Adriana Popescu
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Für alle Pink Flamingos
1. Auflage 2016
© 2016 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagkonzeption: *zeichenpool, München
unter Verwendung der Abbildungen
von © shutterstock (Alexej Losevich; coka)
MP ∙ Herstellung: UK
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-11437-4
V004
www.cbj-verlag.de
»Paris is always a good idea.«
Audrey Hepburn
Ne me quitte pas
Verlass mich nicht
Liebes Paris!
Jetzt ist er also da. Der Tag, vor dem ich mich die letzten Wochen so sehr gefürchtet habe, ist da. Heute Nacht habe ich kaum geschlafen. Wieso ist einem, wenn man sich verknallt, nie bewusst, wie schmerzhaft so ein Abschied sein kann?
Dabei darf ich mich nicht beklagen. Immerhin waren die Tage mit Alain wirklich zauberhaft schön. Auch wenn ich weiß, dass er sich ein bisschen mehr erhoffte, glaube ich, dass er die Zeit sehr genossen hat. Zu dumm, dass Du ihn jetzt zurückbekommst und Stuttgart wieder grauer wird. Dir, liebes Paris, kann ich keinen Vorwurf machen, denn welche Stadt hätte nicht gerne einen Typen wie Alain wieder zurück? Worüber ich mich aber beschweren kann, das ist die Deutsche Bahn.
Liebe Deutsche Bahn!
Jeden Tag hast Du gefühlte vier Stunden Verspätung, nie bist Du pünktlich, oft verpassen Tausende Menschen ihre Anschlusszüge. Im Winter geht die Heizung nie, während im Sommer die Klimaanlage ständig ausfällt. Einmal verlasse ich mich darauf, dass Du nicht funktionierst – und was passiert? Ausgerechnet heute bist Du überpünktlich? Das ist so typisch! Schönen Dank für nichts!
Deine Emma
Alain, der lässig neben mir steht und dabei aussieht, als würde er von vier Modefotografen für das neue Cover des GQ Magazins fotografiert, bekommt von meinem Disput mit der Deutschen Bahn, den ich in mein kleines, schwarzes Notizbuch schreibe, natürlich nichts mit. Am Gleis, das uns gegenüberliegt, wird durchgesagt, dass der Zug leider fünfzehn Minuten Verspätung hat. Ich würde für fünfzehn Minuten gerade eine Niere und meinen kleinen Bruder Sebastian verkaufen! Nützt nur alles nichts: Der Zug nach Paris wird pünktlich sein. Alain wird erst nach Karlsruhe und dann, wenn er umgestiegen ist, in seine Heimatstadt zurückfahren. Zurück nach Hause. Weg von mir. Ich sehe wieder zu Alain, der zuerst einen Blick auf die Uhr wirft und mir dann ein Lächeln schenkt.
»Du wirst mir fehlen, ma rouquine.«
Ma rouquine – das bin ich. Sein Rotschopf. Ich liebe es, wenn er mich so nennt. Und dann der süße französischen Akzent, wenn er Deutsch spricht – zum Verlieben! Er klingt dann so sexy. Dabei streckt er seine Hand aus und ich lehne instinktiv meine Wange dagegen. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals bei der Vorstellung, dass er bald schon wieder verschwunden ist und uns nichts weiter bleibt, als wirklich alle Kurznachrichtendienste dieser Welt zu nutzen. Dabei haben wir uns die letzten vier Wochen täglich gesehen. In der Schule, bei mir zu Hause, abends mit den anderen Austauschschülern Stéphanie, Cathérine und Co. Ständig! Ich habe mich viel zu schnell an seine Anwesenheit in meinem sonst recht öden Leben gewöhnt. Alain hat endlich die Zutat in mein Leben gebracht, die ich aus zahlreichen Büchern kenne, auf die alle Mädchen in meinem Alter warten: Verknalltheit, die Schmetterlinge in meinem Bauch Loopings drehen lässt.
