zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie
an der
Philosophischen Fakultät
der
Technischen Universität Dresden
vorgelegt von
Katja Schumann
geb. am 09.08.1977 in Dresden
Betreuer: Prof. Dr. Henrik Karge, Technische Universität Dresden
Prof. Dr. Ulrich Keller, University of California, Santa Barbara
Gutachter: Prof. Dr. Henrik Karge, Technische Universität Dresden
Prof. Dr. Ulrich Keller, University of California, Santa Barbara
Umschlagsabbildungen:
Madame d’Ora: Nicola Perscheid,
Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Inv.-Nr. 203468-D.
Atelierstempel Nicola Perscheid,
Privatsammlung Schumann.
Bibliographische Informationen der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiographie; detaillierte biographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Bibliographic Information published by the Deutsche Bibliothek
The Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbiographie; detailed biographic data is available in the internet at www.dnb.de abrufbar.
Zugl.: Dresden, Techn. Univ., Diss., 2014
Die vorliegende Arbeit stimmt mit dem Original der Dissertation „Nicola Perscheid (1864 – 1930). Werkübersucht und Detailforschung zu einem Künstlerfotografen.“ von Katja Schumann überein.
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
© 2016
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Gesetzt von Stefan und Katja Schumann
Einbandgestaltung: Katja Schumann
ISBN 9783743186408
Grundlage für diese Doktorarbeit bildete die 2003 an der Technischen Universität Dresden vorgelegte Magisterarbeit „Nicola Perscheid (1864–1930). Forschungen zu einem Berufsphotographen im Kontext der Kunstphotographie um 1900“.1 Darin konnten nach aufwendigem Quellenstudium einige wesentliche Erkenntnisse zum Lebenswerk des Fotografen gewonnen und eine Bestandsanalyse erarbeitet werden. Umfang und Forschungsaufwand geschuldet, war es jedoch weder möglich auf die zahlreich erhaltenen Fotografien von Perscheid ausführlicher einzugehen noch eine befriedigende theoretische Abhandlung der Aufnahmen vorzunehmen.
Das inzwischen vorliegende erweiterte Quellenmaterial und die mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) im Sommer 2007 realisierten Forschungsaufenthalte in Schweden, Norwegen und Dänemark, führten zu einer Weiterbearbeitung des Themenkomplexes. Hilfreich war dabei auch das Stipendium Scientist in Residence in Salzburg im Herbst 2007, mit dem die Archivforschungen in Österreich intensiviert werden konnten. Von universitärer Seite betreut, haben Prof. Dr. Henrik Karge (Technische Universität Dresden) und Prof. Dr. Ulrich Keller (University of California) diese Arbeit. Ihnen danke ich für die Unterstützung und Bestärkung, die Studie monografisch auszurichten und damit innerhalb der Fotografiegeschichte eine wissenschaftlich fundierte Detailforschung vorlegen zu können.
Da sich von Nicola Perscheid kein Nachlass erhalten hat, glich die Quellensuche dem Zusammentragen kleinster Mosaiksteinchen. Mein Dank geht deshalb an alle Diejenigen, die mich auf weitere Spuren und Anhaltspunkte aufmerksam und Archivgut und Originale zugänglich gemacht haben. Dazu gehören während meiner Skandinavienaufenthalte Anna Tellgren und Håkan Petersson vom Moderna Museet und Mariann Odelhall vom Stadsmuseum in Stockholm, Mogens S. Koch von der School of Conservation und Anne Dyhr von der Kongelige Bibliothek in Kopenhagen sowie Hanne Holm-Johnsen vom Preus-Museum im norwegischen Horten. In Österreich danke ich Monika Faber und Astrid Mahler von der Albertina in Wien, Martin Hochleitner vom Oberösterreichischen Landesmuseum im Linz und dem Fotohistoriker Timm Starl. Größtenteils bislang unpublizierte Originalaufnahmen stellten mir die Privatsammlungen Adam, Bäsig, Kahle, Kemper, Lohss, Ludwig, Rohde-Enslin und Ruminski aus Deutschland sowie Hackl aus Österreich und Östlind aus Schweden zur Verfügung. Für die Archivaliensuche danke ich Wolfgang Wimmer vom Carl Zeiss Archiv in Jena ebenso wie Walter Molsberger vom Industriearchiv Höchst der HistoCom GmbH in Frankfurt am Main. Renate Hartleb danke ich für den Hinweis auf handschriftliche Quellen und Melanie Meier mir für die Entzifferung schwer leserlicher Passagen. Für den Hinweis auf die HathiTrust Digital Library, die zahlreiche seitengenaue Digitalisate zur Verfügung stellt, danke ich Herrn Lars Rebehn, Konservator der Puppentheatersammlung an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Die Übersetzung der japanischen Biografie Toragoro Arigas fertigte Satoshi Nakamura an. Für die Hinweise zur Genealogieforschung der Familie Perscheid danke ich Herrn Michael Schlicht, der mich auf die Datenbank der Mormonen aufmerksam machte, und Herrn Wolfgang Perscheid, der das GedBas-Datenblatt erstellte und sich weiterführend mit dem etymologischen Hintergrund des Familiennamens beschäftigte. Neben diesen Kontakten hat aber erst die persönliche Arbeit an den fotografischen Originalen die wissenschaftliche Auswertung möglich gemacht. Ich danke daher den musealen Sammlungsmitarbeitern der bereits genannten Institutionen sowie der Berlinischen Galerie, dem Deutschen Museum München, dem Museum der bildenden Künste in Leipzig, dem Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, der Sammlung Fotografie im Münchner Stadtmuseum, den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und dem Stadtarchiv Naumburg.
Dem Fotohistoriker Wolfgang Hesse gilt mein ausdrücklicher Dank, da er mich gelehrt hat, Fotografie(n) zu hinterfragen und nicht nur mit den Augen eines Kunsthistorikers zu sehen. Gewidmet ist die Arbeit meinen Eltern, Margit und Peter Schumann, die mir das geisteswissenschaftliche Studium ermöglichten und in ihrer Rolle als Großeltern meiner beiden während der Promotionszeit geborenen Kinder die Fertigstellung dieser Doktorarbeit aktiv unterstützten. Meinem Manne, Stefan Schumann, danke ich für das gewissenhafte Redigieren des Textes und die beständige Motivation, meine wissenschaftliche Laufbahn mit dem Familienleben zu vereinbaren.
