Inhaltsverzeichnisxs
Über den Autor
Vorwort
Teil I
1 Warum ist das Leben so kompliziert?
Auseinandernehmen und Zusammenbauen
Global denken
Das Leben verstehen lernen
Teil II
2 Mauerblümchen warten auf ihre Entdeckung
3 Sag mir wo die Bienen sind
Genom-Untersuchungen
Systemischer Pflanzenschutz
Hummelschwund
Subletale Effekte
Gesunde Ernährung für Bestäuber
Auswirkungen auf die globale Landwirtschaft?
4 Ökonomie der Ökologie
Zahlenspiele
Alle an einem Strang
Ozeane
5 Der verdoppelte Stickstoff-Kreislauf
Grenzüberschreitung
Kann die Denitrifikation mithalten?
Regionale Unterschiede
Ins Meer gespült
6 Schützen Schutzgebiete wirklich die bedrohten Arten?
Madagaskar
Belize
7 Bedrohte Artenvielfalt in der Türkei
Entwicklungsstörungen
Räuber in Gefahr
8 Invasion der Waschbären
Ameisen-Globalisierung
Migrationsstatistik
9 Katzen rund um die Welt
Das letzte Jahr des Tigers?
Korridore für Jaguare
Löwen sind nicht zum Spielen da
Geparden und Leoparden in Asien
10 Kohlenstoffbilanz der Wale
11 Ökologie von wilden und zahmen Tieren
Katzenjammer
Dachs pass auf!
Ein bisschen Wildnis?
12 Gute und schlechte Nachrichten für Korallen
Hoffnungsschimmer
Warnungen
13 Wer domestizierte wen? Die paradoxe Entstehung der Landwirtschaft
14 Pflanzenschädlinge auf der Wanderschaft
Weizenernte in Gefahr
Schädlinge auf Weltreise
15 Ein seltsamer Überlebender der Dinosaurierzeit
16 Wildtiere kehren nach Europa zurück
Wiederkehr des Wisents
Baumeister der Natur
Rückkehr der Vögel
Räuber auf der Jagd
17 Das Pfeifen im Walde
Entwaldung à la carte
Auch Bäume werden krank
18 Schützt die Küsten, damit sie uns schützen
Mangroven in Myanmar
Nachwachsender Schutz
Internationale Zusammenarbeit
Hoffnungsschimmer
Teil III
19 Planet der Phagen
20 Mäuse-Hirn: klein, aber oho
Landkarten für Mäusehirne
21 Barcodes für Tiere und Pflanzen
Der erste Barcode
Folge oder Ursache der Artentrennung?
Doppelter Barcode für Pflanzen
22 Von Krähen lernen
23 Wie sich Ameisen in der Wüste orientieren
Das Pedometer
Immer der Nase nach
Wegweiser
24 Kieselalgen zwischen Glasgehäuse und Treibhauseffekt
Späte Hochzeit
Genome
Kieselalgen im Kohlenstoffzyklus
Morphogenese
Anwendungen
Lästige und nützliche Kieselalgen
25 Spannungsgeladene Mikrobenaktivität am Meeresboden
Archäen als Klimaretter
Bakterien auf Draht
Vorstoß ins Unbekannte
26 Wie das Krokodil seine Zähne bekam
Erste Kiefer, erste Zähne
Zähne im Hals
Vögel und Reptilien
Nachwachsendes Gebiss
27 Wir sind das schwarze Schaf im Reich der Fische
Durchblick in der Entwicklungsbiologie
28 Extremophile Rotalge des Gen-Diebstahls überführt
Kleptomanie kommt in den besten Familien vor
Offene Fragen
29 Mit Darmbakterien durch dick und dünn
Freundliche Bakterien
Durch dick und dünn
30 Protein-Schäume in der Tierwelt
Schön geschwitzt
Schmackhafter Schaum
31 Haben Tiere Bewusstsein?
Kinder und Vögel
Sozialverhalten von Hunden und Affen
Teil IV
32 Verschmelzen von Biologie und Technologie
Roboter auf dem Vormarsch
Leben simulieren
33 Eine Zivilisation am Abgrund?
Die größte Herausforderung
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Von Michael Groß erschienen bei Wiley-VCH auch folgende Bücher:
Groß, Michael
Von Geckos, Garn und Goldwasser
Die Nanowelt lässt grüßen
2012
ISBN: 978-3-527-33272-4
Groß, Michael
Der Kuss des Schnabeltiers
und 60 weitere irrwitzige Geschichten aus
Natur und Wissenschaft
2011
ISBN: 978-3-527-32738-6
Groß, Michael
9 Millionen Fahrräder am Rande des
Universums
Obskures aus Forschung und Wissenschaft
2011
ISBN: 978-3-527-32917-5
Plaxco, Kevin W./Groß, Michael
Astrobiologie für Einsteiger
2012
ISBN: 978-3-527-41145-0
In der Reihe Erlebnis Wissenschaft erscheinen 2014:
Full, Roland
Vom Urknall zum Gummibärchen
2014
ISBN: 978-3-527-33601-2
Zankl, Heinrich/Betz, Katja
Trotzdem genial
Darwin, Nietzsche, Hawking und Co.
2014
ISBN: 978-3-527-33410-0
Hermans, Jo
Im Dunkeln hört man besser?
Alltag in 78 Fragen und Antworten
2014
ISBN: 978-3-527-33701-9
Hess, Siegfried
Opa, was macht ein Physiker?
Physik für Jung und Alt
2014
ISBN: 978-3-527-41263-1
Lindenzweig, Wilfried H.
Wissen macht schlau
Große Themen leicht erzählt
2014
ISBN: 978-3-527-33750-7
Oreskes, Naomi/Conway, Erik M.
