Thomas Erle
Höllsteig
Kaltenbachs dritter Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2015
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Thomas Erle
ISBN 978-3-8392-4758-7
»Nai hämmer gsait!«
Verfasser unbekannt
Aus dem Widerstand gegen das AKW Wyhl.
»Man ist nie geneigter, Unrecht zu tun, als wenn man Unrecht hat.«
Johann Peter Hebel (1760 – 1826),
alemannischer Dichter und Schriftsteller
Quelle: »Der Vater und der Sohn«, 1811
»Die Tafelrunde ist entehrt, wenn ihr ein Falscher angehört.«
Wolfram von Eschenbach (um 1160 / 80 – ca. 1220),
mittelhochdeutscher Dichter und Epiker
Quelle: »Parsifal«
»Die Blaue Stunde des Tages – kein Nachsinnen, das Herz weit offen …«
Lothar Kaltenbach (*1966)
Quelle: »Reise um den Tag in 80 Welten«
Der Wind frischte auf. Für einen Moment riss die Wolkendecke auseinander. Tief drang das Mondlicht durch das Gewirr der Äste und Zweige. Im silbrigen Geflacker der schwarzen Äste tanzten kleine Leuchtpunkte.
Eine lang gestreckte Reihe kaum erkennbarer Gestalten folgte dem zitternden Flackern einer Fackel. Das kühle Gluckern des Baches an ihrer Seite mischte sich mit dem dumpfen Klang der Schritte. Langsam aber zielstrebig stapften die Männer durch das Dunkel der Schlucht vorwärts.
Am Eingang eines kleinen Talkessels hob der Vorderste den Arm mit der Fackel.
»Wir sind da. Macht euch bereit.«
Die Wolken hatten sich wieder vor den Mond geschoben. Silbrigen Fäden gleich hingen ihre Ränder in der dumpfen Schwärze.
Aus der Reihe wurde einer der Männer nach vorn gestoßen. Die Übrigen entzündeten ihre Fackeln am Feuer des Anführers. Dann bildeten sie einen großen Kreis.
»J’accuse!«
Die Stimme des Anführers schnitt durch die dumpfe Luft. Erschrocken fuhr ein nachtschwarzer Vogel aus einem Gebüsch auf und flatterte davon. Die Männer hefteten ihre Blicke auf den, dem die Anklage galt.
»Verrat an der Gemeinschaft!«
Der Mann in der Mitte antwortete nicht. Seine Augen waren geschlossen, sein Kopf war gesenkt. Die Arme hingen kraftlos an der Seite herab.
»J’accuse! Verrat an den Geheimnissen!«
Die Worte schlangen sich wie Peitschenhiebe um den Angeklagten. Immer noch zeigte er keine Reaktion. Der Anführer erhob erneut seine Stimme.
»J’accuse! Sabotage an unseren Aktionen!«
Jetzt hob der Mann in der Mitte den Blick. Sein Mund öffnete sich leicht, doch er brachte kein Wort hervor. Sein Atem ging stoßweise.
»J’accuse!«
Die Worte erhoben sich unter den Umstehenden, wurden aufgenommen, setzten sich fort, vereinten sich zu einer einzigen großen Anklage.
Der Anführer reichte seine Fackel dem Nebenstehenden und hob die Hand. Sofort trat Ruhe ein. Außer dem Knistern der Flammen war nichts zu hören. Auf einen Wink trat einer der Umstehenden vor, löste dem Mann in der Mitte die Fesseln und trat in den Kreis zurück. Jetzt zog der Sprecher aus seinem Gürtel einen armlangen Stab und hielt ihn mit beiden Händen in die Höhe.
»J’accuse!«
Im nächsten Augenblick zog der Mann den Stab mit einem kräftigen Ruck nach unten und brach ihn über seinem Knie in zwei Teile. Mit einer verächtlichen Geste warf er die beiden Holzstücke vor dem Knieenden auf den Boden. Dann nahm er seine Fackel zurück und wandte sich dem Pfad zu, der aus der Lichtung herausführte. Die übrigen Männer folgten ihm schweigend. Keiner sah sich um.
Als die Schritte sich langsam entfernten, sank der Mann auf den Boden ins Gras und begann leise zu schluchzen.
Lothar Kaltenbach schob sich durch das Gedränge der hungrigen Büroangestellten, Verkäuferinnen und Studenten. Die nichts ahnenden Touristen in der Freiburger Markthalle wurden innerhalb weniger Minuten von den Beschäftigten der Innenstadt überrollt. Alle schienen gleichzeitig Mittagspause zu haben.
Kaltenbach wusste, was ihn erwartete. Doch heute war ihm das egal. Nach dem erfolgreichen Besuch des Reisebüros hinter dem Stadttheater in der Bertoldstraße musste er dem Fernweh mit einem entsprechenden Essen entgegenkommen.
Vorsichtig balancierte er den Teller vom Afghanen mit einer Kreation aus Auberginen, Lammfleisch und Rosinen zu einem der kleinen Stehtische an der Wand. Zwei auf ihren Smartphones herumtippende Krawattenträger rückten wortlos zur Seite. Der Lärmpegel aus Stimmen, Lachen und Geschirrklappern störte Kaltenbach heute nicht. Während er die erste Kartoffel in der sämigen dunklen Sauce zerdrückte, dachte er an den Umschlag, der in seiner Jackentasche steckte. Das überall beworbene Billigpreisticket für den TGV, das französische Pendant zum Intercity, war es zwar nicht, aber er hatte trotzdem Glück gehabt. Gerade heute Morgen waren zwei Vorbestellungen storniert worden, die der freundliche Herr bei »Gleisnost« direkt an ihn weitergab.
