Matthias P. Gibert
Unkrautkiller
Lenz’ 16. Fall
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Paketbombe (2016), Halbgötter (2015), Müllhalde (2014),
Bruchlandung (2014), Pechsträhne (2013), Höllenqual (2012),
Menschenopfer (2012), Zeitbombe (2011), Rechtsdruck (2011),
Schmuddelkinder (2010), Bullenhitze (2010), Eiszeit (2009),
Zirkusluft (2009), Kammerflimmern (2008), Nervenflattern (2007)
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2016
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © 31moonlight31 / Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5172-0
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Kassel, 20.02.2016
»Was für eine riesige Beerdigung«, sagte Verena Kramer leise mit Blick auf die Masse an Menschen unter ihren Regenschirmen. In ihrer linken Hand hielt die etwa 40-jährige Frau ein Taschentuch, mit dem sie sich immer wieder über die Wangen fuhr.
»Ja, das habe ich auch eben gedacht«, erwiderte ihr Mann Sigmar. »Ich glaube, es ist ein Polizist gestorben. Zumindest habe ich das vorhin, als wir gekommen sind, irgendwo aufgeschnappt.«
Ein pechschwarz gekleideter Mann trat auf die beiden zu und folgte ihren Blicken. »Es ist ein Polizist, der dort zu Grabe getragen wird«, erklärte er ungefragt. »Der Pressesprecher des Polizeipräsidiums Nordhessen, um genau zu sein.«
»Ach«, machte Verena Kramer.
Er nickte. »Knapp über 50. Herzinfarkt.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich bin Grabredner und war für die Beerdigung vor dieser engagiert.«
»Grabredner?«, wiederholte sie ungläubig. »Ist das ein Beruf?«
»Nun ja, ein richtiger Beruf vielleicht nicht, aber ich komme ganz gut zurecht.«
»Und wer engagiert Sie?«
»Viele Menschen, die nicht konfessionell beerdigt werden möchten und deren Verwandtschaft die Grabrede nicht selbst halten kann oder will.«
»Und …« Die Frau brach ab, weil sich ein weiterer Mann zu ihnen gesellt hatte.
»Guten Tag, liebe Frau Kramer«, begrüßte er sie mit einem warmen Händedruck. »Und auch Ihnen einen guten Tag, Herr Kramer.« Sein nicht wirklich gütiger Blick streifte den Grabredner, ohne ihn jedoch weiter zu beachten.
»Guten Tag, Herr Pfarrer«, erwiderten die Eheleute Kramer im Chor.
»Sind Sie bereit?«, wollte der Kirchenmann behutsam wissen, was beide mit einem Nicken beantworteten.
Zwei Stunden später saßen die drei zusammen mit etwa 40 weiteren Angehörigen und Freunden, die der Beisetzung ihrer Tochter beigewohnt hatten, in einem kleinen Café etwa zehn Gehminuten vom Kasseler Westfriedhof entfernt.
Sigmar Kramer nippte an seinem Kaffee, stellte die Tasse ein wenig umständlich zurück auf den Tisch und fixierte mit trauriger Miene einen Punkt an der Wand gegenüber.
»Nochmals vielen Dank für Ihre einfühlsamen Worte, Herr Pfarrer.«
»Dafür nicht, Herr Kramer.«
»Und dafür, dass Sie Ulrikes viel zu kurzes Leben so anschaulich und so gefühlvoll dargestellt haben.«
»Das konnte ich nur, weil Sie mir ihr Leben so sensibel und detailliert geschildert hatten. Und natürlich, weil ich sie ein wenig kannte.«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Verena Kramer und tupfte sich mit dem Taschentuch über die rot geränderten Augen. »Sie hat immer nur gut von Ihnen gesprochen, wenn sie vom Konfirmationsunterricht nach Hause gekommen ist. Wie nett und lieb Sie mit den Konfirmanden umgegangen sind.«
»Das freut mich natürlich, vielen Dank.«
Es traten zwei Ehepaare zu ihnen, um sich zu verabschieden.
»Und danke, dass Ihr dagewesen seid«, gab Kramer ihnen mit auf den Weg.
»Haben Sie die Menschenmassen gesehen, die auf der Beerdigung davor gewesen sind?«, wollte Verena Kramer von dem Pfarrer wissen.
»Ja, natürlich. Aber das ist nicht ungewöhnlich, in diesem Fall.« Auch er wusste, dass es sich um den verstorbenen Pressesprecher der Kasseler Polizei gehandelt hatte, dass ein solcher Mann überaus gut vernetzt gewesen war und außerdem viele Kollegen seine Beisetzung besucht hatten.
»Wie viele mögen das gewesen sein?«, wollte Frau Kramer wissen.
»Sicher mehr als 500, denke ich«, gab Pfarrer Heino Sommer zurück. »Vielleicht auch 700, ich kann es wirklich schwer einschätzen.«
»Ich bin sehr froh, dass Ulrikes Beerdigung nicht so furchtbar groß geworden ist«, fuhr sie kurz darauf fort.
»Wenn ihre Mitschüler nicht auf Klassenfahrt wären, hätten sicher auch viel mehr Menschen um sie getrauert, aber so war es doch auch in Ordnung.«
»Auf jeden Fall«, bestätigte Sigmar Kramer. »Viel mehr Leute hätte ich nicht schön gefunden.«
»Wissen Sie schon, wie es mit Julia weiter geht?«
»Sie hat gestern mit ihrer zweiten Chemotherapiewoche angefangen, deshalb ist sie auch nicht hier. Es geht ihr den Umständen entsprechend, aber gut kann man ihre Verfassung leider nicht nennen.«
»Wir werden alle für sie beten«, bot Pfarrer Sommer an.
»Das machen wir, bestimmt«, gaben Verena und Sigmar Kramer wie aus einem Mund zurück.
Es schlossen sich noch ein paar weitere Beileidsbekundungen an, doch eine knappe halbe Stunde später hatten die beiden die Veranstaltung überstanden und waren auf dem Heimweg.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir Uli nie mehr wiedersehen werden«, sagte Frau Kramer leise.
Ihr Mann konnte die Worte aufgrund des Schabens der Scheibenwischer kaum verstehen.
