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Textgrundlage dieser Ausgabe ist der Band Nr. 513, 514 aus Reclams Universal-Bibliothek, erschienen im Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, [1874].
Die Übersetzung Hermann Kothes wurde für die vorliegende Ausgabe von Kai Kilian überarbeitet.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
© 2009 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
ISBN 978-3-7306-9066-6
V002
www.anacondaverlag.de
Erstes Buch
Zweites Buch
Von den Städten Utopias und insbesondere von der Stadt Amaurote
Von den Magistraten
Von den Künsten und Handwerken
Der Umgang der Bürger miteinander
Von den Reisen der Utopier
Von den Sklaven
Vom Kriege
Von den Religionen Utopias
Heinrich VIII., der unüberwindliche König von England, ein Fürst von seltenem und überlegenem Geist, hatte vor nicht allzu langer Zeit einen Zwist von gewisser Bedeutung mit dem durchlauchtigen Carl, dem Prinzen von Kastilien. Ich wurde damals mit der Mission, diese Angelegenheiten zu ordnen und möglichst ins Reine zu bringen, als Gesandter nach Flandern geschickt.
Man hatte mir den unvergleichlichen Cuthbert Tunstall beigegeben, welchem der König unter dem Beifall aller die Siegel des Erzbistums von Canterbury anvertraut hatte. Ich werde hier nichts zu seinem Lob sagen, nicht etwa aus Furcht, dass man meine Freundschaft der Schmeichelei beschuldigen möchte, sondern weil seine Kenntnisse und seine Tüchtigkeit über mein Lob erhaben sind; sein Ruf ist so glänzend, dass jemand, der seine Verdienste rühmen wollte, einem Sprichwort gemäß mit der Laterne gegen die Sonne leuchten würde.
In Brügge, der für die Konferenz bestimmten Stadt, trafen wir die Gesandten des Prinzen Carl, alle sehr ausgezeichnete Männer. Der Gouverneur von Brügge war der Chef und das Haupt dieser Gesandtschaft, während Georg von Thamasia, der Prevot von Mont-Cassel, den Mund und die Seele derselben bildete. Dieser Mann, der seine Beredsamkeit weniger der Kunst als der Natur verdankt, galt als einer der größten Rechtsgelehrten in Staatsangelegenheiten; seine persönlichen Fähigkeiten verbunden mit einer langjährigen Geschäftspraxis machten ihn zu einem äußerst gewandten Diplomaten.
Der Kongress hatte bereits zwei Sitzungen gehalten, konnte sich aber über mehrere Punkte nicht einigen. Die Gesandten von Spanien nahmen daraufhin Abschied von uns, um sich nach Brüssel zu begeben und dort den Willen des Prinzen zu erfahren. Ich meinerseits nutzte diese Muße dadurch, dass ich nach Antwerpen reiste.
Während meines Aufenthalts in dieser Stadt empfing ich häufig Gesellschaft; keine von allen Bekanntschaften aber war mir angenehmer als diejenige Peter Gilles’, eines sehr biederen Antwerpeners. Dieser junge Mann, der unter seinen Mitbürgern eine ehrenvolle Stellung genießt, verdient seiner Kenntnisse und seiner Moralität halber eine der erhabensten, denn seine Bildung steht der Vortrefflichkeit seines Charakters in nichts nach. Seine Seele ist allen offen; für seine Freunde aber bewahrt er so viel Wohlwollen, Liebe, Treue und Hingebung, dass man ihn, ohne sich an der Wahrheit zu versündigen, das vollkommenste Muster der Freundschaft nennen könnte. Bescheiden und ohne Falsch, einfach und klug weiß er mit Geist zu reden und seine Scherze werden nie beleidigend. Genug, die Vertraulichkeit, die sich bald zwischen uns entspann, hatte etwas so Angenehmes und Bezauberndes, dass sie in mir den Schmerz der Erinnerung an mein Vaterland, mein Haus, meine Gattin und meine Kinder milderte und die Besorgnisse, welche eine Abwesenheit von mehr als vier Monaten erwecken musste, sogar zu beschwichtigen vermochte.