Katja Schumann
1 Vgl. Schumann 2003.
„Mein Lehrer war Nicola Perscheid. Diesen Namen hören manche vielleicht das erste Mal, andere hatten ihn wohl schon vergessen, wenige werden noch wissen, wer das war [...]“ Arthur Benda (1885–1969)
Die vorliegende Monografie fokussiert auf vier Jahrzehnte deutsche Atelierfotografie zwischen 1890 und 1930. Obwohl die Fotografie ex termini als serielles Medium aufzufassen ist, steht hier das Einzelbild als autonomes Kunstwerk im Mittelpunkt, da Nicola Perscheid (1864–1930) seine Aufnahmen als Unikate einstufte. Dabei wird der zeitgenössischen Zuschreibungen gefolgt, die Nicola Perscheid als „Künstlerfotograf“ definierten.2 Die Werkübersicht zu diesem Berufsfotografen führt in die Zeit des Deutschen Kaiserreiches und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bis in die Weimarer Republik. Nahezu unberührt vom Wechsel der politischen Systeme und der Weiterentwicklung der fotografischen Bildsprache lichtete Perscheid die obere Gesellschaftsschicht ab und schuf damit ein Kaleidoskop der Aristokratie und des Bürgertums seiner Epoche.
Die Dissertation thematisiert erstmals umfassend das fotografische Werk sowie die Lebens- und Wirkungsgeschichte von Nicola Perscheid, der Anfang des 20. Jahrhunderts zu den bekanntesten Fotografen in Deutschland gehörte. Als Berufsfotograf entwickelte er sein ästhetisches Formgefühl vor der Jahrhundertwende in der kunstfotografischen Bewegung. Ausgangspunkt für die Stilrichtung der Kunstfotografie, die in Anlehnung an die englischsprachige Bezeichnung auch als Piktoralismus bezeichnet wird, bildete die universelle Ablehnung der normierten Atelierfotografie des 19. Jahrhunderts.3 Vor allem ambitionierte Amateure sahen in deren bezüglich Personeninszenierung, Atelierausstattung, Bildstil und Formaten weitgehend standardisierten Aufnahmen eine Diskrepanz zu ihrem Kunstanspruch an das Medium Fotografie. Sie versuchten, durch die Verwendung verschiedener Edeldruckverfahren Bildstrukturen und Unikate zu erzeugen, die den traditionellen künstlerischen Techniken, wie beispielsweise Malerei und Zeichnung, möglichst nahe kamen, um die Fotografie als künstlerisches Medium zu legitimieren.
Nicola Perscheid entwickelte in diesem Kontext einen eigenen Stil, in dem er die gehobene Gesellschaftsschicht porträtierte. In seinen bildmäßigen Porträtfotografien finden sich Analogien zu den Gemälden bekannter Maler wie Diego Rodríguez de Silva y Velázquez (1599–1660) oder dem Zeitgenossen des Fotografen James Abbott McNeill Whistler (1834–1903). Diese Imitatio Artis, die Nachahmung von Kunstwerken, blieb zeitlebens für den Stil der Porträtfotografie Nicola Perscheids bestimmend. Die konzeptionelle, an den Werken der bildenden Kunst geschulte Auffassung des Berufsfotografen fand vor allem im deutschsprachigen Raum höchste Anerkennung. Die Wiener „K. u. K. Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproduktionsverfahren“ berief Nicola Perscheid beispielsweise 1909 als Professor für Porträtfotografie.4 In den darauf folgenden Jahren können mehrere kürzere Lehrtätigkeiten im skandinavischen Raum nachgewiesen werden. Perscheid beschäftigte sich außerdem mit fotochemischen und fototechnischen Weiterentwicklungen, wie dem heute seltenen und unter Fotografica-Sammlern hoch geschätzten Nicola-Perscheid-Objektiv.5 Der Nachlass des Fotografen wurde 1943 durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges vernichtet. In einigen Privatsammlungen, musealen Archiven und Bildagenturen lagern jedoch größere Konvolute Perscheidscher Fotografien, die bislang nur marginal bearbeitet wurden. Diese umfangreichen Bestände und die Signifikanz seiner Werke für die Mediengeschichte der Fotografie rechtfertigt die monografische Ausrichtung dieser Arbeit über einen Fotografen, in dessen Nachruf es hieß: „Nicola Perscheid, bedeutendster Lichtbildner unserer Zeit, der aus dem Photographenhandwerk eine Lichtbildkunst gemacht hat.“6
Die spärliche wissenschaftliche Forschungsliteratur führte dazu, dass Perscheid nicht grundsätzlich in fotografischen Lexika und Überblickswerken verzeichnet ist, obwohl er, nicht nur im Kontext der Kunstfotografie, durchaus zum Kanon der Fotografiegeschichte gezählt werden sollte.7 Zu den frühesten Einträgen in Lexika und Enzyklopädien gehört das ab 1905 durch den Leipziger Verleger Herrmann August Ludwig Degener (1874–1943) jährlich herausgegebene, weitverbreitete biografische Handbuch „Wer ist’s?“, in dem die bedeutendsten Zeitgenossen alphabetisch verzeichnet wurden. Perscheid erscheint in diesem Kompendium als Fotograf und Inhaber eines Ateliers für bildmäßige Fotografie mit knappen biografischen Notizen.8 Deutlich ausführlicher waren die Angaben über ihn im „Deutschen Zeitgenossenlexikon“ aus dem gleichen Jahr.9 1910 erschien sein Name im „Lexikon für Photographie und Reproduktionstechnik“.10 Nach 1945 wurden in Deutschland Informationen zu Nicola Perscheid als lexikalischer Beitrag im „Lexikon der Fotografen“ und in der „Neuen deutschen Biographie“ publiziert.11 In internationalen Enzyklopädien hingegen fand Perscheid relativ selten mit biografischen und bibliografischen Einzeldarstellungen Beachtung. Eine Ausnahme bildete die 1985 in der Schweiz veröffentlichte „Encyclopédie internationale des photographes de 1839 à nos jours“.12 Der 2005 in Österreich verlegte Katalog „Portrait im Aufbruch. Photographie in Deutschland und Österreich 1900–1938.“ würdigte Nicola Perscheid ebenso mit einem lexikalischen Eintrag, wie der Bestandskatalog zur Fotografie von 1839 bis 1945 des Dresdner Kupferstich-Kabinetts.13
