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Die drei Kapitäne
Eine Seegeschichte von Friedrich Meister
Original um 1900
Neufassung und Digitalisierung von Peter M. Frey.
In der Neufassung nimmt Peter M. Frey leichte Veränderungen am Originaltext vor, die der Lesbarkeit und der Übertragung in die heutige Zeit geschuldet sind. Ziel ist es, den Charakter des Originals so weit wie möglich zu erhalten. Im alphabetisch geordneten Glossar finden sich Erläuterungen zu Fachbegriffen aus der Seefahrt.
Peter Frey arbeitet als freier Journalist und Autor in Süddeutschland.
Copyright © 2017 Peter M. Frey
Herstellung und Verlag
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 9783743160460
Friedrich Meister wurde 1848 in Baruth in Brandenburg geboren und starb 1918 in Berlin. Er war ursprünglich ein Seefahrer der alten Schule. Zu seiner Zeit wurde der überseeische Handelsverkehr zum größten Teil noch durch Segelschiffe besorgt. Auf solchen Segelschiffen fuhr Friedrich Meister zehn Jahre lang durch alle Meere - die Polarmeere ausgenommen - und bei Sonnenschein und Sturm erlebte er manches Abenteuer. Dabei lernte er fremde Länder und Völker kennen. Er bereiste China, Siam, Japan und den Südsee-Archipel bis zur Küste von Neu-Guinea und nördlich davon, die Philippinen. Er war in Westindien, Nord- und Südamerika, England, Italien und Griechenland. Er sah die „Sultanstadt am Goldenen Horn“, das heutige Istanbul, und die Westküsten des Schwarzen Meeres. In Japan erkrankte er an einem Augenleiden, das ihn schließlich dazu zwang, den Seemannsberuf aufzugeben. An Land wusste er zunächst nicht, wovon er leben sollte. Er versuchte dies und das und gelangte schließlich zur Schriftstellerei. Friedrich Meister ist Autor zahlreicher Jugendbücher.
Aus dem Vorwort von ‚Burenblut’
Ich führe meine jungen Leser in die ehrwürdige deutsche Seestadt Danzig. Dort in der Jopengasse steht heute noch das alte Haus, das den Helden meiner Geschichte in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts (des 19. Jahrhunderts, Anm. Peter M. Frey) ein Heim gewesen ist.
Hoch und schmal ragt die Straßenfront des altertümlichen Gebäudes empor, nicht mehr als drei Fenster zählt es in jedem der Stockwerke. Vor dem Erdgeschoss lagert ein sogenannter Beischlag, eine mit Steinbänken versehene Plattform, zu der von der Gasse her eine bequeme Treppe hinaufführt, deren kunstvoll geschmiedetes Eisengitter in zwei großen, steinernen Kugeln endet. Ein alter Kastanienbaum wirft seinen Schatten über den Vorplatz.
Durch die reichgeschnitzte Haustür betreten wir den Flur, an dessen Wänden große, dunkel gebeizte Schränke stehen, oben mit bauchigen, blauen und weißen Vasen besetzt. Der Haustür gegenüber, zur Seite der breiten Stiege öffnet sich der Eingang zu dem Wohngemach der Familie.
An dem Tag, mit dem unsere Erzählung beginnt, saßen in der Abenddämmerung in diesem altmodisch ausgestatteten Zimmer zwei junge Menschenkinder, ein blondlockiger, blauäugiger Junge von etwa siebzehn Jahren und ein Mädchen mit schwarzem Haar und großen braunen Augen, das ein Jahr älter sein mochte. Beide waren Geschwister, die Kinder des Schiffskapitäns Gotthelf Winter. Der Knabe hielt ein Navigationsbuch in der Hand, schaute aber mehr zum Fenster hinaus als auf die Seiten mit den mathematischen Figuren. In ihm arbeitete große Unruhe. Endlich sprang er auf.