Er lächelt und zeigt seine perfekten Zähne, die ihm Mutter Natur zum restlichen perfekten Aussehen auch noch mitgegeben hat. Ich musste bis vor einem halben Jahr eine Zahnspange tragen, um endlich entspannt lächeln zu können. Aber Alain ist einfach makellos, so wie er eben ist.
»Vielleicht dauert es gar nicht so lange, bis wir uns wiedersehen.«
Doch wir wissen beide, dass es trotzdem viel zu lange dauern wird. Der Schüleraustausch ist vorbei, somit zieht bei uns wieder die Normalität ein. Die Zeit der Schmetterlinge, wenn wir uns in Bio ein Buch teilen mussten oder er wie zufällig nach meiner Hand gegriffen hat, sie ist vorbei. Er muss zurück an seine Schule in Paris, dagegen wird mir Stuttgart wieder blass und langweilig vorkommen. So wie früher, bevor er in mein Leben gekommen ist. Vier Wochen. Nur vier Wochen, aber die haben gereicht, um mein Herz an ihn zu verschenken. Wer braucht schon die Realität, wenn man Tagträume haben kann? Ich bin eine Meisterin der Tagträume, angestachelt von den Büchern, die ich verschlinge, in die ich am liebsten kriechen würde, wenn mir mein Leben zu öde und durchschnittlich vorkommt. Alain legt seine Arme um meine Taille und zieht mich zu sich ran.
»Du wirst mir so fehlen.«
Er wickelt eine Strähne meiner roten Haare um seinen Zeigefinger und sieht mich über den Rand der Sonnenbrille aus traurigen Hundeaugen an. Meine Gesichtsfarbe passt sich der meiner Haare an, wenn ich daran denke, wie viele gemeinsame Fotos mir bleiben. Würde jemand das Album auf meinem Handy durchsehen, könnte man mich für eine obsessive Stalkerin halten.
»Ah, Emma! Du bist so … extraordinaire.«
Sein Daumen streicht über meine Wange. Ich muss kurz die Augen schließen und mir dieses Gefühl genau einprägen, weil ich es schrecklich vermissen werde. Ich bin außergewöhnlich. Das habe ich schon häufig gehört. Allerdings wurde es meistens mit einem sarkastischen Unterton vorgetragen, nämlich immer dann, wenn ich mit der Nase in einem Buch verschwunden bin und Einladungen zu den angesagtesten Partys der Schule dankend abgelehnt habe, weil ich lieber Zeit mit fiktiven Figuren aus den Romanen Hemingways verbringen wollte. Hoffentlich meint Alain es jetzt im positiven Sinne, denn ein klassisches Kompliment ist es sicher nicht.
»Ich habe noch nie ein Mädchen wie dich getroffen.«
Auch das könnte, wenn er es anders betonen würde, alles andere als ein Kompliment sein. Seine Lippen streifen meine. Ich spüre, wie sich mein ganzes Leben dreht. Wenn mir jemand erzählt hätte, dass sich der heißeste Typ der Austauschklasse ausgerechnet in mich verknallt, er mit mir jede Minute verbringt und mich jetzt am Bahnhof zum Abschied in seinen Armen hält und küsst – ich hätte ihn gefragt, aus welchem Liebesroman er das wohl hat. Mein Leben war bisher nicht gerade die Vorlage für einen Bestseller der romantischen Unterhaltungsliteratur. Doch das hier ist kein Tagtraum. Es ist meine neue Realität. Bevor ich die Tränen zulasse, die sich zum Abschied sehr präsent in den Vordergrund drängen wollen, küsse ich schnell seine Lippen und erhoffe mir ein Lächeln, das die Grübchen auf seinen Wangen zum Einsatz bringt.