Drei Tage Paris zu zweit! Ein kleines Hotel am Rande des Künstlerviertels nicht weit entfernt vom Louvre. Luise würde Augen zu ihrem Geburtstagsgeschenk machen. Und es würde die Krönung eines unvergesslichen Sommers werden.
Das Pilaw war mit frischem Koriander und Zitronensaft verfeinert und schmeckte ausgezeichnet. Kaltenbach überlegte eben, ob er den Kaffee hier oder doch besser in einer ruhigeren Umgebung trinken sollte, als das Handy in seiner Hosentasche vibrierte. Er erkannte die Nummer sofort, doch der Empfang in dem alten Gebäude in der Innenstadt war so schlecht, dass er nur bruchstückhaft verstand, was die Frau am anderen Ende sagte.
»Ich rufe zurück.« Er drückte das Gespräch weg und gab rasch sein Tablett mit dem Teller zurück. Dann eilte er vor die Tür und wählte. Cousine Martina vom Kaiserstuhl war keine Freundin großer Worte. Wenn sie anrief, musste es etwas Wichtiges sein.
»Es ist etwas passiert«, sagte sie knapp. Kaltenbach erschrak. Onkel Josef? Das Herz des alten Herrn war in letzter Zeit etwas aus dem Tritt geraten. Trotzdem wollte der weit über 70-jährige Winzer von Schonung nichts wissen, da konnten die Familie und der Arzt sagen, was sie wollten.
»Ist etwas mit Onkel Josef? Hat er …?«
»Er ist außer sich. Überall rennen Leute rum, sogar im Hof. Und natürlich in den Reben. Ausgerechnet jetzt, wo wir doch diese Woche mit Herbsten anfangen wollen.«
»Was für Leute?«
»Alle Möglichen. Neugierige halt. Reporter. Rotkreuzler, der Arzt. Und die Polizei natürlich.«
»Polizei?«
»Sie haben einen Toten gefunden. Oben in den Höhlen. Sieht so aus, als sei er umgebracht worden.«
Kaltenbach wusste, was mit den Höhlen gemeint war. Ein paar in die Lösswände gegrabene Löcher unterhalb der Bäume am Waldrand. Die Kaiserstühler Kaltenbachs hatten seit jeher dort oben ihre besten Reblagen.
»Es wäre gut, wenn du rüberkommst«, sagte Martina knapp. Kaltenbach spürte, dass sie keine Lust auf Erklärungen hatte. Er sah auf die Uhr. »Um halb zwei bin ich da.«
Josef Kaltenbachs Premium-Weinberg lag auf der Höhe zwischen Bickensohl und Achkarren, zwei typischen Weindörfern im Herzen des Kaiserstuhls. Hier oben konnten die Reben noch bis kurz vor Sonnenuntergang die letzten Strahlen aus dem Elsass herüber einfangen und bis zuletzt in den Burgundertrauben die Süße des Herbstes reifen lassen. Die Spätlese, die Kaltenbachs Onkel daraus kelterte, war zurecht sein ganzer Stolz. Regelmäßig heimste er dafür Medaillen bei der Weinprämierung ein. Höchstpersönlich kümmerte er sich darum, so oft es ging.
»Das ist Familiensache. So war es schon immer, und so soll es bleiben.«
Auch Kaltenbach hatte schon einige Male beim Schneiden, Binden und Herbsten geholfen, halb freiwillig, halb aus Pflichtbewusstsein. Hatte ihm doch Onkel Josef vor Jahren die Gründung von »Kaltenbachs Weinkeller« in Emmendingen mit einer nicht unerheblichen Summe unterstützt.
Martina hatte nicht übertrieben. Als Kaltenbach die Straße zur Dorfmitte einbog, standen überall Gruppen von Menschen beisammen und unterhielten sich gestenreich. Andere liefen scheinbar ziellos hin und her und hielten ihre Smartphones im Dauerbetrieb.
Vor der einzigen Zufahrtsstraße hoch in die Weinberge stand ein blau-weißer Einsatzwagen. Zwei Polizisten hatten den Weg abgesperrt und ließen kein Fahrzeug durch.
Von hier bis zu den Höhlen war es ein gutes Stück zu laufen. Doch Kaltenbach musste nur kurz überlegen. Er war oft genug hier gewesen, um sich von einer Polizeisperre nicht aufhalten zu lassen. Er wusste eine bessere Lösung.
Er wendete seine Vespa und fuhr zurück zum Ortsrand. Gegenüber der Winzergenossenschaft führte in spitzem Winkel eine schmale Straße steil nach oben. Er ignorierte das Verbotsschild und brauste kurz darauf auf einem der vielen asphaltierten Wirtschaftswege durch die Rebzeilen.
Ein paar Kurven später war Kaltenbach am Ziel. Hinter einer Rebhütte stieg er ab und bockte den Roller auf. Von hier aus konnte er etwa 200 Meter vor sich die kahle Lehmwand mit den Höhlen unter dem Waldrand sehen. Direkt davor lag Onkel Josefs Weinberg.