»Ich kann nicht mehr!«, rief er. »Wie soll ich lernen und stillsitzen, wenn die Angst mir das Herz abfrisst!«
»Sprich leiser, Reinhold, sonst weckst du Paul aus dem Schlaf«, entgegnete die Schwester, mit ihrem Nähzeug dichter an den Bruder heranrückend. »Du musst nicht so aufgeregt sein, noch ist ja nicht alle Hoffnung verloren, und Gott wird uns nicht verlassen.«
»Ich soll nicht aufgeregt sein«, murrte Reinhold finster. »Wie kann ich ruhig bleiben, wenn ich immer an unseren Vater denken muss? Schon vor fünf Wochen hätte der »Hochmeister« binnen kommen müssen! Du freilich hast gut reden, du denkst an nichts weiter, als an deine Näherei ...«
Ein vorwurfsvoller Blick des jungen Mädchens ließ ihn verstummen. Ihre sonst so klaren, dunklen Augen schwammen in Tränen. »Vergib mir, Luise!«, bat er. »Ich meinte es nicht böse. Aber ich quäle mich mit den schrecklichen Gedanken!«
»Glaubst du vielleicht, dass ich mir keine Sorgen mache?«, entgegnete sie. »Du kannst wenigstens noch aus dem Haus gehen, ins Kontor und zu deinen Freunden, und so Zerstreuung finden; ich aber bin den ganzen Tag allein und habe nur Paul zur Gesellschaft. Meinst du, ich grämte mich nicht um den Vater? Was aus uns werden soll, wenn ihm ein Unglück zugstoßen ist, das weiß der liebe Gott allein!«
Sie seufzte schwer und neigte den Kopf tief über ihre Arbeit, um dem Bruder die strömenden Tränen zu verbergen.
Reinhold, Luise und der dreizehnjährige Paul, die drei mutterlosen Kinder Kapitän Winters, waren gegenwärtig die einzigen Bewohner des alten Hauses in der Jopengasse. Hier waren die Kinder geboren, hier hatte die Mutter die Augen zur ewigen Ruhe geschlossen, und von hier aus hatte der Vater sich auf die weite Seereise begeben, von der er nicht zurückgekehrt war.
Ob sein Schiff, der Hochmeister, auf den Klippen des Indischen Ozeans gescheitert, ob es in einem Sturm untergegangen, ob es Seeräubern in die Hände gefallen war, niemand wusste es, da keinerlei Nachricht nach Danzig gekommen war.
»Es muss etwas geschehen, Luise«, fuhr Reinhold fort, indem er schnellen Schrittes im Zimmer auf und ab ging. »Wir dürfen hier nicht untätig sitzen, als ob uns die Hände gebunden wären!«
»Was aber soll geschehen?«, fragte das Mädchen in einiger Überraschung »Unser Geld ist bis auf einen kleinen Rest verausgabt, wir können also keine kostspieligen Nachforschungen im Ausland veranstalten lassen. Wir müssen Geduld haben, Reinhold; so lange ich arbeiten kann, werden wir nicht verhungern, und du verdienst ja im Kontor ...«
Reinhold unterbrach sie heftig. »Wie kannst du mir zumuten, noch ferner im Kontor zu hocken, während unser Vater vielleicht draußen in der Ferne sehnsüchtig auf Hilfe wartet!«, rief er. »Schon ist mehr als ein Monat seit dem letzten Termin verstrichen, an dem der »Hochmeister« zu erwarten war.«
Der Messingklopfer draußen wurde schwer gegen die Haustür geschlagen. Dumpf dröhnte der Schall durch den Hausflur.
Luise erhob den Kopf; sie war ganz bleich geworden. Auch auf Reinholds Gesicht wechselte die Farbe, als er nach vorn schritt, zu erkunden, wer da so ungestüm Einlass begehrte.
»Wer ist da?«, fragt er.
»Martin Hammer ist da«, antwortete eine starke Bassstimme von draußen. »Mach nur auf, mein Junge; ich muss sehen, wie es euch geht, wie die Seejungfer sich befindet.«
Trotz seines Kummers musste Reinhold lächeln. Auch Luise, die »Seejungfer«, die ihm auf den Flur gefolgt war, lächelte. Kapitän Hammer würde sicherlich nicht so scherzen, wenn er der Überbringer schlechter Nachrichten wäre.