»Du wirst mir fehlen, Alain.«
Jaja, ich weiß, ich weiß! Ich bin jung, die Welt mit ihren Abenteuern liegt noch vor mir. Die große Liebe, die man für gewöhnlich nicht schon mit sechzehn findet, schlendert irgendwo da draußen ahnungslos durch den Alltag und weiß nicht mal, dass ich existiere und gerade in den Armen des falschen Jungen mein Herz verliere. Im Moment fühlt sich Alain aber richtig an. Er lächelt – wenn auch grübchenlos – und drückt mich kurz an sich. Mein Magen krampft sich zusammen, weil ich spüren kann, wie unspektakulär mein Leben in weniger als zehn Minuten wieder sein wird. Dann bleiben mir die erfundenen Geschichten anderer Autoren und mein kleines, schwarzes Notizbuch, in das ich meine Gedanken, Gefühle und Tagträume hineinschreibe. Ohne das Buch wäre ich wohl schon längst durchgedreht und von meinen Eltern irgendwo eingeliefert worden. Statt nämlich ihnen oder meinen Freundinnen Bea und Luisa davon zu erzählen, banne ich meine geheimsten Träume lieber auf Papier.
»Ich werde dich jeden Tag anrufen.«
Ich nicke tapfer, obwohl ich weiß, dass es sich wie Cold Turkey anfühlen wird. Wie soll man von Sich-jeden-Tag-Sehen auf Ein-Anruf-am-Tag umsteigen, ohne die Entzugserscheinungen in ihrer vollen Grausamkeit zu spüren?
»Vielleicht kann ich dich besuchen kommen? Ich war noch nie in Paris.«
Alain scheint einen Moment über meinen Vorschlag nachzudenken. Paris. Die Stadt, in der all meine Helden eine Zeit lang gelebt haben, die sie in ihren Büchern beschrieben und mir damit ein klares Bild in meinen Kopf gezeichnet haben. Die erwähnte Lost Generation: Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, James Joyce, Samuel Beckett. Nicht gerade die Autoren, die andere Mädels in meiner Klasse gerne lesen. In meinem Kopf entspinnen sich tausend Tagtraumvarianten unserer gemeinsamen Zeit in der Stadt der Liebe. So oft habe ich mir gewünscht, durch Paris auf den Spuren meiner Autorenhelden zu wandern. Ist jetzt Alain die perfekte Ausrede für einen Besuch?
»Ich könnte dir den Tour Eiffel zeigen. Champs-Élysées. Den Louvre und die Mona Lisa.«
Ich nicke begeistert und hoffe, er zeigt mir auch das Paris abseits der Touristensehenswürdigkeiten: Montmartre und das Quartier Latin, dort, wo die Künstler sich die Nächte um die Ohren geschlagen haben. Da könnte ich auch hingehören!
»Und auch Montmartre?«
Alain wirft mir einen zweifelnden Blick zu und schüttelt den Kopf.
»Montmartre ist nicht Paris. Ich zeige dir die coolsten Bars, wo die Stars abhängen.«
Das ist bestimmt auch cool. Mir wäre allerdings eher nach einem kleinen Café, in dem vielleicht auch Fitzgerald mal ein paar Zeilen geschrieben hat.
»Ich habe einmal Karim Benzema in einer Bar getroffen. Er hat mir zugenickt.«
Das sagt er nicht ohne Stolz. Ich versuche mich an einer gespielten Begeisterung, auch wenn ich keine Ahnung habe, wer besagter Star wohl ist.
»Du wirst Paris lieben! Eine Schifffahrt auf der Seine …«
Er zwinkert mir zu.
»… bei Nacht.«
»Das klingt toll!«
Wenn auch nicht ganz so wie in meinen Tagträumen. Nur nicht undankbar sein, Emma! Paris ist immerhin Paris. Montmartre kann ich mir im Notfall ja auch alleine ansehen.
»Wir gehen schick im neuesten Restaurant der Stadt essen. Nur wir zwei.«
Wieso verspüre ich plötzlich den Drang, sofort mit ihm in den Zug zu steigen und nach Paris zu flüchten? Stuttgart klingt gerade so unglaublich uncool – noch mehr als ohnehin schon. Neckar versus Seine. Fernsehturm versus Eiffelturm.
