

Wir nickten einander zu. Ryan der Bulle. Tempe die Anthropologin.

Als wären die offiziellen Teilnehmer nicht schon zahlreich genug, bildeten auch noch vier Laien hinter der Leiche eine Mauer der Missbilligung.

Ich musterte sie schnell. Lauter Männer. Zwei Mittfünfziger, die beiden anderen vermutlich Ende sechzig. Dunkle Haare. Brillen. Bärte.Yarmulken.

Die Wand betrachtete mich abschätzend. Acht Hände blieben hinter vier steifen Rücken gefaltet.

LaManche zog seine Atemmaske herunter und stellte mich dem Beobachterquartett vor.

»In Anbetracht des Zustandes von Mr. Ferris’ Leiche ist ein Anthropologe erforderlich.«

Vier verständnislose Blicke.

»Dr. Brennans Fachgebiet ist skelettale Anatomie.« LaManche sprach Englisch. »Sie ist, was Ihre speziellen Anforderungen angeht, vollständig im Bilde.«

Abgesehen von der sorgfältigen Aufbewahrung auch der geringsten Mengen von Blut und Gewebe, hatte ich keine Ahnung von den speziellen Anforderungen dieser Männer.

»Mein tief empfundenes Bedauern über Ihren Verlust«, sagte ich und drückte mir mein Klemmbrett an die Brust.

Vier Köpfe nickten melancholisch.

Ihr Verlust lag in der Bühnenmitte, mit einer Plastikplane zwischen Leiche und Edelstahl. Auf dem Boden unter und um den Tisch herum waren weitere Planen ausgebreitet. Leere Wannen, Gläser und Röhrchen standen auf einem Rollwagen bereit.

Die Leiche war ausgezogen und gewaschen, doch es war noch kein einziger Schnitt gesetzt worden. Zwei Papiertüten lagen platt gedrückt auf der Arbeitstheke. Ich nahm an, dass LaManche seine äußerliche Untersuchung bereits abgeschlossen hatte, darunter auch die Suche nach Schmauchspuren und anderen Indizien an Ferris’ Händen.

Acht Augen verfolgten mich, als ich zu dem Verstorbenen ging. Beobachter Nummer vier faltete nun seine Hände vor den Genitalien.

Avram Ferris sah nicht aus, als wäre er erst letzte Woche gestorben. Er sah aus, als wäre er während der Clinton-Ära gestorben. Seine Augen waren schwarz, die Zunge purpurn, die Haut oliv- und auberginefarben gesprenkelt. Sein Bauch war aufgebläht, sein Hodensack drall wie ein Wasserball.

Ich schaute Ryan fragend an.

»Die Temperatur in der Abstellkammer lag bei zweiundneunzig Fahrenheit«, sagte er.

»Warum so heiß?«

»Wir gehen davon aus, dass die Katzen ans Thermostat gekommen sind«, sagte Ryan.

Ich rechnete schnell nach. Zweiundneunzig Fahrenheit. Knapp fünfunddreißig Celsius. Kein Wunder, dass Ferris einen Rekord in Verwesung aufstellte.

Aber die Hitze war nur eins der Probleme dieses Herrn gewesen.

Wenn wir Hunger haben, reagieren auch die Friedlichsten unter uns gereizt. Wenn wir am Verhungern sind, reagieren wir verzweifelt. Das Es setzt sich über die Moral hinweg. Wir essen. Wir überleben. Dieser gemeinsame Instinkt treibt Herdentiere, Raubtiere, Bataillone und Fußballmannschaften an.

Da werden sogar Bello und Muschi zu Aasfressern.

Avram Ferris hatte den Fehler gemacht, sich eine Kugel einzufangen, während er mit zwei Kurzhaarhauskatzen und einer Siamesin in einem Raum eingesperrt war.

Und mit einem zu geringen Vorrat an Brekkies.

Ich ging langsam um den Tisch herum.