Martina hatte nicht übertrieben. Das halbe Dorf schien auf den Beinen zu sein. Viele von ihnen liefen kreuz und quer durch die Reben, alle versuchten, irgendwie einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Vor einen der Höhleneingänge hatte die Polizei weiträumig ein rot-weißes Absperrband gezogen. Ein paar wenige Polizisten waren sichtlich damit überfordert, die Leute davon abzuhalten, die Arbeit der Ermittler zu stören.
Inmitten des Durcheinanders konnte Kaltenbach ein paar bekannte Gesichter seiner Kaiserstühler Verwandtschaft erkennen. Allen voran der alte Weinbauer, der schimpfend und fluchend herumrannte. Zusammen mit Martina und ein paar Schwagern und Cousins versuchte er, mit Drohungen, Überreden und körperlichem Einsatz den Schaden in Grenzen zu halten.
Beim Näherkommen sah Kaltenbach ein paar weitere Leute aus dem Dorf, darunter der Ortsvorsteher und die komplette Feuerwehrabteilung. Aber auch Georg Grafmüller, der Redakteur aus Emmendingen, war mit seiner Kamera unterwegs, an seiner Seite Sabine Fritz, seine Kollegin von der Kaiserstühler Redaktion der »Badischen Zeitung«.
Am Ende des Weges kurz vor der Absperrung erkannte Kaltenbach Walter Mack, einen seiner Freunde und Stammtischkollegen aus Emmendingen. Er stand etwas abseits der Neugierigen und diskutierte heftig mit zwei Männern, die Kaltenbach noch nie zuvor gesehen hatte.
Das war nun allerdings eine Überraschung. Vielleicht hatte Walter über Grafmüller von dieser Sache erfahren. Allerdings war es normalerweise nicht seine Art, derartigen Sensationen nachzulaufen.
Kaltenbach winkte hinüber, doch sein Freund reagierte nicht. Stattdessen kam nun Bewegung in die Menge. Eben fuhren das Rotkreuzfahrzeug und der Notarztwagen dicht hintereinander mit Blaulicht Richtung Dorf. Gleichzeitig forderte der Einsatzleiter der Polizei per Megafon die Leute auf, nach Hause zu gehen. Kurz darauf trotteten die Ersten tatsächlich davon, überzeugt, dass es nun nichts Spektakuläres mehr zu sehen geben würde.
Kaltenbach musste lächeln, als er ihnen hinterhersah. In den Wohnzimmern und am Stammtisch im »Rebstock« würde es für die nächsten Tage genug Gesprächsstoff zu ausgiebigen Debatten geben. Der alte Weinbauer schickte ihnen einen Schwall wüster Beschimpfungen hinterher, ehe er seinen Zorn an den leidgeplagten Polizisten ausließ.
Als Kaltenbach näherkam, konnte er den Ärger des Winzers gut verstehen. Die Weinstöcke hatten tatsächlich übel gelitten. Abgerissene Blätter und zertretene Trauben lagen auf dem Boden und boten einen traurigen Anblick.
»Was ist hier eigentlich los?«, fragte Kaltenbach Matthias, einen seiner Schwäger, der eben ein paar heruntergezerrte Triebe wieder nach oben band.
»Viel weiß ich auch nicht. Martina hat angerufen, so um zwölf. Sie sagte, es sei einer gefunden worden hinter Josefs Burgunderreben. Ich bin dann gleich hoch, da war die Polizei schon da und hat alles abgesperrt. Und dann kamen die Leute und haben angefangen, überall herumzulaufen.«
»Ein Verbrechen?«
»Sieht so aus. Der Mann von der Kripo hat so etwas angedeutet. Aber Genaues weiß ich nicht. Viel hat er nicht gesagt.«
»Wer ist der Tote?«
»Keine Ahnung. Ich habe ihn nur kurz gesehen, bevor er weggebracht wurde. Ein Mann. Etwas älter. Normal irgendwie.«
»Und der lag in der Höhle? Ich dachte, die Löcher im Hang sind alle längst eingestürzt oder zugeschüttet?«
»Nicht alle. Ein paar nimmt der Onkel fürs Werkzeug und für Dünger. Ein paar Kanister Spritzmittel stehen dort rum.«
Kaltenbach wusste, was gemeint war. Mit der Höhle war ein mannshohes Loch gemeint, das ein paar Meter in den Berg hineingegraben war. Als Kind hatte er oft darin gespielt.
»Wie hat man ihn denn überhaupt gefunden?«
»Die beiden Buben vom Ferdinand waren es.« Beim letzten Teil ihrer Unterhaltung war Martina dazugekommen. »Sie haben zuerst gedacht, da schläft einer. Doch dann haben sie das Blut gesehen und sind sofort zum Hof runtergefahren und haben es erzählt. Ganz aufgeregt waren sie.«
Kaltenbach kannte die beiden. Lukas und Bernie waren neun und elf Jahre alt und machten außerhalb der Schule mit Vorliebe Dinge, die ihren Eltern gar nicht gefielen. Eine ihrer Hauptbeschäftigungen war es, mit ihren Mountainbikes in den Weinbergen herumzudüsen. Nicht nur auf den Wegen.