Die Machiavellis der Wissenschaft
Das Netzwerk des Leugnens
2014
ISBN: 978-3-527-41211-2
Autor
Michael Groß
http://www.michaelgross.co.uk
michaelgrr@yahoo.co.uk
Titelbild
© andamanec – Fotolia.com
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Print ISBN 978-3-527-33668-5
ePDF ISBN 978-3-527-67927-0
ePub ISBN 978-3-527-67929-4
Mobi ISBN 978-3-527-67928-7
Michael Groß wurde 1963 in Kirn an der Nahe geboren. Das Schreiben liebt er, seit er in jungen Jahren für eine Schülerzeitung gearbeitet hat. Dass er sich nicht für eine journalistische Karriere, sondern für ein Chemiestudium entschied, kommt nun den Lesern seiner hintersinnig-wissenschaftlichen Texte zugute. Denn Groß schreibt mit Fachkompetenz und Witz – eine seltene Kombination und Gabe. Nach seiner 1993 abgeschlossenen Promotion an der Universität Regensburg erforschte er am Oxford Centre for Molecular Sciences die biophysikalische Chemie der Proteine. Heute schreibt er als freiberuflicher Wissenschaftsjournalist unter anderem für die Zeitschriften Spektrum der Wissenschaft, Nachrichten aus der Chemie, und Chemie in unserer Zeit und verfasst (populär-)wissenschaftliche Bücher. Im März 2014 erhielt er den Preis für Journalisten und Schriftsteller der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh). Michael Groß lebt in Oxford.
Vorwort
In die Biowissenschaften bin ich als Chemiker ja eher hineingerutscht – zunächst als Forscher in Sachen Biochemie, dann als Autor mit einem mehrere Disziplinen übergreifenden Themenspektrum von der Quantenphysik über die Chemie bis hin zur Evolutionsbiologie. Und offenbar rutsche ich immer weiter hinein.
Seit Anfang 2011 darf ich in der Fachzeitschrift Current Biology, für die ich vorher bereits in unregelmäßigen Abständen gearbeitet hatte, in jedem Heft, also zweimal im Monat, ein biologisches Thema ausführlich behandeln. Dadurch hat sich mein Themenschwerpunkt noch weiter in Richtung Biologie verschoben. Deshalb kommt jetzt hier das biologischste meiner Bücher, zusammengesetzt aus etwa gleichen Teilen Ökologie (Teil II) und organismischer Biologie (Teil III). Dieses thematische Duo wird eingerahmt von einer Einführung und einem Ausblick.
Durch die intensivere Beschäftigung mit dem Leben auf der Ebene von Organismen und Lebensgemeinschaften (anstatt von Molekülen bis Zellen) hat sich auch meine Weltsicht geändert und es ist mir ein wenig von meinem jugendlichen Optimismus abhanden gekommen. Meine ersten Artikel und Bücher waren vor allem der positiven Seite der Wissenschaft, dem Lösen von Problemen, Heilen von Krankheiten und Entwickeln besserer Technologien gewidmet. Ein Rezensent warf mir vor Jahren sogar vor, die englische Ausgabe von »Expeditionen in den Nanokosmos« betrachtete die Nanotechnik durch die rosa getönten Brillengläser des übertriebenen Technik-Optimismus.
Im Bereich der organismischen Biologie gibt es zwar weiterhin Erkenntnisgewinne zu feiern, aber im Bereich Ökologie liefert uns die Wissenschaft überwiegend schlechte Nachrichten, vom Artensterben bis hin zu Rückkopplungseffekten, die womöglich den Klimawandel verschärfen. Dementsprechend gespalten ist auch der Ausblick am
Ende des Buches. Wir lernen immer mehr über die Geheimnisse des Lebens, andererseits haben wir es aber offenbar bisher nicht geschafft, unser Verhalten so zu verändern, dass wir seinen Untergang nicht weiter beschleunigen.
Faszinierend sind die Einblicke in die Wunder der Natur nach wie vor, aber auch besorgniserregend, da die Natur gerade auf den hier behandelten Ebenen höherer Komplexität bedroht ist. Nur eine kosmische Katastrophe könnte die Zellbiologie zu einem plötzlichen Ende bringen, aber Arten, Habitate und Ökosysteme sind leichter zu zerstören, wie uns die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte eindrucksvoll demonstriert haben.
Mit diesen biologischen Geschichten will ich Sie deshalb nicht nur zum Staunen anregen, sondern auch zum Nachdenken darüber, was wir alle dazu beitragen können, der Zerstörung der Natur insbesondere auf den höheren Ebenen der Komplexitätsskala Einhalt zu gebieten.
Oxford, April 2014
Michael Groß
Bisweilen glauben wir, andere Lebewesen zu verstehen. Familienangehörige, Haustiere, BundeskanzlerInnen, Stubenfliegen, Topfblumen – sie sind alle nur Lebewesen wie du und ich, die sich ein bisschen Zufriedenheit wünschen für ihre begrenzte Lebensfrist. Wir identifizieren uns mit anderen Menschen, sogar mit nicht-menschlichen Lebewesen, und wir glauben sie zu verstehen.
Dann wieder gibt es Momente, wo wir nicht einmal die Handlungen der Angehörigen unserer eigenen Spezies begreifen können. Zum Beispiel, wenn Menschen unvollstellbar grausam, dumm, gierig, oder gleich alles auf einmal sind. Wenn die zwischenmenschliche Verständigung versagt. Wenn die Vernunft sich rar macht. Wenn Einfühlen und Mitfühlen uns plötzlich nicht mehr weiterhelfen.
Wie erklärt man Völkermord? Wie versteht man, dass Menschen verhungern, während andere im Überfluss schwelgen? Unsere mitmenschliche Solidarität und Empathie kann diese Phänomene nur beklagen, aber einleuchtende Erklärungen findet sie nicht. Warum kann das menschliche Hirn himmlische Musik oder höllische Folter ersinnen? Wir wissen es nicht.
Als Wissenschaftler, der sich überwiegend mit einfacheren Dingen beschäftigt, wundert mich dieses Versagen nicht. Lebewesen sind nun einmal extrem kompliziert. Und das menschliche Gehirn ist – zumindest solange, bis wir noch intelligentere Außerirdische entdecken – das komplizierteste System im uns bekannten Universum.