»Aber du hast doch dem Pfarrer Sommer zugehört, oder? Das muss mit der Zeit kommen, das ist nicht gleich so, wenn man jemand verloren hat.«
»Ja, ich habe ihn gehört. Und ich hatte dabei den Eindruck, dass er das sagt, weil ihm nichts Besseres einfällt. Was will man als Pfarrer auch sagen, wenn ein 15-jähriges Mädchen unter solchen Umständen sterben muss und ihre Schwester vielleicht auch schon so gut wie dem Tod geweiht ist?«
Sigmar Kramer schaltete in den Leerlauf, ließ den Volkswagen auf eine rote Ampel zurollen und legte vorsichtig die rechte Hand auf den Oberschenkel seiner Frau.
»Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren, Verena. Julia ist viel stärker als Ulrike, das wissen wir beide ganz genau. Sie wird es schaffen, davon bin ich felsenfest überzeugt.« Er sah ihr tief in die Augen. »Und du solltest das auch sein, zumindest bitte ich dich inständig darum. Hab Hoffnung und zeig sie der Julia auch bitte.«
Die Ampel sprang auf Grün, der Wagen rollte an.
»Ja, die Sache mit der Hoffnung«, erwiderte seine Frau mit mehr als einem hoffnungslosen Gesichtsausdruck. »Ich werde mich bemühen, Siggi, aber versprechen, dass es klappt, kann ich dir leider nicht.«
»Das macht nichts. Ich werde einfach so viel davon versprühen, dass es auch für dich reicht.«
Über Verena Kramers Gesicht huschte die Andeutung eines Lächelns, dann ließ sie sich nach links fallen und lehnte sich an die Schulter ihres Mannes. »Danke, Siggi.«
»Gern. Und jetzt gehen wir gleich in den Stall, schauen, dass wir möglichst schnell fertig werden, und sind dann den ganzen Abend nur noch für Julia da. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
Kassel, im Sommer 2016
Hauptkommissar Paul Lenz und seine Frau Maria zogen ihre Koffer Richtung Tür und warteten, bis der ICE im Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe zum Stehen gekommen war. Dann traten sie auf den Bahnsteig und streckten ihre Gelenke.
»Schön, wieder hier zu sein«, lachte Maria ihn an.
»Absolut. So interessant es auf der anderen Seite der Weltkugel auch sein mag, zu Hause zu sein, hat seine unbestreitbaren Reize.«
»So was können nur Leute sagen, die gerade drei lange Wochen Urlaub hinter sich gebracht haben«, brummte eine Stimme hinter ihnen, »und die außerdem noch so unverschämt braun gebrannt und erholt aussehen.«
»Thilo«, riefen Maria und Paul erfreut. »Was machst du denn hier?«
»Ich habe euren Flug getrackt und wusste, dass es nicht viele Züge geben würde, die ihr nehmen könnt, also dachte ich mir, ich hole euch einfach vom Bahnhof ab.«
»Saugute Idee«, vermeldete Lenz begeistert. »Ich hatte nämlich absolut keine Lust auf ein Taxi.«
»Du verdammter Geizkragen.«
»Das hat mit Geiz nun wirklich nichts zu tun, Thilo. Du weißt doch selbst am besten, was für Diven die Kasseler Taxikutscher sein können, und wenn man dann einen erwischt, der sich darüber ärgert, dass man ihm nur eine Fahrt von vielleicht sieben oder acht Euro bieten kann, dann ist wirklich alles zu spät.«
»Los, kommt, ich lade euch zu einem Eis ein«, rief Maria ihnen zu und trottete los. »Gutes Eis ist nämlich etwas, auf das ich in den letzten Wochen leider verzichten musste.«
»Sag bloß, es gab auf Hawaii kein leckeres Eis für euch?«, wollte Thilo Hain ein wenig entgeistert wissen.
Lenz und seine Frau sahen sich an, begannen zu lachen und schüttelten synchron die Köpfe.
»Aber jetzt will ich unbedingt wissen, wie euer Urlaub gewesen ist und warum zum Teufel ihr kein vernünftiges Speiseeis bekommen habt«, nahm der Oberkommissar den Faden wieder auf, nachdem sie ihre Stammeisdiele erreicht und im Außenbereich Platz genommen hatten.
»Der Urlaub war klasse«, gab Maria zurück, »obwohl Hawaii, jedenfalls für mich, doch ziemlich eintönig ist, was die Landschaft angeht. Vulkaninsel halt.«
»Mir hat die Vielfalt absolut gereicht«, widersprach Lenz.
»Wie könnte es anders sein«, fasste Hain zusammen.
»Und die Sache mit dem Eis ist eigentlich ganz einfach zu beantworten«, fuhr Maria fort. »Wir haben am Abend des zweiten Tages am Hotelbüfett jeder ein ziemlich großes Eis vertilgt, was dazu geführt hat, dass wir uns die beiden folgenden Tage auf der Toilette ständig abgewechselt haben. Aber nur wenn es gut lief, wenn nicht, hat einer mit zusammengekniffenen Augen vor der Tür darauf gewartet, dass der andere endlich rauskommt. Ein paar Stunden haben wir ernsthaft darüber nachgedacht, wegen der zusätzlichen Toilette ein weiteres Zimmer anzumieten.«
»Dann hatte es euch aber ziemlich erwischt.«
Lenz holte tief Luft. »Worauf du einen lassen kannst, mein lieber Thilo.«
»Und sonst? Strand, Hotel, die andere Verpflegung?«
»Alles top, kann man nicht anders sagen.«
Hain lehnte sich zurück, weil die bestellten Eisbecher kamen, griff nach dem Löffel und fuhr ihn in die Schlagsahne auf der Spitze seines Fruchtbechers.
»Und wie waren die Flüge für den Herrn Hosenscheißer der Lüfte? Hast du ordentlich gelitten in der Höhe?«
Maria lachte laut auf. »Hosenscheißer der Lüfte ist gut, wirklich. Aber ganz im Ernst, inzwischen ist Paul viel sicherer da oben als ich. Wir hatten auf dem Weg nach Los Angeles wirklich deftige Turbulenzen. Währenddessen habe ich mich an ihm festgekrallt und er war die gesamte Zeit über cool wie eine Hundeschnauze.«
»Ist nicht wahr«, blieb der junge Polizist gespielt skeptisch und bearbeitete weiter sein Eis.