Ein ältlicher Seefahrer, dessen breite Gestalt fast die Pfortenöffnung ausfüllte, schob sich geräuschvoll herein. »Sieh da, Reinhold, mein alter Bursche, was machst du?«, rief der Kapitän laut. »Und wie geht es der »Seejungfer«? Ach, da ist sie ja! Komm her, mein Mädel, gib mir einen Kuss! So war’s recht! Süß wie Sirup! Und wie steht’s mit dem kleinen Paul?«
»Danke, Onkel Martin«, antwortete Luise, mit dem Bruder den Kapitän in das Hinterzimmer geleitend. »Paul schläft bereits. Hast du Nachricht für uns?«
»Und du, Reinhold?«, wandte der Schiffer sich an diesen. »Fleißig im Kontor, he?« Oder schaust du noch immer lieber in den nautischen Almanach als ins Hauptbuch? Sitzest, wie früher, lieber im Segelboot, als auf dem Drehstuhl im staubigen Kontor? Ich glaub dir’s, Junge.«
»Onkel Martin«, versetzte dieser mit bebenden Lippen, »wir sind in schweren Sorgen.«
»Ja, Onkel Martin«, sagte auch Luise, »recht in Not!«
»In Not seid ihr? Mein Gott, ihr armen Kinder! Hier seht hier - da, nehmt die Goldfüchse, sie sind ehrlich erworben. In Not also seid ihr! Ach, ach!«
»Nicht in Geldnot, Onkel Martin«, wehrte Luise tränenden Auges ab. »Wir haben noch immer von dem Geld, das der Vater uns zurückließ, und danken dir daher von Herzen. Aber wir sehnen uns so schmerzlich nach Kunde von unserem Vater. Weißt du etwas über den Verbleib des Hochmeister?«
Damit schob sie das Häuflein Dukaten zurück, das der brave Schiffer vor sie auf den Tisch gelegt hatte. Wohl hatte er Kunde von Kapitän Winter, und gerade deswegen war er mit gefüllter Tasche gekommen. Aber die Kunde mitzuteilen wurde ihm schwer. »Du weißt etwas, Onkel Martin«, sagte Reinhold, dem Kapitän Hammer forschend in das wettergebräunte Gesicht schauend. »Lass uns alles wissen, und wär’s auch noch so schlimm. Wir sind keine Kinder mehr.«
»Hm!«, machte der Schiffer, indem er die Dukaten langsam wieder in seine Tasche fallen ließ. »Hm! Hm! Freilich, etwas mitzuteilen habe ich. Darum bin ich auch hergekommen; ich meine, um das Ding mit euch zu überlegen.«
»Ist’s Nachricht vom Vater?«, fragte Luise, in atemloser Erwartung die Hände auf dem Schoß faltend.
»Ja, liebes Kind, es ist eine Nachricht von eurem Vater. Ruhig, sage ich! Eine Post ist gekommen ...«
»Eine Post?«, rief Reinhold ganz erstaunt. »Woher? Ist’s ein Brief? Von wem?«
»Eine Post von eurem Vater.«
Vor Freude weinend barg Luise ihr Antlitz in den Händen. Der Schiffer streichelte ihr sanft und zärtlich das Haar.
»Es ist eine Botschaft, die das Meer selber uns gebracht hat«, fuhr er fort.
»Das Meer selber?«, wiederholte Reinhild. »Dann ist des Vaters Schiff verloren!«
Luise stieß einen leisen Schrei aus.
»Ruhig, sage ich!«, knurrte der alte Seefahrer. »Behalte deine Weisheit für dich, bis du gefragt wirst, mein Junge. Wie kannst du die Seejungfer so erschrecken? Die Botschaft ...«, redete er weiter, sich zu Luise niederbeugend, »ist eine Flaschenpost, das heißt, ein Zettel in einer Weinflasche, die von Kapitän Nikolas Brumm am Kap der Guten Hoffnung aufgefischt worden ist. Und darum kam ich her.«
Reinhold und Luise blickten einander an; nach einer kleinen Pause sagte die Letztere: »Erzähle weiter, Onkel Martin; verschweige uns nichts, und wäre es das Schlimmste.«
»Nun«, antwortete der Kapitän, »dieses Schlimmste ist lange nicht so gefährlich, als ihr zu fürchten scheint; immerhin aber ist es schlimm genug. Die Mannschaft des Hochmeister hat gemeutert und ist hernach in den Booten davongegangen. Die Halunken wollen Seeräuber werden, wie es scheint ...«
»Seeräuber! O Gott!«, rief Luise. »Da muss unser armer Vater ja schreckliche Menschen an Bord gehabt haben!«
»Ja, Kind, ausersehene Schufte sind’s gewesen«, nickte Kapitän Hammer.
»In welcher Gegend befand sich das Schiff, als die Meuterei sich ereignete?«, fragte Reinhold.