Eines Tages besuchte ich die Notre-Dame. Diese Kirche wird nicht allein von den Einwohnern sehr verehrt, sondern bildet auch eines unserer schönsten Meisterwerke der Architektur. Nach beendetem Gottesdienst wollte ich soeben in mein Hotel zurückkehren, als ich plötzlich vor Peter Gilles stand, der mit einem schon ältlichen Fremden plauderte. Der sonnengebräunte Teint des Unbekannten, sein langer Bart, sein Rock, der nachlässig bis zur Hälfte zurückfiel, seine Miene und seine Haltung ließen mich in ihm einen Schiffspatron vermuten.
Kaum hatte Peter mich bemerkt, als er mir entgegenkam, mich grüßte und seinen Begleiter, der eben eine Erwiderung auf den Lippen hatte, ein wenig entfernte.
– Diesen Herrn hier, sagte er, stand ich soeben im Begriff, zu Ihnen zu führen.
– Schon um Ihretwillen, mein Freund, würde er mir herzlich willkommen gewesen sein …
– Und gewiss auch, wenn Sie ihn kennten, um seiner selbst willen. Von niemandem würden Sie über Menschen und unbekannte Länder so genaue und interessante Details erfahren können als eben von ihm. Und ich weiß ja, dass dergleichen Neuigkeiten für Sie einen ungemeinen Reiz haben.
– Ich habe also nicht sehr fehlgeschossen; ich hielt ihn sogleich für einen Schiffspatron.
– Sie irren sehr!, sagte Peter: Er ist freilich zur See gewesen, aber nicht als Palinur. Er spielte vielmehr die Rolle eines Ulysses oder gar eines Pluto. Hören Sie seine Geschichte: Raphael Hythlodée (der erste dieser Namen ist derjenige seiner Familie) versteht sehr gut das Lateinische und hat das Griechische ganz in seiner Gewalt. Das Studium der Philosophie, der er sich ausschließlich gewidmet hat, veranlasste ihn, sich die Sprache von Athen vorzugsweise vor derjenigen Roms zu eigen zu machen. Daher wird er Ihnen über die geringfügigsten Gegenstände nur Stellen aus dem Cicero oder Seneca zitieren. Sein Vaterland ist Portugal. Noch sehr jung trat er sein elterliches Erbteil seinen Brüdern ab, und da er der Lust, die Welt zu durchmessen, nicht widerstehen konnte, schloss er sich der Person und dem Glücksstern des Amerigo Vespucci an. Während der drei letzten von den vier Reisen, deren Beschreibung man gegenwärtig überall lesen kann, hat er diesen großen Seefahrer keinen Augenblick verlassen. Aber er kehrte nicht mit ihm nach Europa zurück. Seinen dringenden Bitten nachgebend erlaubte Amerigo ihm, einer von jenen »Vierundzwanzig« zu sein, die im Innern Neukastiliens zurückblieben. Seinem Wunsch gemäß wurde er also an diesem Gestade gelassen; denn den Tod in fremdem Lande fürchtet unser Held nicht; er macht sich wenig aus der Ehre, in einem gehörigen Sarge zu verwesen, und oft genug hört man von ihm den Sinnspruch: »Dem Leichnam ohne Begräbnis dient der Himmel statt des Leichentuchs; den Weg zu Gott findet man überall.« Dieser abenteuerliche Charakter wäre ihm vielleicht verderblich geworben, hätte die Vorsehung ihn nicht beschützt. Wie dem auch sei, nach der Abfahrt des Vespucci durchwanderte er mit fünf Kastilianern eine Menge Länder, gelangte wie durch ein Wunder per Schiff nach Taprobana und von dort nach Kalkutta, wo er portugiesische Schiffe fand, deren eines ihn gegen alles Erwarten in sein Vaterland zurückbrachte.
Als Peter mit seiner Erzählung zu Ende war, dankte ich ihm für seine Gefälligkeit und seinen verbindlichen Eifer, mich mit einem so unterhaltsamen und außergewöhnlichen Menschen bekannt zu machen; darauf näherte ich mich Raphael und führte ihn, nach den bei der ersten Anknüpfung einer Bekanntschaft üblichen Komplimenten, mit Peter Gilles zu meiner Wohnung. Dort setzten wir uns in den Garten auf eine Rasenbank und die Konversation begann.