»Wenn du unbedingt nach Montmartre willst, könnten wir uns eine Show im Moulin Rouge ansehen.«
Als er das sagt, lässt er seinen Blick über meinen Körper streifen, was sich merkwürdig anfühlt. Ich bin es einfach nicht gewohnt, so von Jungs angesehen zu werden. Um aufzufallen, bin ich zu klein, ich stehe selten in der ersten Reihe der Aufmerksamkeit und gehe in einer Menschenmenge schnell unter, wenn man von meinen roten Haaren einmal absieht. Alain sieht mich aber mit diesem Funkeln in den Augen an, das mir noch immer irgendwie unangenehm ist.
»Okay!« Meine Stimme klingt merkwürdig belegt, fast muss ich die Worte herauszwingen. Alain nickt nachdenklich, als wäre ihm gerade noch etwas eingefallen.
»Aber ich habe erst mal sehr viel zu tun. Das baccalauréat wird kein Spaziergang.«
Natürlich, das Abitur. Ich sollte nicht so egoistisch sein und einfach auf den perfekten Moment für einen Besuch bei ihm warten. Manchmal lohnt sich das Warten. Das waren auch meine Worte an ihn, als er etwas enttäuscht auf meine Absage einer gemeinsamen Nacht reagiert hat.
»Wir können das ja in aller Ruhe planen. Meine Eltern haben eine schöne Wohnung in Nizza. Wir könnten dort den Sommer verbringen.«
Sommer in Nizza!? Mit Alain! Sofort erstelle ich im Geiste schon mal einen Plan, auf welche kalorienhaltigen Speisen ich in den kommenden Monaten verzichten müsste. Alain sagt zwar, das habe ich nicht nötig – aber wer weiß schon, wie die Mädchen in Nizza so aussehen? Man will ja kein Risiko eingehen. Aber in meinem Kopf meldet sich auch eine leise Stimme, die Nizza weit hinter Paris einstuft. Statt am Strand zu liegen, würde ich lieber die vielen Treppen zur Sacré-Cœur erklimmen.
»Emma, du machst dir doch schon wieder Gedanken …«
Alain setzt zu seinem perfekten Lächeln an, das die Grübchen in den Wangen zum Vorschein bringt und sein Michelangelo-Gesicht eine Spur frecher macht. Dieses Lächeln, das mich vom ersten Moment an verzaubert und meine Gedanken auf Wolke sieben katapultiert hat, direkt gefolgt von meinem Herzen, das ich freiwillig hinterhergeschossen habe! Er nimmt mein Gesicht sanft in seine Hände. Seine tiefblauen Augen mustern mein Gesicht, als könne er meine Gedanken lesen.
»Wir sehen uns hundert Prozent wieder.«
Es klingt wie ein Spruch aus einem Film, bei dem ein muskelbepackter Bösewicht dem guten Cop droht, und nicht nach einer Szene, zu der jetzt zauberhafte Musik im Hintergrund eingespielt wird. Auch wenn er sich Mühe gibt, es romantisch klingen zu lassen, bin ich kurz verwirrt und lasse zu, dass Alain mich erneut küsst. Franzosen küssen einfach gut. Weil sie das »Gute-Küsser-Gen« haben. Nur nicht daran denken, dass das hier der letzte Kuss für eine sehr lange Zeit sein wird. Nicht daran denken!
»Achtung bitte an Gleis neun. Der IC 2260 nach Karlsruhe fährt ein.«
Alain ist extra einen Tag länger geblieben, anders als die anderen Austauschschüler. Somit hat er uns 24 Stunden mehr Zeit geschenkt, hat aber jetzt eine längere Zugfahrt inklusive Dreimal-Umsteigen vor sich, weil der TGV ausgebucht war. Das alles hat er für mich getan.
»Ich will dich nicht loslassen!«
»Kann ich verstehen.«
Er zwinkert mir zu, und sofort klopft mein Herz gegen meine Rippen, als wolle es mich darauf aufmerksam machen, was für eine Wirkung solch kleine Gesten auf mich haben. Das ist mir aber auch ohne deinen beschleunigten Puls aufgefallen, liebes Herz! Wobei es etwas unrhythmisch klopft. Leider weiß ich nicht, welcher Morsecode das sein soll. Eine Warnung?