Martina half nun ebenfalls mit, die Reben wieder in Ordnung zu bringen, so gut es ging. »Das war aber noch nicht alles«, sagte sie. »Lukas hat von einem Fremden erzählt, der so komisch mit ihnen geredet hatte.«
»Komisch?«
»Ja, er hat ihnen gesagt, sie sollen doch mal oben in der Höhle nachsehen, da sei ein Schatz vergraben.«
»Was war das für ein Mann?« Kaltenbach zupfte ein paar abgeknickte Blätter von den Rebstöcken.
»Das konnten sie nicht sagen. Ferdinand hat sowieso geglaubt, dass sich die beiden das nur ausgedacht haben. Sie wissen genau, dass sie normalerweise dort oben nichts zu suchen haben. Na ja. Morgen wird es dann sowieso in der Zeitung stehen!«
Georg Grafmüller hatte wieder einmal alle Register gezogen. Am nächsten Morgen erschien ein ausführlicher Bericht samt Fotos in der Zeitung. Der Tote hatte drei Kugeln in seiner Brust, die jede für sich allein tödlich waren. Noch war unklar, ob er in der Höhle umgebracht oder erst dorthin geschafft worden war. Auf Schüsse hatte niemand geachtet. In vielen Feldern gab es im Herbst zum Schutz der reifen Trauben gegen die immer hungrigen Stare Selbstschussanlagen, sodass das Knallen in den Weinbergen nichts Außergewöhnliches war.
Kaltenbach trank seinen zweiten Crema und studierte das Gesicht des Toten. Ein älterer Mann im frühen Rentenalter, schütteres Haar, graue leicht fleckige Gesichtshaut. Die Polizei wusste noch nicht, wer er war, er hatte keinerlei Dokumente bei sich gehabt. Auch ein Motiv lag noch völlig im Dunkeln. Hinweise versprach sich die Polizei außer von dem Foto vor allem von einem Stück Papier, das man in der Tasche des Toten gefunden hatte, und das auf einem zweiten Foto abgebildet war. Das Papier war offensichtlich aus einem Notizblock herausgerissen und mehrfach gefaltet gewesen. Jemand hatte mit Kugelschreiber drei Kreise und einen Pfeil aufgezeichnet. Sorgfältig, wie Kaltenbach fand. Er überlegte, ob er das Motiv schon einmal gesehen hatte, doch auf Anhieb fiel ihm nichts ein. Das Ganze erinnerte ihn ein wenig an Zeichen, die sie früher beim Räuber- und Gendarmspielen an Häuserwände und Gartenmauern aufgemalt hatten.
Kaltenbach faltete die Zeitung zusammen, trank den Kaffee aus und zog seine Schuhe an. Was ihn noch mehr interessierte, war, warum der Tote ausgerechnet im Weinberg seines Onkels gefunden wurde. Aber was sollten die Kaiserstühler Kaltenbachs mit einem Mord zu tun haben? Undenkbar. Trotzdem hatte er kein gutes Gefühl bei der Sache. Am besten würde er gegen Abend noch einmal nach Bickensohl fahren. Vielleicht hatte sich Onkel Josef bis dahin wieder einigermaßen beruhigt.
Nachdem Kaltenbach seinen Laden im Emmendinger Westend aufgeschlossen hatte, dauerte es keine Viertelstunde, bis Erna Kölblin in der Tür von »Kaltenbachs Weinkeller« stand. Kaltenbach freute sich, als er sie sah. Die rüstige Dame im ewig besten Alter war mehr als eine Stammkundin. Vor Jahren hatte sie bei der Eröffnung zu den Ersten gehört, die mit prüfendem Blick den Neuen und sein »G’schäft« begutachtet und befriedigt zur Kenntnis genommen hatten. In der ersten Zeit hatte sie ihn, den ehemaligen Lehramtsanwärter, unter ihre Fittiche genommen und ihn täglich mit guten Ratschlägen und vor allem stets mit den neuesten Nachrichten versorgt.
Es war keineswegs so, dass Frau Kölblin nicht sowieso auf ihrer täglichen Runde durch die Stadt bei ihm vorbeigeschaut hätte. Doch nach den heutigen Meldungen im Radio und in der Zeitung über den Toten im Kaiserstuhl gab es für die rüstige Dame natürlich einen besonderen Grund, nach dem Rechten zu sehen.
»Din Onkel hett doch Räbe dert obe, wu der Mord gsi isch«, keuchte sie, kaum nachdem sie ihre massige Gestalt wie gewohnt in Kaltenbachs alten Ohrensessel plumpsen ließ.
»Klar!«
Kaltenbach hatte rechtzeitig gelernt, dass den neugierigen Augen und Ohren von Erna Kölblin nichts entging. So war es meistens besser, gleich mit offenen Karten zu spielen, anstatt ihre manchmal fantasievoll ausgeschmückten und überaus persönlich gefärbten Versionen einer Geschichte in Umlauf gelangen zu lassen.
»Und ich war sogar dabei!«
Diese unerwartete Neuigkeit brachte Frau Kölblin für einen Moment aus der Fassung. Ihr Mund klappte nach unten. Doch sie fing sich rasch und zog ihre Stirn in Falten.