Zuerst erzählte mir Raphael, wie er und seine Gefährten, nach der Abfahrt des Vespucci, durch ihre Freundlichkeit und mancherlei gute Dienste sich die Freundschaft der Eingeborenen gewonnen und wie sie mit diesen friedlich und im besten Einverständnis gelebt hätten. Er erzählte sogar von einem Fürsten, dessen Land und Name mir jedoch entfallen sind, der sie auf das Bereitwilligste in seine Protektion genommen hätte. Dieser Freigiebige lieferte ihnen Barken, Fahrzeuge und alles Übrige, was sie zur Fortsetzung ihrer Reise benötigten. Ein treuer Führer bekam den Auftrag, sie zu begleiten und mit den ausgezeichneten Empfehlungen anderen Fürsten vorzustellen.
Nach einem viele Tage dauernden Marsch fanden sie Ortschaften, wohlverwaltete Städte, zahlreiche Völkerschaften, mächtige Staaten.
Unter dem Äquator, fügte Raphael hinzu, und innerhalb der beiderseitigen Wendekreise sahen sie unermessliche Einöden, die ein Feuerhimmel unaufhörlich versengte. Alles füllte sie hier mit Schrecken und Entsetzen. Das unbebaute Land hatte keine anderen Bewohner als wilde Raubtiere, hässliches Gewürm oder Menschen, die noch schrecklicher waren als jene Tiere. Je weiter man sich vom Äquator entfernte, einen umso sanfteren Charakter nahm die Natur allmählich an; die Hitze war weniger brennend, die Erde schmückte sich mit einem lachenden Grün, die Tiere waren nicht mehr so wild. Doch weiterhin traf man auf Völkerschaften, Städte und Flecken, wo ein lebhafter Land- und Seehandel getrieben wurde nicht allein in das Innere und mit den Grenzländern, sondern auch mit sehr entfernten Nationen.
Diese Entdeckungen entflammten den Eifer Raphaels und seiner Gefährten. Was aber mehr als dies alles ihre Reiselust vergrößerte, war der Umstand, dass sie ohne Schwierigkeiten Zutritt zu dem ersten segelfertigen Schiff erhielten, mochte die Bestimmung desselben auch sein, welche sie wollte.
Die ersten Fahrzeuge, die sie bemerkten, waren flach, die Segel derselben aus Weiden oder Schilfblättern geflochten und einige aus Fellen hergestellt. Später sahen sie Schiffe mit spitzen Schnäbeln und Segeln von Hanf; diejenigen aber, die sie zuletzt fanden, waren in allem den unsrigen ähnlich und wurden von geschickten Matrosen geführt, die den Himmel und das Meer kannten, obgleich sie vom Kompass noch keine Idee hatten.
Diese guten Leute waren von Bewunderung und dem lebhaftesten Dank hingerissen, als unsere Kastilianer ihnen eine Magnetnadel zeigten. Bis dahin hatten sie sich nur mit Besorgnis hinaus aufs Meer gewagt. Heute trotzen sie, den Kompass in der Hand, den Stürmen und dem Winter mit mehr Vertrauen als Sicherheit; denn wenn sie nicht behutsamer zu Werke gehen, kann diese schöne Erfindung, die ihnen die größten Vorteile sichern zu müssen schien, durch ihre Unvorsichtigkeit ihnen leicht eine Quelle von Unglücksfällen werden.
Es würde viel zu lang dauern, wollte ich hier alles berichten, was Raphael auf seinen Reisen gesehen hat. Außerdem ist dies nicht der Zweck dieses Werkes. Vielleicht werde ich seine Erzählung in einem besonderen Buche ergänzen, wo ich vorzüglich auf die Sitten, Gebräuche und zweckmäßigen Einrichtungen derjenigen zivilisierten Völker näher eingehen werde, die er besucht hat.
Wir drängten ihn in Betreff dieses gewichtigen Stoffes mit tausend Fragen und er fand Vergnügen daran, unserer Wissbegierde zu genügen. Nach jenen fabelhaften Ungeheuern, die das Verdienst der Neuheit bereits verloren haben, fragten wir ihn nicht. Scyllen, Celenen, Menschenfresser und ähnliche Misswunder und Missgeburten findet man überall. Ein wenig seltener ist eine vernünftig und durchgreifend zweckmäßig organisierte Gesellschaft.
