Werner J. Egli,

wurde 1943 in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson (USA), in Freudenstadt (D) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. 2002 wurde er für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert, die international höchste Auszeichnung für Jugendliteratur.

Unter www.egli-online.com ist der Autor auch im Internet zu finden.

Von Werner J. Egli bei ARAVAIPA:

Der letzte Kampf des Tigers

Black Shark

Aus den Augen, voll im Sinn

Andere:

Heul doch den Mond an

Martin und Lara

Tage im Leben eines Feiglings

WERNER J. EGLI

DER ERSTE
SCHUSS

Roman

eISBN 978-3-03864-204-6
Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung,
Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form,
einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien,
der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung
und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.
Lektorat: Horst u. Fritz Eibl (A)
Umschlaggestaltung: Agentur flin, unter Verwendung
einer Illustration von Bert Silberstein (A)
Copyright © 2016 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich, Freudenstadt, Tucson
7 6 5 4 3 2 1

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Zu diesem Buch gibt es Unterrichtsmaterial
als Download auf www.aravaipa.ch

Inhalt

Hickman, Texas, am 16. August.

Hickman, Texas, am 16. August.

Ein Junge und ein Mädchen in einem Mitsubishi Colt halten an Jim Colders Tankstelle.

Colder sitzt neben der Tür zu seinem Laden auf einem alten Polsterstuhl. Aus dem Schatten des Vordaches heraus beobachtet er, wie der Junge aussteigt.

Es ist ein gutaussehender Junge in verwaschenen Jeans und einem sauberen weißen Hemd, dessen Ärmel er bis über die Ellbogen hochgerollt hat.

Das dunkle Haar des Jungen ist auf der linken Seite gescheitelt und sorgfältig gekämmt.

Jim Colder schätzt den Jungen auf ungefähr sechzehn oder siebzehn Jahre. Obwohl er ihn nicht kennt, scheint es ihm, als ob er ihm schon einmal begegnet wäre.

Der Junge trägt einfache braune Cowboystiefel und einen Gürtel, der aus weißem und schwarzem Langhaar eines Pferdes geflochten ist.

Etwas unsicher wirkt er auf Jim Colder, als er um die Tanksäule herum kommt. Nicht sicher, ob er hier am richtigen Ort ist.

»Ist das hier Selbstbedienung?«, fragt er und deutet auf eine der beiden alten Zapfsäulen.

Jim Colder nickt.

Der Junge blickt sich um. Schaut zur Kreuzung hinüber, der einzigen in Hickman. Die Häuser hier sind verwittert. Überdachte Gehsteige vor falschen Fassaden. Ein knallroter Hydrant beim ehemaligen General Store, dessen Fenster mit Spanplatten verschlossen sind.

»Ist das die Hauptkreuzung in Hickman?«, fragt der Junge.

Jim Colder nickt bedächtig.

»Solange ich zurückdenken kann, Kid.«

Der Junge steht still. Starrt auf die Kreuzung hinaus, dann die Straße entlang, die von Norden her nach Hickman führt. Die Straße zieht sich im blassen Licht dieses heißen Nachmittages in die Einöde hinaus, verschwindet im Nichts, noch bevor sie die kaum erkennbare Linie des Horizontes erreicht.

»Ist da was?«, fragt Colder. »Würde mich freuen, wenn da mal was wäre.«

»Was denn?«

»Irgendwas.«

»Da ist nichts«, sagt der Junge. »Wie lang sitzen Sie schon hier, Sir?«

»Heute?« Colder kratzt sich im Nacken. »Heute und eine Ewigkeit zuvor, Kid.«

»Erinnern Sie sich an einen Unfall?« Der Junge nimmt den Blick nicht von der Kreuzung und plötzlich weiß Colder, wo er ihn in seiner Erinnerung finden kann.

»Es passierte vor mehr als fünfzehn Jahren«, sagt der Junge.

Colder steht jetzt von seinem Stuhl auf. Er ist alt. Seine Hüfte schmerzt. Krumm steht er da und holt die Bilder zurück, die er vergessen glaubte. Und er weiß jetzt, warum der Junge hier ist.

»Deine Eltern kamen von dort«, erklärt er ihm und zeigt mit einer vagen Handbewegung nach Norden. »Webster in seinem Pickup kam von da drüben. Er hätte an der Kreuzung anhalten müssen. Das Stoppschild von damals steht noch immer dort. Aber er hat nicht angehalten. Hier hat nie einer angehalten, weil nie zwei Autos gleichzeitig in die Kreuzung hinein fuhren. Nie, bis zu jenem Tag, und danach auch nie mehr.«

Der Junge gibt ihm darauf keine Antwort.

»Du musst Rafael sein«, sagt Jim Colder.

Jetzt lächelt der Junge. »Danke«, sagt er und geht zum Mitsubishi zurück. Er öffnet die Beifahrertür und anständig, wie er es zu sein scheint, ist er dem Mädchen beim Aussteigen behilflich.