»Stopp!« Der alte Schiffer begann mit beiden Händen zugleich in seinen Westentaschen herumzugraben. »Ich muss den Zettel bei mir haben, wie mir einfällt.«
Er betrachtete erst den in der Linken zu Tage geförderten Krimskrams und sodann den in der Rechten. »Da ist er nicht«, brummte er vor sich hin und schob den Kram in die Westentaschen zurück. Nun holte er eine verwitterte Brieftasche hervor und blätterte darin umher. Vergebens. Schließlich machte er sich wieder an die geräumigen Westentaschen und brachte endlich mit triumphierender Miene ein zusammengefaltetes Stückchen Papier zum Vorschein, das er mit seinen schweren Fingern vorsichtig öffnete und auf dem Tisch ausglättete. Darauf las er den Inhalt des Papiers laut und langsam vor wie folgt:
»Indischer Ozean, 26 Grad 30 Minuten Südbreite und 42 Grad 20 Minuten Ostlänge. An Bord des Hochmeister von Danzig. Meine Mannschaft hat gemeutert und das Schiff verlassen. Da ich jedoch befürchten muss, dass die Leute mit einem in Sicht befindlichen Fahrzeug, das ich für ein Piratenschiff halte, in Verbindung stehen und in der Nacht den Hochmeister überfallen werden, so habe ich die Passagiere und die Wertkisten in zwei Booten von Bord geschickt und dem Schutz des Allmächtigen anbefohlen. Ich bin allein an Bord geblieben. Der Herr lenke mein Schicksal nach Seiner Weisheit. Meiner Tochter Luise und meinen Söhnen die innigsten Segenswünsche ihres Vaters, der sie liebt bis in den Tod. Gotthelf Winter.«
Er schwieg, nahm die Brille ab, schob sie ins Futteral und sah erst das Mädchen und dann den Jungen an.
»Mein armer, armer Vater!«, weinte Luise.
»Wir müssen ihm zu Hilfe kommen!«, rief Reinhold mit blitzendem Auge. »Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen, jetzt wo wir wissen, was ihm zugestoßen ist! Was sagst du, Onkel Martin?«
Onkel Martin schnitt ein Gesicht und kratzte sich den kahlen Schädel. »Das ist bald gesagt«, meinte er. »Ich habe auf dem Weg hierher mit verschiedenen Schiffern und Reedern gesprochen, aber keiner wusste Rat. Wir müssen’s überlegen, Sohn, aber ich fürchte, ich fürchte ...« Ein Blick in des Mädchens schmerzerfüllte Augen ließ ihn verstummen.
»Wir müssen’s nicht nur überlegen, sondern wir müssen auch Mittel und Wege finden!«, rief Reinhold heftig. Des Jungen Antlitz glühte, und aus seinem Auge blitzte eine feste, männliche Entschlossenheit. Er ergriff Luises Hand. »Fasse Mut, Schwester«, sagte er liebevoll. »Wir werden unseren guten Vater erretten. Eine innere Stimme sagt mir, dass er lebt und dass es uns gelingen wird, ihn aufzufinden.« Kapitän Hammer nickte langsam mit dem ehrwürdigen Haupt. Das kühne, zuversichtliche Wesen des Jungen gefiel ihm. »Ein echter Sohn seines Vaters«, sagte er zu sich selber, »ein Span vom alten Kernholz. Er hat Recht, es muss und soll etwas geschehen. Auf meinen Beistand kann er zählen. Vor allem aber ist Geld nötig, viel Geld.«
Und laut fuhr er fort:
»Wir werden das Ding im Auge behalten, Reinhold. Dein Vater hat viele Freunde hier in der Stadt, die können jetzt ihre Gesinnung bestätigen. Soll etwas unternommen werden, so gehört vor allem Geld dazu. Hast du das?«
»Nein«, antwortete der Junge, »aber ich zweifle nicht daran, dass die Danziger Reeder und Kaufherrn, die ja alle den Kapitän Gotthelf Winter kennen, mir behilflich sein werden, ein Fahrzeug auszurüsten, mit dem ich mich auf die Suche nach dem Verlorenen begeben kann. Und das weiß ich bestimmt: Da ist kein Seefahrer, kein Hafenbeamter, ja, kein Sackträger hier am Ort, der nicht mit Freuden die Hand bieten wird, wenn es gilt, meinem Vater in seiner Not beizuspringen!«
»So ist es und so soll es sein«, sagte Kapitän Hammer ernst. »Gott sei Dank, eines braven Mannes brave Kinder sind nie verlassen. Du hast Mut, Junge, das freut mich.«
»Ja, wusstest du das nicht längst, Onkel Martin?«, lächelte Reinhold. »Bin ich nicht Kapitän Winters Sohn?«
»Der bist du, und nun glaube auch ich, dass die Vorsehung dir und uns allen beistehen wird. Aber Geld, Kinder, Geld ist die Hauptsache. Wollen sehen, wie das Ding sich steuern lässt. Gute Nacht, Kinder, morgen bin ich wieder da.«
Er klopfte der »Seejungfer« liebreich die Wange und ließ sich von Reinhold auf die Stiege geleiten.