»Und, was war hier so los?«, wollte Lenz nach ein paar Augenblicken des puren Eisgenusses wissen.
Hain überlegte eine Weile. »Am ehesten sind mir die Läuse in Erinnerung geblieben, die sich meine Jungs irgendwo eingefangen hatten. Allerdings sind wir erst darauf gekommen, als die kleinen Viecher es sich auch schon bei Carla im Haar gemütlich gemacht haben.«
»Oh je, das hört sich wirklich nicht nach purem Sonnenschein an«, zeigte Maria volles Mitgefühl.
»Im Präsidium war es dafür richtiggehend ruhig, wenn man mal von der Frau absieht, die ihren Ehemann aus dem Fenster geschmissen hat.«
»Ernsthaft, oder machst du Scheiß?«
»Nee, so was von ernsthaft. Beide knapp über 60 und während der Vernehmung hat sie mir gesagt, dass sie es einfach nicht mehr ausgehalten hat, wie er mit ihr umgesprungen ist. Angeblich hat er sie zwei- oder dreimal die Woche vermöbelt und irgendwie schien sie keine Lust mehr auf Keile gehabt zu haben.«
»Auch eine Idee, wenn ich mal die Nase voll von dir habe«, meinte Maria und grinste ihren Mann an.
»Ist er tot?«, wollte der von seinem Kollegen wissen.
»So mausetot, wie man nur sein kann, wenn man aus dem sechsten Stock fliegt und auf dem geteerten Parkplatz ungebremst zur Landung ansetzt.«
»Hmm«, brummte Lenz.
»Aber sonst, wirklich tote Hose. Was dazu geführt hat, dass ich fast den gesamten liegen gebliebenen Papierkram erledigen konnte, um den du dich sowieso nie gekümmert hättest.«
Nun fing sein Boss an zu grinsen. »Du hast den ganzen alten Kram erledigt?«
»Fast, ja. Es sind zwei Sachen übrig geblieben, bei denen ich ohne deine Hilfe nicht weitergekommen bin. Aber der Rest ist voll und ganz bearbeitet und erledigt.«
»Klasse.« Der Hauptkommissar schob sich einen weiteren Löffel Eis in den Mund und sah auf seine Armbanduhr. »Ich glaube, in den nächsten Tagen werde ich noch keine wirkliche Verstärkung für dich sein, Thilo. Ich fühle mich, als könnte ich volle zwei Tage durchschlafen.«
»Ach komm, jetzt mach mal keinen auf Jetlag, das zieht bei mir nicht.«
»Mach ich nicht, ich leide wirklich darunter.«
»Und das weißt du schon, bevor du auch nur eine Nacht geschlafen hast?«
Lenz nickte eifrig.
»Such dir jemand anders zum Verscheißern«, blökte sein Freund und Kollege, während er erneut seinen Löffel im Eis versenkte.
Etwa eine Stunde später hatte er Lenz und Maria vor deren Haus abgesetzt und war auf dem Heimweg, während die beiden Urlauber mit einem Glas Wasser in der Hand auf ihrer Terrasse standen und über die Stadt blickten.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich so gern wieder hierher zurückkomme«, sagte Maria leise.
»Ich schon«, erwiderte Lenz. »Das ist meine Stadt, hier sind meine Leute, und hier zu leben, ist einfach schön.«
»Du solltest anfangen, für Kassel-Marketing zu arbeiten.«
»Das könnte ich bestimmt, aber vorher will ich schlafen, schlafen, schlafen. Ich habe das Gefühl, dass es bei der Ankunft auf Hawaii nicht so schlimm war mit der Müdigkeit.«
»Dann lass uns doch ins Bett gehen, Paul. Wir haben nichts zu versäumen und die Wäsche machen wir, wenn wir uns danach fühlen.«
Die nächsten beiden Tage verbrachten die beiden tatsächlich überwiegend im Bett, obwohl Maria ihrem Mann immer wieder erklärte, dass es besser wäre, sich wieder möglichst schnell an die mitteleuropäische Sommerzeit anzupassen. Doch Lenz blieb stur und schlief, wann immer er Lust darauf verspürte, und das war sehr, sehr oft der Fall.
In der folgenden Woche akklimatisierte er sich sowohl im Büro als auch in den anderen Bereichen des Lebens. Und am darauffolgenden Wochenende konnte er erleichtert feststellen, dass seine innere Uhr wieder komplett auf Kassel gestellt war und er sich auf den normalen Tagesrhythmus eines Mitteleuropäers eingependelt hatte. Gemeinsam mit seinem Kollegen Thilo hatte er den Papierkram für die beiden übrig gebliebenen Fälle erledigt und freute sich darüber, dass er, gefühlt nach Hunderten von Jahren, endlich einmal so etwas wie einen geregelten Feierabend hatte.
Sebastian Koller betrat das Foyer des Stapleton Kassel und ging, seinen silbern schimmernden Alukoffer hinter sich herziehend und einen Kleidersack über die Schulter gehängt, auf die Rezeption zu.
»Willkommen im Stapleton Kassel, was kann ich für Sie tun?«, wollte die makellos geschminkte und frisierte Frau hinter der Theke wissen.
Er nannte ihr seinen Namen und erwähnte die bestehende Reservierung.
»Natürlich, Herr Koller. Wir freuen uns, Sie wieder einmal in unserem Haus begrüßen zu dürfen, obwohl Ihr letzter Aufenthalt in unserem Haus, wie ich sehe, schon ein paar Jahre zurückliegt.«
»Ja, ich freue mich auch.«
Die Frau hob anerkennend, aber kaum wahrnehmbar eine Augenbraue. Offenbar war sie erst jetzt in ihrem EDV-System auf den Hinweis gestoßen, dass es sich bei Sebastian Koller um einen Kunden der Stapleton-Hotelkette mit Platinstatus handelte. Mit einer schnellen Bewegung legte sie eine Schlüsselkarte auf die Theke.
»Die Excelsiorsuite im sechsten Stock ist für Sie vorbereitet, ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt bei uns. Darf ich Ihnen zum Dinner einen Tisch in unserem Restaurant reservieren?«
»Nein, vielen Dank, ich habe für heute schon eine anderweitige Verabredung. Wenn ich für morgen Abend einen Tisch brauchen sollte, lasse ich es Sie rechtzeitig wissen.«
»Vielen Dank, Herr Koller«, antwortete sie freundlich und drückte auf die kleine Klingel vor sich, sodass ein dezenter Ton erklang. Sofort stand ein Page neben Koller und griff nach dessen Koffer.