Alain schultert seinen Rucksack und schnappt sich den schicken, glänzenden Rollkoffer, der bestimmt so viel wie ein Kleinwagen kostet.
»Ma rouquine! Ich werde dich ganz sicher nicht vergessen.«
Ich glaube ihm, weil ich das so will. Alain lässt mich los. Mit einem Mal passiert alles so schnell, auch wenn das Auseinandergehen filmreif ist: ein letzter Kuss, meine Tränen, sein Lächeln. Dann steigt er ein, winkt und ist verschwunden. Ich laufe den Zug entlang und begleite ihn, bis er zu seinem Sitzplatz gelangt. Er muss noch mal zu mir sehen, weil das in guten Büchern auch immer so ist. Das gehört doch zur Standardausstattung von solchen Abschiedsszenen. Ich beobachte, wie er seinen Koffer auf die Ablage wuchtet. Auf dem Platz am Fenster sitzt ein junges Mädchen, das ihn bewundernd ansieht. Sofort zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Wie gerne würde ich mit ihr tauschen und noch etwas mehr Zeit mit ihm verbringen. Sie lächelt ihn an. Wie er reagiert, kann ich von meiner Position auf der anderen Seite der Scheibe leider nicht erkennen.
In solchen Situationen wäre ich gerne cool, lässig und total abgebrüht. Stattdessen klopfe ich an die Scheibe des Zuges und erschrecke eine alte Dame fast zu Tode. Meine Gesten sollen andeuten, dass sie den jungen Mann zu ihrer Rechten bitte mal anstupsen soll, doch sie sieht mich nur genauso irritiert an wie meine damalige Theaterlehrerin, als ich in diesem blöden Pantomimekurs mein Bestes geben sollte. Wie sieht denn eigentlich die korrekte Gebärde für »Nicht Sie! Der junge Mann hinter Ihnen!« genau aus? Jetzt winkt mir die Oma freundlich zu, während sich Alain neben die junge Frau auf der anderen Seite in den Sitz fallen lässt. Sogleich sind sie in ein Gespräch vertieft. Mein Herz klopft wieder sehr unregelmäßig und hart gegen die Rippen, und zwar so heftig, dass ich wohl einige Prellungen davontragen werde. Der Zug setzt sich in Bewegung. Ich laufe – so wie in den großen Filmen – einige Meter neben dem Waggon her. Jetzt, gleich wird er zu mir sehen, lächeln, seine Tränen verbergen und stumm die Worte formen, die Männer in solchen Szenen immer sagen. Er soll mich noch einmal ma rouquine nennen. Doch es setzt keine Geigenmusik ein.
Gleich wird er zu mir sehen. Jetzt! Gleich! Mach schon! Schau zu mir!!
Doch er schaut nicht zu mir. Er lacht mit seiner Sitznachbarin – und mir geht die Puste aus. Der Zug wird schneller, zeigt mir die Grenzen meiner körperlichen Fitness überdeutlich und fährt schließlich mit höhnischem Gelächter aus dem Bahnhof.
Zurück bleibe ich mit geprellten Rippen und schmerzendem Seitenstechen.
J’aime Paris
Ich liebe Paris
»Bienvenue à Paris Gare de l’Est. Wir begrüßen alle Reisenden …«
Die säuselnde Stimme der Ansagerin am Bahnhof klingt für mich wie eine alte Tonbandaufnahme von Édith Piaf, die wir uns letztes Schuljahr in Französisch angehört haben. Nicht so hart und abgehackt wie bei uns am Bahnhof, wenn uns die Verbindungen der S-Bahnen entgegengebellt werden, als wären sie Befehle, denen wir gefälligst Folge zu leisten haben. Paris ist meine Stadt, das erkenne ich schon an der Stimme der Ansagefrau.