»Hier geschah es«, sagt er zu dem Mädchen. »Dort drüben auf der Kreuzung«.

Der Wind weht dem Mädchen Strähnen seiner langen schwarzen Haare quer übers Gesicht. Es streicht sie sich zurück, hält sie mit einer Hand fest und blickt auf die Kreuzung hinaus.

Der Junge nimmt das Mädchen bei der Hand, geht mit ihm über die löchrige Straße zur Stelle, wo damals, an einem Tag wie diesem, Websters Pickup mit dem Auto seiner Eltern zusammengeprallt ist.

Über den Häusern von Hickman ballen sich dunkle Gewitterwolken.

Der Junge und das Mädchen stehen auf der Kreuzung. Sie halten sich aneinander fest, als wollten sie verhindern, dass der harte Wind sie wegbläst.

Weit draußen in der Wüste tanzt ein Staubteufel durchs Dornengestrüpp.

Der Junge und das Mädchen sehen ihn nicht.

Jim Colder sieht ihn.

Er setzt sich wieder in den Stuhl und denkt an den Tag, als er in letzter Sekunde das Baby aus dem brennenden Auto gezerrt hat.

Der Junge hier, der war damals das Baby, dem er das Leben gerettet hatte. Er ist zurückgekehrt zum Ort, wo seine Eltern starben und für ihn noch einmal alles angefangen hatte. Zum Beginn seines Weges.

»Was ist passiert, Lalo?«, keuchte Rafa. »Was hast du denen getan?«

»Nichts! Ich hab’s dir schon einmal gesagt. Nichts! Nada! Ich weiß nicht einmal, wer sie sind.«

»Dafür, dass du ihnen nichts getan haben willst, sind die aber ganz schön scharf auf dich!«

»Du weißt, was ich getan habe«, stieß Lalo schwer atmend hervor, während er angewidert sein neues weißes Hemd betrachtete.

Es war völlig verschwitzt und voller Blutflecke.

Auch auf den staubigen Stiefeln, die er vor noch nicht einmal zwei Stunden gekauft hatte, entdeckte er ein paar dunkle Flecke.

»Sie haben Gato und den Kleinen getötet, Lalo! Mein Gott, der Kleine war noch nicht mal zwölf Jahre alt.«

»Hau ab, wenn du Angst hast, Rafa! Wenn du bei mir bleibst, werden sie auch dich töten.«

Rafa verzichtete darauf, seinem Freund eine Antwort zu geben. Mit brennenden Augen starrte er den Karrenweg entlang bis zu einer Kurve, wo der einzige Baum stand und einen Schatten über die holprigen Radfurchen warf.

In einigen Pfützen spiegelte sich der Himmel, ein blasses Blau mit schmierigen hauchdünnen Wolken und einigen Kondensstreifen von Flugzeugen, die in über 10 000 Metern Höhe über die Stadt und über das öde Wüstenland hinweg flogen.

Lalo kauerte hinter dem Wrack eines alten Dodge, den jemand irgendwann vor langer Zeit einfach hier zurückgelassen hatte.

Der Wind hatte im Laufe vieler Jahre so viel Sand gegen dieses Hindernis geweht, dass nur noch die Fensteröffnungen und das verbeulte, von Revolver- und Gewehrkugeln durchlöcherte Dach herausragten.

Etwa fünfzig Meter vom Karrenweg entfernt befanden sich die Überreste eines Hauses. Teile der Mauern standen noch. Ein Stück des Giebeldaches überragte das Dornengestrüpp. Auf den obersten zwei Stufen einer Treppe, die aus Beton gebaut und mit ziegelroten Kacheln belegt worden war, döste im Gewirr der Schatten eine große Klapperschlange. Ihr fetter Leib hing von der oberen Treppenstufe auf die untere hinunter.

Lalo lehnte mit der linken Schulter an rostigem Blech, das einmal grün lackiert gewesen war. Noch immer waren Reste des Autolacks zu sehen.

Lalos Gesicht und seine Hände waren blutverschmiert. Die Finger seiner Rechten umklammerten den Griff einer Pistole.

Auch die Pistole war blutverschmiert.

Blut überall.

Im Mund hatte er den Geschmack von Blut.

Er wünschte sich, er hätte ihn mit einem eiskalten Bier loswerden können. Oder mit einem Schluck Mescal. Oder mit einem Joint. Egal was.

Aber hier draußen gab es nichts dergleichen.

Hier draußen war die Hölle.

Rafa kniete hinter einigen Kakteen in einem Graben, keine drei Schritte von seinem Freund entfernt.

Sein Mund war ausgetrocknet. Sein Atem flatterte.

Beide waren sie etwa zwei Meilen gerannt, nachdem Lalo einen fast neuen Jeep zu Schrott gefahren hatte.

Hier, bei der Hausruine und dem halb im Sand vergrabenen Dodge, würde ihre Flucht zu Ende sein.