Noch unübersichtlicher wird es, wenn sieben Milliarden Gehirne auf unkontrollierte Weise miteinander wechselwirken. Es liegt in der Natur der Sache, dass einige wenige Gehirne nicht einmal näherungsweise vorhersagen können, was aus dieser potenzierten Komplexität herauskommt. Alles ist möglich, im Schlimmen wie im Guten.
Es ist eine Ironie unserer Zeit, dass die Wissenschaften, die sich mit einfacheren Dingen beschäftigen – etwa Physik, Chemie, Astronomie – im Ruf stehen, schwierig und für normale Menschen unzugänglich zu sein. Dabei ist zum Beispiel ein Stern ein überaus primitives und vorhersehbares System. AstrophysikerInnen können das Licht analysieren, das er aussendet, und dann genau vorhersagen, wie seine Zukunft verlaufen wird.
Wenn Pendel schwingen, Moleküle reagieren, Raketen ins Weltall fliegen – die verrufenen Gleichungen der harten Wissenschaften können genau beschreiben, was gerade passiert, und in vielen Fällen, außer wenn Unsicherheiten aus der Quantenwelt oder der Chaostheorie, oder menschliche Faktoren dazwischenfunken, können sie sogar die Zukunft vorhersagen. Bei lebenden Systemen ist das nicht so einfach.
Chemie, Physik, Astronomie erscheinen nur deshalb schwierig, weil wir ihre Objekte, die Atome, Moleküle Sterne und Quasare nicht anfassen oder mit unserer Lebenserfahrung begreifen können. Biologie erscheint nur deshalb einfach, weil wir Lebewesen aus eigener Anschauung kennen und – allen gegenteiligen Erfahrungen zum Trotz – zu verstehen glauben. Doch in Wirklichkeit ist lebende Materie unvorstellbar kompliziert, und höhere Organisationsstufen des Lebens umso mehr.
Bis ins 19. Jahrhundert hat man sich damit beholfen, die Biologie als rein beschreibende Wissenschaft zu betreiben, ohne weiter nach Gründen und Mechanismen zu fragen. Damit wären wir natürlich heutzutage nicht mehr zufrieden. Mit der Sammlung, Katalogisierung und Benennung des Lebendigen haben die alten Naturforscher immerhin eine Grundlage geschaffen, auf der die Wissenschaft später aufbauen konnte.
Im 20. Jahrhundert setzte die Biologie ein Heilmittel gegen die Kompliziertheit der Lebewesen ein: den Reduktionismus. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Biologen gnadenlos und mit überwältigendem Erfolg alle komplizierten Dinge auf einfachere Bestandteile reduziert. Sie zerlegten Organismen in Organe, Organe in Zellen, Zellen in Organellen, Organellen in Moleküle. Und damit kamen sie dann in den Bereich der gesicherten Erkenntnisse, denn Moleküle kann man mit physikalischen und chemischen Methoden genauestens analysieren.
Diese Vorgehensweise hat uns vermutlich die größte Erkenntnismasse in der Kulturgeschichte der Menschheit verschafft, aber sie lässt am Ende immer einige Fragen unbeantwortet. Die Fragen nach dem Großen und Ganzen, nach der höheren Ebene, die nach dem Bewusstsein sowieso. Aber der Reduktionismus tut sich auch schwer mit komplexen Systemen aus vielen unabhängig agierenden Komponenten, die biologisch interessante Phänomene hervorbringen. Manche sprechen von »emergenten« Eigenschaften, die sich aus den komplexen Wechselwirkungen der Komponenten entwickeln, sich aber einer arithmetischen Vorhersage aus dem Verhalten der Einzelteile entziehen. Kurz gefasst: Das Ganze kann mehr als die Summe seiner Teile.
Das gilt für hinreichend komplexe Lebewesen, für Gemeinschaften von Lebewesen, und für Ökosysteme. All diese komplizierten Netzwerke von Wechselwirkungen zwischen Einzelteilen folgen zwar den physikalischen Regeln, die für die Einzelteile gelten, aber ihre Entwicklung ist deshalb noch lange nicht voraussehbar.
Ungefähr um die Jahrtausendwende ließ sich in der Biologie eine Trendwende erkennen. Stand das 20. Jahrhundert im Zeichen der Zerlegung von Organismen in ihre kleinsten Einzelteile, so interessierten sich zu Anfang des neuen Jahrhunderts plötzlich immer mehr Fachkundige für das Zusammensetzen der Einzelteile, die im vergangenen Jahrhundert so sorgfältig präpariert, sortiert, und charakterisiert worden waren.
Die »neue Welle« der Biologie wollte den Reduktionismus keinesfalls verwerfen oder schlechtreden. Es ging vielmehr darum, auf seinen Errungenschaften aufzubauen und die analytische Verständnisweise durch eine synthetische zu ergänzen. Wer ein Auto in seine Bestandteile zerlegt, gewinnt zweifellos Einsicht in die verborgenen Mechanismen seiner Funktion. Aber nur wer die Teile nachher auch wieder zu einem fahrtüchtigen Vehikel zusammensetzen kann, hat wirklich verstanden, wie es funktioniert.
Das Zusammenbauen erfolgte zunächst einmal in Computermodellen. Die exponentiell ansteigende Leistungsfähigkeit der Computer ermöglichte es bereits um die Jahrtausendwende, einfache Zellen wie etwa rote Blutkörperchen in silico zu simulieren. Die neue Branche der Biologie nennt sich Systembiologie, da sie jedes biologische System – sei es eine Zelle, ein Organ, ein Organismus oder ein Ökosystem – holistisch in seiner Gesamtheit zu begreifen trachtet, nicht reduktionistisch als einen Haufen Einzelteile.
Denis Noble, der selbst jahrzehntelang dem Reduktionismus frönte, verfasste mit seinem 2006 erschienenen Buch The music of life: Biology beyond the genome eine Art Manifest der Systembiologie. Wie der Titel bereits andeutet ist seine Leitmetapher die eines Orchesters. Es kommt nicht nur darauf an, was in der einzelnen Stimme geschrieben steht, sondern auch darauf, wie die vielen verschiedenen Stimmen zusammen erklingen.