Das Schläfen- und das Scheitelbein auf Ferris’ linker Schädelseite waren merkwürdig nach außen gebogen. Obwohl ich das Hinterhauptsbein nicht sehen konnte, war es offensichtlich, dass er die Kugel in den Hinterkopf bekommen hatte.

Ich zog Gummihandschuhe über, schob zwei Finger unter den Schädel und tastete. Der Knochen gab nach wie Pudding. Nur die Schädelschwarte hielt den Hinterkopf noch zusammen.

Ich senkte den Kopf wieder ab und untersuchte das Gesicht.

Es war schwierig, sich vorzustellen, wie Ferris zu Lebzeiten ausgesehen hatte. Seine linke Wange war angenagt. Zahnspuren kerbten den darunter liegenden Knochen, Splitter schillerten in der grellroten Pampe.

Ferris’ rechte Gesichtshälfte war zwar aufgequollen und fleckig, ansonsten aber größtenteils intakt.

Ich richtete mich auf und dachte über das Verstümmelungsmuster nach. Trotz der Hitze und des Fäulnisgestanks hatten die Katzen sich nicht an die rechte Gesichtshälfte oder weiter unten an den Rest des Körpers gewagt.

Ich begriff jetzt, warum LaManche mich brauchte. »Gab es auf der linken Gesichtshälfte eine offene Wunde?«, fragte ich ihn.

»Oui. Und eine zweite am Hinterkopf. Verwesung und Fraßspuren machen es unmöglich, den Weg der Kugel zu bestimmen.«

»Ich brauche einen vollen Satz kranialer Röntgenaufnahmen«, sagte ich zu Lisa.

»Ausrichtung?«

»Alle Winkel. Und ich brauche den Schädel.«

»Unmöglich.« Beobachter Nummer vier erwachte plötzlich zum Leben. »Wir haben eine Vereinbarung.«

LaManche hob eine latexverhüllte Hand. »Ich habe die Pflicht, in dieser Sache die Wahrheit herauszufinden.«

»Sie haben uns Ihr Wort gegeben, dass keinerlei Proben einbehalten werden.« Obwohl der Mann eine Gesichtsfarbe wie Haferschleim hatte, zeigten sich auf seinen Wangen jetzt rosige Knospen.

»Außer wenn es absolut unvermeidbar ist.« LaManche war die Sachlichkeit in Person.

Beobachter Nummer vier wandte sich dem Mann auf seiner Linken zu. Beobachter Nummer drei hob das Kinn und schaute durch gesenkte Lider nach unten.

»Lassen Sie ihn sprechen.« Gelassen. Der Rabbi empfahl Geduld.

LaManche wandte sich mir zu.

»Dr. Brennan, fahren Sie mit Ihrer Untersuchung fort, wobei Sie jedoch den Schädel und alle nicht betroffenen Knochenpartien an Ort und Stelle belassen.«

»Dr. LaManche … «

»Wenn sich das als undurchführbar erweist, kehren Sie zur normalen Verfahrensweise zurück.«

Ich mag es nicht, wenn man mir vorschreibt, wie ich meine Arbeit tun soll. Ich mag es nicht, mit weniger als den maximal zu erreichenden Informationen zu arbeiten oder weniger als das optimale Verfahren anzuwenden.

Doch ich mag und respektiere Pierre LaManche. Er ist der beste Pathologe, den ich kenne.

Ich schaute meinen Chef an. Der alte Mann nickte unmerklich. Ziehen Sie das mit mir durch, signalisierte er mir.

Ich hob den Blick zu den Gesichtern über Avram Ferris. In jedem erkannte ich den uralten Kampf zwischen Dogma und Pragmatismus. Der Körper als Tempel. Der Körper als Gänge und Ganglien und Pisse und Galle.

In jedem sah ich Verlustschmerz.

Denselben Schmerz, den ich erst Minuten zuvor mitgehört hatte.