Um aufrichtig zu sein, so bemerkte Raphael unter diesen neuen Völkern mitunter Einrichtungen, die nicht viel besser als die unsrigen waren; auf der andern Seite aber fand er auch eine nicht geringe Anzahl von Gesetzen, die leicht von der Art sein könnten, die Städte, Nationen und Staaten des alten Europa zu erleuchten und zu regenerieren.
All diese Dinge, ich wiederhole es, werden mir den Stoff für ein anderes Werk abgeben. In dem gegenwärtigen werde ich nur das berichten, was Raphael uns von den Sitten und Einrichtungen des utopischen Volkes erzählte. Vorher jedoch erlaube ich mir den Leser von der Art und Weise zu unterrichten, in welcher die Konversation auf diesem Terrain gepflogen wurde.
Raphael ließ in seine Erzählung gewichtige Reflexionen einfließen. Während er jede Regierungsform prüfte, analysierte er mit bewundernswertem Scharfsinn das Zweckmäßige und Übereinstimmende in der einen und das Schlechte und Falsche in der andern. Hörte man diesen Kompetenten so die Einrichtungen und Sitten der verschiedenen Völker gegeneinander abwägen, so hätte man vermuten sollen, er habe sein ganzes Leben lang in Ländern verweilt, die er gleichwohl nur berührt hatte.
Peter konnte seine Bewunderung nicht zurückhalten.
– In der Tat, sagte er, es befremdet mich ungemein, lieber Raphael, dass Sie nicht bei irgendeinem Fürsten Dienst suchten. Sie würden einem solchen, ich bin davon überzeugt, ebenso willkommen als nützlich sein. Seine Mußestunden würden Sie durch Ihre universalen Kenntnisse als Geograf und Anthropologe sehr angenehm ausfüllen und eine Menge von bewährenden Beispielen, die Sie ihm zitieren könnten, würden ihm eine solide Belehrung und unschätzbare Ratschläge sichern. Zugleich könnten Sie dadurch sich und den Ihrigen die glänzendsten Aussichten eröffnen.
– Um das Schicksal der Meinigen, erwiderte Hythlodée, beunruhige ich mich wenig. Ich glaube ihnen gegenüber meinen Pflichten leidlich genügt zu haben. Andere pflegen sich erst dann, wenn sie bereits mit einem Fuß im Grab und mit dem andern nachzufolgen im Begriff stehen, ihrer Güter zu entäußern, und selbst dann noch lassen sie nur äußerst ungern fahren, was die ohnmächtige Hand nicht mehr festzuhalten vermag. Ich dagegen habe in der Blüte und vollen Kraft der Jugend alles meinen Verwandten und Freunden geschenkt. Sie werden sich, denke ich, über meinen Egoismus nicht beklagen; sie werden nicht verlangen, dass ich, um ihre Taschen mit Gold zu füllen, mich einem König zum Sklaven anbieten solle.
– Verstehen wir uns recht, sagte Peter: Meine Meinung ist nicht, dass Sie einem Fürsten als Knecht, sondern dass Sie ihm als Minister dienen sollten.
– Die Fürsten, mein Freund, kennen zwischen beiden wenig oder gar keinen Unterschied. Die lateinischen Worte servire und inservire unterscheiden sie bloß nach der Silbenzahl.
– Nennen Sie die Sache, wie es Ihnen gefällt, erwiderte Peter, ich wenigstens sehe darin für Sie das beste Mittel, sowohl dem Staat und den Individuen nützlich zu sein, als auch sich selbst eine glückliche Stellung zu sichern.
– Eine glückliche, sagen Sie! Und wie könnte das, was meinen Gefühlen, meiner Denkweise, meinem Charakter widerstrebt, zu meinem Glück beitragen? So, wie ich jetzt lebe, bin ich frei, ich mache, was ich will, und ich zweifle, dass viele von denen, die sich in den Purpur kleiden, von sich dasselbe sagen können. Die Ehrgeizigen, die nach der Gunst des Thrones streben, gibt es in Hülle und Fülle; die Könige werden mich und zwei oder drei andere, die mit mir gleicher Meinung sind, unter jenen Höflingen nicht sehr vermissen.