Aber auch im Labor ging es ab der Jahrtausendwende konstruktiver zu. Im Rahmen einer weiteren neuen Teildisziplin, der synthetischen Biologie, wendeten Wissenschaftler das im 20. Jahrhundert Erlernte auf die Erzeugung von Neuem an.
Es herrschte zunächst wenig Einigkeit darüber, was synthetische Biologie eigentlich ist, da verschiedene Arbeitsgruppen ihre sehr unterschiedlichen Ansätze unter dieser Flagge scheinbar in verschiedene Richtungen steuerten (siehe [1, S. 217]). Erst als sich konkrete Erfolge abzeichneten, wurde es etwas deutlicher, wohin die Reise möglicherweise gehen könnte.
Eine für die Weltgesundheit ebenso wie für die Wissenschaft wichtige Errungenschaft war die 2006 berichtete Umprogrammierung von Hefen zur Herstellung eines entscheidenden Zwischenprodukts für die Synthese des Malariamittels Artemisinin, dessen Gewinnung aus natürlichen Quellen zu kostspielig und unzuverlässig ist, um eine dauerhafte medizinische Versorgung gewährleisten zu können.
Mit enormem Aufwand schleusten Forscher in Kalifornien einen kompletten neuen Stoffwechselweg in die Hefen ein, der – ausgehend von einer neuen Abzweigung im normalen Hefe-Stoffwechsel – in vier Synthesestufen das gewünschte Produkt Artemisininsäure liefert. Diese kann dann mit einfachen chemischen Verfahren in das Malariamedikament umgewandelt werden.
Inzwischen hat die industrielle Anwendung dieses Verfahrens bereits begonnen. Im April 2013 eröffnete die französische Pharma-Firma Sanofi in Garessio in Italien die erste Produktionsstätte für Artemisinin, die mit demselben Prinzip arbeitet, obwohl Sanofi für die letzten Schritte der Synthese eigene Verfahren entwickelte. Sanofi will bereits 2014 eine Jahresproduktion von 50 bis 60 Tonnen erreichen, was etwa ein Drittel des weltweiten Bedarfs abdeckt.
Andere Forscher demonstrierten die Möglichkeiten der synthetischen Biologie mit Modellprojekten, indem sie zum Beispiel Darmbakterien mit eigenen Blinklichtern ausstatteten. Mit solchen Spielereien gibt sich der Genom-Pionier Craig Venter natürlich nicht ab, der die Schrotschussmethode zur Sequenzierung mikrobieller Genome einführte und dann mit seinem privat finanzierten Konkurrenzprojekt zur Erstsequenzierung des menschlichen Genoms weltberühmt wurde. Für ihn bedeutet synthetische Biologie nicht weniger als neues Leben zu erschaffen. Seinem Team konnte im Jahre 2010 eine neue Bakterienart mit einem vollständig synthetischen Genom präsentieren. Zwar handelt es sich bei dem Genom im Wesentlichen um eine chemische Abschrift des Genoms einer bekannten Art, bereichert nur um einige Markierungen und Gimmicks, aber Venter betont gerne, dass es sich bei dieser Errungenschaft um die »Schöpfung« einer neuen Lebensform handelt.
Ein weiterer Wissenschaftszweig, der ähnliche Ambitionen hegt, ist die Kybernetik. Biomimetische Maschinen und einfache Roboter gibt es ja bereits seit Jahrzehnten, aber dank der Fortschritte beim Verständnis der Biologie auf der Ebene ihrer Bausteine und neuerdings auch auf der Systemebene, und auch dank der Fortschritte in der Halbleitertechnik ist die Herstellung von Robotern, die immer überzeugender lebendig wirken, sowie von funktionellen und nützlichen Hybriden aus biologischen und technischen Systemen inzwischen möglich. Die Frage ist nur, welche Arten von Robotern und Hybriden wirtschaftlich überlebensfähig und gesellschaftlich akzeptabel sein werden. Auf diese Frage werden wir im letzten Kapitel dieses Buches zurückkommen.
Lebende Organismen sind so schwierig, dass wir erst jetzt wirklich beginnen können, sie zu begreifen. Noch komplizierter wird die Sache allerdings, wenn wir Gemeinschaften von Organismen und deren Wechselwirkung mit ihrer Umwelt betrachten. Dies ist Aufgabe der Ökologie, und die hat natürlich im Groben bereits eine Vorstellung davon, wie die diversen Lebensformen in einem Geflecht von Wechselwirkungen zusammenhängen, aber was genau passiert, wenn eine Art aus dem System herausgenommen wird, oder eine in dem betrachteten Gebiet nicht einheimische Art neu eingeführt wird, das lässt sich nicht immer vorausberechnen.
Veränderung liegt in der Natur der Biologie – Arten evolvieren, passen sich an ihre Umweltbedingungen an, spalten sich in neue Arten auf, sterben aus. Neu hinzugekommen ist allerdings der auf globaler Ebene Chaos stiftende Beitrag des Menschen. Wir treiben Handel rund um die Welt, transportieren Pflanzen und Tiere, manchmal absichtlich, oft unbeabsichtigt, auf andere Erdteile, tragen zur Verbreitung von Krankheitskeimen bei, und bringen auf diese Weise ökologische Gleichgewichte mit einer Reichweite und Geschwindigkeit durcheinander, auf die die Natur nicht eingestellt ist.
Ebenso wichtig ist auch die Wechselwirkung der Lebewesen mit der Geosphäre, also mit den unbelebten Komponenten des Gesamtsystems Erde. Das Überleben der Arten hängt von geeigneten Klimabedingungen ab, und geologische Katastrophen wie Vulkanausbrüche, Fluten, etc. können es gefährden. Auch hier gilt, dass Veränderungen (und auch das gelegentliche Aussterben von Arten) zum normalen Ablauf gehören, aber wir Menschen haben das Tempo der Änderungen und Artenverluste dramatisch beschleunigt.