Kapitän Martin Hammer stapfte die Stufen des Beischlags hinab und steuerte der Richtung der Langen Brücke zu, wo in der Gegend des altersgeschwärzten, weit gegen den Kai überhängenden Krantors, das kleine Wirtshaus lag, das zu jener Zeit ein Lieblingsaufenthalt der Schiffskapitäne war.
Reinhold schaute der breiten Gestalt des Schiffers lange nach, dann seufzte er tief auf und ging in das Haus zurück. Er verschloss die Tür und begab sich zu seiner Schwester in das Hinterzimmer.
Eine Zeit lang saßen beide in nachdenkliches Schweigen versunken. Endlich nahm Luise das Wort.
»Reinhold«, begann sie, »habe ich dich recht verstanden, willst du dich selber aufmachen und unseren Vater suchen?«
»Das ist mein fester Vorsatz. Sobald ich gefunden habe, was ich brauche, mache ich mich auf den Weg.«
»Wirst du auch imstande sein, solch ein Wagnis durchzuführen?«, warf Luise ein. »Du brauchst dazu ein Schiff, Leute und Geld. Wir selber aber haben kaum noch so viel, um eine kleine Weile das Leben fristen zu können. Und wo das Schiff hernehmen? Und die Leute?«
»O, Leute finde ich schon«, antwortete Reinhold nach einigem Zögern. Seine vorherige Zuversichtlichkeit schien etwas wankend geworden zu sein. Luises praktische Behandlung der Sache brachte ihn in Verlegenheit.
»Bester Reinhold«, fuhr Luise fort, ihr Nähzeug weglegend und dann beide Arme um des Bruders Hals schlingend, »bester Reinhold, höre mir zu. Was soll aus Paul und mir werden, wenn du fortgehst? Es bleibt nur eins: Vaters Reeder und Freunde zu bitten, den Hochmeister aufsuchen zu lassen; den Reedern muss doch auch daran gelegen sein, ihr Schiff wieder zu erlangen, nachdem sie durch unsres Vaters Flaschenpost erfahren haben, dass es nicht zugrunde gegangen ist. Du aber wirst den Plan, dich selber aufzumachen, fallen lassen. Versprichst du mir das?«
»Nimmermehr!«, rief Reinhold, vom Stuhl aufspringend. »Unser guter Vater ist ein Opfer nichtswürdiger Schurken geworden, und ich soll keinen Versuch machen, ihm zu Hilfe zu kommen? Luise, ich verstehe dich nicht!«
»Beurteile mich nicht falsch, Reinhold! Ich würde nicht versuchen, dich zurückzuhalten, wenn ich die Gewissheit hätte, dass die Durchführung deines Vorhabens möglich wäre.«
»Sie ist möglich«, versicherte der Junge mit großem Ernst. »Wie, das weiß ich gegenwärtig noch nicht, aber die Mittel und Wege werden sich finden. Ich bin siebzehn Jahre alt, aber so groß und stark wie ein Vierundzwanzigjähriger. Auch habe ich so viel gelernt, dass ich jederzeit ein Schiff über See führen kann.« Er lief in hoher Erregung im Zimmer auf und ab. Die Schwester folgte seiner kraftvollen Gestalt mit den Blicken. Nach einer Weile blieb er vor ihr stehen. »Es lässt mir keine Ruhe, Luise«, sagte er. »Ich will Onkel Martin in der »Preußischen Flagge« aufsuchen. Ich muss mich gegen ihn aussprechen. Jeder verlorene Tag kann dem Vater verderblich werden.«
Luise stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Bleibe daheim«, bat sie. »Ich glaube nicht, dass du Onkel Martin noch antreffen wirst. Dazu sind die Straßen zu dieser nächtlichen Zeit so unsicher. Bleibe daheim, lieber Bruder, ich bitte dich so sehr.«
Reinhold lachte. »Wer sollte mir etwas anhaben? Ich muss Kapitän Hammer noch aufsuchen, es drängt mich dazu. Ich habe das Gefühl, als triebe mich mein Schicksal zu ihm, gerade jetzt, in diesem Augenblick. Also lass mich gehen. Ich bleibe höchstens eine Stunde. Wenn ich wiederkomme, werde ich dir vielleicht manches Neue berichten können.
