Samuel Christian Pape wurde am 22. November 1774 in Lesum im Hause des Großvaters mütterlicherseits geboren. Die Lappenbergs sind eine angesehene Familie, aus der Theologen und Ärzte hervorgingen, auch in der Regionalgeschichte machen sie sich einen Namen.
Samuel Christian Lappenberg, Pfarrer zu Lesum, hatte 1771 seine 20jährige Tochter Luise Margarete Henriette dem 25jährigen Pfarrer Henrich Pape zur Frau gegeben, der im gleichen Jahr die Pfarrstelle in Wulsbüttel antrat, einem kleinen Ort auf halbem Wege von Lesum zur Wesermündung, auf dem sandigen Rücken zwischen Teufelsmoor und Wesermarsch.
Der junge Pfarrer entstammt ebenfalls einer honorigen Familie, sein Vater ist Auktionator und Notar. Der kleine Samuel Christian ist das zweite von fünf Kindern aus der ersten Ehe seines Vaters, weitere drei folgen in zweiter Ehe, und schon bei seiner Geburt ist abzusehen, dass er die besten Bildungseinrichtungen seiner Zeit wird nutzen können. Er stammt aus einer privilegierten Familie mit einem gewissen Ansehen und Einfluss.
Wulsbüttel, ein weltverlorener Ort, rundum von Heide umgeben, liegt zwischen Lesum und Ritzebüttel, der Keimzelle des heutigen Cuxhaven. Um 1718 befanden sich dort zehn Höfe, um 1791 immerhin 19 Feuerstellen (zum Vergleich: selbst im Jahre 1900 war lediglich eine weitere hinzugekommen: 20).
Die Kirche ist vergleichsweise alt, bereits 1269 wurde sie erwähnt, der Heiligen Lucia wurde sie geweiht. Lange haben sich die Pastoren hier nie gehalten, woran vor allem das geringe Einkommen und die geographische Lage schuld sind.
Zwischen 1541 und 1879 waren es dreißig Amtsbrüder, die sich abgewechselt hatten, das bedeutet eine statistische Amtsdauer von 11,27 Jahren, die übrigens Pastor Henrich Pape nur leicht überschreiten wird.
Nicht einmal eine Orgel besitzt die Kirche dieses armen Fleckens. Dafür gibt es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit seit mindestens 1721 eine Schule, denn seitdem ist ein Küster im Ort nachweisbar. Zu Zeiten des Henrich Pape war dies Lüer Mehrtens, der seinen Dienst von 1765 bis 1785 verrichtete. Das alte Schulhaus, in welchem Samuel Christian Pape gewiss einmal mit seinem Vater gewesen ist, wurde 1730 im Stil eines niedrigen Bauernhauses gebaut.
Die Pfarrerskinder im Orte Wulsbüttel gehören sicher einer besonderen Spezies an: freilich müssen auch sie beizeiten ihren Eltern in Haus und Hof zur Hand gehen, zu tun gibt es allzeit genug. Keinesfalls jedoch werden sie dermaßen als Arbeitspotenzial eingeplant und –wir wagen es zu sagen: ausgebeutet!– wie ihre Altersgenossen, die Kinder der Bauern und Handwerker, mit denen sie wahrscheinlich gar keinen oder kaum Kontakt hatten, denn es ist äußerst zweifelhaft, ob sie die Sprache der Einheimischen beherrschten, das Niederdeutsche oder Plattdeutsche.
Außerdem sind sie Zugezogene! Wenn auch aus dem unweiten Lesum.
In schneller Folge wird die Familie größer: zu den beiden ältesten Johann (*1772) und Samuel Christian gesellen sich Meta Rebekka (*1776), Juliane Judith (*1777) und schließlich Luise Margarete Henriette (*1781). Die Hauptlast der Hausarbeit, Erziehung und Ernährung der Familie, womöglich Viehhaltung und Gartenarbeit, trug die Pfarrersfrau, die damit, wir können es uns gut vorstellen, überfordert war, selbst wenn ihr Knecht und Magd zur Seite standen.