Auch in der Vergangenheit hat sich die Zusammensetzung der Atmosphäre geändert, aber nie so drastisch in so kurzer Zeit wie sie sich gegenwärtig ändert, da wir drauf und dran sind, den Kohlendioxidgehalt zu verdoppeln. (Im Mittelalter enthielt die Atmosphäre rund 280 ppm Kohlendioxid, im Sommer 2013 hat die seit den 1960er-Jahren in Hawaii durchgeführte Messung erstmals 400 ppm erreicht.) Lässt man die rund dreieinhalb Milliarden Jahre der Geschichte des Lebens auf der Erde im Zeitraffer ablaufen, so ändert sich die Zusammensetzung der Atmosphäre, das Klima, und auch die Oberfläche der Kontinente dramatisch – allerdings immer auf einer Zeitskala, die in Jahrtausenden zählt statt in Tagen.
Zur Zeit der Dinosaurier war unser Planet sehr viel wärmer als heute und hatte auch einen ausgeprägteren Treibhauseffekt dank höherer Kohlendioxidkonzentrationen in der Atmosphäre. Dementsprechend war der Meeresspiegel deutlich höher und es gab keine Eiskappen in den Polargebieten. Erst vor gut 30 Millionen Jahren kühlte sich die
Erde soweit ab, dass sich die heute vorhandene dauerhafte Eisschicht auf Antarktika etablieren konnte.
Geologische Ereignisse wie Klimaschwankungen, Meteoriteneinschläge und ungewöhnlich heftige Vulkanausbrüche haben auch immer wieder die Biosphäre in Mitleidenschaft gezogen und massenhaftes Artensterben verursacht. Auch heute erleben wir Klimawandel und Artensterben – der Unterschied ist nur der, dass der Wandel um mehrere Größenordnungen schneller verläuft als bisher, und dass wir Menschen ihn ausgelöst haben.
Wie die Geologen Jan Zalasiewicz und Mark Williams in ihrem Buch The goldilocks planet: The 4 billion year story of Earth’s climate nach einer Zeitraffer-Analyse der Wandlungen des Erdklimas folgern: »Wir schaukeln gerade das Boot, das in der Vergangenheit eine fatale Neigung zum Kentern gezeigt hat.« Und natürlich ist es bislang das einzige Boot, auf dem die Menschheit in einem überwiegend lebensfeindlichen Weltall überleben kann.
Merke: Das Leben ist eine scheußlich komplizierte und unübersichtliche Angelegenheit. Wer als wissenschaftlich interessierter Mensch solche Komplikationen vermeiden will, beschäftigt sich mit reiner Mathematik, die ist noch sauber und ordentlich, notfalls mit Physik oder gerade eben noch Chemie.
So erging es auch mir – vor den Unwägbarkeiten des Lebens fand ich Zuflucht in Mathematik, Physik, Chemie. Erst als die »Moleküle des Lebens« (so hieß ein Sonderheft von Spektrum der Wissenschaft Mitte der 1980er) meine Aufmerksamkeit fanden, dämmerte es mir, dass die Grenze des genau Erfassbaren sich mit der Zeit verschiebt. Die Biologie, die sich zu Zeiten meiner Großeltern noch auf das Beschreiben und Katalogisieren von Orchideen und ähnlich deskriptive Unternehmungen kapriziert hatte, war inzwischen eine molekulare Wissenschaft geworden.
Gerade die Botanik zeigt, wie verschieden man die Wissenschaft vom Leben angehen kann. Botaniker des 19. Jahrhunderts sammelten Blüten, Blätter und Samen in Herbarien und ordneten sie Arten und Gattungen zu. Das ist zweifellos wichtig und wir werden im nächsten Kapitel sehen, dass es heute noch der Wissenschaft dient, aber es zählt nicht gerade zu den Dingen, die einen Chemiker in Verzückung bringen könnten.
Heute denken wir bei Pflanzen an interessante Wirkstoffe wie Nikotin, Aspirin oder das Krebsmedikament Taxol. Wir können die Entwicklungii eines Samens zur Pflanze, zur Knospe, zur Blüte und letztendlich zur Frucht im Zeitraffer filmen und sehen so die genetisch programmierten Abläufe der Entwicklungsbiologie in einer Deutlichkeit vor Augen, die bei uns Säugetieren, die wir die interessantesten Veränderungen in der Gebärmutter verstecken, bei weitem nicht so leicht zu erreichen ist. (Und übrigens: Warum schmücken wir unsere Wohnungen mit den Geschlechtsorganen von Pflanzen, während wir unsere eigenen um Himmels willen bloß gut bedeckt halten müssen? Der Umgang des Menschen mit der Biologie ist manchmal sehr mysteriös.)
Wir können die Evolution des Ginkgo-Baums studieren, einer Gattung, welche den ersten und den letzten Dinosauriern Schatten bot. Warum ist der Ginkgo immer noch da, obwohl die Pflanzenwelt doch inzwischen modernere Fortpflanzungsmethoden (Blüten und Früchte) erfunden hat und seine Urzeit-Genossen ausgestorben oder bis zur Unkenntlichkeit verändert sind? Näheres dazu steht in Kapitel 15.
Allein die Pflanzen bieten uns so vielerlei, das über die reine Formenvielfalt und -schönheit hinausgeht. Sie produzieren Duftstoffe, Aromen, Toxine, psychoaktive Substanzen, sie entwickeln sich, co-evolvieren mit den Menschen (und anderen Tieren), die ihre Früchte essen, sie haben springende Gene und betreiben Photosynthese, sie verbrauchen das Kohlendioxid, von dem wir Menschen viel zu viel in die Atmosphäre pusten, kurzum, auch für die exakten Wissenschaften gibt es bei den Pflanzen viel zu untersuchen. Und natürlich ebenso bei den Tieren, und bei den Mikroben.