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Arbeiten Nicola Perscheids war im letzten Jahrhundert marginal, obwohl er bereits im Juli 1900 als „eine der markantesten Erscheinungen der jetzigen Photographengeneration“ bezeichnet worden war.14 Gleichzeitig erfolgte dabei die Aufforderung: „Wenn einmal eine Geschichte der künstlerischen Entwicklung der Berufsfotografie geschrieben wird, dann wird Perscheids Name nicht vergessen werden dürfen!“.15 In Vergessenheit geriet er allerdings bereits wenige Jahre nach seinem Tod. Durch die Auflösung des Ateliers kurz vor dem Ableben Perscheids existiert kein lokal konzentrierter Nachlass des Fotografen. Auftragsbücher und andere Quellen könnten sich zwar weiterhin im Besitz der Familie befunden haben, es ist aber anzunehmen, dass diese Materialien während des Zweiten Weltkrieges verloren gegangen sind, da die Witwe Perscheid 1943 in Berlin ausgebombt wurde und ihren Besitz vollständig verlor. Der Schüler und spätere Mitarbeiter Arthur Benda (1885–1969) erinnerte sich im Alter von über 80 Jahren:
„Mein Lehrer war Nicola Perscheid. Diesen Namen hören manche vielleicht das erste Mal, andere hatten ihn wohl schon vergessen, wenige werden noch wissen, wer das war; und der Nachwuchs des Berufes wird sich erinnern, daß dieser Name auf einem Objektiv steht nach welchem bei den Prüfungen gefragt werden könnte.“16
Bereits neun Jahre nach seinem Tod resümierte eine fotografische Fachzeitschrift:
„Um so mehr ist es zu bedauern, daß keine geschlossene Veröffentlichung, ja nicht einmal eine private Sammlung seiner Meisterarbeiten den jungen Lichtbildnern Gelegenheit zum Studium gibt.“17
1944 schrieb Wilhelm Schöppe, dass im Hinblick auf Nicola Perscheid aus seinem „überreichen Schaffen [...] nur noch klägliche Bruchstücke“ vorhanden seien.18 1964 versuchte der Privatsammler Willem Grütter (1901–1972), anlässlich des 100. Geburtstages von Nicola Perscheid eine Jubiläumsausstellung zu organisieren:
„Im kommenden Jahr ist nun der 100. Geburtstag von Nicola Perscheid. Ich bemühe mich schon, eine Gedächtnisausstellung irgendwo unterzubringen. Herr Rief in Worpswede ist nicht abgeneigt, eine Photo-Ausstellung in Worpswede zu organisieren - zumal Perscheid mehrere Worpsweder Künstler photographierte. Vorerst will ich aber noch mit Herrn Gruber persönlich verhandeln; auch noch mit Herrn Kempe aus Hamburg.“19
Seine Bemühungen führten im Jubiläumsjahr allerdings lediglich zu dem Aufsatz „Über Nicola Perscheid“ des Publizisten und Begründers der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh) L. Fritz Gruber (1908–2005) im „Foto-Magazin“, der mit Fotografien aus der Sammlung Grütter illustriert wurde.20 Im gleichen Jahr erwähnte Fritz Kempe (1909–1988), der von 1949 bis zu seinem Ruhestand 1974 die „Staatliche Landesbildstelle Hamburg“ als Direktor leitete, Nicola Perscheid in seinem Ausstellungskatalog zur Kunstfotografie in Deutschland, ohne jedoch näher auf dessen Arbeiten einzugehen.21 In der dazugehörigen Ausstellung wurden drei großformatige Fotografien aus dem Bestand des Kupferstich-Kabinetts Dresden gezeigt. Im Jahr darauf veröffentlichte Arthur Benda seine „Erinnerungen an Nicola Perscheid“ in der Zeitschrift „Foto-Prisma“.22
Die öffentliche Wahrnehmung des Fotografen änderte sich erst 50 Jahre nach Perscheids Tod, als das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe eine Ausstellung organisierte, in deren Mittelpunkt der Fotograf sowie seine beiden bedeutendsten Schüler, Arthur Benda und Dora Kallmus (1881–1963), standen. Begleitend erschien dazu 1980 der Ausstellungskatalog „Nicola Perscheid. Arthur Benda. Madame d’Ora“.23 Konzipiert wurden Ausstellung und Katalog von Fritz Kempe. Ebenfalls 1980 veröffentlichte der Sammler und Auktionator James E. Cornwall eine Publikation mit dem Titel „In vornehmen Kreisen. Nicola Perscheid“.24 Darin publizierte der Autor eine größere Anzahl bis dahin unveröffentlichter Porträt-Fotografien Perscheids aus der Sammlung von Klaus Rothe, die wenige Jahre später in den Besitz der Berlinischen Galerie überging.25 Sowohl Kempe als auch Cornwall trugen erstmals wesentliche Quellen und Archivalien zu Perscheid zusammen, beschränkten sich aber auf einen biografischen Abriss und Anekdoten.