»Vielen Dank, das geht schon«, ließ er den Jungen wissen, drückte ihm aber trotzdem eine Münze in die Hand.
»Danke schön«, bekam Koller zur Antwort und schon war der Helfer wieder verschwunden.
Koller nahm Kurs auf den Fahrstuhl, fuhr nach oben und betrat kurz darauf seine Suite. Wie die meisten Menschen, die regelmäßig in Hotels logierten, testete er zunächst die Matratze und besichtigte anschließend das Bad. Nachdem sich alles zu seiner Zufriedenheit darstellte, ließ er sich im Sessel des Wohnzimmers nieder, packte sein Laptop aus und ging seine neuen E-Mails durch. Zwei waren sofort zu beantworten, der Rest hatte Zeit. Dann besuchte er die Webseite eines Onlinewettbüros, platzierte ein paar Wetten und klappte das edle Gerät zu. Nach einem Telefonat mit seiner Sekretärin und einem weiteren mit seiner Frau zog er sich aus und duschte ausgiebig. Im Anschluss gönnte er sich einen kurzen Erholungsschlaf. Gegen 19 Uhr war er fertig angezogen und machte sich auf den etwa 15 Minuten dauernden Weg zu seinem Abendtermin. Auf dem Weg nach draußen fiel ihm auf, dass er ein wichtiges Dokument vergessen hatte, also ging er zurück, um es zu holen. In der Lobby musste er sich um eine aufgeregt wirkende asiatische Reisegruppe, die offenbar ein Reservierungsproblem hatte, herumbewegen und war froh, kurz darauf mit seiner kleinen, ledernen Aktenmappe unter dem Arm in die warme Abendsonne treten zu können.
»Herr Koller, schön Sie zu sehen«, wurde er einen Hauch zu überschwänglich von Julio Santos begrüßt, dem Gebietsleiter seines Arbeitgebers für die Regionen Nordhessen und Südniedersachsen.
»Guten Abend, Herr Santos. Wie geht es Ihnen?«
»Sehr gut, vielen Dank.«
Die beiden wurden von der ein wenig muffig dreinblickenden Bedienung an einen kleinen Tisch im hinteren Teil des französischen Restaurants geführt und setzten sich. Nach einer eher belanglosen, einleitenden Unterhaltung und der Bestellung näherte sich Koller ohne große Umschweife dem eigentlichen Thema des Abends.
»Sie wissen, dass wir mit der Umsatzentwicklung in Ihrem Gebiet alles andere als zufrieden sind, Herr Santos. Nicht zufrieden sein können.«
Sein Gegenüber nickte, hob dabei jedoch abwehrend die Hände. »Sie wissen im Gegenzug aber auch, dass wir in der letzten Zeit einige ganz und gar nicht erfreuliche Ereignisse zu verkraften hatten, Herr Koller. Der Wind bläst uns kräftig ins Gesicht und zwar direkt von vorn.«
»Das tut er aber bei Ihren Kollegen auch, und deren Umsatzentwicklung ist mit Ihrer zum Glück überhaupt nicht vergleichbar, sonst wären wir vermutlich gezwungen, ganz andere Maßnahmen zu ergreifen.«
Koller legte die Aktenmappe auf den Tisch, öffnete sie und nahm eine Kladde heraus.
»Ich habe hier die Zahlen vom letzten Quartal«, ließ er Santos wissen. »Und da haben wir allein bei Squeeze einen Umsatzeinbruch von knapp 39 Prozent. Und ich muss Ihnen sicher nicht explizit darlegen, wie wichtig Squeeze für unser Unternehmen ist.«
»Das müssen Sie bestimmt nicht, aber wir sollten der Fairness halber berücksichtigen, dass die Hängepartie des BfR in Bezug auf Glyphosat uns auf jeden Fall nicht in die Karten spielt.«
Koller lehnte sich zurück. »Was das angeht, kann ich Sie übrigens beruhigen. Wir stehen kurz vor einem positiven Entscheid des BfR, das habe ich aus allererster Hand.«
Santos’ Miene hellte sich schlagartig auf.
»Wirklich? Das wäre mal eine gute Nachricht, eine verdammt gute.«
Natürlich bluffte Koller, aber was sollte er auch sonst tun. Wenn das Bundesinstitut für Risikobewertung die Verwendung des Pestizids Glyphosat weiterhin als unbedenklich einstufen würde, was jedoch alles andere als sicher war, dann hatte er einfach Glück gehabt, und wenn nicht, dann konnte er sich gegenüber seinen Mitarbeitern immer noch auf die Unberechenbarkeit der Bürokratie und die bessere Lobbyarbeit der Gegner herausreden. Seine Gedanken schweiften kurz ab zu einem Dokument in seiner Aktentasche, das ihn zutiefst beunruhigte. Und an die Abende zuvor, an die immer gleich verlaufenen Treffen mit Gebietsleitern, mit denen er über die immer gleichen Themen hatte sprechen müssen, die er auf die gleiche schamlose Weise angelogen hatte. Und denen er, im Widerspruch zu den warmen Worten, mit deren Hilfe er Santos gerade unter Druck zu setzen versucht hatte, ohne Ausnahme wegen leicht nachlassender bis stark abfallender Umsätze beim ehemaligen Kassenschlager Squeeze die Hölle hatte heiß machen müssen.
»Wem sagen Sie das?«, nahm er Bezug auf die letzte Einlassung des Gebietsleiters. »Aber das ist bei Weitem noch nicht alles an guten Nachrichten, die ich für Sie habe.«
»Ja?«
»Wir haben uns entschlossen, Sie in die engere Auswahl für die demnächst anstehende Neuschaffung der Stelle des stellvertretenden Verkaufsleiters Westdeutschland einzubeziehen, Herr Santos.«
Das Gesicht des Mannes hellte sich auf. »Wow, damit hätte ich nun auf keinen Fall gerechnet. Auf gar keinen Fall.«
»Es ist, wie gesagt, noch nichts spruchreif, aber ich kann Ihnen sagen, dass ich mich mehr als überdeutlich für Sie auf dem Posten ausgesprochen habe.«
Die Bedienung kehrte zurück und stellte ein Tablett auf dem Tisch ab, weshalb Koller kurz unterbrach.