Als ich im Jahre 1993 als Doktorand in physikalischer Biochemie damit anfing, regelmäßig wissenschaftsjournalistische Beiträge zu schreiben, waren diese meist in der Welt der Moleküle angesiedelt. Natürlich kamen auch Pflanzen, Tiere, sogar Menschen vor, aber nur als Kulisse, als Rahmen für die Abenteuer der Moleküle des Lebens, als Träger von Genen und Reaktionsräume für Enzyme. Vor allem spielte sich die Handlung in der fremdartigen, aber für unser Leben so wichtigen Größenordnung der Nanometer ab, in der Welt, die ich den Nanokosmos nannte.
Bakterien waren von Anfang an dabei, aber höhere Lebewesen und ihre komplexen Gemeinschaften kamen erst langsam hinzu. Für einen Chemiker liegen ja diese Welten erst einmal weit entfernt. Allerdings gibt es, unter anderem dank der oben aufgezeigten Entwicklungen der Systembiologie und synthetischen Biologie, immer mehr Verbindungen zwischen den einst so streng getrennten Disziplinen und ihren parallelen Ebenen.
Interdisziplinäre Forschung ist seit Ende des 20. Jahrhunderts ein wichtiges Schlagwort geworden. Die Biologie verwendet heute ganz selbstverständlich auch Methoden der Mathematik, Physik und Chemie. Damit öffnet sie sich gleichzeitig auch für die Wissbegierigen, die sich nicht ganz so sehr für das Sammeln von Blümchen und Schmetterlingen, sondern mehr für Zahlen und Gleichungen interessieren.
Im Laufe dieser Entwicklung haben sich auch Themen aus der organismischen Biologie und der Ökologie in meine Artikel eingeschlichen. Diese Themen sind ja auch im Zusammenhang mit den globalen Umweltproblemen, die wir Menschen so frohgemut erzeugen und verschärfen, überaus wichtig. WissenschaftlerInnen rechnen ganz ernsthaft nach, ob wir die Artenvielfalt unseres Planeten überhaupt noch angemessen erfassen können, bevor wir sie auslöschen.
Deshalb kommt hier, im Zeichen des Waschbärs, eines putzigen Tierchens, das allerdings in Europa ein von Menschen eingeschleppter Fremdling ist und zur Plage zu werden droht (Kapitel 8), eine Zusammenstellung von biologischen und ökologischen Geschichten, die sich mit den faszinierenden Fähigkeiten der Organismen und der Komplexität ihrer Gemeinschaften befassen.
Diese Dinge sind kompliziert, zugegeben, aber da wir Menschen mit unserem explosiven Wachstum die komplexen biologischen Zusammenhänge unseres Planeten durcheinanderbringen, müssen wir diese auch verstehen, um größere Schäden zu vermeiden. Als Belohnung winken flüchtige Augenblicke, in denen wir glauben können, das Leben zu verstehen.
In diesem Teil des Buches geht es um Ökologie und Evolution, also darum, wie die Arten in Raum und Zeit zusammen leben und sich dabei verändern.
Wie viele Arten von Lebewesen bisher noch unentdeckt geblieben sind, ist äußerst schwer abzuschätzen. Da die von menschlichen Aktivitäten ausgelösten Umweltveränderungen derzeit ein dramatisches Artensterben bewirken, sehen viele Biologen sich in einem Wettlauf mit der Zeit. Können wir die biologische Vielfalt der Erde wenigstens noch katalogisieren, bevor wir sie vernichten? Angesichts dieses Dilemmas ist es schon beinahe beruhigend zu erfahren, dass rund die Hälfte der bisher unbekannten Pflanzenarten bereits in den Schubladen von Herbarien liegen und nur noch auf ihre Identifizierung warten.
Schätzungen zufolge machen die bereits wissenschaftlich erfassten Blütenpflanzen rund 80% der Artenvielfalt in dieser Gruppe aus. Dies bedeutet, dass 70 000 Arten noch wie das sprichwörtliche Mauerblümchen ihrer Entdeckung harren. Statistische Analysen des Entdeckungsvorgangs legen nun nahe, dass rund die Hälfte dieser »fehlenden« Arten bereits eingesammelt wurden und fein säuberlich auf einem Pappkarton montiert in einer Schublade in einem der zahlreichen Herbarien liegen. Es muss sie nur noch jemand identifizieren und ihnen einen Namen geben.
Robert Scotland von der Universität Oxford und Dan Bebber von der Organisation Earthwatch haben zusammen mit Kollegen von Botanischen Gärten rund um den Globus systematisch analysiert, wieviel Zeit zwischen dem Auffinden einer neuen Pflanze in der Natur und der offiziellen Beschreibung als neue Art verstreicht [2]. Die Pflanzen verbrachten zwischen einem Jahr und 210 Jahren in der Warteschleife, wobei der Median (die Zeit, nach der genau die Hälfte bereits erkannt war) bei 25 Jahren lag.
Natürlich kann dieser Wert immer noch zu niedrig liegen, da eine unbekannte Zahl von Arten mit extrem langer Verzögerung womöglich bis heute nicht entdeckt wurde.
Scotland selbst hat Pflanzen der Gattung Strobilanthus untersucht, was zur Identifizierung von 60 neuen Arten führte. Eine der neu identifizierten Pflanzen war 1885 eingesammelt worden und musste 121 Jahre auf ihre wissenschaftliche Einordnung warten.
Gegenwärtig werden pro Jahr etwa 2000 neue Arten von Blütenpflanzen beschrieben, aber es ist zu erwarten, dass diese Ausbeute langsam abnimmt, wenn der Vorrat an noch unerkannten neuen Arten zur Neige geht. Die bereits gesammelten und noch nicht identifizierten Arten, die laut Extrapolation der Statistik im Mittel innerhalb der nächsten 25 Jahre identifiziert werden sollten, werden also nicht 50 000 erreichen, doch die Forscher schätzen, dass gegenwärtig mehr als 35000 Arten, also mehr als die Hälfte der vermutlich noch fehlenden, bereits in Herbarien vorliegen und auf ihre Identifizierung warten.