Damit holte er einen starken Knotenstock aus dem Winkel und eilte hinaus. Seufzend verschloss Luise die schwere Tür und setzte sich dann mit dem Nähzeug wieder vor die Lampe.
Windstille!
Kein Hauch bewegte die schwüle, glühend heiße Luft. Unter dem brennenden Firmament, auf der ölglatten See, im Süden von Madagaskar, lag das große Danziger Vollschiff, Hochmeister, ein stolzer Ostindienfahrer, beinahe regungslos.
Windstille! Schweigen, tiefe Ruhe rings in dem weiten All, in den Ätherhöhen, wie in dem unermesslichen Rund des Ozeans. Im Inneren des einsamen Schiffes aber webten tödliche Leidenschaften, regte sich der wilde Geist der Meuterei.
Der Hochmeister hatte mehrere Kisten mit edlen Steinen von der Insel Ceylon und einen erheblichen Betrag des Geldes an Bord, den einige Handelsfirmen in Kalkutta an Danziger Großkaufleute abgesendet hatten. Durch diese Schätze war die Begehrlichkeit einiger der Matrosen geweckt worden; sie hatten versucht, die übrige Mannschaft zu bewegen, sich des Schiffes mit Gewalt zu bemächtigen. Der Anschlag war verraten worden, und der Kapitän, der die Sache vorläufig nur leicht nahm, hatte die Hauptschuldigen auf eine Woche krummschließen lassen.
Dadurch aber wurde den bösen Gesellen die Raublust nicht vertrieben. Kaum sahen sie sich wieder in Freiheit, so begannen sie aufs Neue mit ihren verderblichen Einflüsterungen.
Der Hochmeister, ein Vollschiff von fünfzehnhundert Tonnen, wurde von Kapitän Gotthelf Winter geführt, einem der bravsten der vielen braven Schiffer, deren Wiege in der altberühmten Stadt Danzig gestanden hat. Der stattliche Dreimaster befand sich auf der Heimreise von Kalkutta.
Kapitän Winter schritt, nach alter Seemannsgewohnheit, auf der Luvseite des Achterdecks auf und ab. Eigentlich konnte von einer Luv- oder Windseite gegenwärtig keine Rede sein, da sich kein Lüftchen regte, und der Hochmeister so still lag, wie »ein gemaltes Schiff auf einem gemalten Ozean.«
Die Windstille bedrückte den wackeren Schiffer wie ein böses Omen. Die auf ihm lastende Verantwortlichkeit war vielseitig und schwer. Nicht nur das Fahrzeug selber erheischte seine äußerste Wachsamkeit, gleiche Anforderungen stellten die Passagiere, unter denen sich auch einige Damen befanden, an ihn; vor allem aber machte ihm die kostbare Ladung Kopfschmerzen.
Die Windstille verurteilte die Mannschaft zum Müßiggang. Müßiggang aber ist aller Laster Anfang, und so wusste Kapitän Winter sehr wohl, dass die Matrosen jetzt vollauf Gelegenheit hatten, ihren meuterischen Gedanken nachzuhängen.
Die Sachlage erfüllte ihn mit Sorgen und Bedenken, flößte ihm jedoch noch keineswegs Furcht ein. Die Steuerleute hatten alle Handfeuerwaffen samt Munition in die Kajüte geschafft. Zu jener Zeit unternahm kein Schiff die asiatische Reise, ohne sich zuvor aufs Beste gegen seeräuberische Angriffe zu wappnen. Man führte, je nach Größe des Fahrzeugs, vier, sechs, acht, auch zehn Deckgeschütze mit sich, dazu eine gefüllte Pulverkammer und Gewehre, Pistolen und Säbel. Es ist wiederholt vorgekommen, dass preußische Ostindienfahrer während der Freiheitskriege 1813, 1814 und 1815 französischen Kaperschiffen erfolgreich Widerstand leisteten.