Fast zehn Jahre später folgte die nächste größere Ausstellung. Das Landesmuseum Mainz ordnete Nicola Perscheid 1989 neben Theodor Hilsdorf (1868–1944) und Jacob Hilsdorf (1872–1916) sowie August Sander (1876–1964) der rheinland-pfälzischen Fotografiegeschichte zu, obwohl bei Perscheid bis auf seine Lehrzeit kein Bezug zu diesem Landstrich nachgewiesen werden kann.26 Da noch keine weiterführenden Aufsätze oder andere Publikationen zu Nicola Perscheid vorlagen, griff man auf den Katalogtext von Fritz Kempe aus dem Jahre 1980 zurück. Selbst zur Jahrtausendwende wurde dieser Aufsatz für das Heft „Fotokunst in Rheinland-Pfalz“ der Zeitschrift „Lebendiges Rheinland-Pfalz“ teilweise übernommen und neu publiziert.27
Die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Nicola Perscheid erschien im Jahr 2000, als Sabine Schnakenberg ihre Dissertation zu den beiden Perscheid-Schülern mit dem Titel „Dora Kallmus und Arthur Benda. Einblicke in die Arbeitsweise eines fotografischen Ateliers zwischen 1907 und 1938“ an der Universität Kiel vorlegte.28 Schnakenberg thematisierte nicht nur die Ateliersituationen bei Nicola Perscheid in Görlitz, Leipzig und Berlin, sondern ging erstmals auf die gestalterische Entwicklung der fotografischen Arbeiten ein. Ebenfalls im universitären Umfeld entstand kurz darauf meine eigene Arbeit zu Nicola Perscheid, mit der ich 2003 unter dem Titel „Nicola Perscheid (1864–1930). Forschungen zu einem Berufsphotographen im Kontext der Kunstphotographie um 1900“ mein Magisterstudium der Kunstgeschichte an der Technischen Universität Dresden abschloss.29 Der Vortrag für die Verleihung des Hermann-Krone-Preises 2004 für diese Abschlussarbeit wurde online publiziert und 2008 ausführlich im Katalogband zur Ausstellung zum fotografischen Atelier Riess in Berlin zitiert.30 2005 erschien in der Zeitschrift „Photo-Antiquaria.
Mitteilungen des Club Daguerre“ der Aufsatz „Nicola Perscheid (1864–1930). Die »bildmäßige Porträtphotographie« eines Berufsphotographen um 1900“, um auf diesem Weg mögliche weitere Privatsammler kontaktieren zu können, und im Ausstellungskatalog „Mensch! Photographien aus Dresdner Sammlungen“ der Beitrag „Imitatio Artis. Kunstphotographien von Nicola Perscheid“.31 Der im Dresdner Kupferstich-Kabinett aufbewahrte Gummidruck „Alte Bäuerin mit Tragekiepe am Wegesrand“ von Nicola Perscheid wurde von mir 2010 in der Festschrift zum 65. Geburtstag des Oberkonservators Hans-Ulrich Lehmann thematisiert.32 Im gleichen Jahr konnten im Görlitzer Magazin der Städtischen Sammlungen für Geschichte und Kultur die Anfangsjahre als Berufsfotograf am ersten Atelierstandort Görlitz vorgestellt werden.33 2011 folgte in einem Ausstellungskatalog zur Fotografie in Leipzig ein Aufsatz zur Schaffensphase des Atelierfotografen in dieser Stadt.34
Dieser Arbeit vorangestellt, ist eine Einleitung zu Themenvorstellung, Forschungsstand und verwendeten Methoden, die ergänzt wird mit einer Übersicht zu den verschiedenen Stempeln, Firmenaufdrucken, Signaturen und Briefköpfen des Ateliers Perscheid und einer thematischen Einführung in die Mediengeschichte der Fotografie.
Kapitel II rekonstruiert anhand zahlreicher Quellen die Biografie des Fotografen. Die dabei gewählte annalistische Form der Mediengeschichte, in der die wichtigsten Ereignisse im Leben des Fotografen chronologisch abgehandelt werden, ermöglicht zunächst eine zeitliche Orientierung und Verortung in der Fotogeschichte.35 Den Schwerpunkt für die Quellenrecherche bilden fotografische Fachzeitschriften der Jahrhundertwende, deren Auswahl in den folgenden Ausführungen näher erläutert wird.36 Dabei wird der Forderung von Ulrich F. Keller entsprochen, die er bereits 1984 formulierte:
“[...] - these and other topics promise interesting results, especially if an attempt is made to utilize the whole range of available sources, rather than a very few accepted and overused contemporary publications such as Camera Notes and Camera Work.“37
Nach der auf schriftlichen Quellen basierenden, detailgenauen Rekonstruktion der Biografie des Fotografen gliedert sich die Arbeit in die Werkkomplexe Kunst-, Porträt- und Farbfotografie, die jeweils als Grundlage für weiterführende theoretische Überlegungen dienen.
Die Motivgruppen der Kunstfotografie werden im Kontext der Imitatio Artis theoretisiert. Diese Nachahmung von Kunstwerken wird anschließend als Visualisierungsform des Eskapismus reflektiert. Für die Porträtfotografie wurden bislang über 500 Einzelmotive nachgewiesen. Als eingrenzendes Auswahlkriterium für diese Arbeit dienen Porträtaufnahmen, welche in Selbstverlagsheften und Werbebroschüren Nicola Perscheids erschienen. Sofern sich von diesen Aufnahmen Originale erhalten haben, werden die heutigen Sammlungen benannt, in denen sich die Vintages gegenwärtig befinden. Außerdem wird auf mögliche weitere Fotografien des Porträtierten hingewiesen. Die Beschränkung auf zeitgenössische Publikationen ermöglicht eine Reflexion der fotografischen Intentionen des Fotografen und der Publizisten der Werbehefte. Unabhängig davon verbleibt eine Fehlstelle nicht tradierter Aufnahmen. Die Vertriebswege der Porträtaufnahmen werden bei verschiedenen Postkartenverlagen rekonstruiert. Innerhalb des Kapitels Porträtfotografie erfolgt eine Kategorisierung nach Herren-, Damen-, Kinder- und Gruppenbildnissen. Methodisch wegweisend für die Interpretationen zu diesem Werkkomplex ist die medienanalytische Untersuchung von Enno Kaufhold, der bereits in seiner Dissertation mit einem komparistischen Ansatz die Konvergenzen und Divergenzen zwischen Malerei und Fotografie aufgezeigt hat.38 Mit Bezug auf die Werke von Nicola Perscheid werden diese Erkenntnisse konkretisiert und in den medientheoretischen Ansatz von Hans Belting eingeordnet, der von der Existenz genuiner Bildtopoi ausgeht, die zwischen verschiedenen Zeiten und Medien wandern.39
Zwischen die Werkkomplexe Porträt- und Farbfotografie wird ein Exkurs zur Polizeifotografie nach Bertillion um 1900 eingeschoben. Diese werden den Porträtaufnahmen des Salonfotografen Perscheid gegenübergestellt, um die Tradierung von Bildformeln in einem weiteren Themenbereich zu hinterfragen. Die Kontextualsierung bezüglich der Identitätsdarstellung dabei wird anhand normierter Bildformeln erörtert.