Diese überraschende Erkenntnis hat naheliegende Implikationen für die Forschungsförderung – anstatt eine größere Zahl von Expeditionen in den Urwald zu schicken, könnte man die Ausweitung des botanischen Wissens wirkungsvoller beschleunigen, wenn man die botanischen Gärten mit mehr Fachpersonal ausstattet, damit die Wartezeit reduziert werden kann. Derzeit fehlt es den Einrichtungen einfach an qualifiziertem Personal, das die vorhandenen Funde identifizieren könnte. Und wenn die Bedeutung einer Pflanze nicht gleich erkannt wird, kann sie schon mal in der falschen Schublade landen und dort einige Jahrzehnte lang verkümmern.
Um jene Pflanzen zu identifizieren, die noch nicht in den Herbarien vorhanden sind, wird man allerdings weiterhin auch Expeditionen in die Wildnis schicken müssen. Das Argument dafür, diesen Teil der Forschung zu verstärken, wäre nicht der rasche Erkenntnisgewinn, sondern die Erfassung von Arten, die womöglich in einigen Jahren oder Jahrzehnten vom Erdboden verschwunden sein werden.
Das Wissen um die Artenvielfalt der Blütenpflanzen ist nicht nur für die Botaniker relevant, es hilft auch mit, Probleme der Ökologie und die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten sowie des Klimawandels auf die Natur besser zu verstehen. Wie wir in einem späteren Kapitel sehen werden (Kapitel 17), kann zum Beispiel die Katalogisierung der Flora am Waldboden darüber Aufschluss geben, wie stark der Wald die Folgen des Klimawandels abbremsen kann.
Das mysteriöse Verschwinden ganzer Bienenvölker und der Artenschwund bei Hummeln bedrohen die Landwirtschaft in Europa und Nordamerika. An beiden Phänomenen sind vermutlich mehrere Faktoren beteiligt, und auch Pflanzenschutzmittel stehen unter Verdacht.
Im Frühling 2007 verzeichneten Imker in den USA katastrophale Verluste an Bienenvölkern. Scheinbar gesund aussehende Bienenstöcke blieben verwaist, da ihre Bewohner offenbar den Heimweg nicht mehr fanden. Auch wurden keine verendeten Insekten in der Nähe gefunden. Mangels einer Erklärung wurde das Phänomen als Colony Collapse Disorder (CCD) verbucht. Es trat auch in den folgenden Jahren in wechselnder Intensität wieder auf.
Dass ein gewisser Anteil der Bienenvölker, etwa 7–10%, den Winter nicht überlebt, gilt als normal. In den von CCD betroffenen Gebieten sind die Verlustraten jedoch oft deutlich höher. Im Winter 2007/2008 verloren US-Imker 36% der Völker; in Großbritannien waren es 30,5%. Für Deutschland ermittelte die Arbeitsgemeinschaft der Institute für Bienenforschung eine geringere Verlustquote von 12,8%, wobei aber starke regionale Unterschiede auftraten.
Naturschützer haben wenig Mitleid mit den Imkern in den USA, da die europäische Honigbiene (Apis mellifera) dort sowieso nicht beheimatet ist und in einem ganz und gar nicht artgerechten Stil großindustriell ausgebeutet wird. Imker fahren ganze LKWs voller Bienenstöcke kreuz und quer über den Kontinent, um großflächigen, in Monokultur angelegten Plantagen ihre Bestäubungsdienste anzubieten [3]. In Europa, wo die Imkerei weniger stark industrialisiert ist, verwendet man hingegen »bienenfreundlichere« Methoden und hat bisher auch geringere Verluste zu beklagen.
Ein örtlich begrenztes Bienensterben in Baden-Württemberg im Jahr 2008 wurde mit unsachgemäßer Anwendung eines Pestizids, des Neonicotinoids Clothianidin (Markenname: Poncho Pro), in Verbindung gebracht. Der Hersteller, die Bayer AG, zahlte eine Entschädigung von zwei Millionen Euro an rund 700 betroffene Imker.
Das umfassendere Bienensterben in den USA hingegen lässt sich immer noch nicht mit einer definierten Ursache in Verbindung bringen. Die Arbeitsgruppe von May Berenbaum an der University of Illinois in Urbana-Champaign hat das Genom der Bienen nach Genen abgesucht, die in von CCD betroffenen Tieren stärker aktiv sind als in historischen Proben aus der Zeit vor CCD [4].
Die Untersuchung ergab mehrere Überraschungen. Zum einen hätten die Forscher erwartet, dass Gene, die bekanntermaßen mit der Immunantwort in Verbindung stehen, bei den betroffenen Insekten aktiviert sein müssten, doch eine solche Mobilisierung der Krankheitsabwehr konnte man nicht nachweisen. Aktiviert waren hingegen Gene, die nach bisherigem Stand der Wissenschaft auf dem verwendeten DNA-Chip gar nicht auftauchen dürften.
Es handelte sich um einen sogenannten DNA-Array, also einen Chip, der viele verschiedene DNA-Abschnitte trägt. Auswahlkriterium war, dass die entsprechende RNA-Abschrift in der Zelle einen Poly-A-Marker trägt. Diese Markierung kennzeichnet das Ende von Boten-RNAs, die dann als Vorlage für die Herstellung von Proteinen dienen. Sie sollte aber bei RNA-Molekülen, die einem anderen Zweck dienen, etwa den ribosomalen und Transfer-RNAs, fehlen.
Zu ihrer Überraschung fanden die Forscher, dass sich auch ribosomale Sequenzen in ihren DNA-Array eingeschmuggelt hatten. Daraus muss man schließen, dass in der Zelle, im Gegensatz zu bisherigem Lehrbuchwissen, auch mit poly-A markierte ribosomale RNA auftritt. Und genau diese ribosomalen Sequenzen scheinen bei den von CCD betroffenen Bienen aktiviert zu sein.