»Due warsch dabi? Bi dem Mord? I glaub’s jo nit. Verzell!«
Kaltenbach stellte ihr eine Tasse Kaffee auf das Tischchen neben ihrem Sessel. »Nicht bei dem Mord. Hinterher. Als man ihn gefunden hat.«
»Jag mir bloß kei Angschd i, Bue.« Frau Kölblin war sichtlich beeindruckt und vergaß sogar den verführerisch duftenden Kaffee. »Was isch bassiert?«
Kaltenbach beschränkte sich bei seinem Bericht im Wesentlichen auf das, was in der Zeitung stand.
»Aber der isch nit vu do gsi, der Dode, gell? Gottseidank!« Sie gab sich die Antwort gleich selbst. »Obwohl, irgendwie hab i den schu emol gsäne.«
»Dann sollten Sie aber gleich zur Polizei gehen!«
Frau Kölblin hob beide Hände und wehrte ab. »Nai, nai. Des mach i nit. Am End stimmts nit, und i krieg bloß Ärger.« Sie deutete auf die beiden Fotos in der Zeitung, die aufgeschlagen auf dem Tisch lag. »Aber sag, des ander Bild, was soll des si?« Wieder wartete sie die Antwort nicht ab. »Schdeggt do ebbis derhinter? Oder isch des bloß hikritzelt? Villicht, um d’ Polizei abzulenge! Halt so wie im Fernseh!«
Kaltenbach unterdrückte höflich ein Grinsen. Wie meist kam Frau Kölblin bei ihrem Besuch an einen Punkt, an dem die Vorstellungskraft mit ihr durchging. Als begeisterte Fernsehkrimizuschauerin wusste sie natürlich für jede Situation eine passende Lösung. Obwohl sie es immer wieder versuchte, hatte sie zu ihrem großen Bedauern einsehen müssen, dass Kaltenbach nicht der geeignete Gesprächspartner für derartige Höhenflüge war. Das konnte sie mit anderen besser. Mit ihrer Freundin Maria zum Beispiel, die im Café nebenan als Bedienung arbeitete.
Als sie daher merkte, dass es an diesem Morgen nichts mehr an Informationen zu holen gab, stemmte sie sich schnaufend aus dem Sessel und schob sich Richtung Tür.
»Also adje. Villicht weisch jo morge meh. Du bisch jo derbi gsi!«
Seufzend wandte sich Kaltenbach wieder der Arbeit zu. Normalerweise wäre an diesem Nachmittag Martina zur Aushilfe gekommen. Doch nach den gestrigen Aufregungen in Bickensohl war daran nicht zu denken. Er würde umplanen müssen. Martinas Absage brachte Kaltenbachs Planungen für das gesamte Wochenende durcheinander. Anstatt am Nachmittag die Bestellungen auszufahren, musste er als Erstes die Kunden der Reihe nach anrufen und neue Termine ausmachen. Kaltenbach fluchte, als er die Liste durchging. Seine bestens ausgetüftelte Tour würde er auf mehrere Tage verteilen müssen. Am schlimmsten war, dass er sich das Wochenende aller Voraussicht nach schenken konnte. König Kunde forderte sein Recht, und der Markt unter den Weinlieferanten im Breisgau war hart umkämpft.
Kurz vor der Mittagspause hatte er alles erledigt. Was blieb, war ein Anruf bei Walter. Es würde sich nicht vermeiden lassen, dass Kaltenbach heute Abend zu spät zur Probe kommen würde. Für den Herbst waren zwei Auftritte ihrer »Shamrock Rovers and a Thistle« geplant, und es galt, noch ein paar neue irische Lieder einzustudieren.
Am Telefon war Regina, Walters Frau. »Ich werde es ihm ausrichten«, sagte sie, »er ist gerade unterwegs. Dreharbeiten irgendwo am Bodensee.«
Kaltenbach lachte. »Hauptsache, wenigstens er wird pünktlich da sein«, meinte er.
»Stimmt«, antwortete Regina. »Immerhin ist er seit gestern weg. Der Termin kam anscheinend ziemlich überraschend.«
Kaltenbach stutzte. »Seit gestern, sagst du?«, fragte er.
»Ja, er ist gegen Mittag los. Später hat er noch mal angerufen, dass er über Nacht bleiben würde. Er klang etwas durcheinander.«
Kaltenbach wurde hellhörig. »Hat er irgendetwas vom Kaiserstuhl gesagt?«
Regina lachte. »Was sollte er denn dort? Nein, er wollte nach Friedrichshafen. Irgendeine Luftfahrtmesse. Aber warum interessiert dich das?«
Irgendetwas stimmte nicht. Kaltenbach entschied sich, seine Beobachtung für sich zu behalten. »Ach, nur so«, wiegelte er ab. »Ich will nur sichergehen, dass es heute Abend klappt.«
»Dann wünsche ich euch viel Spaß!«
»Den werden wir haben.«
Nachdenklich legte Kaltenbach den Hörer auf. Natürlich war es Walters Sache, was er seiner Frau erzählte. Aber merkwürdig war es schon. Warum hatte er ihr verschwiegen, dass er zum Kaiserstuhl fuhr? Und was hatte er dort gewollt? Gestern war Walter in der Menge untergetaucht, so dass Kaltenbach keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, mit ihm zu sprechen. Kurz spielte er mit dem Gedanken, seinen Freund auf dessen Handy anzurufen. Doch er wusste, dass Walter es nicht gern hatte, wenn man ihn während der Arbeit störte.