Im Kapitel über die Farbfotografie liegt der Schwerpunkt auf den wenigen Farbaufnahmen, die sich von Nicola Perscheid erhalten haben. Diese werden einzeln beschrieben und, wenn möglich, der Entstehungshintergrund erläutert. Im theoretischen Teil wird der Frage nach der Ästhetik der Farbe nachgegangen und nach den Ursachen gesucht, warum Perscheid wie nahezu alle Kunstfotografen, zunächst die Errungenschaften der Farbfotografie euphorisch annahm, sich die Farbaufnahmen zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht durchsetzen konnten.
Im Kapitel VII stehen die fototechnischen Entwicklungen des Nicola Perscheid im Mittelpunkt. Dazu gehören neben einem Fotopapier mit der haptischen Oberfläche der Japanpapiere und dem Körperhalter „Nike“ ein Arbeitskasten für den Bromöldruck mit einem Energol-Entwickler des chemischen Laboratoriums in Berlin-Zehlendorf, das Busch Nicola-Perscheid-Objektiv der Emil Busch A.-G., Optische Industrie Rathenow und Perscheids Engagement im Bereich der Kinematographie. Außerdem werden die verschiedenen fotografischen Techniken und Edeldruckverfahren erläutert, die im Atelier Perscheid Anwendung fanden. Grundlage dafür bilden Manuskripte aus dem Nachlass des Schülers und Mitarbeiters Arthur Benda, die Rückschlüsse auf den tatsächlichen Gebrauch dieser Verfahren im Atelier Perscheid ermöglichen.
Kapitel VIII ist den Mitarbeitern und Schülern gewidmet. Die Mitarbeiter des Ateliers Perscheid werden, soweit aus dem Quellenmaterial rekonstruierbar, im Hinblick auf ihre praktische Tätigkeit im Arbeitsalltag vorgestellt. Bei den Perscheid-Schülern werden die Lebensläufe der verschiedenen Fotografen skizziert und dabei der Zeitpunkt des direkten Kontaktes zum Atelier Perscheid betont.
Das letzte Kapitel gibt einen Überblick zu den erwähnenswerten Beständen an originalen Fotografien von Nicola Perscheid in privaten und musealen Sammlungen in Deutschland, Österreich und Skandinavien. Im Mittelpunkt stehen dabei die Provenienz der Bestände und die Sammlungszusammensetzung. Außerdem wird auf Bildagenturen und Auktionsergebnisse eingegangen.
In der Zusammenfassung werden die Argumentationslinien aus den drei Kapiteln zur Kunst-, Porträt- und Farbfotografie zusammengeführt und themenübergreifend nach dem öffentlichen Bild des Fotografen Perscheid gefragt. Zu konstatieren ist, ob in den Aufnahmen des Berufsfotografen eine Ausrichtung ausschließlich auf den privaten Gebrauch zu erkennen ist oder ob publizistische Präsentationsformen bereits intendiert waren. Gab es bei Perscheid Visualisierungsstrategien für die sich Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelnde Pressefotografie? Sind Rückschlüsse zur Selbstwahrnehmung Perscheids möglich? Die Fragen führen zu einem Erklärungsansatz für die Bedeutungsverschiebung der Kunstfotografie, welche zur Ablehnung dieser Bildästhetik durch die Fotografen und Wissenschaftler der nachfolgenden Generationen führte. Abschließend kann nach der bildästhetischen Wirkung und der Bedeutung dieser Aufnahmen im 21. Jahrhundert gefragt werden.
Den Anhang der Arbeit bildet neben einer umfangreichen Bibliografie und dem Bildnachweis eine Übersicht zu den Porträtaufnahmen bedeutender Persönlichkeiten von Nicola Perscheid, die es ermöglichen könnte, bislang selten verwendete Bildnisse dieser Personen für neuere Publikationen wiederzuentdecken.
Für die Recherche nach Primärquellen konnte auf Archive im In- und Ausland sowie zwei Nachlässe zurückgegriffen werden. Im Oberösterreichischen Landesmuseum Linz lagert der Teilnachlass des Perscheid-Schülers Arthur Benda, der auch Archivalien von Dora Kallmus enthält. In diesem Bestand wurden von Arthur Benda Manuskripte verschiedener Fachaufsätze und Lebensläufe, die Korrespondenz mit dem Initiator des Fotomuseums Ischl Hans Frank 1965–1969, dem Fotografen Fritz Kempe 1958–1970 und dem Sammler Willem Grütter 1951–1968 sowie drei Konvolute mit Briefen an Arthur Benda aus den Zeiträumen 1928–1939, 1940–1956 und 1957–1968 gesichtet. Dabei konnten auf 250 Seiten Hinweise zu Nicola Perscheid extrahiert werden.
Einige der Bendaschen Typoskripte fanden sich als Abschrift bzw. im Original in der Sammlung des Museums für Kunst und Gewerbe in Hamburg.40 Das dortige Archiv basiert auf der Sammlungstätigkeit des Direktors der „Staatlichen Landesbildstelle Hamburg“, Fritz Kempe, der nicht nur sein Archivgut dem Museum überließ, sondern auch den Nachlass von Willem Grütter. Der Privatsammler wiederum hatte ausführlich mit Arthur Benda korrespondiert, aber auch bis 1947 mit der Witwe des Fotografen, Claire Perscheid, und einige Jahre später mit dem Sohn Lothar Albrecht Perscheid. Der Schriftwechsel mit Claire Perscheid hat sich teilweise als Autograf oder in Maschinenschrift erhalten. Grütter setzte sich über die Schwester Anne Kallmus außerdem mit Dora Kallmus in Verbindung, von der ebenfalls Manuskripte mit Erinnerungen an ihren Aufenthalt im Atelier Perscheid vorliegen. Aufschlussreich war weiterhin die Korrespondenz zwischen dem Bremer Fotografen Rudolf Stickelmann und Nicola Perscheid aus den Jahren 1927–1930. Hinzu kam die Abschrift des Schriftwechsels zwischen Heinz Spielmann und dem japanischen Perscheid-Schüler Toragoro Ariga aus dem Jahr 1981. Auf der Grundlage dieses Archivs entstand 1980 die Ausstellung „Nicola Perscheid. Arthur Benda. Madame d’Ora“, für die eine umfangreiche Korrespondenz zwischen Kempe und Benda geführt wurde.41 Insgesamt konnten auf über 300 Seiten Bemerkungen für diese Arbeit erfasst werden.