Jetzt warteten sie nur noch auf ihre Verfolger, von denen sie nicht wussten, wer sie waren. Killer auf jeden Fall, die nicht zögern würden, Lalo zu töten.

Aber auch Rafa konnte weder Mitleid noch Gnade erwarten, denn er war Lalos Freund, solange er zurückdenken konnte. Und er war sein Freund, auch in dieser Situation, in die er nicht nur zufällig hineingeraten war.

»Wo bist du getroffen?«, rief er Lalo leise zu, während er noch einmal mit bebenden Händen alle Taschen nach dem Handy durchsuchte.

»Hier irgendwo.« Lalo zeigte auf seine rechte untere Brustseite und obwohl er furchtbare Schmerzen hatte, grinste er schief, als er Rafas sorgenvollen Gesichtsausdruck bemerkte. »Falsche Seite, Rafa. Mein Herz schlägt hier.«

»Wenn sie dich erwischen, werden sie die richtige Stelle treffen, Lalo.«

»In den Kopf. So machen sie es immer. In die Stirn. Ich weiß wie es geht.«

»Woher willst du das wissen, wenn du es noch nie getan hast?« fragte Rafa argwöhnisch.

»Ich weiß es einfach«, antwortete Lalo. »Glaube mir, ich weiß es.«

Dort, wo die Straße um eine niedere Anhöhe herum verschwand, tauchte jetzt der Pickup auf, ein silbergrauer Nissan mit fetten Reifen. Er fuhr langsam, beinahe im Schneckentempo. Schaukelte zwischen den Fahrrillen und durch die Schlaglöcher.

Wuchtig sah er aus, mit dem über der vorderen Stoßstange montierten Kuhfänger aus dicken verchromten Stahlrohren. Die Windschutzscheibe war herausgebrochen. Vom Fahrer und vom Beifahrer, der eine Pistole in der Hand hielt, waren trotzdem nur die Silhouetten zu erkennen.

Hinten auf der Ladefläche standen zwei weitere Männer. Einem wehte der Fahrtwind Haarsträhnen ins Gesicht. Der andere trug eine Baseballmütze und eine dunkle Sonnenbrille. Sie waren beide bewaffnet, einer mit einer AK-47, der andere mit einer automatischen Pistole.

Lalo packte nun seine Pistole mit beiden Händen und hielt sie so, dass der Lauf zum Himmel zeigte. Dicht vor seinem Gesicht. Dabei schloss er die Augen und für einen Moment schien es Rafa, als betete Lalo. Mit der Pistole in den Händen, die er im Gebet versunken sachte küsste, als wäre die Waffe ein Kruzifix, das ihn vor allem Übel bewahren könnte.

Nur einige Sekunden dauerte es, bis Lalos Einkehr zu Ende war, aber seinem Freund Rafa prägte sich dieses Bild so tief in sein Gedächtnis, dass er es nie mehr vergaß.

»Lalo!«

Lalos Kopf fuhr herum.

»Was ist?«

»Was ist, wenn wir sterben?«

»Was soll dann sein?«

»Ich weiß es nicht, Rafa.«

»Vielleicht ist da doch noch was nachher.«

»Nein. Ich glaube nicht.«

»Warum hast du dann gebetet?«

»Ich habe nicht gebetet.«

»Du hast gebetet und die Pistole geküsst.«

»Die Pistole, ja. Auf die Pistole kann ich mich verlassen.«

»Lalo …«

»Ja.«

»Leb wohl.«

»Verdammt, mach dich klein, Rafa!«, zischte Lalo.

Rafa duckte sich. Dabei spürte er, wie sein Herz erneut zu rasen begann. Sein Mund war jetzt völlig trocken. Er brauchte Wasser. Nichts anderes brauchte er mehr als einen kleinen Schluck Wasser. Und ein bisschen mehr Luft zum Atmen.

Aber er bekam beides nicht. Alles was er bekam, war furchtbare Angst. Todesangst, denn er war sicher, dass Lalo mit seiner Pistole gegen diese Killer keine Chance hatte.

Sie würden beide sterben. Hier, in dieser Einöde, in der man sie niemals finden würde, obwohl der Freeway und die Stadt so nahe waren, dass man sie hören konnte.

Rafa dachte daran, aufzuspringen und sich zu ergeben, aber er wusste, dass die Verfolger ihn auch dann nicht verschonen würden.

Noch etwa hundert Meter betrug jetzt die Distanz zwischen ihnen und dem Pickup. Hundert Meter karg bewachsene Wüste, mit vereinzelten Büscheln von Drahtgras und kleinen Kakteen mit langen Dornen. Mesquite Gestrüpp, jeder Ast mit Dornen bewehrt. Steine. Die zwei tiefen Reifenfurchen und die Ruine des Hauses. Der blasse Himmel über ihnen und das im Flugsand begrabene Wrack.

Sonst nichts.