Kaltenbach hängte das »Geschlossen«-Schild hinter die Ladentür und lief die Lammstraße entlang Richtung Marktplatz. Vielleicht sollte er sich nicht so viele Gedanken machen. Mit Sicherheit gab es eine einfache Erklärung für das Ganze. Walter würde schon wissen, was er tat. Spätestens beim Stammtisch heute Abend nach der Probe konnte er ihn immer noch fragen.
Auf dem Wochenmarkt bestellte Kaltenbach eine heiße Rote an einer der beiden Wurstbuden.
»Mahlzeit!«, tönte es von der Seite, als er sich eben einen breiten Streifen Senf auf seine heiße Wurst drückte. »Trifft sich gut, dass ich dich treffe. Ich wollte sowieso nachher noch bei dir vorbeikommen!«
Georg Grafmüller, Redakteur der »Badischen Zeitung«, nickte ihm zu und biss in ein überdimensionales Schnitzelweckle. Die beiden kannten sich seit Jahren. Seit Grafmüller von seiner »Strafversetzung«, wie er es nannte, aus Lörrach in die Emmendinger Redaktion zurückgekommen war, trafen sie sich wieder regelmäßig.
Natürlich wusste Grafmüller von Kaltenbachs Verwandtschaft am Kaiserstuhl. Dass das Verbrechen ausgerechnet am Rande von Josef Kaltenbachs Weinberg geschehen war, war für ihn daher ein gefundenes Fressen.
»Ich wollte heute noch mal nach Bickensohl rausfahren. Noch ein paar Recherchen machen, Fotos, Interviews und so weiter.«
»Interviews?«
»Klar. Die Leute dort werden doch Einiges zu erzählen haben!«
Kaltenbach kaute mit vollen Backen. »Dass du dich da mal nicht täuschst. Ich glaube kaum, dass du viel erreichen wirst. Die Kaiserstühler sind nicht sonderlich gesprächig. Vor allem Fremden gegenüber.«
»Schon klar. Deshalb wollte ich dich ja fragen, ob du mitkommst. Mit einem echten ›Kaltenbach‹ an der Seite habe ich doch sofort bessere Chancen.«
Kaltenbach wiegte den Kopf. Untereinander würden sich die Dörfler das Maul zerreißen. Aber sobald jemand von außen kam, schalteten sie auf stur. Und Onkel Josef war mit Sicherheit noch so aufgebracht, dass er einen Reporter gleich vom Hof jagen würde.
Trotzdem wollte er Grafmüllers Bitte nicht abschlagen. »Du kannst es ja versuchen. Aber mache dir nicht allzu viel Hoffnung.« Er wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und warf sie in den Mülleimer. »Wie wäre es mit einem Kaffee zur Verdauung?«
Es war nicht einfach, vor ihrem Stammcafé im Westend zwei freie Stühle zu finden. Die Hälfte der Marktbesucher schien dieselbe Idee gehabt zu haben.
»Was hast du bisher herausgefunden?«, fragte Kaltenbach nach dem ersten Schluck Cappuccino.
»Nicht viel. Der Tote ist immer noch nicht identifiziert. Ich hoffe auf die Pressemeldung der Polizei heute Abend. Vielleicht meldet sich ja noch jemand direkt in der Redaktion.«
»Und die komischen Kreise und der Pfeil?«
»Teilerfolg. Gleich heute Früh haben drei Leute angerufen. Die Kreise erinnerten sie an ein Zeichen von früher. Allerdings ohne den Pfeil.«
»Von früher? Was heißt das?«
»Aus den 70ern. Irgendetwas mit Umweltaktivisten. Einer war sich ganz sicher, dass er es damals auf den Demos gesehen hat.«
»In Freiburg?«
»In Freiburg und in Wyhl. Das war wohl so ein Altgrüner.«
Kaltenbach nickte. Das Atomkraftwerk, das am Oberrhein hätte gebaut werden sollen. Und das die Kaiserstühler Winzer mit ihren Protesten verhindert hatten. Er konnte sich erinnern, wie er als kleiner Junge die Traktorkolonnen gesehen hatte, die in Richtung des geplanten Baugeländes gefahren waren. »Nai hämmer gsait!« – der griffige Spruch war damals bundesweit bekannt geworden.