Ihr Mann hatte offenbar höhere Absichten. Nach einer Zeit der Eingewöhnung in die Pfarr- und Gemeindearbeit beginnt er eine ausgiebige Tätigkeit im Verfassen theologischer Schriften, womit er sich im regionalen Raum durchaus einen Namen macht.
Ab 1776 erscheinen eine ganze Reihe von Werken aus seiner Feder: das „53ste Kapitel Jesaiä übersetzt und erklärt“ (1777), das „Evangelium Lucä umschrieben und erläutert“ in zwei Teilen (1777, 1781), ein „Handbuch zum richtigen Verstande und nutzbaren Gebrauche der Sonn- und Festtagsevangelien und Epistel“ sowie diverse Predigten (alle 1781).
So wachsen denn Samuel Christian und seine Geschwister in einem gelehrten Elternhause heran. Die Bauern im Dorf werden nicht selten über den sonderbaren Pastor den Kopf geschüttelt haben, der nicht nur lesen und schreiben kann, sondern auch noch gelehrte Abhandlungen drucken lässt und aus fremden, alten Sprachen übersetzt. Wozu soll das denn gut sein? Naja, die Hauptsache ist, er gibt uns seinen Segen! Ob er das wohl in der Landessprache Niederdeutsch (Plattdeutsch) konnte? Das ist stark zu bezweifeln!
Vielleicht hat sich Samuel Christian in Wulsbüttel nicht wohl gefühlt, sicher eher fremd unter den Bauernkindern. Aber irgendwie müssen nun mal auch die Pfarrerskinder in dieses Dorf hinein passen. Wie gut dies gelang, wissen wir nicht. Was wir aber sagen können ist, dass diese Gegend in seinem späteren dichterischen Werk offenbar keine Spuren hinterlässt.
Wurde sein Vater für ihn zum unerreichbaren Ideal, dem er ein Leben lang nacheiferte? Und wie war wohl das Verhältnis zur Mutter in diesen frühen Jahren, von der sich sein Vater später, Samuel Christian war mittlerweile 20 Jahre, hat scheiden lassen. Die Wurzeln für all das, was später einmal geschehen wird, müssen ja schon hier in Wulsbüttel liegen.
Doch davon später.
Wir dürfen annehmen, dass der junge Wulsbütteler Pfarrer, der Henrich Pape, nichts vom neuen Geniekult seiner Zeit, dem Sturm und Drang, hielt. Immerhin hatte Johann Wolfgang Goethe gerade seinen „Götz von Berlichingen“ (1773) und im Geburtsjahr unseres zukünftigen „Heidedichters“ dann „Die Leiden des jungen Werther“ veröffentlicht und war quasi über Nacht berühmt geworden. Eher schon wird er sich zum schwärmerischen Hainbund und dem von dessen Bundesbrüdern verehrten Klopstock, dem Autor des „Messias“, hingezogen gefühlt haben.
Herders religiöse Schriften der 70er Jahre, des Amtsbruders in Bückeburg, später dann in Weimar, wird er gekannt, aber wohl nicht geschätzt haben. Sie kamen ihm zu überschwänglich und bruchstückhaft vor. (Später würde man sie dem Sturm und Drang zuordnen.) Die ganze gelehrte Welt der Theologie und manch anderer Wissenschaft gab sich ein Stelldichein in Pfarrer Papes Kabinett, seine Bibliothek wuchs langsam, aber stetig, um vor dem verheerenden Visselhöveder Brand 1795 gut 3500 Bände zu zählen! Das bedeutet, dass er im Durchschnitt jedes Jahr 175 Bücher erworben hat, also 15 pro Monat! Er wird sich vermutlich einige Tiraden seiner Frau hat anhören müssen, wie das zu allen Zeiten vorkam, wenn das Geld, statt in die vielköpfige Familie zu fließen wieder einmal für teure Folianten ausgegeben wurde.
Sicher gehörte er nicht in die erste Reihe der theologischen und philosophischen Köpfe in den deutschen Provinzen. Er konnte und wollte nicht konkurrieren mit Leuten wie Herder, Lessing, Möser, Mendelssohn, Hamann, Gerstenberg, Kant und wie die großen Geister noch alle hießen, die um die Würde des Menschen rangen und seinen Platz in dieser Welt bestimmen wollten.