Rafa zog das Amulett mit einem Abbild der Heiligen Mutter Maria von Guadalupe, das an einer Goldkette von seinem Hals hing, aus dem Ausschnitt seines T-Shirts und hielt es an seine Lippen. Eben noch waren sie beide in der Kirche des Heiligen Ignacio gewesen und hatten einer für den anderen gebetet.

Eben noch war die Welt für sie beide fast in Ordnung gewesen und zumindest Rafa hatte gehofft, dass der Himmel sie beschützen würde.

Und jetzt? Würde Gott sie hier überhaupt noch sehen? Warf er in diesem Moment einen Blick auf diesen Ort?

Wohl kaum, dachte Rafa. Dieser Ort gehört zur Hölle.

Wer hier stirbt, stirbt allein.

Auf der Flucht vor den Killern waren bereits Gato und Kaká gestorben. Gato, ein Junge, nicht älter als sie selbst, und doch schon ein Killer. Und der Knirps, der Kaká genannt wurde. Beide waren von mehreren Kugeln getroffen worden, die diese Killer im Pickup abgefeuert hatten.

Rafa fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen, auf denen sich eine Kruste aus Staub und Speichel gebildet hatte.

Ob seine Mutter und sein Vater ihn jetzt sehen konnten? Ob es sie überhaupt gab, dort oben im Himmel? Ob es den Himmel überhaupt gab …

Manchmal war er sich dessen so sicher gewesen, dass nicht einmal der leiseste Zweifel seinen Glauben trüben konnte. Aber jetzt, in diesem Moment, als er das Amulett an seine Lippen drückte, schien ihn der Glaube in Stich zu lassen. Er ließ es zurückfallen auf seine Brust, an der das schmutzige T-Shirt klebte.

Das Geräusch des Pickup Motors war noch immer leise, weil der Fahrer kaum Gas gab. Langsam, beinahe im Schnekkentempo, näherte er sich der Stelle, wo Rafa und Lalo sich versteckt hatten. Noch zwanzig Meter mochten es sein, die der Pickup zurückzulegen hatte, um bei ihnen anzukommen. Zwanzig Meter.

Lalo war bereit zu kämpfen und auch bereit zu sterben. Rafa sah es dem Gesicht seines Freundes an. Lalo atmete durch den aufgerissenen Mund. Auch die Augen hatte er weit geöffnet. Im nächsten Moment würde er aufspringen und zu schießen anfangen, aber gerade in dem Moment, als der Pickup keine zehn Meter mehr von ihnen entfernt war, hielt er plötzlich an.

Der Motor des Nissans im Leerlauf, stieg der Fahrer aus.

Er machte die Tür nicht zu. Im schmalen Schatten des Pickups öffnete er seine Hose und begann zu pinkeln. Rafa und Lalo hörten es. Er pinkelte wie ein Pferd.

»In dieser Scheißgegend können sie sich verkriechen wie zwei Wildkaninchen«, sagte er. »Schaut euch nur um. Überall Steine und Gestrüpp und überall ausgewaschene Gräben und zerfurchte Hügel. Sie können sich dort drüben versteckt haben oder dort. Oder dort drüben.. Oder dort. Es gibt hier tausend Orte, wo sie sich versteckt haben können.«

»Was machen wir jetzt? Etwa aufgeben?«, fragte der Beifahrer, der ein paar Blutspritzer im Gesicht hatte.

»Es bleibt uns wohl nicht viel anderes übrig!« Der Fahrer hörte auf zu pinkeln und packte ein. »Vielleicht haben sie sich dort drüben hinter der Mauer versteckt.«

»Soll ich mal nachschauen?«, erkundigte sich einer der beiden Männer auf der Ladefläche.

»Okay. Schau mal nach! Aber pass auf. Am besten gehst du mit ihm, Pollo, und deckst ihm gefälligst den Rücken!«

Die beiden Männer sprangen vom Pickup und schlichen geduckt auf die Hausruine zu. Bis auf wenige Schritte kamen sie an die Mauerreste heran, als die Schlange auf der Treppe zu klappern anfing.

Erschrocken sprangen die zwei Männer zurück und stießen dabei ein paar derbe Flüche aus.

»You motherfucking bitch«, schnappte einer von ihnen auf Englisch, nahm die AK-47 an die Schulter und schoss auf die Schlange, aber die Kugel zerstörte nur die roten Kacheln der Treppenstufen. Im nächsten Moment glitt die Schlange über den Boden und war in einer Ritze des Gemäuers verschwunden.

»Pendejo, Arschloch! Was ballerst du einfach drauflos!«, brüllte der Fahrer.

»Das war eine Klapperschlange!«, rief der Mann, der geschossen hatte.

»Da sind überall verdammte Klapperschlangen! Das wisst ihr doch. Schüsse können weit herum gehört werden. Wenn der Teufel es will, ist eine Patrouille der Migra in der Nähe. Los, lasst uns von hier abhauen, bevor die Bullen auftauchen!«

Die beiden Männer eilten zum Pickup zurück und kletterten hastig auf die Ladebrücke. Der Fahrer und sein Beifahrer stiegen ein. Mit viel Mühe gelang es dem Fahrer, den Pickup auf dem schmalen Karrenweg zu drehen.