»Allerdings muss ich Sie bitten«, fuhr er fort, nachdem sie die Getränke serviert hatte und gegangen war, »sich mit jeglichen Aussagen über diese Causa zurückzuhalten. Sie würden definitiv Ihre Position schwächen und zwar maximal, wenn bis zur endgültigen Bestätigung durch den Vorstand etwas von meiner Präferenz für Sie nach außen dringen sollte.«
»Sie können sich voll und ganz auf mich verlassen, Herr Koller, von mir wird hundertprozentig niemand auch nur eine Silbe erfahren«, sagte der Mann mit spanischem Migrationshintergrund.
»Gut.«
Auch in dieser Sache hatte Koller seinen Mitarbeiter nach Strich und Faden belogen, denn erstens gab es diese Stelle des stellvertretenden Verkaufsleiters Westdeutschland nicht und zweitens war auch nicht daran gedacht, eine solche zu schaffen. Und wenn Julio Santos sich mit seinen Kollegen der anderen Gebiete kurzgeschlossen hätte, wäre ihm gesagt worden, dass Sebastian Koller während der letzten Wochen den Posten elf weiteren Mitarbeitern unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit angeboten oder versprochen hatte.
»Natürlich wäre diese Stelle mit einer deutlichen Anhebung Ihrer Bezüge verbunden, Herr Santos. Was, wie ich mir denke, Ihnen in Ihrer derzeitigen Situation sicher entgegenkommt.«
»Ja, das wäre wirklich ein perfekter Zeitpunkt. Meine Frau kann wegen unserer Drillinge in der nächsten Zeit nicht mitarbeiten und was drei Kinder für Kosten verursachen, muss ich Ihnen ja nicht erklären.«
»Na ja, meine beiden sind ja zum Glück schon aus dem Haus, aber Sie haben durchaus recht. Ich kann mich noch gut erinnern, auf was meine Frau und ich alles verzichten mussten.«
Koller kam noch einmal auf die nach seiner Meinung zu weit abgesunkenen Umsätze des Gebietsleiters zurück, der jedoch außer weitschweifenden Entschuldigungen und neuerlichen Hinweisen auf die in der Gesamtbevölkerung sinkende Akzeptanz von Pestiziden – vor allem von glyphosathaltigen – nichts wirklich Relevantes vorzutragen hatte. Nach der vorzüglichen Mahlzeit und einem Espresso beendeten die beiden Männer ihr Arbeitsessen und verabschiedeten sich voneinander.
Sebastian Koller blieb unter dem Vorwand, noch einmal auf die Toilette zu müssen, im Restaurant sitzen, nahm direkt, nachdem sein Mitarbeiter gegangen war, Block und Stift zur Hand und machte sich etwa zehn Minuten lang Notizen zu dem vorangegangenen Gespräch. Dann stand auch er auf, packte seine Sachen zusammen, verließ das Restaurant und atmete vor der Tür ein paar Mal tief durch.
Der 51-jährige Mann, der jedes Jahr mindestens drei Marathons lief und noch nicht einen davon hatte vorzeitig abbrechen müssen, genoss jeden Meter zu Fuß wie ein Geschenk. Dabei dachte er in diesem Moment darüber nach, sich im Hotel noch einmal die Laufschuhe anzuziehen und eine Stunde joggen zu gehen, um sich den Stress des Tages aus den Knochen und Muskeln zu schütteln. Mit Blick auf seine Armbanduhr ließ er es jedoch sein. Auch der Versuchung, der Spielbank einen Besuch abzustatten, widerstand er, weil er wusste, dass er online viel diskreter und losgelöster von anderen Menschen noch eine Partie würde spielen können. Vergnügt und ohne jeglichen Gedanken an Julio Santos oder das gerade zu Ende gegangene Gespräch mit ihm drehte er sich um und machte sich auf den Weg zum Hotel.
Während er auf die Wilhelmshöher Allee einbog, durchzuckte ihn der Gedanke an die dringend notwendigen Umstrukturierungen, die er in seinem Geschäftsfeld durchzuführen hatte und in deren Konsequenz er auch auf Santos’ Dienste würde verzichten müssen. Ohne die geringsten Zweifel an der Richtigkeit seiner Pläne setzte er seinen Weg fort und hatte gerade das Gelände eines großen Autohauses hinter sich gelassen. Er wunderte sich ein wenig, als er in der Parkreihe einen älteren, heruntergekommen aussehenden weißen Lieferwagen mit offen stehender Seitentür wahrnahm.
Vermutlich ausgestiegen, die Fahrertür abgeschlossen und den Rest einfach vergessen, dachte er ein wenig belustigt und warf im Gehen einen Blick in den Innenraum. Wenigstens gibt es nichts zu klauen, fiel ihm beim Anblick der nackten Blechwände ein und wieder umspielte ein angedeutetes Lächeln seine Mundwinkel. Doch im gleichen Augenblick wurde sein gesamter Körper von einem unfassbar intensiven Schmerz erfasst. Koller wollte einen Schrei ausstoßen, doch aus seinem Mund löste sich nur ein brabbelndes, gedämpftes Stöhnen. Für eine Zehntelsekunde dachte er, er habe einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt erlitten, doch dann nahm er hinter sich ein leichtes Schnaufen wahr und zwei starke Hände umklammerten seinen Brustkorb. Koller drohte auf den Boden zu sinken, weil seine Beine einknickten, doch der Griff des hinter ihm Stehenden verhinderte das. Nahezu im gleichen Moment wurde er umgedreht, ein wenig angehoben und zu der offen stehenden Schiebetür gezogen. Keine fünf Sekunden später lag sein bewegungsunfähiger Körper auf dem kalten Blech des Lieferwagens. Nachdem seine Beine nach innen geschoben worden waren, flog die Tür zu.
Koller versuchte erneut zu schreien, doch kein Ton kam über seine Lippen, es wollte ihm einfach nicht gelingen. Und zu seinem Entsetzen nahm er auch noch wahr, dass sich jemand über ihm zu schaffen machte.