Die Herbstsonne streichelt zart mein Gesicht, während ich zwischen all den Menschen, die aussehen, als wären sie einer Ausgabe der Vogue entsprungen, den Bahnsteig entlanggeschubst werde. Nur dank meines riesigen Reiserucksacks, der fast so groß ist wie ich selbst, kann man mich nicht übersehen. Zugegeben, bei einer Körpergröße von eins achtundfünfzig passiert das leicht und leider auch häufig. Es ist, als würde ich unter dem Radar der Normalgroßen durchtauchen. Somit kann ich mich schon mal von einer zukünftigen Karriere als Stewardess bei American Airlines verabschieden. Auch eine Rolle als zierliche, groß gewachsene Elbe in einer Tolkien-Verfilmung steht nicht zur Debatte. Gut, das war auch nicht mein Plan, aber man weiß ja nie, wann es einen mal nach Mittelerde verschlägt. Gibt es eigentlich Elben-Stewardessen?
Der Ellenbogen eines ziemlich wichtig aussehenden Mannes in einem perfekt geschneiderten Anzug und der dazu passenden perfekten Frisur erwischt mich fast am Kinn. Ich weiche reflexartig aus und hoffe, dabei nicht ins Straucheln zu geraten, denn der tonnenschwere Rucksack auf meinen Schultern würde mich vermutlich unter dem Gewicht von zu vielen Klamotten, Büchern und Schuhen zermalmen. Zwar hat mich der Ellenbogen eben noch verpasst, aber nun trifft mich der strafende Blick dieses Dressmans, als wäre ich unerlaubterweise in den Luftraum seiner Gliedmaßen eingedrungen. Ich versuche mich an einem Lächeln à la Audrey Hepburn und imitiere die Stimme der Bahnhofansagerin.
»Excusez-moi.«
Wieso ich mich entschuldige und nicht er, das ist wohl meiner guten und seiner fehlenden Erziehung geschuldet. Er zieht nur genervt die Augenbrauen nach oben und marschiert zügig weiter, als wolle er so viel Abstand wie möglich zwischen uns bringen. Aber das ist mir gerade egal. Schließlich bin ich jetzt in PARIS! Der Stadt der Liebe. Und der Bücher. Und Hemingways.
Und Alains! Das natürlich vor allen Dingen.
Mein Herz vollführt einen Sprung, der in dieser Höhe in letzter Zeit nicht mehr so häufig vorgekommen ist. Ich bin gespannt, wie sehr er sich in den letzten Monaten verändert hat. Ob er noch immer diesen perfekten Undercut trägt, mit dem so viele Jungs in seinem Alter cool aussehen wollen, was aber bei den meisten doch schon im Ansatz scheitert?
Meine Mundwinkel ziehen sich weiter nach oben, als ob ein Marionettenspieler die Kontrolle der Bewegungen übernommen hat und sie an unsichtbaren Fäden hängen.
Ich bin tatsächlich in Paris und überrasche Alain, weil wir uns schon fast zwei Monate nicht gesehen haben. Meine Freundinnen haben uns ja nicht mal zwei Wochen gegeben, weil Fernbeziehungen in unserem Alter zum Scheitern verurteilt wären, aber wir haben das bisher echt gut hingekriegt. Bea und Luisa haben mich so lange mit Fragen nach unseren Plänen für ein Wiedersehen genervt, dass ich gestern spontan eine günstige Zugverbindung rausgesucht, meine Eltern belogen und mein ganzes Geld zusammengekratzt habe, um mit dem TGV nach Paris zu reisen. Herbstferien in Paris mit Alain, sorry, aber besser geht es nun echt nicht. Meine zwei liebsten Favoriten vereint!