Schnell fuhren sie davon, viel schneller als sie gekommen waren, und als sie hinter der kleinen Anhöhe verschwunden waren, schloss Rafa die Augen und schlug sich beide Hände vors Gesicht.

Regungslos verharrte er, wo er zwischen den Steinen kauerte und er spürte, wie ihm die Tränen kommen wollten.

Lalo ließ die Pistole sinken, aber als er aufzustehen versuchte, gehorchten ihm seine Beine nicht. Er verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Ohne sich zu rühren lag er am Boden, den Kopf seitlich gegen einen Stein gelegt, sodass er seinen Freund Rafa sehen konnte.

»Rafa«, flüsterte er. »Wir haben verdammt viel Glück gehabt.«

Rafa ließ die Hände sinken.

»Du solltest vielleicht nicht fluchen, Lalo. Nicht ausgerechnet hier.«

»Warum? Glaubst du, dass es jemand hören könnte? Es ist niemand da. Nur du und ich.«

»Und ein Schutzengel.«

»Ein Schutzengel.« Lalo lachte leise auf. »Du meinst die Klapperschlange? Oder glaubst du etwa noch an richtige Engel, Rafa?«

»Vor einigen Minuten, als sie Gato und Kaká erwischten, fing ich an zu zweifeln.«

»Und jetzt?« Lalo wischte sich mit dem Handrücken sachte über den Mund.

»Jetzt weiß ich wieder, dass es sie geben muss. Nur nicht für jeden.«

Lalo stemmte sich mit einer Hand auf. Mit der anderen hielt er noch immer die Pistole.

»Ich weiß, du hast einen Schutzengel, seit du auf die Welt gekommen bist.«

»Sonst wäre ich damals in Hickman auch gestorben. Zusammen mit meinen Eltern.«

Lalo legte die Hand an die schmerzende Wunde.

»Ich hatte nie einen. Von allem Anfang an nicht. Aber ich lebe immer noch. Genau wie du. Zugegeben, dieses Mal sind wir nur knapp davongekommen, stimmt’s? Ich meine, ich wollte eben aufspringen und zu schießen anfangen, als der Pickup angehalten hat. Hast du den Fahrer pissen gehört? Wie ein Gaul hat der gepisst, wie ein Gaul.«

Lalo stand langsam auf und schaute sich um. Krumm stand er da, das Gesicht schmerzverzerrt und voller Staub. Das schmutzige Hemd hing ihm schief von den Schultern.

»Weißt du überhaupt wo wir sind?«, stöhnte er.

»Nicht genau. Aber dort drüben, dort muss der Schlot der Asarco-Kupferschmelze sein.« Rafa erhob sich. Die goldene Kette mit dem Amulett hing ihm über das schwarze T-Shirt herunter.

Sie befanden sich in einer Senke. Vom riesigen Schlot war nichts zu sehen. »Wir müssen irgendwo Wasser herkriegen. Und deine Wunde muss gepflegt werden.«

Lalo warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Dann klaubte er sein neues Handy aus der Hosentasche, steckte es aber sofort wieder dorthin zurück, weil ihm einfiel, dass der Akku noch nicht geladen war.

»Es ist vier. Solange es hell ist, können wir nicht von hier weg und zum Freeway hinauf. Bestimmt patrouilliert die Migra in dieser Gegend. Wenn es dunkel ist, haben wir eine bessere Chance, nicht gesehen zu werden, obwohl sie über Nachtsichtgeräte verfügen. Vom Freeway aus können wir dann meine Freunde anrufen. Die holen uns und bringen uns in die Stadt zurück.«

»Deine Freunde? Wer sind denn deine Freunde? Etwa die, die dir das Geld gegeben haben? Oder waren etwa Gato und Kaká deine Freunde? Kannst du dich in der Not auf deine Freunde verlassen?«

»Hast du denn Freunde, auf die du dich verlassen kannst, Rafa? Verdammt, tu nicht so, als wären meine Freunde schuld daran, dass wir hier …«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich zweifle nur daran, dass deine neuen Freunde dir aus dieser Scheiße heraushelfen würden. Lalo, du hast dich mit Leuten eingelassen, die unberechenbarer sind als verwilderte Hunde. Wenn du diesen Bastarden lästig wirst, bringen sie dich um.«

»Du weißt überhaupt nicht, wovon du redest«, antwortete Lalo mit einer Stimme, mit der er am liebsten die Schmerzen aus seinem Körper herausgeschrien hätte.