Ein Teil des Nachlasses von Dora Kallmus lagert im Preusmuseum, Norsk Museum for fotografi in Horten, Norwegen. Dazu gehört beispielsweise ein Brief von Dora Kallmus an Willem Grütter aus dem Jahr 1953, in dem die Fotografin auf Perscheid eingeht.42 Ebenfalls in Skandinavien, wie beispielsweise im Moderna Museet in Stockholm, Schweden befindet sich Archivgut mit Briefen zwischen Nicola Perscheid und seinem Schüler Henry B. Goodwin.43 Zu diesem Themenkomplex sammelte der Privatforscher Olle Östlind Quellenmaterial, auf das zurückgegriffen werden konnte.
Für die technischen Entwicklungen waren die Firmenarchive der Carl Zeiss Jena GmbH und Hoechst GmbH, verwaltet durch das HistoCom Archiv der Sanofi Deutschland GmbH, informativ. Quellenmaterial konnte auch aus dem Lette-Verein in Berlin, den Stadtarchiven Dessau, Koblenz und Naumburg, dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Sächsischen Staatsarchiv, dem Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, dem Heimatverein Zehlendorf und von zahlreichen Privatsammlern verwendet werden.
Die empirische Grundlage für die weiterführende Quellenrecherche bilden die Fotofachzeitschriften „Photographische Korrespondenz“, „Photographische Rundschau und Photographisches Centralblatt“ und „Photographische Mitteilungen“, die für den Zeitraum 1899 bis 1914 seitengenau durchgearbeitet wurden.44 Die zeitliche Zäsur 16 Jahre vor dem Tod von Nicola Perscheid liegt sowohl im politischen Weltgeschehen als auch in den Entwicklungslinien der Kunstfotografie begründet. Das ästhetische Potential der Kunstfotografen war bereits wenige Jahre nach 1900 erschöpft, wie der Rückgang der Ausstellungstätigkeiten und die Resonanzen in der Fachpresse belegen. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, als dessen Nebenwirkung die Publikationsmöglichkeiten der Druckmedien erheblich eingeschränkt wurden, gab es nur noch vereinzelte Rückblicke auf die Stilrichtung der Jahrhundertwende. In den 20er Jahren dominierte dann bereits als innovative fotografische Bildsprache das so genannte „Neue Sehen“. Für die Jahrgänge nach 1914 bis zum Tod des Fotografen 1930 wurden die Zeitschriften daher anhand der Inhaltsverzeichnisse gesichtet und ausgewertet.
Die „Photographische Korrespondenz“ definierte sich über den Titelzusatz „Zeitschrift für Photographie und photomechanische Verfahren“ und wurde bereits ab 1864 publiziert.45 Herausgeber war die „k. k. Photographische Gesellschaft in Wien“, die Zeitschrift war aber gleichzeitig auch Organ des „Vereins zur Pflege der Photographie und verwandter Künste in Frankfurt a. M.“ und des „Schweizerischen Photographen-Vereins.“ Auf den Deckblättern des Periodikums wurde auf die besondere Mitwirkung des Direktors der „k. k. Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien“ Professor Dr. Josef Maria Eder (1855–1944) hingewiesen. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Beiträgen gab es in der Rubrik „Kleine Mitteilungen“ Informationen aus der Industrie, Hinweise auf Literatur, einen Fragekasten für die Leser und im Anhang die Protokolle verschiedener fotografischer Vereine. Als Abbildungen dienten neben den Textillustrationen vor allem „Artistische Kunstbeilagen“, bei denen auch Aufnahmen von Nicola Perscheid veröffentlicht wurden.
Ebenfalls in Wien gründeten ambitionierte Amateure 1887 die „Photographische Rundschau“, die offensichtlich den künstlerischen Anteil der fotografischen Arbeiten gegenüber den technischwissenschaftlichen Themen in der Zeitschrift der „k. k. Photographische Gesellschaft in Wien“ als unterrepräsentiert ansahen. Dennoch gab es in der Aufmachung und bei der Auswahl der verschiedenen Rubriken nur wenige Unterschiede zwischen der „Photographischen Rundschau“ und der „Photographischen Korrespondenz“. Kurz nach der Jahrhundertwende wurde die „Photographische Rundschau“ durch das „Photographische Centralblatt“ erweitert. Das 1895 gegründete „Photographische Centralblatt“ publizierte zunächst keine umfangreichen Artikel oder Kunstbeilagen, sondern lediglich Zusammenfassungen aus verschiedenen fotografischen Zeitschriften und Jahrbüchern. 1897 übernahm Fritz Matthies-Masuren (1873–1938) die Leitung und richtete das Journal als Kunstzeitschrift neu aus.46 Zahlreiche Amateurfotografen wurden in reich illustrierten Einzelheften vorgestellt. Hinzu kamen ausführliche Ausstellungsberichte in der Rubrik „Korrespondenzen“ sowie weiterhin die Vereinsnachrichten der fotografischen Amateurvereine. 1899 erfolgte eine Vereinigung mit den „Wiener Photographischen Blättern“. Im gleichen Jahr wurden die neuen Rubriken „Unsere Bilder“ und „Bildende Kunst“ eingeführt. Damit kam es zwischen der „Photographischen Rundschau“ und dem neu konzipierten „Photographischen Centralblatt“ zu einer starken Konkurrenz um das Leserpublikum. Beide Periodika versuchten sich in teilweise polemischen Auseinandersetzungen weiterhin voneinander abzugrenzen. 1902 führte die so genannte Steichen-Affäre dazu, dass der Bildredakteur der „Photographischen Rundschau“ zurücktreten musste. Ernst Juhl (1850–1915) publizierte die Gummidrucke von Edward Steichen (1879–1973), dessen Aufnahmen sehr stark weichgezeichnet und überarbeitet waren. Die Leserschaft forderte daraufhin den Rücktritt des Bildredakteurs, da sie in diesen Aufnahmen eine Verspottung ihres Anspruchs an künstlerische Fotografie sahen. Als Nachfolger von Juhl wurde Fritz Matthies-Masuren gewählt, so dass es 1902 zu einem Zusammenschluss der beiden Zeitschriftenreihen kam. Als neue Bezeichnung wurde der Titel „Photographische Rundschau und Photographisches Centralblatt“ gewählt.