»Leider konnte auch er sich nicht an den Pfeil erinnern«, seufzte Grafmüller. »Aber es ist immerhin ein Anfang.«
»Heute Mittag hat sich noch einmal jemand gemeldet«, sagte Grafmüller, als sie am späten Nachmittag im Golf des Redakteurs hinter Bahlingen die Höhe erreichten. Von Westen her schien die Nachmittagssonne herein und ließ die Reben im Gegenlicht flirren. Grafmüller setzte seine Sonnenbrille auf. »Er meinte, es gebe einen Film, der vor ein paar Jahren in der Gegend gezeigt wurde. ›35 Jahre Wyhl‹ oder so ähnlich. Den solle ich mal anschauen.«
»Und der Tote?«
»Immer noch nichts. Aber wenigstens kennt die Polizei jetzt die Waffe. Eine Walther P38, Kaliber 9. Alte Wehrmachtspistole.«
»Aus dem Krieg?«
»Die gab es damals zu Tausenden. Für die GIs waren das beliebte Trophäen. Die meisten wurden allerdings vernichtet.«
»Dann dürfte es ja nicht schwer sein, herauszufinden, wer heute noch so eine Waffe hat.«
»Eben doch. Die Polizei vermutet, dass nach dem Krieg viele verschwunden sind und jetzt irgendwo in Kellern, Schränken und Schubladen liegen. Registriert wurden nur wenige. Wenn die Waffe gefunden wird, kann man natürlich nachweisen, dass daraus geschossen wurde. Vorher ist es allerdings ziemlich sinnlos.«
Eine Stunde später stellte sich zu Grafmüllers großer Enttäuschung heraus, dass Kaltenbach die Menschen im Dorf richtig eingeschätzt hatte. Sobald sich der Redakteur zu erkennen gab, zogen sie sich zurück. Mehr als ein paar Allgemeinplätze zu den Reblagen und ein paar kräftige Verwünschungen nach Stuttgart in Richtung Agrarministerium waren nicht zu erfahren. Nach einer Stunde standen auf Grafmüllers Notizblock nur wenige brauchbare Stichworte.
»Was ist mit deinen Leuten?«, fragte Grafmüller. »Wenn du mir ein wenig …«
»Vergiss es.« Kaltenbach schüttelte energisch den Kopf. »Onkel Josef würde mich zum Teufel jagen. Die Menschen hier wollen keine Schwierigkeiten. Man redet darüber, spekuliert ein bisschen herum und geht dann zum Tagesgeschäft über. Und was sie persönlich betrifft, regeln sie auch selber.«
»Aber hier ist ein Mord geschehen!«
»Schlimm. Aber nicht schlimm genug. Keiner von hier. Keiner von ihnen.«
Grafmüller gab nicht auf. »Was ist, wenn der Mörder aus dem Dorf kam?«
»Unwahrscheinlich. Warum sollte er dann den Toten quasi vor der Haustür ablegen? Nein, mein Lieber, da liegst du ganz falsch.« Kaltenbach wies auf Grafmüllers Wagen. »Und jetzt fahr mich nach Hause. Ich hab noch einiges zu erledigen!«
Kaltenbach fluchte, als er sich mit seinem Lieferwagen am frühen Samstagnachmittag durch den Verkehr auf der B31 durch das Höllental quälte. Das schöne Wetter lockte die Ausflügler auf die Straßen. Reisebusse mit Kennzeichen aus Holland, Tschechien und Spanien waren unterwegs.
Die Strecke über Kirchzarten bis hinauf in den Schwarzwald hatte er eigentlich für gestern geplant gehabt. Doch es war gekommen, wie er es befürchtet hatte. Durch Martinas Ausfall blieb ihm nichts anderes übrig, als heute sofort nach Ladenschluss auf Liefertour zu fahren und den Start ins Wochenende zu verschieben. Viele seiner Kunden waren Privatleute, die er vielleicht noch ein, zwei Tage hätte vertrösten können. Doch die Hotels in den Touristenzentren warten zu lassen, konnte er sich nicht leisten. Der Kundenstamm, den er sich in den letzten Jahren aufgebaut hatte, schätzte nicht nur die persönliche Beratung, sondern legte auch Wert auf Zuverlässigkeit.
Kaltenbach wurde nachdenklich, als er an den gestrigen Abend dachte. Er hatte es fast erwartet. Walter war nicht bei der Probe gewesen, und keiner wusste, was los war. Vielleicht war dies der Grund, warum keine rechte Stimmung aufkommen wollte. Markus trommelte ziemlich uninspiriert auf seiner Bodhrán herum, und Michael verpasste ungewohnt oft seine Einsätze. Andrea hielt sich mit ihrer Stimme deutlich zurück, weil sie eine anstrengende mündliche Prüfung an der Uni vor sich hatte, wie sie sagte. Kaltenbach hatte Walters Gesangs- und Gitarrenpart übernommen, so gut es ging. Doch er konnte nicht verhindern, dass er mit seinen Gedanken woanders war.
Walters Verhalten war ungewöhnlich. Die irische Musikgruppe, die sie vor über einem Jahr bei der Feier zu seinem 60. Geburtstag gegründet hatten, war seither sein Herzensanliegen. Er organisierte die Termine und war die treibende Kraft hinter der Stückeauswahl. Kaltenbach konnte sich nicht erinnern, dass er jemals eine Probe verpasst hätte.
Am Titisee erreichte Kaltenbach ein Anruf, der sein Unbehagen verstärkte. Eine hörbar nervöse Regina war am Rande der Verzweiflung.
»Ich war gestern hundemüde und bin früh schlafen gegangen. Eigentlich dachte ich, dass ihr euren Stammtisch nach dem Treffen ein bisschen ausgedehnt habt. Aber heute Morgen war Walters Bett unberührt. Und Andrea hat mich schon angerufen und gesagt, dass er gar nicht da war.«
Kaltenbach lud gerade auf dem Parkplatz vor dem Hotel »Seeblick« ein paar Kartons Pinot gris aus dem Wagen und trug sie in die Gaststube.