Was ist denn das für ein Gestank? Mein Gott, das riecht ja wie … Äther …
Lenz war gegen halb sieben aufgewacht und saß nach einer ausgiebigen Dusche mit Maria am Frühstückstisch.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass wir vor noch nicht einmal drei Wochen auf Hawaii gesessen und Cocktails geschlürft haben«, sagte er lächelnd.
»War aber so«, antwortete sie über das ganze Gesicht grinsend.
»Und es war absolut aufregend, finde ich.«
»Ja, das hatte was. Aber noch mal brauche ich es wirklich nicht, dazu war es dann doch nicht aufregend genug.«
»Ich will auch erst mal nicht wieder hin, aber das macht ja nichts, es gibt noch so viele schöne Ecken auf der Welt, die wir noch nicht gesehen haben.«
Er nickte, küsste sie sanft auf den Mund und stand auf. »Ich mache mich los. Thilo will auch früh da sein, wir haben einen Termin bei Herbert.«
»Irgendwas Bedeutendes?«
»Nein, es geht um die Seminarplanung für das kommende Jahr. Wir sind angehalten, mindestens vier Seminare zu belegen, und offenbar hat er mitbekommen, dass wir das dieses Jahr doch ziemlich schleifen gelassen haben.«
»Na, dann such dir mal ein paar schöne Themen aus, die du auch im Privatleben umsetzen kannst, mein Lieber.«
Lenz, dessen Abneigung gegen diese Veranstaltungen legendär war, schnaufte tief durch. »Ich werde sehen, was ich für dich tun kann, Maria, aber erwarte bitte nicht zu viel. Bisher waren all diese Tage eher für die Katz statt ein Erkenntnisgewinn.«
Sie stand ebenfalls auf und brachte ihn zur Tür. »Ich werde für heute Abend ein paar Sachen einkaufen, ich habe Lust auf eine Grillpartie. Wie steht’s mit dir?«
»Klasse, das hört sich gut an.«
»Irgendwelche besonderen Wünsche?«
Er sah ihr tief in die Augen. »Einen reizvollen BH, Strapse und darüber das kleine schwarze Top, das wir letztes Jahr gekauft haben.«
»Und essenstechnisch?«
»Das ist mir ziemlich egal. Du weißt, was das angeht, bin ich nicht ganz so anspruchsvoll.«
Sie kicherte wie ein Schulmädchen, während sie ihn zum Abschied küsste.
»Gut. Ich werde sehen, was ich für dich tun kann.« Damit schob sie ihn hinaus und ließ die Tür hinter ihm ins Schloss fallen.
Lenz überlegte, ob er mit dem Auto oder den Öffentlichen fahren sollte, entschied sich für den Wagen und betrat eine knappe Viertelstunde später das Präsidium. Noch immer bedrückte ihn der Verlust seines Freundes und Kollegen Uwe Wagner, bei dem er morgens immer auf einen Kaffee vorbeigeschaut hatte. Lenz fragte sich, wie lang diese Phase wohl noch anhalten würde. Im Büro, das er und Thilo nach einer Umstrukturierung nun gemeinsam nutzten, war sein Kollege gerade dabei, eine Kaffeemaschine einzuschalten.
»Was wird das denn?«, wollte Lenz nach einer knappen Begrüßung wissen.
Hain schaute kurz auf und fuhr dann mit seiner Arbeit fort. »Jeden verdammten Morgen, wenn ich das Präsidium betrete, muss ich an Uwe denken. An den feinen Menschen Uwe, an den Nörgler Uwe und an den Spaßvogel Uwe. Und natürlich auch an den Kaffeegourmet Uwe, der uns so manchen Morgen mit seiner überragend zubereiteten Brühe gerettet hat. Und jedes Mal überkommt mich dermaßen eine Wehmut, dass es mir fast die Tränen in die Augen treibt, Paul. Also hab ich beschlossen, zunächst mal die Kaffeefrage zu klären, der Rest muss dann irgendwie mit der Zeit kommen.«
Lenz war gerührt, dass sein Freund und Kollege ganz ähnlich fühlte wie er. »Klasse Idee, wirklich. Aber wenn Uwe dieses Maschinchen sehen würde, hätte er vermutlich seinen Spaß.«
Hain stöhnte auf. »Ich weiß, dass dieses Ding hier keinesfalls mit Uwes High-Tech-Protzmaschine mithalten kann, aber darum geht es vielleicht auch gar nicht. Ich will einfach den Gedanken aus dem Kopf kriegen, dass ›Morgen‹ und ›Kaffee‹ automatisch zu Uwe Wagner führt.«
»Wie gesagt, da bin ich ganz bei dir. Hast du schon Kaffeepulver besorgt?«
Der Oberkommissar wies auf seinen Rucksack. »Klar. Ich war extra gestern Abend noch in so einer kleinen Rösterei in der Stadt und hab mich beraten lassen. Fast 20 Euro das Kilo, aber der Typ meinte, dass man den Unterschied wirklich schmecken würde.«
»Da bin ich aber gespannt.«
Das kurz darauf zur Verfügung stehende Produkt konnte zwar nicht ganz mit Wagners vergangener Kaffeequalität mithalten, für einen Präsidiumsaufguss war die schwarze Brühe jedoch wirklich vorzüglich.
»Wann sollen wir bei Herbert sein?«, wollte Hain nach einem kräftigen Schluck wissen.
Lenz setzte seine Tasse ab, sah auf die Uhr und wollte etwas erwidern, stoppte jedoch, weil das Telefon auf dem Schreibtisch zu summen anfing.
»Du oder ich?«, fragte er seinen Kollegen.
»Mir egal«, meinte er, griff nach dem Hörer, meldete sich und lauschte eine Weile.
»Aber das ist doch gar nicht unser Metier, Herbert«, brummte Thilo ein wenig gereizt. »Und seit gestern Abend, das erfüllt null Komma null die Kriterien an eine vernünftige Vermisstensache. Vielleicht hat der Typ einfach nur eine geile Tussi aufgerissen und liegt jetzt sexuell völlig erschöpft und dazu maximal dehydriert auf ihrem Laken rum.«
Wieder ein paar Sekunden des Zuhörens.
»Ja, ist gut, wir kümmern uns drum. Und was wird aus unserem Termin heute Morgen?« Der junge Polizist machte eine Grimasse, bei dessen Anblick Lenz froh war, dass es bei der hessischen Polizei noch kein Telefon mit Bildübertragung gab.