Die Passagiere ahnten von dem Stand der Dinge nichts. Sie unterhielten sich und vertrieben sich die Zeit, so gut sie dies vermochten. Die Herren spazierten auf dem Achtereck, und die Damen beschäftigten sich mit Handarbeiten. Dabei beobachteten sie die Matrosen, die teils, an Deck sitzend, ihr Zeug flickten, teils allerlei Schiffsarbeiten, Segelnähen, Splissen, Anfertigen von Matten und dergleichen mehr ausführten. Alle aber hegten den sehnsüchtigen Wunsch, dass sich recht bald ein günstiger Wind aufmachen möchte.
Der Obersteuermann, ein Tilsiter mit Namen Elfeld, kam die Achterdeckstreppe herauf, trat an den Kapitän heran und machte demselben eine leise Mitteilung.
Der schaute ihn überrascht, fast erschrocken an, warf einen hastigen Blick über einen Teil des Horizontes und fragte dann ebenso leise: »Wo, Steuermann? Ich sehe nichts?«
»Dort, in Nord-Nord-West«, antwortete Elfeld.
Der Schiffer holte das Teleskop aus den Klampen innerhalb der Kajütskappe und richtete es gegen den Horizont.
»Mir kommt das Fahrzeug verdächtig vor«, fuhr der Steuermann unterdessen fort. »Ich will nur hoffen, dass es uns nicht zu nahe kommt, Kapitän - wegen unserer Leute!«
»Wegen unserer Leute?«, wiederholte der Schiffer, das Glas absetzend. »Glauben Sie also wirklich, dass wir von denen noch etwas zu befürchten haben?«
»Ja, Kapitän, das glaube ich. Ich bin überzeugt, dass es nur eines geringen Anstoßes bedarf, um die Kerle in offene Meuterei ausbrechen zu lassen. Die englischen Halunken haben nicht nachgelassen, das Volk zu verhetzen. Für unsere Pommerschen und Danziger Leute möchte ich freilich noch einstehen, die sind aber zu wenig, um ins Gewicht zu fallen.«
»Die Schusswaffen sind beiseite gebracht, nicht wahr?«
»Jawohl, Kapitän; Zolling und ich, wir haben alle Gewehre und Pistolen in unseren Kammern verstaut. Dort sind sie bei der Hand, wenn wir sie brauchen sollten.«
»So ist’s recht. Ich kann mir aber nicht denken ...«
Kapitän Winter schüttelte heftig den Kopf, lief bis zum Ruder, sah auf den Kompass und kehrte dann wieder zurück.
»Verlassen Sie sich darauf, Kapitän«, beharrte der Steuermann. »Die Leute murren in einem fort, angeblich wegen der Windstille, das aber ist nur ein Vorwand. Außer jenem fremden Segler ist nichts in Sicht, und der belauert uns. Ich halte ihn für einen verdächtigen Gesellen, das tun unsere Matrosen auch. Sie meinen, es sei ein Pirat, und dabei verschwören sie sich, dass sie lieber den fetten Bissen, unsere Wertkisten, schlucken wollen, ehe sie ihn dem da drüben gönnen. Das hat mir einer von den Danzigern hinterbracht.«
Der Kapitän stand einige Minuten in finsteres Schweigen versunken. »Ich danke Ihnen, Steuermann«, sagte er dann, sein sorgenvolles Auge auf das des treuen Gefährten richtend. »Wir müssen also auf das Schlimmste gefasst sein. Zum Glück haben wir auf dieser Reise nicht viele Passagiere. Die Herren müssen jedoch von unserer Lage in Kenntnis gesetzt werden. Treffen Sie alle Maßregeln zum äußersten Widerstand, Elfeld; stellen Sie eine Wache vor das Pulvermagazin. Sie glauben, dass einige von den Matrosen noch zuverlässig sind?«
»Einige wenige, ja.«
»Gut. Setzen Sie sich mit denen in Verbindung ...«
In diesem Augenblick kam eine Gesellschaft von Passagieren, Herren und Damen, plaudernd und lachend auf das Achterdeck.