»Natürlich«, sagte ich leise. »Rufen Sie mich, bevor Sie die Schädelschwarte abziehen.«

Ich schaute Ryan an. Er zwinkerte. Ryan der Bulle, hinter dem Ryan der Geliebte hervorlugte.

Die Frau weinte noch immer, als ich den Autopsieflügel verließ. Ihre Begleiterin, oder ihre Begleiterinnen, waren jetzt still.

Ich zögerte, weil ich mich nicht in persönliche Trauer eindrängen wollte.

War es das? Oder war es nur eine Ausrede, weil ich nichts damit zu tun haben wollte?

Ich werde oft Zeuge von Kummer. Immer und immer wieder bin ich an vorderster Front mit dabei, wenn Überlebende sich der plötzlichen Erkenntnis stellen müssen, dass ihr Leben sich radikal verändert hat. Mahlzeiten, die man nie mehr gemeinsam einnehmen wird. Gespräche, die nie geführt werden. Kinderbücher, die nie mehr laut vorgelesen werden.

Ich sehe den Schmerz, aber ich kann keine Hilfe anbieten. Ich bin ein Außenstehender, ein Voyeur, der nach dem Unfall, nach dem Feuer, nach der Schießerei gafft. Ich gehöre zum Heulen der Sirenen, zum Spannen der Absperrbänder, zum Zuziehen des Leichensacks.

Ich kann überwältigenden Kummer nicht lindern. Ich hasse meine Machtlosigkeit.

Ich kam mir vor wie ein Feigling. Dennoch betrat ich das Familienzimmer.

Zwei Frauen saßen nebeneinander, dicht zusammen, doch ohne sich zu berühren. Die jüngere hätte dreißig, aber auch fünfzig sein können. Sie hatte blasse Haut, dichte Augenbrauen und lockige, dunkle, im Nacken zusammengefasste Haare. Sie trug einen schwarzen Rock und einen langen, schwarzen Pullover mit hoch angesetzter Kapuze, die ihren Unterkiefer berührte.

Die ältere Frau war so runzlig, dass sie mich an die Puppen aus getrockneten Äpfeln erinnerte, die in den Bergen von Carolina gebastelt werden. Sie trug ein knöchellanges Kleid, dessen Farbe irgendwo zwischen Schwarz und Purpur lag. Lose Fäden baumelten, wo eigentlich die oberen drei Knöpfe hätten sein sollen.

Ich räusperte mich.

Apfel-Oma hob den Kopf, und ich sah Tränen auf dem Gesicht der zehntausend Falten glänzen.

»Mrs. Ferris?«

Die knotigen Finger knüllten ein Taschentuch.

»Ich bin Temperance Brennan. Ich assistiere bei Mr. Ferris’ Autopsie.«

Der Kopf der alten Frau kippte nach rechts, und ihre Perücke verrutschte.

»Mein aufrichtiges Beileid. Ich weiß, wie schwierig das für Sie ist.«

Die Jüngere hob zwei atemberaubend fliederfarbene Augen.

»Wirklich?«

Gute Frage.

Ein Verlust ist schwer zu verstehen. Ich weiß das. Mein Verständnis von Verlust ist unvollständig. Auch das weiß ich.

Mein Bruder starb an Leukämie, als er gerade mal drei Jahre alt war. Meine Großmutter war bereits über neunzig, als ich sie verlor. Jedes Mal war die Trauer wie ein lebendiges Wesen, das in meinen Körper eindrang und sich tief im Mark und in den Nervenenden einnistete.

Kevin war kaum mehr als ein Baby gewesen. Oma lebte in Erinnerungen, in denen ich nicht vorkam. Ich liebte sie beide. Aber sie waren nicht das ausschließliche Zentrum meines Lebens, und beide Todesfälle kamen nicht unerwartet.

Wie geht man mit dem plötzlichen Tod eines Partners um? Eines Kindes?

Ich wollte es mir gar nicht vorstellen.