Ich nahm jetzt das Wort:
– Augenscheinlich, Raphael, jagen Sie weder dem Glück noch großem Einfluss nach, und was mich betrifft, so hege ich deshalb nicht weniger Bewunderung und Achtung für Sie, als wenn Sie an der Spitze eines Reiches ständen. Dennoch scheint es mir eines so edlen und denkenden Geistes wie des Ihrigen vollkommen würdig, all seine Talente der Leitung öffentlicher Angelegenheiten zuzuwenden, selbst wenn Sie deshalb Ihr persönliches Wohlbefinden außer Acht lassen müssten. Das beste Mittel dazu aber ist unstreitig, in den Rat irgendeines Fürsten zu treten; denn ich bin überzeugt, dass Sie den Mund nie öffnen werden, außer zum Nutzen von Ehre und Wahrheit. Sie wissen es, der Fürst ist die Quelle, aus welcher das Gute und das Böse sich wie ein Strom unter das Volk ergießt; und Sie besitzen so viele Kenntnisse und Talente, dass Sie, wenn Ihnen die Geschäftsroutine abgehen sollte, selbst dann noch einen vortrefflichen Minister unter dem unwissendsten König abgeben würden.
– Sie verfallen in einen zweifachen Irrtum, mein teurer Morus!, erwiderte Raphael. Sie täuschen sich sowohl in Beziehung auf den Sachbestand als auch auf die Person. Ich besitze bei Weitem nicht die Fähigkeit, die Sie mir zuschreiben; doch gesetzt auch, ich besäße sie in hundertfachem Maße, so würde dennoch die Aufopferung meiner Ruhe der Öffentlichkeit von keinem Nutzen sein. Den Fürsten liegt zuvörderst nur der Krieg am Herzen (und gerade die Taktik ist eine Wissenschaft, die ich nicht kenne und auch niemals kennenlernen mag). Die segensreichen Künste des Friedens vernachlässigen sie. Handelt es sich um die Erweiterung ihrer Grenzen, so ist ihnen jedes Mittel recht; weder Geweihtes noch Weltliches, weder Verbrechen noch Blut machen ihre Entschlüsse wankend. Viel weniger machen sie sich daraus, die ihrer Herrschaft unterworfenen Staaten auch wohl zu regieren. – Was nun die Räte der Könige betrifft, so möchte ihr Charakter der folgende sein: Die einen schweigen, und zwar mit Grund. Es täte Not, dass sie selbst beraten würden. Andere sind fähig und wissen es; diese aber sind beständig der Meinung desjenigen, der am meisten in Gunst steht; mit Entzücken applaudieren sie selbst den schalsten Aussprüchen, die er vorzubringen beliebt. Diese verächtlichen Schmarotzer kennen nur ein einziges Ziel: dasjenige, durch niedrige und verbrecherische Schmeichelei die Protektion des ersten Günstlings zu gewinnen. Die Übrigen sind Sklaven ihrer Eigenliebe; sie hören nur auf ihre eigene Meinung. Dies kann nicht befremden. Die Natur befiehlt jedem, die Kinder seines Geistes für schön zu halten. So liebkost der Rabe seine Brut und der Affe seine Jungen. – Was geschieht nun im Innern dieser Ministerien, in welchen Neid, Eitelkeit und Eigennutz vorherrschen? Sucht jemand eine vernünftige Meinung auf die Geschichte oder die Gebräuche anderer Länder zu stützen? Alle Übrigen würden sich darüber empören; ihre Eigenliebe würde sich beleidigt finden, wie wenn man ihnen alle Weisheit absprechen und sie für blödsinnig erklären wollte. Sie grübeln so lange nach, bis sie irgendeinen Gegengrund aufgefunden haben, und führt ihr Gedächtnis oder ihre Logik sie auf einen Irrweg, so flüchten sie sich hinter den Gemeinspruch: »Unsere Väter dachten und handelten so; wollte Gott, wir ständen unseren weisen Vätern nicht nach!« Und dann setzen sie sich und brüsten sich, als hätten sie einen Orakelspruch verkündigt. Nach ihnen sollte man fürchten, der Untergang der Gesellschaft könne nicht ausbleiben, wenn sich jemand fände, der klüger wäre als seine Voreltern. Gleichwohl lassen uns die guten Einrichtungen, die wir von ihnen ererbt, ziemlich kalt, und sobald eine zweckmäßige Neuerung aufkommen will, klammern wir uns, um dem Fortschritt in den Weg zu treten, an das Alte. Fast überall habe ich dergleichen eigensinnige, abgeschmackte und hochmütige Staatsbeamte gefunden. So traf ich einmal in England …
– Ich bitte um Verzeihung!, unterbrach ich Raphael: Sie waren also auch in England?