»Wird denn diese langweilige Windstille ewig anhalten, Herr Kapitän?«, fragte eine junge Dame. »Ein tüchtiger Sturm wäre jetzt eine rechte Erfrischung.«
»Wie lange wird diese Stille dauern?«, flötete eine andere Dame.
»Bis wir Wind kriegen«, antwortete der Schiffer kurz.
»Ach! So lange!«, seufzte die Dame. »Sagen Sie doch, Herr Kapitän, was fangen wir nur an bis dahin?«
»Wir pfeifen«, knurrte Gotthelf Winter und ging ab.
»Hu, was für ein unhöflicher Kapitän!«, sagte die junge Frau mit unterdrückter Stimme. »Pfeifen sollen wir!«
»Der Kapitän hat ganz recht«, lachte einer der Herren. »Versuchen Sie es doch! Pfeifen macht Wind; ohne Wind können Sie überhaupt nicht pfeifen.«
Die Dame öffnete erstaunt die Augen. »Was Sie sagen!«, rief sie. »Dann wollen wir’s doch tun! Ich wundere mich nur, weshalb die Matrosen nicht längst schon gepfiffen haben, wenn das doch Wind gibt! Höchst kuriose Menschen, diese Seefahrer!«, wendete sie sich an eine ältere Dame, die neben ihr stand.
»Ja«, kopfschüttelte diese. »Sehen Sie nur, da vorn zankt sich ein Matrose mit dem Obersteuermann. Wahrscheinlich wieder um eine Kleinigkeit.«
Es ist ein alter, abergläubischer Brauch unter den Seeleuten, wenn es an Wind fehlt, entweder mit dem Fingernagel am Mast zu kratzen, oder aber leise und andauernd zu pfeifen. Hilft es nicht, so schadet’s auch nicht, sagt Janmaat.
Die alte Dame hatte sich nicht geirrt; Steuermann Elfeld war mit einem Matrosen in einen heftigen Wortwechsel geraten. Plötzlich brach ein wildes Getümmel los. Der Steuermann packte seinen Gegner, der ein Messer zückte. Die Damen auf dem Achterdeck kreischten gellend auf. Der Kapitän, der zweite und der dritte Steuermann, Bootsmann und Steward eilten nach vorn, wo die Mannschaft einen aufrührerischen, drohenden Haufen bildete.
»Ich denke, ich hole meine Pistolen herauf«, sagte der Passagier Ewers, ein Stettiner Kaufmann, zu seinem Mitpassagier Dörpinghaus, einem Fabrikanten vom Rhein.
»Ich werde desgleichen tun«, antwortete dieser. »Auch möchte ich den Damen raten, sich unter Deck zu verfügen.«
Diese ließen sich das nicht zweimal sagen und flüchteten in ängstlicher Hast die Kampanjetreppe hinunter. Ewers und Dörpinghaus begaben sich bewaffnet auf das Hauptdeck, begleitet von den Herrn Boß und Meinhold, den übrigen beiden Passagieren.
Der Letztere eilte zum Kapitän. »Was gibt’s hier?«, fragte er.
»Meuterei gibt’s!«, antwortete der Schiffer. »Wissen Sie mit einem Boot umzugehen?«
»Ja. Warum?«
»Warum? Weil Sie sich bereit machen müssen, das Schiff zu verlassen. Jetzt halten wir diese Schurken noch in Schach, auf die Dauer aber können wir es nicht. Gehen Sie, bringen Sie den Damen die Nachricht, und halten Sie sich fertig, bei Sonnenuntergang von Bord zu gehen.«
Er schritt weiter nach vorn. Ein wildes Geheul begrüßte ihn, als er vor dem Fockmast erschien. Der brave Schiffer aber stand unerschüttert. Er wartete geduldig, bis die Horde zu schreien aufhörte. Seinem scharfen Blick entging es dabei nicht, dass einige der Matrosen bemüht waren, ihm Gehör zu verschaffen. Seine Zuversicht wuchs dadurch. »Leute«, rief er, »was soll das heißen? Ist euch ein Unrecht geschehen?«
Wieder begann das wüste Gebrüll. »Das ist Meuterei!«, donnerte der Kapitän. »Geht an eure Arbeit, Leute, auf der Stelle, oder ich lasse eure Anführer in Eisen legen!«