Dafür wusste Henrich Pape genau, wo sein Platz im Leben war: das Wort Gottes in all seinen Ausprägungen seinen Mitmenschen nahe zu bringen, dies war sein Anliegen. Schriftstellerischer und wissenschaftlicher Ruhm waren ihm fremd.
In dieser Atmosphäre wächst Samuel Christian heran. Ihm bleibt nicht verborgen, dass sein Vater ein geachteter Theologe ist. Fast täglich kommen Buchsendungen aus allen deutschen Landen ins Haus, werden Korrespondenzen geführt, gelegentlich Gäste empfangen, wie es bei produktiven geistigen Köpfen so zuzugehen pflegt.
Eine Schule gibt es im bäuerlichen Wulsbüttel zwar, selbstverständlich aber übernimmt der Vater die Einführung in die Anfangsgründe des Rechnens, Lesens und Schreibens für seine Söhne. Er ist ohnehin an Wissen dem durchschnittlichen Schulmeister weit überlegen.
Im Jahre 1783 schließlich tritt der allseits geachtete Pfarrer und bewunderte Theologe die Pfarrstelle in Visselhövede an. Mit seiner Frau und den fünf Kindern kommt der regional berühmte und geschätzte Mann im Heideflecken an – und mit einer beträchtlichen Anzahl an Büchern.
Es spricht sich selbstverständlich in Windeseile herum: der neue Herr Pfarrer, 38 Jahre alt, ist ein gelehrter Mann, der sogar in Bremen drucken lässt. Die allermeisten der hiesigen Einwohner sind des Lesens und Schreibens unkundig, ein separates Schulgebäude existiert nicht. Im Jahre 1773 zählte der Flecken 58 Häuser, drei Jahre nach Amtsantritt des Henrich Pape zählte man für die Amtsvogtei Visselhövede stolze 221 gewerblich Tätige. Somit dürfen wir vermuten, dass Pastor Pape etwa vierbis fünfhundert Seelen zu betreuen hatte.
Partner zum gelehrten Diskurs wird er im Ort schwerlich gefunden haben, er wird sich, wie auch früher schon, zum Zwiegespräch in seine weiter anwachsende Bibliothek zurückgezogen haben, soweit dies seine Amtsgeschäfte zuließen.
Sein missionarischer Eifer war nichts weniger als erloschen. Seine Abschiedspredigt in Wulsbüttel ebenso wie die Antrittspredigt in Visselhövede hatte er gewissenhaft und exemplarisch ausgearbeitet und von der Kanzel verkündet. Sie erscheinen ein Jahr später gedruckt in Bremen unter dem Titel:“Zwo Predigten, bei Amtsveränderungen gehalten“.
Pastor Papes Kinder werden es anfangs nicht leicht gehabt haben im Flecken. Im Pfarrhaus gibt es mancherlei kleinen und größeren Luxus, der den Visselhöveder Gassenkindern völlig fremd ist. Die meisten Gleichaltrigen kennen außer Bibel und Gesangbuch nichts Gedrucktes, ihre Kleidung kann sich nicht entfernt mit derjenigen der Pastorenkinder messen und wohlhabende bzw. einflussreiche Verwandte im großen Bremen haben sie schon gar nicht.
Aber es gibt auch einige Honoratioren am Ort, deren Umgang dem gebildeten Kirchenmann nicht unangenehm gewesen sein mag, wenn auch ihre geistigen Interessen in andere Richtungen gingen.
Da war zum einen der Bürgermeister Johann Cord Böttger, der die Geschicke des Fleckens leitete. Ihm zur Seite stand der Amtsvogt Heinrich Friedrich Wedekind, dessen Sohn eben gerade im Jahr zuvor an die Universität zu Helmstedt abgegangen war. Er sollte später ein bekannter Historiker werden, wir hören noch von ihm.
Auch der Kaufmann Johann Heinrich Küper beweist Weitsicht, indem er seinen Sohn Heinrich Martin an das Lyceum zu Verden schickt.