»Weißt du denn nicht, wo er ist? Hat er nicht angerufen?«
»Gestern um die Mittagszeit. Er sei in Friedrichshafen und alles sei okay. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Sein Handy ist aus. Du weißt ja, das macht er manchmal, wenn er nicht gestört werden will. Aber zu eurer Probe wollte er auf jeden Fall kommen!«
»Hast du bei Walters Büro in Freiburg angerufen?«
»Habe ich. Gleich, nachdem Andrea von eurer Probe erzählt hat. Aber die wissen von nichts.«
Kaltenbach stand das Bild vor Augen, wie er seinen Freund unter den Neugierigen in den Weinbergen gesehen hatte. »Haben sie wenigstens bestätigt, dass Walter am Bodensee ist?«
»Nur indirekt. Sie haben ihm freigestellt, den Auftrag in Friedrichshafen wenn nötig über das Wochenende auszudehnen. Lothar, ich mache mir ernsthaft Sorgen.«
Natürlich wusste Kaltenbach, dass die Mitarbeiter bei Mediastar, Walters Agentur in Freiburg, viele Freiheiten genossen. Trotzdem klang das Ganze ungewöhnlich. Doch er wollte Regina nicht noch mehr beunruhigen.
»Jetzt lass mal gut sein. Walter wird schon wissen, was er tut. Vielleicht ist sein kreativer Schub mit ihm durchgegangen. Vielleicht ist auch etwas mit seinem Handy. Er bräuchte sowieso längst ein neues.«
Kaltenbach spürte, wie dürftig seine Erklärungsversuche klangen. Doch mehr konnte er nicht tun. Bestimmt hatte sich die Sache spätestens heute Abend erledigt.
An der Seepromenade gönnte sich Kaltenbach einen »Schwarzwaldbecher Exotic«, eine typische Touristenkreation mit ein paar Mangostückchen zwischen den Sauerkirschen. Schmeckte aber nicht übel, wie er fand. Vor seinen Augen auf dem See kreuzte die gesamte Tretbootflotte. Von Weitem klang dazu das Geschrei und Gelächter aus dem Strandbad herüber. Das Stimmengewirr um ihn herum war hörbar durchsetzt mit japanischen und spanischen Klängen.
Gerne wäre er noch ein paar Schritte am Seeufer entlang gelaufen. Doch für eine ausgedehnte Ruhepause hatte Kaltenbach keine Zeit. Er hatte noch Kunden in Neustadt und in St. Märgen zu beliefern. Und dann musste er sehen, dass er endlich nach Hause kam. Um sieben hatte sich Luise angesagt. Und die wollte er am allerwenigsten warten lassen.
»Giacometti ist eine Offenbarung! Und wenn du erst die Originale siehst! Ich bin immer noch hin und weg.« Luise Bührer blätterte durch den Ausstellungskatalog, den sie von Bern mitgebracht hatte.
Kaltenbach kam mit einem Tablett aus der Küche.
»Das gilt genauso für die Vermicelles!« Er stellte zwei Teller und eine zusätzliche kleine Schale mit Schlagsahne auf den Wohnzimmertisch. »Dafür kannst du gerne öfter zu unseren Nachbarn fahren!« Seit es keinen »Migros« in Freiburg mehr gab, waren die Schweizer Delikatessen zu Kaltenbachs Bedauern ein gutes Stück weiter weggerückt.
»Aber nächstes Mal nur mit dir!« Luise drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Stattdessen musst du dich wieder mit Verbrechern ’rumschlagen.« Mit einem beglückten Seufzer begann sie genießerisch langsam das Maronenmus zu löffeln.
Kaltenbach überhörte die Spitze und legte stattdessen eine Platte auf. Colosseums »Valentyne Suite« schien ihm am besten geeignet, ihren Wiedersehensabend musikalisch abzurunden.
»Und wie geht es Regula?«
Während Luise von ihrer Schweizer Freundin erzählte, merkte Kaltenbach, dass er nur mit halbem Ohr zuhörte. Walters Verschwinden beschäftigte ihn mehr, als er zugeben wollte.
»Hey, was ist mit dir?«, unterbrach ihn Luise schon nach ein paar Sätzen. »Heute hatten wir Wiedersehen ausgemacht! Kein Berufsstress. Keine Alltagssorgen. Oder ist etwas passiert?«
Kaltenbach berichtete in aller Kürze, doch für Walters merkwürdiges Verhalten hatte Luise einen völlig unerwarteten Aspekt parat.
»Vielleicht ist die Ehe der beiden doch nicht so glücklich, wie es von außen aussieht.«
»Du meinst, Walter hat eine Freundin?«
»Warum nicht?« Luise kratzte genießerisch die letzten Reste aus der Schüssel. »Ein Beruf mit Arbeit an vielen unterschiedlichen Orten bietet viele unterschiedliche Gelegenheiten. Und perfekte Ausreden«, fügte sie schelmisch hinzu.
Kaltenbach schüttelte unwillig den Kopf. »Walter und Regina? Niemals. Ich kann mir das nicht vorstellen.«
Luise setzte sich zu ihm und legte die Arme um seinen Hals.
»Du kannst dir so manches nicht vorstellen, mein Lieber«, hauchte sie ihm ins Ohr. »Und dem wollen wir jetzt mal ein wenig abhelfen!«