Die jüngere Frau machte weiter, wo sie aufgehört hätte. »Wie können Sie sich anmaßen, den Kummer zu verstehen, den wir empfinden?«

Unnötig aggressiv, dachte ich. Auch linkische Beileidsbezeugungen sind Beileidsbezeugungen.

»Natürlich kann ich das nicht«, sagte ich und schaute zwischen ihr und ihrer Begleiterin hin und her. »Das war wohl wirklich etwas anmaßend.«

Keine der beiden Frauen sagte etwas.

»Ich bedaure Ihren Verlust sehr.«

Die junge Frau wartete so lange, dass ich schon glaubte, sie würde gar nicht mehr antworten.

»Ich bin Miriam Ferris. Avram ist … war mein Ehemann.« Miriam hob die Hand und zögerte dann, als wüsste sie nicht mehr so recht, was sie damit machen wollte. »Dora ist Avrams Mutter.«

Die Hand flatterte kurz in Doras Richtung und sank dann wieder zu ihrem Gegenstück.

»Ich nehme an, unsere Anwesenheit bei der Autopsie ist gegen die Vorschriften. Wir können ja nichts tun.« Miriams Stimme klang heiser vor Trauer. »Das ist alles so …« Sie ließ den Satz unvollständig, nahm aber den Blick nicht von mir.

Ich suchte nach etwas Tröstendem oder Aufmunterndem oder wenigstens Beruhigendem, das ich den beiden hätte sagen können. Aber mir fiel nichts ein. Also griff ich wieder zu einem Klischee.

»Ich weiß wirklich, was für ein Schmerz es ist, eine geliebte Person zu verlieren.«

Doras rechte Wange zuckte. Sie ließ die Schultern hängen und senkte den Kopf.

Ich ging zu ihr, kauerte mich hin und legte meine Hand auf ihre.

»Warum Avram?« Tränenerstickt. »Warum mein einziger Sohn? Es sollte nicht sein, dass eine Mutter ihren Sohn begräbt.«

Miriam sagte etwas auf Hebräisch oder Jiddisch.

»Wer ist dieser Gott? Warum tut er uns das an?«

Miriam sagte noch etwas, diesmal mit leisem Tadel in der Stimme.

Dora schaute zu mir hoch. »Warum hat er mich nicht genommen? Ich bin alt. Ich bin bereit.« Die runzligen Lippen zitterten.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Ma’am.« Jetzt klang auch meine Stimme heiser.

Eine Träne tropfte von Doras Kinn auf meinen Daumen.

Ich schaute diesen einzelnen Tropfen an.

Ich schluckte.

»Kann ich Ihnen einen Tee bringen, Mrs. Ferris?«

»Wir kommen schon zurecht«, sagte Miriam. »Vielen Dank.«

Ich drückte Dora die Hand. Die Haut fühlte sich trocken, der Knochen spröde an.

Da ich mir nutzlos vorkam, stand ich auf und gab Miriam meine Karte. »In den nächsten paar Stunden bin ich dort oben. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, zögern Sie nicht, mich anzurufen.«

Beim Verlassen des Familienzimmers fiel mir einer der bärtigen Beobachter auf, der auf der anderen Seite des Gangs stand und zu mir herüberschaute.

Als ich an ihm vorbeigehen wollte, stellte sich mir der Mann in den Weg.

»Das war sehr freundlich.« Seine Stimme hatte etwas Krächzendes, er klang ein wenig wie Kenny Rogers, wenn er »Lucille« sang.

»Eine Frau hat ihren Sohn verloren. Eine zweite ihren Ehemann.«

»Ich habe sie da drinnen gesehen. Offensichtlich sind Sie ein Mensch des Mitgefühls. Ein Mensch der Ehre.«

Worauf wollte er hinaus?

Der Mann zögerte, als wäre er unschlüssig in Bezug auf seinen nächsten Schritt. Dann griff er in die Tasche, zog einen Umschlag heraus und gab ihn mir.

»Das ist der Grund, warum Avram Ferris tot ist.«