Diese Männer, dazu die Ratsherren und vielleicht ein Arzt, das mag der tägliche Umgang des gelehrten und frommen Pastors und damit auch seiner Familie gewesen sein, insbesondere des kleinen Samuel Christian.
Wie sieht aber wohl das Alltagsleben dieses kleinen Neuheidjers aus? Wohin hat ihn das Schicksal verschlagen?
Nun, gar so düster, wie Arno Schmidt uns glauben machen will, brauchen wir uns Visselhövede und seine Umgebung wahrlich nicht vorzustellen. Der gleiche Charme, den die – zugegeben etwas spröde – Heide- und Wacholderlandschaft heute auf Hunderttausende Touristen ausübt, mag auch den heranwachsenden Samuel Christian betört haben.
Und überhaupt: der Flecken hatte etwas Besonderes an sich, etwas Geheimnisvolles, Mystisches. Es gibt alte Geschichten, denen der Knabe erregt lauscht: wie der katholische Pater Arnoldi zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges im Paterbusch erschlagen wurde; von den furchtbaren Feuersbrünsten, die den Flecken in den letzten hundert Jahren dreimal heimsuchten, wobei auch das Pfarrhaus (!) abbrannte; und noch keine dreißig Jahre war es her, da starb wahrhaftig der Pastor Diekmann an den Folgen der barbarischen Franzosenbesatzung im Siebenjährigen Krieg – so jedenfalls erzählen es die älteren Einwohner.
Dann wieder malt er sich in seinen Träumen die glänzende Kettenburg aus, die eine knappe Stunde Fußweg entfernt lag. Und immer wieder kreisen seine Gedanken um den geheimnisumwitterten Kirchhof. Hier stehen die noch vorhandenen Gräber der Amtsvorgänger seines Vaters als Symbol der Vergänglichkeit.
Allein der massige Kirchenbau muss für den kleinen Samuel Christian riesig ausgeschaut haben und ehrfürchtig wird er sich im Inneren des Gotteshauses bewegt haben.
Die Visselquelle gleich daneben zieht den Knaben magisch an, gleichzeitig schaudert ihm vor der Tiefe des Sees. Immer wieder hört man Gerüchte von ertrunkenen Kindern, denen er bereitwillig Glauben schenkt.
In der vielköpfigen Familie sind die beiden ältesten Brüder natürlich für die jüngeren Geschwister mit verantwortlich, das ist gerade in der Pastorenfamilie ein Eckstein der Erziehung. Sie sind ein Beispiel für den ganzen Flecken. Außerdem müssen die Knaben sich beizeiten für höhere Aufgaben bilden. Sie werden später nicht in der Landwirtschaft tätig sein, ja, sie werden auch nicht wie die große Mehrzahl ihrer Visselhöveder Altersgenossen ihr Leben lang im Flecken bleiben.
Mag sein, dass Samuel Christian schon in diesem zarten Alter etwas von der Unrast gespürt hat, die ihn später noch oft genug erfasste. Aber ist denn das ein Wunder? Haben sich nicht vor und nach ihm so manche Pfarrerssöhne mit dem Leben schwer getan, zumal jene, die eine schöngeistige Ader in sich spürten?
Wie lange hatte es gedauert, bis Lessing endlich die Bibliotheksstelle in Wolfenbüttel bekam?
Wie viel Mühe hatte es Bürger gekostet, seine Angehörigen davon zu überzeugen, dass er nicht Pastor werden könne?
Von Lenz ganz zu schweigen, der seit seinen Genie-Jahren nur mehr hart am völligen Zusammenbruch dahinlebte.
Es sind gerade zwei Jahre vergangen, da schickt Henrich Pape seine beiden Ältesten auf die Bremer Domschule. Zwar ist das Verdener Lyceum näher am Flecken und einen guten Ruf hat es obendrein. Aber in Bremen leben schließlich die Verwandten, die allemal für eine bessere Erziehung sorgen werden.
1785 also müssen sich Johann und Samuel Christian Pape schon wieder von Visselhövede verabschieden, denn etwas Vernünftiges lernen müssen sie und das geht im Flecken nicht. Sie wohnen beim Großvater Johann, dem Notar und werden für die nächsten sechs Jahre in der Stadt leben.