– Einige Monate, ja. Es war kurz nach dem Bürgerkrieg zwischen Westengland und dem König – einem Krieg, der mit einer schrecklichen Niedermetzelung der Insurgenten endete. Während dieser Zeit erzeigte mir der sehr ehrwürdige Jean Morton, Kardinal-Erzbischof von Canterbury und Kanzler von England, große Verbindlichkeiten. Er war – ich rede hier bloß zu Ihnen, mein lieber Peter, denn Morus hat dergleichen Belehrungen nicht nötig – er war ein Mann, den man wegen seines Charakters und seiner Tugend noch mehr schätzen musste als wegen seiner hohen Würden. Sein mittlerer Wuchs beugte sich nicht unter der Wucht des Alters; ohne streng zu sein, gebot seine Miene Achtung; andern gegenüber zeigte er sich zu gleicher Zeit ungezwungen, ernst und bedachtsam. Er liebte es, die Bittsteller mitunter durch strenge Worte zu prüfen, die jedoch nie kränkend wurden; er war vielmehr entzückt, bei ihnen auf Geistesgegenwart und lebhafte Äußerungen zu treffen, sobald die Letzteren nur nicht in Impertinenz ausarteten. Durch dieses Verfahren suchte er über das größere oder geringere Verdienst zu urteilen und es nach seiner Besonderheit zu würdigen. Seine Sprache war rein und energisch; seine Rechtskenntnis tief, sein Urteil treffend, sein Gedächtnis bewundernswürdig. Diese glänzenden Naturgaben hatte er noch durch Übung und Studium entwickelt. Seine Meinung galt beim König viel; der Letztere betrachtete ihn als eine der festesten Stützen des Staates. Sehr jung von der Akademie an den Hof gekommen, sein ganzes Leben hindurch inmitten der gewichtigsten Ereignisse und unaufhörlich vom stürmischen Meere des Schicksals umhergeschaukelt hatte er sich, unter beständig neu erstehenden Schwierigkeiten, einen außergewöhnlichen Scharfblick und eine tiefe Kenntnis von dem Bestehenden angeeignet, die sich sozusagen mit ihm selbst identifiziert hatte.
Eines Tages war ich bei diesem Prälaten zu Tisch. Der Zufall ließ mich dort auf einen Laien treffen, der jedoch in dem Ruf eines großen Rechtskundigen stand. Dieser Mensch überhäufte – ich weiß nicht, zu welchem Zweck – die strenge Justiz gegen die Diebe mit Lobpreisungen. Mit großem Wohlbehagen erzählte er, wie man sie hier und dort zu Zwanzigen an ein und dem demselben Galgen aufknüpfte. »Und dennoch«, fügte er hinzu, »welcher Übelstand! Von all diesen Spitzbuben entgehen kaum zwei oder drei dem Strick und England liefert deren von allen Seiten neue.«
Mit jener Ungezwungenheit der Rede, die ich dem Kardinal gegenüber an den Tag zu legen pflegte, sagte ich darauf: »Darin liegt nichts, worüber Sie sich wundern dürften. In dieser Beziehung ist der Tod eine ebenso ungerechte als unnütze Strafe. Um den Diebstahl zu bestrafen, ist sie zu grausam, und um ihn zu verhindern, ist sie zu schwach. Der einfache Diebstahl verdient den Galgen nicht und die schrecklichste Buße wird denjenigen nicht vorm Stehlen zurückschrecken lassen, dem nur dies eine Mittel übrig bleibt, um nicht hungers zu sterben. Hierin gleicht die Justiz Englands und mancher anderen Länder einem schlechten Lehrer, der seine Schüler lieber schlägt als unterrichtet. Man unterzieht die Diebe den schrecklichsten Martern. Wäre es nicht besser, allen Gliedern der Gesellschaft die Existenz zu sichern, damit niemand sich in die Notwendigkeit versetzt sähe, zuerst zu stehlen und dann vom Leben zum Tode gebracht zu werden?«
»Dafür ist von der Gesellschaft gesorgt!«, erwiderte mein Rechtskundiger. »Die Industrie, der Ackerbau bieten dem Volk eine Menge von Existenzmitteln; aber es gibt Geschöpfe, die das Verbrechen der Arbeit vorziehen.«
»Jetzt sind Sie, wo ich Sie haben wollte!«, erwiderte ich. »Von denjenigen, die mit Wunden bedeckt aus inneren oder auswärtigen Kriegen heimkehren, will ich gar nicht einmal reden, obwohl ich dazu allen Grund hätte. Denn wie viele Soldaten verloren nicht in der Schlacht von Cornwallis oder in dem Feldzug gegen Frankreich ein oder mehrere Glieder im Dienst des Königs und des Vaterlandes! Diese Unglücklichen waren zu schwach geworden, um ihr altes Handwerk wieder aufzunehmen, und zu alt, um noch ein neues zu erlernen. Aber lassen wir das; wir leben nicht immer in Kriegszeiten. Richten wir den Blick auf das, was täglich um uns her vorfällt.