»Ja, klar«, bestätigte Hain kurz darauf zackig und machte sich ein paar Notizen. »Wir melden uns, sobald wir wieder hier sind. Bis dann.« Damit warf er den Hörer zurück auf das Telefon.
»Was gibt’s?«, wollte Lenz wissen.
»Eine Frau aus Düsseldorf hat sich bei uns gemeldet und ihren Mann als vermisst gemeldet. Er ist hier in Kassel und hat gestern Abend zuletzt mit ihr telefoniert. Wollte sich angeblich, wie immer, wenn er unterwegs ist, vor dem Schlafengehen noch mal bei ihr melden, was wohl nicht passiert ist, und das regt die Gute fürchterlich auf. Und die vom Stapleton sagen, dass er die Nacht nicht auf seinem Hotelzimmer war.«
»Der ist im Stapleton abgestiegen? Lässt es ja krachen, der Mann.«
»Ach was, die bieten mittlerweile auch schon Last-Minute-Buden an, verguck dich da mal nicht. Luxushotel und Kassel, das wird vermutlich nie zusammenpassen.«
»Und was sollen wir jetzt unternehmen?«
»Herbert meint, wir könnten uns wenigstens mal da oben blicken lassen und so tun, als wäre die Sache wichtig.«
»Und warum ausgerechnet wir? Du hast ihm doch gesagt, dass wir damit nichts zu tun haben. Außerdem weiß er das doch ganz genau.«
»Ja, aber er hat es quasi als Amtshilfebitte verpackt. Die Kollegen sind alle furchtbar überlastet, sagt er, und wir hätten zurzeit ja gerade ein bisschen Leerlauf.«
Lenz war geneigt, sich ein wenig zu echauffieren, unterließ es jedoch in der Gewissheit, dass es nichts geändert hätte.
»Dann also los, lass uns in die Höhle des Reichtums und der kapitalistischen Wohnraumverschwendung aufbrechen.«
Das Stapleton-Hotel im Kasseler Stadtteil Wilhelmshöhe war etwa zwei Jahre zuvor mit viel lokaler Prominenz und etlichen Flaschen Champagner eröffnet worden. Offenbar waren einige Entscheider aus der Hotelbranche der Meinung gewesen, dass, nachdem Kassel ein paar Jahre zuvor den Status des Weltkulturerbes zugesprochen bekommen hatte und die Documenta-Monate überaus ertragreich waren, Nordhessen eine Luxusherberge benötigte. Zwar hatten einige Zeitungen über eine mangelnde Auslastung berichtet, dem Glanz und dem Ambiente des mit viel Glas und sehr modern gestalteten Neubaus hatte das bisher jedoch nicht geschadet.
Hain stellte den offenen Mazda direkt neben der Auffahrt und dem sich daran anschließenden Eingangsbereich ab und sah nach oben.
»Geile Architektur ist das schon, da kannst du sagen, was du willst.«
»Aber ich widerspreche dir doch gar nicht«, entgegnete sein Boss. »Wenn ich die Kohle hätte, würde ich vielleicht sogar auch in so einem Bunker absteigen.«
Sie gingen zum mit kühlem Granit gestalteten Eingang und landeten kurz darauf an einer geschwungenen Theke, hinter der zwei blau gekleidete Frauen an Terminals saßen, von denen eine sofort aufsprang.
»Guten Tag, meine Herren, willkommen im Stapleton Kassel. Was kann ich für Sie tun?«
Hain hielt ihr seinen Ausweis unter die Nase. »Wir sind von der Polizei und auf der Suche nach einem gewissen …« Er kramte nach dem Zettel, den er während des Telefonats mit Kriminalrat Schiller vollgekritzelt hatte. »Sebastian Koller. Er ist Gast bei Ihnen, wie man uns mitgeteilt hat.«
Sie sah ihn besorgt an und nickte. »Einen Moment bitte, ich schaue mal nach.«
Lenz trat neben seinen Kollegen und sah ihr dabei zu, wie sie ein wenig nervös auf der Tastatur herumhackte.
»Ich hoffe, es ist nichts passiert«, murmelte sie leise, beugte sich dann hoch und nickte.
»Ja, Herr Koller ist Gast in unserem Haus.«
»Ist er auf seinem Zimmer?«, wollte der Hauptkommissar wissen.
Ihr Blick fiel wieder auf den Monitor. »Nein, wie es aussieht, nicht, aber sicher kann ich es Ihnen nicht sagen. Wir kontrollieren die An- oder Abwesenheit unserer Gäste nicht.«
»Aber Sie meinen schon, dass er nicht auf dem Zimmer ist.«
»Zumindest ist seine Zimmerkarte nicht in dem Lesegerät eingesteckt, das die Komfortfunktionen seiner Suite freigibt.«
»Was aber auch dadurch bedingt sein könnte«, hakte Hain nach, »dass er einfach tief und fest schlummert und Gott einen guten Mann sein lässt.«
»Das könnte durchaus so sein, ja.«
»Wann wird sein Zimmer, oder besser seine Suite normalerweise gereinigt?«
Sie warf einen kurzen Blick auf die Uhr am Monitor.
»Innerhalb der nächsten Stunde.«
»Meinen Sie, wir könnten einen kurzen Blick hineinwerfen?«
Sie zögerte. »Da bin ich mir jetzt nicht ganz sicher, meine Herren. Können Sie mir vielleicht sagen, worum es geht?«
Lenz berichtete ihr mit kurzen Worten von dem Anruf im Präsidium.
»Vermutlich ist gar nichts Schlimmes passiert, aber seine Frau macht sich halt so furchtbare Sorgen, weil er sich nicht bei ihr gemeldet hat. Das verstehen Sie doch sicher?«
»Aber natürlich verstehe ich das«, erwiderte sie deutlich erleichtert. »Und auch ich bin sicher, dass es dafür vermutlich eine ganz banale Erklärung gibt.« Sie trat zu ihrer Kollegin, flüsterte ihr etwas ins Ohr, zog eine kleine weiße Karte aus einer Schublade und kam um die Theke herum. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen«, sagte sie und ging auf einen der Fahrstühle zu.
»Haben Sie viele Suiten?«, wollte Hain während der Fahrt in den sechsten Stock wissen.