In den Ferien jedoch, so darf man vermuten, fahren sie gerne zurück in den Heimatort.
Heimat?
Gab’s das überhaupt für Samuel Christian Pape?
In Wulsbüttel war er noch zu klein, um Wurzeln zu schlagen, Visselhövede musste er, kaum dass er den Ort lieb gewonnen hatte, verlassen. Und Bremen ist für einen, der träumerisch und melancholisch auf der Suche nach seinem inneren Paradies ist, entschieden zu groß.
Ja, der kleine Johann Wolfgang aus der Familie des Kaiserlichen Rates Goethe, der ist im Handelszentrum Frankfurt am Main aufgewachsen, der fühlte sich in den Städten und an den Höfen zu Hause, wie ein Fisch im Wasser.
Ein Samuel Christian Pape braucht die Natur, das Land, den verwunschenen Kirchhof. Er wird jedes Mal froh gewesen sein, nach Monaten des Lateinbüffelns, der Arithmetik und Geometrie sowie des Bibelstudiums wieder einmal mit der Postkutsche Richtung Osten unterwegs zu sein. Und spätestens wenn die Spitze des Verdener Doms hinter ihm zurückblieb, wird sein Herz aufgegangen sein.
Hier in Visselhövede wurde er Zeuge eines erstaunlichen Aufschwungs, bescheiden zwar, doch unübersehbar.
Mit gutem Recht dürfen wir annehmen, dass Henrich Pape seinen Einfluss im Flecken in sehr günstiger Weise geltend gemacht hat. Denn das eine große Projekt betrifft eine grundlegende Restaurierung bzw. Erweiterung seines Gotteshauses. Im Jahre 1786, bereits drei Jahre nach Papes Amtsantritt wird an der Nordseite des Kirchenschiffes ein Anbau geschaffen.
Das kann kein Zufall sein! Hier ist die tatkräftige Handschrift eines Menschen zu sehen, der nicht nur reden und die besten Gedanken drucken lassen will, sondern auch etwas bewirken und aufbauen.
In den nächsten Jahren legt er ein Inventarium, ein Lagerbuch der Kirche an, außerdem kommt es zur Erneuerung der Kanzeldecke. Und schließlich wird in den frühen 90er Jahren im Garten der zweiten Pfarre in der Schäferstraße ein Schulgebäude errichtet und damit endlich ein würdiger Rahmen für die Bildung der Jugend geschaffen.
Alle diese kleinen und großen Veränderungen bemerkt erstaunt auch der junge Samuel Christian, wenn er wieder einmal für die Zeit der Schulferien nach Hause kam. Er ist der Vorzeige-Sohn in der Familie. Mit bereits erstaunlichem rhetorischen Talent begabt ist er vom Vater schon frühzeitig zum Beruf des Pastors auserkoren.
Leider bemerkt der Sohn bei seinen Besuchen ebenso eine deutliche Abkühlung des Verhältnisses seiner Eltern untereinander. Vielleicht war es niemals eine mustergültige Ehe gewesen, aber solche Spannungen, wie sie neuerdings herrschten, verhießen nichts Gutes.
In seiner freien Zeit zu Hause beginnt Samuel Christian die Umgebung des Pfarrhauses zu durchstreifen. Der Flecken ist nicht groß, nach wenigen Schritten befindet er sich auf Feld und Heide oder im schattigen Wald. Welch ein Unterschied zur Steinwüste Bremen.
Er gesellt sich zu den wortkargen Schäfern auf der Heide, beobachtet die Bauern bei ihrer schweißtreibenden Arbeit auf dem Acker. Aber irgendetwas lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Er weiß genau, dass er nicht zu diesem Kreis Menschen gehören kann, er ist nur zu Besuch dort. Er sehnt sich nach einem festen Platz im Leben, etwas, was für ihn offenbar momentan nicht zu erreichen ist.
Im Jahre 1789 kommt es auf dem Kirchhof zu einem merkwürdigen Ereignis: die Grabstelle eines früheren Pastors stürzt ein. Solche Vorkommnisse bieten auf allen Friedhöfen der Welt Anlass genug für Mutmaßungen und Befürchtungen.