»Ich war eben dabei, wie zwei deiner sogenannten Freunde ermordet wurden! Und wenn die Klapperschlange nicht gewesen wäre, wären wir beide jetzt auch erledigt. Tot in der Wüste. Wie so viele vor uns. Einfach abgeknallt wie zwei Hunde.«

»Du sollst keine Gedanken an diese Sache verschwenden. Wie oft habe ich dir das heute schon gesagt? Es ist mein Leben! Wie oft habe ich es schon gesagt, und zwar nicht nur heute?«

Rafa wich dem Blick seines Freundes nicht aus.

Dieses Mal nicht.

»Wer sind deine Freunde, Lalo, mit denen du dich in den letzten Wochen so oft getroffen hast?«

»Einfach Freunde, verdammt!«

»Wer sind sie, verdammt?«

»Was hast du davon, wenn ich es dir sage? Du wirst dir nur noch mehr Gedanken machen. Und vielleicht läufst du eines Tages zur Polizei, weil du denkst, dass du mich beschützen musst. Oder du sagst es Loretta, weil du denkst, dass Loretta mich auf einen besseren Weg bringen könnte. Aber mein Weg ist mein Weg, Rafa. Niemand wird mich davon abbringen, nicht einmal Loretta.«

Lalo starrte ihn wütend an.

»Du auch nicht, verdammt! Ich bin fünfzehn Jahre alt. Ich weiß was ich will.«

»Das glaubte Gato auch zu wissen. Der Kleine vielleicht noch nicht. Der dachte, es kann mir nichts passieren, weil ich so klein und fein bin und aussehe, als ob ich keiner Fliege etwas zuleide tun könnte.«

»Gato und Kaká hatten einfach nur Pech!«

»Und wir beide? Wir hatten höllisch viel Glück.«

»Ich will meinen Weg gehen!«, keuchte Lalo. »Dazu habe ich mich entschlossen, als ich weggegangen bin. Es ist die einzige Chance, die ich habe. Wir leben eingesperrt in einem Heim für Kinder ohne Eltern und unsere Chancen im Leben sind gleich Null. Ich will das nicht, verstehst du?«

»Was willst du dann, Lalo?«

»Alles.«

»Alles?«

Lalo lachte auf. »Schnelles Geld, Rafa. Eine andere Uhr. Schau her, das hier, das ist eine Timex, die achtzehn Dollar gekostet hat.«

»Du hast sie damals geklaut.«

»Ja, aber trotzdem, hätte ich sie nämlich kaufen wollen, hätte sie mich achtzehn Dollar gekostet. Hatte ich jemals achtzehn Dollar? Nein. Ich hatte nie im Leben achtzehn Dollar, die ich für eine Uhr hätte ausgeben können. Aber heute ist das anders. Heute habe ich mehr als hundert Dollar in der Tasche, sogar jetzt noch, nachdem ich das Handy und die teuren Klamotten und die wunderschönen Stiefel gekauft habe, die nun ruiniert sind!«

»Mein Gott, du begreifst überhaupt nichts«, schnaufte Rafa verzweifelt. »Du hast heute ein paar Dollar mehr, das stimmt, aber du musstest für dieses Geld deine Seele dem Teufel verkaufen!«

»Verdammt, wann begreifst denn du was? Du hast keinen blassen Schimmer von nichts.«

»Dann verrate mir, was du für das Geld tun musstest, Lalo! Sag mir, wer deine Freunde sind und wer unsere Verfolger waren, die Gato und Kaká getötet haben.«

»Du kannst fragen solange du willst, ich sage es dir nie!«

»Dann hast du doch jemanden umbringen müssen?«

Jetzt schwieg Lalo.

»Mit dieser Pistole? Hast du auf jemanden geschossen? Waren sie deswegen hinter dir her? «

Lalo presste die Lippen zusammen.

»Ich sag es dir nie.«

»Warum nicht?«

»Weil es nichts mit dir zu tun hat, verdammt! Und weil ich mir diesmal eine Predigt von einem Moralapostel, wie du es bist, lieber nicht anhören will.«

»Dann muss es etwas Schlimmes sein, wenn du es mir nicht sagen kannst!«

»Ist es nicht.«

»Warum sagst du es mir dann nicht?«

»Weil du mein Freund bist.«

Rafa senkte den Kopf und starrte auf seine staubigen Schuhe hinab. Da ging Lalo zu ihm und packte ihn am Arm.

»Ich habe niemanden umgebracht«, stieß er wütend hervor. »Ich schwöre es dir. Wenn ich jemanden umgebracht hätte, hätte ich nicht nur ein paar hundert Dollar bekommen. Für einen Mord bekommt ein echter Sicario ein paar tausend Dollar. Stell dir das mal vor, Rafa, wir hätten ein paar tausend Dollar anstatt nur ein paar hundert.«

»Was würdest du tun?«

»Wenn ich ein paar tausend Dollar hätte?«

»Ja, wenn du ein paar tausend Dollar hättest. Was würdest du tun?«

»Neue Klamotten kaufen«, lachte Lalo heiser.

»Für Blutgeld Klamotten kaufen«, sagte Rafa angewidert.