Die vornehmste Ursache des öffentlichen Elends besteht in der übermäßigen Anzahl von Edlen, die sich, gleich müßigen Hornissen, von ihres Nächsten Schweiß und Arbeit nähren und die ihre Ländereien bebauen lassen, indem sie, um ihre Revenüen zu vermehren, ihre Pächter bis aufs Blut aussaugen; eine andere Ökonomie kennen sie nicht. Aber handelt es sich darum, sich ein Vergnügen zu verschaffen, so sind sie verschwenderisch bis zum Wahnsinn, selbst wenn sie dadurch an den Bettelstab geraten sollten. Nicht minder beklagenswert ist es, dass sich ganze Scharen von müßigen Dienern, die nichts gelernt haben, wodurch sie sich ihre Existenz sichern könnten, in ihrem Gefolge befinden.
Wenn diese Diener erkranken oder ihren Herrn durch den Tod verlieren, gibt man ihnen den Abschied; denn man will lieber Müßiggänger als Kranke ernähren und häufig ist auch der Erbe des Verstorbenen nicht fähig, die ihm überkommene Dienerschaft fortzusetzen.
Nun sind diese Leute, wenn sie nicht das Herz haben zu stehlen, dem Hungertod ausgesetzt. In der Tat, was bleibt ihnen übrig? Während sie ein neues Unterkommen suchen, reiben sie ihre Gesundheit und ihre Kleider auf; und wenn die Krankheit sie gebleicht und die Zeit sie in Lumpen gehüllt hat, erschrickt man vor dem Gedanken, sie in Dienst zu nehmen. Selbst die Bauern fühlen sich dazu nicht verpflichtet. Von einem Menschen, der sich von Jugend auf im Müßiggang und in Vergnügungen bewegt hat, der nur Säbel und Schild zu tragen, mit stolzem Auge auf die Nachbarschaft herabzusehen und alle Welt zu verachten gewohnt ist – von einem solchen Menschen wissen sie recht gut, dass er sich wenig dazu eignet, den Spaten und den Karst zu handhaben und im Dienst eines armen Landmanns für geringen Lohn und karge Nahrung getreulich zu arbeiten.«
»Gerade diese Menschenklasse ist es«, ließ sich mein Gegner hierauf vernehmen, »die der Staat mit der größten Sorgfalt unterhalten und vervielfältigen muss. Bei ihnen findet man mehr Mut und geistige Tüchtigkeit als beim Handwerker und Ackersmann. Sie sind größer und stärker, und gehen sie zum Heere ab, so darf man, wenn eine Schlacht geliefert werden soll, gerade von ihnen am meisten erwarten.«
»Mit anderen Worten«, erwiderte ich, »um den Waffen Ruhm und Erfolg zu sichern, muss man die Diebe vervielfältigen. Denn für die Letzteren bilden jene Müßiggänger eine unerschöpfliche Schule. Und bei Licht betrachtet sind Spitzbuben nicht die schlechtesten Soldaten und Soldaten sind nicht die furchtsamsten Spitzbuben; es gibt viel Analoges zwischen diesen beiden Metiers. Unglücklicherweise leidet nicht England allein an dieser gesellschaftlichen Wunde; sie haftet an fast allen Nationen.