Während die Obrigkeit eiligst Gerüchte dementieren lässt, die Französische Revolution käme nun auch nach Visselhövede, wissen die einfachen Fleckenbewohner: es braut sich etwas zusammen, das kann kein gutes Zeichen sein (nach dem Brand 1795 will es jeder gewusst haben, der Einsturz des Grabes war ein Vorzeichen!).
Auch für Samuel Christian ist dies ein weiteres Zeichen für die Vergänglichkeit des Lebens. Er hat jedoch keine Angst vor dieser düsteren Stätte, im Gegenteil, jetzt zieht es ihn erst recht zum Kirchhof und zur Visselquelle.
So vergehen die Jahre. Während der Knabe heranwächst, mehr in Bremen als in Visselhövede, ist der Vater in seiner Gemeinde unermüdlich tätig. Er hat sogar noch Zeit, einige Schriften in Druck zu geben, unter anderem ein „Christliches Glaubensbekenntnis für Confirmanden“ (1786, 2.Auflage 1790), ein „Tägliches Gebetbüchlein, insonderheit für Christen auf dem Lande“ (1786), dann eine „Dankpredigt auf die Genesung des Königs von England“ (1789, alle Bremen) sowie die „Kleine Konkordanz über das Bremen- und Verdensche Gesangbuch“ (Stade 1790), von Aufsätzen, Predigten und kleineren Beiträgen ganz zu schweigen. Und dann ist er ja vor allem mit sieben Liedern im „Gesangbuch für die Herzogthümer Bremen und Verden“ (1789) vertreten, neben so illustren Namen wie Klopstock und Gellert, Luther und Paul Gerhardt.
In das Haus dieses Mannes kehrt Samuel Christian 1791 von der Domschule Bremen als 17jähriger zurück, im gleichen Jahr, in dem der berühmte Freiherr Adolph von Knigge als hannoverischer Oberamtmann und Scholarch an diese Lehranstalt kommt.
Wer weiß, wie Papes Leben verlaufen wäre, wenn er unter den Einfluss dieses Mannes geraten wäre.
Einerseits ist er stolz, ein Pape zu sein, er bewundert seinen Vater für seine Tatkraft und Belesenheit, für seine Beständigkeit und sein Beharrungsvermögen. Andererseits fragt er sich oft, ob er jemals das Leben meistern wird im Schatten eines solchen „Bildungskolosses“. Er ist sich da nicht so sicher, aber Henrich Pape lässt keinen Zweifel aufkommen: alles läuft seinen geplanten Weg, als nächstes wird er den Sohn im Hebräischen unterrichten, damit er in einigen Jahren auf die Universität zum Theologiestudium gehen kann. Dieser Mann ist ein Übervater, sich ihm anvertrauen bedeutet, sich selbst aufgeben...
Der ältere Bruder Johann hat übrigens mittlerweile das Jurastudium in Jena aufgenommen. Er ist aus anderem Holz geschnitzt, gar nicht poetisch veranlagt, weder grüblerisch noch romantisch. Er strebt den Beruf des Juristen an.
Sehr wahrscheinlich hat Samuel Christian Pape während der drei Jahre, in denen er sich nun in Visselhövede aufhält, dem Vater in vielen kleinen Arbeiten assistiert. Bibelfest wird er längst gewesen sein, vielleicht hat der Vater ihn beauftragt, die eine oder andere Predigt auszuarbeiten. Höchst-wahrscheinlich hat er auch im eben fertiggestellten Schulgebäude als Hilfslehrer gewirkt. Er gilt im Flecken als Nachfolger des Herrn Pastor, ein junger Mann mit dem Kopf voller Bildung, dass den einheimischen Bauern schwindlig wird. Aber ganz so einfach stellt sich die Sache für Samuel Christian nicht dar. Ihn beginnt die unsichtbare Mauer zu quälen, die ihn von den einfachen Menschen trennt. Alles, was er vom Leben weiß, hat er aus Büchern gelernt, in der Schule in Bremen, in der Bibliothek seines Vaters, die er mittlerweile mit verwaltet und pflegt.