Lalo schnaubte durch die Nase. »Was tust du so doof? Geld ist Geld. Das stinkt selbst dann nicht, wenn es Blutgeld ist. Mein Hemd stinkt. Riechst du das? Mein Hemd stinkt, weil ich Angst hatte wie ein feiger Hund. Da fängst du an zu stinken. Wenn du einen umbringst, fängst du nicht an zu stinken. Der andere ist der, der stinkt. Du nicht. Du bringst ihn um, kassierst die Kohle und gehst einkaufen. So einfach ist das.«

Rafa packte seinen Freund am Hemd und zog ihn an sich heran. »Lalo, ich hätte nie geglaubt, dass ich dich einmal auf diese Art reden hören würde! Was ist aus dir geworden? Was haben sie mit dir gemacht? Ist aus dir in wenigen Tagen ein Killer geworden, ein Sicario?«

»Lass mich los, Rafa und denk lieber darüber nach, wie wir von hier wegkommen.«

»Zu Fuß«, schnappte Rafa und stieß Lalo von sich.

Lalo setzte sich auf einen Stein und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

»Ohne Wasser kommen wir nicht weit.«

»Es ist nicht weit zu den nächsten Häusern oder zum Freeway.« Rafa blickte in die Ferne. Irgendwohin.

»Woran denkst du?«, fragte ihn Lalo.

»Ein Mord würde ausreichen, einen Swimmingpool zu bauen«, antwortete Rafa lauernd, ohne seinen Freund anzusehen. »Ein einziger Mord.«

»Wie du das sagst, Rafa. Als ob ich schon ein Mörder wäre. Dabei solltest du lieber mal nach meiner Wunde sehen. Wahrscheinlich ist es nur ein Streifschuss, aber sie brennt wie die Hölle. Und bluten tut sie auch. Schau mal, dieses neue Hemd ist ruiniert.«

Rafa drehte sich um und ging auf den Karrenweg hinaus. Ohne sich noch einmal umzudrehen, marschierte er zwischen den Radfurchen nach Osten. Keine zwei Meilen entfernt waren die ersten Häuser der Stadt. Hütten armer Leute.

»Was machst du, verdammt?« Lalo hatte sich schnell vom Stein erhoben und humpelte gekrümmt hinter seinem Freund her. »Halt an! Wir können nicht einfach zur Stadt gehen. Wir müssen uns irgendwo verstecken!«

Rafa hielt bei einer Pfütze an, durch die wenige Minuten zuvor der Pickup gefahren war. Das Wasser darin war braun. Rafa kauerte nieder, schöpfte mit beiden Händen vom Wasser und trank es.

»Hoffentlich ist das nicht die Pfütze, in die er reingepinkelt hat«, lachte Lalo, als er bei seinem Freund anlangte.

Rafa erhob sich und ging weiter, damit Lalo die Tränen nicht sehen konnte, die ihm über das Gesicht liefen.

Erst bei Dunkelheit wagten sie sich noch näher an die Stadt heran.

Die Stadt war El Paso.

Eigentlich ist der ganze Name der Stadt El Paso del Norte, was ungefähr »Der Pass im Norden« bedeutet. Eine Furt durch den Fluss, an dem die Stadt liegt, dem Rio Grande, der einmal mit vollem Namen Rio Grande del Norte geheißen hatte. Weder die Stadt noch der Fluss werden heute noch so genannt. Sie heißen einfach nur El Paso und Rio Grande.

Der Fluss ist, wie es sein Name schon sagt, ein großer Fluss, einer der größten Nordamerikas. Auf seinem Weg zum Golf von Mexiko fließt er mehr als zweitausend Meilen an der Grenze zwischen Mexiko und den USA entlang. Der Fluss trennt die Vereinigten Staaten von Amerika von Mexiko.

Leute, die nördlich des Flusses geboren werden und leben, sind US-Amerikaner. Leute, die südlich des Flusses leben, sind Mexikaner.

Aber die Grenze trennt nicht nur die Menschen, sie trennt auch die Städte El Paso im Norden und Ciudad Juárez im Süden voneinander.

Dort, wo einmal die Furt gewesen ist, gibt es jetzt eine große Brücke, über die man bequem von Texas nach Mexiko gelangt und umgekehrt.

Dass mehr Leute vom Süden in den Norden wollen als anders herum, das ist eine andere Angelegenheit.

Und dass die Leute im Norden die Leute aus dem Süden nicht gerne einreisen lassen, ist nochmal eine andere Angelegenheit.

Im Süden, also in Mexiko, leben viele arme Leute. Und weiter im Süden, in mittel- und südamerikanischen Staaten wie Honduras oder Bolivien, noch ärmere. Daher wollen viele in den Norden, in die USA, weil es dort leichter scheint, sein Leben zu meistern, Geld zu verdienen, sich etwas auf die Seite zu legen, ein Häuschen zu bauen und bis ans Lebensende glücklich zu sein.