»Ein Viertel etwa. Allerdings sind unsere Zimmer generell eher großzügig geschnitten, deshalb empfinden es viele unserer Gäste nicht als notwendig, unbedingt eine Suite buchen zu müssen.«
Der Lift bremste ab und kam völlig lautlos zum Stehen. Die Frau betrat den Flur und bat die Kommissare erneut, ihr zu folgen. Schließlich stoppte sie vor einer Tür, neben der ein auf Hochglanz poliertes silbernes Schild mit der Gravur Excelsior-Suite angebracht war. Die Hotelmitarbeiterin legte ein Ohr an die Tür und horchte, schüttelte jedoch den Kopf und drückte auf einen kleinen, auf der anderen Seite der anthrazitfarbenen Tür angebrachten Klingelknopf.
»Eine Klingel im Hotel«, sinnierte Lenz anerkennend.
»Ja, alle unsere Suiten sind damit ausgestattet.« Sie wartete ein paar Sekunden und drückte erneut auf den kleinen silbernen Punkt. Als sich nach etwa einer halben Minute auf der anderen Seite nichts rührte, schob sie ihre Karte in den dafür vorgesehenen Schlitz. Es gab ein dezentes Klacken am Schloss, sie zog die Karte heraus, drückte die Klinke herunter und öffnete langsam die Tür.
»Hallo?«, rief sie leise in die Dunkelheit des sich anschließenden Flurs. »Hallo, Herr Koller? Hier ist Helena Junkers von der Hotelrezeption. Sind Sie anwesend?«
Keine Antwort.
Sie drückte die Tür weiter auf, woraufhin ein Bewegungsmelder das Licht einschaltete, und betrat vorsichtig den Flur.
»Hallo. Herr Koller?«
Von dem kleinen, aus dunkelgrauem Sichtbeton erstellten Vorraum gingen vier Türen ab.
»Das ist ja wie eine kleine Wohnung hier«, stellte Hain verblüfft fest.
»In diesem konkreten Fall eher eine größere«, erwiderte sie leise, strebte auf die gegenüberliegende Tür zu und öffnete sie behutsam. »Herr Koller?«
Nachdem sie wieder keine Antwort bekam, betrat sie den Raum, sah sich kurz um und bedeutete den Polizisten, ihr zu folgen.
»Wow«, entfuhr es Lenz nach einer ersten Rundumsicht in die hypermodern gestylte Suite. »Das ist wirklich eine eher größere Wohnung.«
Das Zimmer, in dem sie standen, hatte vermutlich mehr als 50 Quadratmeter. Hinter einer offen stehenden, doppelflügeligen Glastür erkannte er das Schlafzimmer.
»Herr Koller?«, rief die Hotelfrau nun laut und fordernd. »Sind Sie anwesend?«
»Sieht aus, als wäre er das nicht«, meinte Hain lächelnd, ging ins Schlafzimmer und deutete auf das benutzte Bett. »Aber es steht immerhin zu vermuten, dass er die Nacht hier verbracht hat.«
Er griff nach der Bettdecke, riss sie hoch und untersuchte das Laken oberflächlich. Dann sah er seinen Boss an und schüttelte dabei nahezu unmerklich den Kopf.
»Wenn Herr Koller wirklich hier übernachtet hat«, meinte die Frau, »dann muss er vor sechs Uhr heute Morgen das Haus verlassen haben, weil ich genau um diese Uhrzeit meinen Dienst angetreten habe. Und ich habe nicht gesehen, dass er gegangen ist.«
»Über die Tiefgarage vielleicht?«
»Wir haben keine Tiefgarage«, erklärt sie ihm. »Alle unsere Parkplätze sind ebenerdig.«
»Ach, das ist ja interessant, Frau …?«
»Junkers. Helena Junkers.«
»Ja, Frau Junkers, für mich klingt das schon außergewöhnlich.«
»Dazu kann ich Ihnen eigentlich gar nichts sagen, ich weiß nur, dass es wohl irgendwelche Probleme mit dem Untergrund gegeben hat und man sich deswegen seinerzeit für die oberirdische Parkhauslösung hinter dem Hotel entscheiden musste.« Sie lächelte vorsichtig.
»Was für Sie in der jetzigen Situation den Vorteil hat, dass wirklich jeder Gast, der das Hotel verlassen will, an der Rezeption vorbeimuss. Oder zumindest durch die Halle, aber dabei bleibt man in der Regel nicht ungesehen.«
»Und wenn er vor Ihrem Dienstbeginn das Hotel verlassen hat?«
»Danach kann ich meinen Kollegen der Nachtschicht fragen. Ich vermute zwar, dass der jetzt schläft, aber wenn es für Sie von so großer Bedeutung ist, würde ich ihn versuchen zu wecken.«
»Darüber können wir später immer noch entscheiden«, meinte Lenz, trat in den Flur, öffnete das rechts liegende Ankleidezimmer und sah hinein. »Drei Anzüge, vier Hemden, zwei Paar Schuhe und jede Menge Kleinkram. Abgereist sieht anders aus.«
»Nein, abgereist ist Herr Koller gewiss nicht«, wurde er von Frau Junkers belehrt. »Oder vielleicht sollte ich einschränkend sagen, dass er zumindest nicht ausgecheckt hat.«
»Hier im Bad sieht auch alles nach einem eher gepflegten Hotelaufenthalt aus«, meinte Hain. »Zumindest ist alles vorhanden, was ein Mann von Welt so braucht.«
Lenz trat zurück in den Flur und untersuchte die anderen Nebenräume. Auch dort deutete alles darauf hin, dass Koller Kassel noch nicht verlassen hatte.
»Gut, dann wären wir hier drinnen so weit«, erklärte Lenz der Frau und blickte auf die Tür. »Gibt es ein Computerprogramm, das sich merkt, wann eine Öffnungskarte in eines der elektronischen Schlösser gesteckt wird?«, wollte er von Helena Junkers wissen.
Sie zögerte. »Also eigentlich …«
Pause.
»Ja, Frau Junkers?«
»Soweit ich weiß, gibt es etwas Derartiges nicht bei uns, aber ich bin auch gar nicht befugt, darüber mit Ihnen zu sprechen.«
Lenz und sein Kollege sahen sich irritiert an.
»Ja, was denn nun? Gibt es das nicht, oder dürfen Sie nicht mit uns darüber sprechen?«