Dieses unerwartete Ergebnis fügt dem bereits mysteriösen Phänomen CCD noch ein weiteres Rätsel hinzu, doch die Forscher hoffen, dass es als Methode zur Diagnose von CCD dienen kann. Sie spekulieren, dass die Aktivierung dieser RNA-Synthese eine noch nicht bekannte Nebenwirkung der Infektion mit Picorna-Viren ist. Tatsächlich fanden sie auch einige Vertreter dieser Gruppe von Viren, die auch mit CCD in Verbindung gebracht wird, in den CCD-Proben häufiger als in den historischen Proben.
Viele andere Faktoren wurden ebenfalls als mögliche Gründe des Bienensterbens diskutiert, darunter natürliche Schädlinge wie die Varroa-Milbe und die Pilzkrankheit Nosema, neuartige Pflanzenschutzmittel, und sogar die Mikrowellen-Strahlung der Handys.
Die Handys hat man inzwischen vom Verdacht des Bienenmords freigesprochen, und es zeichnet sich ab, dass vermutlich Kombinationen der übrigen Faktoren für das Verschwinden der Bienenvölker verantwortlich sind. Sowohl eine bisher unveröffentlichte Studie des Bienenlabors der US-Regierung, als auch ein Paper aus dem INRA-Institut für Bienenforschung in Avignon [5] kommen zu dem Schluss, dass die schädlichen Auswirkungen des Pilzbefalls mit Nosema und die Toxizität der neuartigen Pestizide aus der Gruppe der Neonicotinoide sich gegenseitig verstärken können.
Die Neonicotinoide gehören zu einer neuartigen Gruppe von sogenannten systemischen Pflanzenschutzmitteln. Die grundlegende Idee ist, dass man die Samen mit solchen Mitteln behandelt, und dieses sich dann auf alle Teile der Pflanze verteilt. Die Methode sollte umweltfreundlicher sein, da man nicht den ganzen Acker mit Gift besprühen muss. Lediglich Schädlinge, die an den Pflanzen knabbern, bezahlen dies mit dem Leben. Aber vergiften die Mittel vielleicht auch die nützlichen Insekten, wenn diese die Pflanzen lediglich bestäuben?
Dieser Verdacht begleitet die Mittel seit Jahren. In Frankreich wurden sie deshalb bereits 1999 verboten. Allerdings kam es nach dem Inkrafttreten des Verbots nicht zu einer messbaren Erholung der Bestände von Bienen und anderen nützlichen Insekten.
Die Hersteller, darunter auch Bayer, bestehen darauf, dass die Mittel bei richtiger Anwendung für Bienen und andere Bestäuber harmlos sind. Nur bei unsachgemäßer Handhabung, sagen sie, können Neonicotinoide Schäden wie das bereits erwähnte Bienensterben in Baden-Württemberg im Frühling 2008 auslösen.
Kritiker wenden ein, dass die Auswirkungen von subletalen Dosen auf das Verhalten der Bienen (z. B. Orientierungsverlust) und die
Wechselwirkungen zwischen Neonicotinoiden und anderen Faktoren nicht hinreichend untersucht sind, um deren Unschuld zu beweisen.
Ebenso wie das Nicotin im Tabak (ein natürliches Pflanzenschutzmittel), ahmen Neonicotinoide den Neurotransmitter Acetylcholin nach. Sie werden allerdings nicht von den Enzymen (Cholinesterasen) erkannt, welche die Acetylcholinsignale inaktivieren. Es kommt deshalb zu einer Anreicherung von falschen Signalen, die das Insekt verwirren können. Es erscheint also plausibel, dass diese Mittel auch in Mengen, die sonst keine sichtbaren Gesundheitsschäden auslösen, womöglich dazu beitragen, dass Bienen ihren Heimweg nicht finden.
Was hat es nun mit der Wechselwirkung von Neonicotinoiden und Nosema-Befall auf sich? Die Forschergruppe in Avignon fand heraus, dass eine Kombination von Nosema und Neonicotinoid-Konzentrationen, wie sie in der Umwelt vorkommen, im Vergleich zu den einzelnen Faktoren zu stark erhöhter Bienensterblichkeit führt. Sie vermuten, dass der hohe Energieverbrauch des parasitären Pilzes die Bienen ungewöhnlich hungrig macht, und dass sie deshalb größere Mengen von der mit Pestizid belasteten Nahrung aufnehmen.
Die seit Jahrtausenden domestizierte Honigbiene ist zwar enorm wichtig für zahlreiche landwirtschaftliche Produkte (und für alle, die gern Honig essen), doch erledigt sie die Bestäubungsarbeit nicht alleine. Wild lebende Insektenarten, darunter vor allem zahlreiche Hummelarten, leisten ebenso wichtige Beiträge. Auch diese nützlichen Insekten sind Bedrohungen ausgesetzt – in diesem Fall ist es vor allem der Verlust des Lebensraums, der ihr Wohlergehen gefährdet.
Eine systematische Untersuchung der Verbreitung von acht Hummelarten in Nordamerika im Vergleich mit deren historischem Vorkommen [6] zeigte, dass das Verbreitungsgebiet von vier der acht Arten in den vergangenen Jahrzehnten bedrohlich geschrumpft ist. Auch Hummeln leiden unter Nosema-Infektionen (es handelt sich um eine hummelspezifische Art, Nosema bombi). Die Forscher konnten nachweisen, dass die vier im Rückgang befindlichen Arten stärker mit Nosema durchseucht waren als die vier beständigen Arten. Allerdings ist dies noch kein Beweis eines ursächlichen Zusammenhangs.
Genetische Untersuchungen zeigten, dass die bedrohten Hummelarten geringere genetische Vielfalt aufwiesen als die gedeihenden. Bemerkenswerterweise betreffen die Probleme in Nordamerika vor allem Hummelarten, die vorher ein sehr großes Verbreitungsgebiet mit einer breiten Variation von Klimabedingungen hatten. Frühere Untersuchungen in Europa legten hingegen nahe, dass Hummelarten, die auf einen sehr engen klimatischen Rahmen spezialisiert sind, schneller dahinschwinden, wenn sich ihre Lebensraumbedingungen ändern.
(Bombus hypnorum)