Nur, die Leute im Norden wollen nicht immer mehr Leute aus dem Süden bei sich haben, die ihnen die Jobs wegnehmen und gewissermaßen das Essen vom Teller klauen. Behaupten sie wenigstens. Um die anderen daran zu hindern, über die Grenze zu kommen, gibt es die Border Patrol, eine Grenzschutz-Truppe, die Tag und Nacht die Grenze überwacht und alle verhaftet, die versuchen, illegal vom Süden in den Norden zu gelangen.

Die Leute in Mexiko fürchten diese Truppe. Sie nennen sie die »Migra«, eine Kurzform des Wortes Immigration.

Und die Leute im Norden nennen diejenigen, die versuchen illegal in ihr Land zu kommen, »Wetbacks«, was Nassrücken bedeutet. Nassrücken deshalb, weil sie früher durch den Rio Grande mussten und am nördlichen Ufer bis auf die Haut durchnässt ankamen. Manchmal, nach Regenfällen und Sommergewittern, geschah das auch heute noch, aber die meiste Zeit führte der Rio Grande so wenig Wasser, dass man von einem Ufer zum anderen waten konnte.

Zu denen, die illegal in die USA eingereist waren, gehörten vor langer Zeit auch Rafas und Lalos Eltern.

Vor über fünfzehn Jahren zogen sie aus dem Süden Mexikos nach Norden, durchschwammen an einer unübersichtlichen Stelle den seichten Rio Grande del Norte und suchten in Texas und in New Mexico ihr Glück.

Nur fanden sie es nicht.

Das passiert vielen illegalen Einwanderern.

Sie meinen, die USA sind ein Paradies mit nur glücklichen Menschen. Doch wo gibt es denn das auf dieser Welt?

So beginnt die Geschichte von Rafa und Lalo eigentlich nicht am Tag, als sie in der Nähe von El Paso haarscharf einigen Killern entkamen.

Die Geschichte beginnt mehr als vierzehn Jahre früher.

Vierzehn Jahre sind eine lange Zeit, und trotzdem schien es Rafa und Lalo manchmal, als wäre die Zeit ihrer Kindheit so schnell verflogen wie einer dieser merkwürdigen Staubwirbel, die manchmal wie aus dem Nichts über den Wüstengegenden erscheinen und wie verrückt durch das Dornengestrüpp tanzen, bevor sie ohne wirklich eine Spur zu hinterlassen, wieder verschwinden.

Vielerorts galten Staubteufel von jeher als geheimnisvolle Vorboten merkwürdiger Geschehnisse.

Am Tag, als einer von ihnen durch die staubige Hauptstraße von Hickman tanzte, als wollte er die Leute auf das Unglück aufmerksam machen, das an diesem glühend heißen Tag, in dieser kleinen, ruhigen Stadt geschehen würde, schenkte ihm kaum jemand Beachtung.

Ein Unglück, mit dem keiner der Bewohner rechnete, denn hier in Hickman war seit geraumer Zeit nichts mehr passiert, nichts mehr, was in der Zeitung von Del Rio, dem nächstgrößeren Nest, für eine fette Schlagzeile gereicht hätte.

Die Leute in Hickman durchlebten einen Tag wie den anderen, in kleinen Holzhäusern an staubigen Straßen, die links und rechts der Hauptstraße angelegt waren und in die gleichen zwei Richtungen führten wie die Hauptstraße, nämlich nach Westen und nach Osten, oder von Nirgendwo nach Nirgendwo, wie Jim Colder, der Mann von der Tankstelle an der Hauptkreuzung von Hickman jedem zu sagen pflegte, der zufällig hier anhielt, weil er Benzin brauchte oder ein erfrischendes Getränk aus der Kühltruhe im kleinen Lebensmittelladen.

Drei Männer saßen an diesem heißen, staubtrockenen Nachmittag in Colders Laden und Café, Garage und Tankstelle an einem Tisch und tranken Malzbier aus der Dose, und als der steinalte Eugene Pook sie später mal fragte, ob denn keiner von ihnen diesen verrückten Staubteufel gesehen hätte, der auf der Hauptstraße Staub, Plastik und Papier durcheinander wirbelte und mitten auf der Kreuzung Main Street und Rio Grande Street, also vor der Tankstelle mehrere Sekunden lang stillstand, bevor er dann ostwärts davonbrauste.

Ein paar Stunden zuvor war das Unglück passiert. Draußen, auf der Kreuzung, glitzerten immer noch Glassplitter von den Scheiben und den Lampen der beiden Autos einige blutrot, wie Rubine.

Niemand ging an diesem Abend quer über die Kreuzung, wie es sonst die meisten Leute taten.

Mitten auf der Kreuzung war nämlich dieser dunkle Fleck auf dem Asphalt, wo das eine Auto, ein verbeulter Ford Falcon Stationwagon, mit dem kleinen Pickup von Bill Webster mit voller Wucht zusammengeprallt war und Feuer gefangen hatte.

In Hickman war für kurze Zeit die Hölle los gewesen.