Die „Photographischen Mitteilungen“ waren ab 1864 das „Organ des photographischen Vereins zu Berlin“ und galten als wichtigste fotografische Fachzeitschrift Deutschlands. Auch dieses Periodikum war zunächst vor allem auf wissenschaftliche Beiträge ausgerichtet. Mit der Kunstfotografie-Bewegung kam es jedoch zu einer Verschiebung der Konzeptionierung in den Bereich der künstlerischen Fotografie. Diese Ausrichtung wurde ab 1903 durch den Titelzusatz „Halbmonatsschrift für Amateur-Photographie“ bestärkt. 1912 wurden die „Photographische Rundschau“ und die „Photographischen Mitteilungen“ vereinigt und erschienen von da an unter der Bezeichnung „Photographische Rundschau und Mitteilungen. Zeitschrift für Freunde der Photographie“.
Neben diesen drei bedeutenden Periodika der Fotofachzeitschriften fanden folgende zeitgenössische Fachzeitschriften der Jahrhundertwende als Grundlage für die Quellenforschung Berücksichtigung: „Allgemeine Photographen-Zeitung“, „Atelier des Photographen. Zeitschrift für Photographie und Reproduktionstechnik“ mit dem Beiblatt „Photographische Chronik“, „Der Amateur-Photograph“, „Der Photograph“, „Deutsche Photographen-Zeitung“, „Deutscher Camera-Almanach. Ein Jahrbuch für Amateur-Photographen“, „Die Photographische Kunst im Jahre ...“, „Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik“ und „Photographisches Wochenblatt“.47 Außerdem wurden Textbeiträge und Aufnahmen aus den kunstgewerblich orientierten Zeitschriften „Deutsche Kunst und Dekoration. Illustrierte Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst und künstlerische Frauen-Arbeiten“ und „Die Sonne“ bearbeitet.
Um Perscheids Rolle im internationalen Kontext zu beleuchten, wurden für den skandinavischen Raum die fotografischen Fachzeitschriften „Svenska Fotografen. Månadsskrift för yrkes- och Amatörfotografi“ und die „Nordisk Tidskrift för Fotografi“ gesichtet. Im amerikanischen Raum fanden sich umfangreichere Quellen im „Photo-Era Magazine. The American Journal of Photography“, das ab 1899 als Organ des Boston Camera Clubs fungierte.48
Da das äußerst umfangreiche Quellenmaterial in textlicher Form vorlag, wird abschließend zur theoretischen Reflexion methodisch auf die Diskursanalyse und den sozialwissenschaftlichen Ansatz der Grounded Theory zurückgegriffen.49 Grundlage dafür bilden acht eigenständige und zu Lebzeiten des Fotografen publizierte Aufsätze zu Nicola Perscheid. Hinterfragt werden soll, wie die Fotografie als Kunstwerk verortet und Perscheid in den ausgewählten Texten als Kunstfotograf definiert wurde. Anschließend wird die Rolle Perscheids in den international vernetzten Personenstrukturen der kunstfotografischen Bewegung erläutert. Durch die offene, axiale und selektive Kodierung der Diskursanalyse werden die Texte reorganisiert und in die sogenannte Diskursordnung überführt. In der Kategorienbildung wird dabei nach den Produzenten, in der Grounded Theory diskursive Eliten genannt, und den diskursiven Strategien unterschieden, die aus den Beiträgen abgelesen werden können und zur diskursiven Struktur führen.
Für die Spurensuche nach Vintageabzügen des Fotografen und der Zuordnung von publiziertem Bildmaterial waren die verschiedenen Kennzeichnungen des Ateliers von Nicola Perscheid in Form von Stempeln, Firmenaufdrucken, Signaturen oder Atelieranzeigen maßgeblich. Bereits in der Frühzeit nutzten die fotografischen Ateliers Stempel und Signets für den werbewirksamen Hinweis auf ihre Geschäfte.50 Eine Hochkonjunktur erlebten diese Firmenaufdrucke bei den kartonierten Papierabzügen in normierten Formaten, wie beispielsweise Visit oder Cabinet. Oftmals wurden die Angaben zum Geschäft mit Angaben zu diversen Auszeichnungen oder Ehrentiteln ergänzt. 51 Durch die Verleihung neuer Titel, Erlangung von Ausstellungspreisen oder die Verlagerung der Ateliers an einen neuen Standort kam es zu einer häufigen Anpassung der Aufschriften auf den Vorder- und Rückseiten. Dadurch bietet sich der Forschung ein probates Arbeitsmittel für die Datierung der Aufnahmen und den Nachweis einzelner Atelierstandorte.
Für das Atelier Perscheid lassen sich aus der Leipziger Zeit die meisten Firmenaufdrucke auf Carte-de-visite- und anderen Formaten nachweisen. Während sich aus den Anfangsjahren in Görlitz nur wenige Atelierfotografien erhalten haben, verzichtete Perscheid, wie die „Photographischen Mitteilungen“ 1906 berichteten, in Berlin bereits vollständig auf die üblichen Kleinformate:
„Perscheid will [...] das bildmässige Porträt pflegen, wie der Name seines Unternehmens sagt. Ausgeschlossen also bleiben alle konventionellen Bilder; Visitenkarten werden nicht gemacht.“52
Damit wird verständlich, warum für die Berliner Jahre ausschließlich Prägestempel und keine Firmenaufdrucke auf den standardisierten Atelierkartons nachgewiesen werden können.
Signaturen und Prägestempel verdeutlichen die Intention der Fotografen, ihre Aufnahmen den Bildwerken der bildenden Künste entsprechend, namentlich zu kennzeichnen.53 Damit wurde gleichzeitig der Status als Kunstwerk unterstrichen. Die fotografische Künstlersignatur etablierte sich als Kennzeichen der kunstfotografischen Bewegung und wirkte über diese hinaus.
Aus den Anfangsjahren des ersten Ateliers in Görlitz ist ein Prägestempel mit dem Namenszug und der Ortsangabe
„N. Perscheid. | Görlitz.“
bekannt, der auf die Untersatzkartons der Stereofotografien geprägt wurde.54 (Abb. 1) Dabei wurde die Signatur Perscheids in Schreibschrift umgesetzt und der letzte Buchstabe d nach zwei kleinen Kreisen als Linie unter dem darunter gesetzten Wort Görlitz als Abschluss im weiten Bogen wieder zum Anfangsbuchstaben N geführt. Hinter dem Namen und der Ortsbezeichnung befand sich jeweils ein Punkt. In der Leipziger Zeit fand diese Prägestempelform mit der gleichen Ansetzung sowohl in Schreibschrift als auch in Druckbuchstaben und mit aktualisierter Ortsangabe
„N. Perscheid. | LEIPZIG.“
Verwendung.55 (Abb. 2 und 3) Für die Zweigstelle in Dessau, die für den Zeitraum 1896–1897 nachgewiesen werden konnte, wurde ebenfalls dieser Prägestempel mit angepasster Ortsbezeichnung genutzt
„N. Perscheid. | Dessau.“.56 (Abb. 4)
Diese frühen Prägestempel Perscheids wurden noch in der Leipziger Zeit von einem in Versalien gesetzten Namensstempel mit abgekürztem Vornamen
„N. PERSCHEID“
und ohne Hinweis auf den Atelierstandort ersetzt.57 (Abb. 5) Wesentlich verbreiteter und vor allem in den Berliner Jahren benutzt, war die Prägestempelform mit dem vollständigen Namen
„NICOLA PERSCHEID“.58 (Abb. 6)
Für das Leipziger Atelier, das ab 1905 von seinem Assistenten Fritz Reinhard weitergeführt wurde, ist die von einer geschwungenen dünnen Linie umrahmte Stempelform
„Atelier | PERSCHEID | Inh. Fritz Reinhard | LEIPZIG“
bekannt.59 (Abb. 7) Am Berliner Standort gab es einen Prägestempel, bei dem der Name Perscheids und die vollständige Atelieradresse untereinander gesetzt waren:
„Nicola | Perscheid | Berlin W.9. | Bellevuestr | 6 a“
Umrandet wurde dieser rechteckige Stempel von einer geraden dünnen Linie.60 (Abb. 8) Mit dieser Ansetzung existierte auch ein Stempel, der in Blau gedruckt wurde.61 (Abb. 9)
Für die Dependance des Berliner Ateliers in Baden-Baden 1910/1911 kombinierte Nicola Perscheid den in Versalien gesetzten Prägestempel mit Namensnennung mit einem Prägestempel, welcher die Atelieradresse ergänzte:
„NICOLA PERSCHEID | Baden-Baden | Kronprinzen Str. 1.“62 (Abb. 10)
Auf den Rückseiten einzelner Fotografien findet sich eine rechteckige Stempelform mit abgerundeten Ecken in Rot mit einem Verweis auf die Dependance in Baden-Baden:
„Nicola | Perscheid | Berlin W. 9. | Bellevuestr. 6 a | Hochsaison | Baden-Baden.“63 (Abb. 11)
Verwendet wurde außerdem ein weiterer Stempel im Längsrechteck mit umrandender Linie, der in Blau gedruckt wurde:
„Nicola Perscheid | Baden-Baden | Kronprinzenstrasse 1 | Telefon 823.“64, (Abb. 12)
sowie ein Stempel in Hellrot ohne Umfassungslinie und ohne Namensnennung Perscheids:
„Baden-Baden | Kronprinzenstrasse 1 | Telefon 823.“.65 (Abb. 13)
Von Originaluntersatzkartons ist der Prägestempel
„Baden-Baden Kronprinzen Sied.“
bekannt.66
Jahresstempel wurden um 1900 in die aufgezogenen Fotografien geprägt und fanden vor allem bei Carte-de-Visite-Aufnahmen Verwendung. Da Jahres- und Prägestempel auf verschiedenen Fotografien nicht normiert aufgebracht wurden, ist es eindeutig, dass beide Stempel getrennt angewendet wurden und keine Einheit bildeten.67 (Abb. 3) Der früheste bekannte Jahresstempel datiert aus dem Jahr 1894.68 (Abb. 2) Die Verwendung dieser Stempel steht im Zusammenhang mit dem Urheberrecht, denn bis 1906 war eine Aufnahme nur fünf Jahre urheberrechtlich geschützt:
„Dem Namen nach bestand für jede Aufnahme ein Schutz von fünf Jahren; derselbe trat aber nur ein, wenn auf jedem Abzuge der Name des Verfertigers, Ort und Jahr der Herstellung angegeben waren. Versäumte man es, auf einer einzigen Kopie diese drei Dinge aufzuschreiben oder aufzudrucken, so war die Aufnahme vogelfrei; jeder konnte sie reproduzieren und beliebig zum Erwerbe ausbeuten.“69
Neben den Prägestempeln wurde in den Berliner Jahren ein runder Stempel in Blau verwendet:
„Nicola Perscheid [oberer Rand] | Berlin, W.9 [Mitte] | Bellevuestr. | 6 a. [unten]“.70 (Abb. 14)
Außerdem hat sich in wenigen Fällen ein gestempeltes Papieretikett in Rot mit geschweiftem Rand in gleicher Ansetzung erhalten, das auf die Rückseiten aufgeklebt wurde.71 (Abb. 15)
Aus der Görlitzer Zeit sind bislang vier divergierende Atelierkartons bekannt. Die ersten beiden von Nicola Perscheid mit Firmenangaben bedruckten Untersatzkartons können in die Jahre 1891/1892 datiert werden, da er kurz nach der Eröffnung des Ateliers noch nicht mit einem eigenen Titel als Hoffotograf werben konnte.72 (Abb. 16)
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