Ich habe so viel über Paris gehört und natürlich gelesen, so viele Tagträume davon gehabt, dass es sich anfühlt, als wäre ich schon neben Hemingway durch die Straßen geschlendert, als hätte ich mit den Fitzgeralds Dinner-Partys erlebt und mich von Picasso in den Gassen Montmartres malen lassen. Bevor ich auch nur einen Fuß in die Stadt gesetzt habe, sind im Kopf Erwartungen entstanden, die so übergroß sind, dass sie sich unmöglich erfüllen können – nicht mal in Paris. Alles sieht in meiner Vorstellung größer, schicker, lässiger, neuer, älter aus, und alles in allem besser, als in anderen Städten. Das Paris in meinem Kopf, das steht für mich fest, lässt sich mit keiner Stadt vergleichen. Nicht mal mit dem echten Paris, von dem ich jetzt nur noch durch das Tor der Bahnhofshalle getrennt bin. Ich bin Emma Teichner, sechzehn Jahre jung und bereit für die Stadt der Liebe! Mit gestrafften Schultern, überpacktem Rucksack, in blauen Skinny Jeans, einem grauen Sweatshirt, mit hellblauen All Stars an den Füßen und einer allgemeinen Bad Hair-Situation, schiebe ich die Bahnhofstür auf – und treffe zum ersten Mal in meinem Leben auf Paris, das ganz lässig einfach einen ganz normalen Tag hat und (nur für den Fall, dass ich Zweifel haben könnte) in der Ferne die Spitze des Eiffelturms in den Himmel streckt. Es ist schon deprimierend, wenn eine Stadt besser aussieht als man selbst. Paris schlägt mich um Meilen. Es gibt sich nicht mal Mühe, mir zu gefallen, weil die Stadt weiß, dass ich ihr beim ersten Anblick schon verfallen bin. Und das bin ich. Hoffnungslos und für immer!
Alles, was über Paris geschrieben wurde, stimmt. Es ist toll. Groß. Aufregend. Bezaubernd. Zickig. Sauber. Schmutzig. Laut. Leise. Bunt. Aber vor allem ist es einschüchternd. Als würde der Rucksack mich nicht schon ausreichend als Touristin outen, starre ich auch noch mit offenem Mund und großen Augen von Bauwerk zu Bauwerk. Ich finde selbst die Bäume der Alleen beeindruckend – und verliebe mich mit jedem Schritt mehr in diese Stadt. Sie ist grüner, als ich angenommen habe, auch wenn die meisten Bäume bereits in den schönsten Herbsttönen erstrahlen. Dazu die Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und dennoch eines gemeinsam haben: Sie sind Pariser. Sie wohnen in einer Stadt, von der so viele Menschen auf der Welt, mich eingeschlossen, nur träumen können. Paris ist hektisch, ohne gestresst zu wirken. Die Autofahrer halten sich ganz offensichtlich an keinerlei EU-Verkehrsregeln und überholen, wann immer sie meinen, dass es passen würde – auch wenn es knapp werden könnte. Immer mal wieder wird gehupt, dazu wilde Gesten, die vermutlich Beleidigungen sind, aber irgendwie so stilvoll wirken. Paris ist eben anders.
Mein Blick und mein Gesichtsausdruck machen nur zu deutlich, wie begeistert ich schon nach wenigen Metern bin, obwohl ich zweimal fast überfahren und einmal umgeschubst wurde. Paris ist zu cool, um sich mit den Touristen zu seinen Füßen zu beschäftigen. Ich bin nur eine Besucherin, werde kurz bleiben und dann wieder gehen. Ich bin keine von ihnen und doch möchte ich so gerne dazugehören.
Weil ich nicht so genau weiß, wo ich eigentlich hinmuss, beschließe ich, mich erst mal ein bisschen umzusehen. Nur mal schauen, ob ich irgendwas aus den Büchern wiedererkenne. Ich war zwar noch nie da, aber wir alle kennen Paris doch ein bisschen. Die Seitenstraßen sind mein Highlight, weil sie der eigentliche Star sind. Zumindest rede ich mir das ein, weil ich auch eher eine Seitenstraße im Leben bin. Denn ganz sicher bin ich nicht die Champs-Élysées. Meine Schritte führen über Kopfsteinpflaster, vorbei an engen Hauseingängen, kleinen Cafés und lautem Lachen, das aus geöffneten Fenstern dringt. Ja, ich bin definitiv eine Seitenstraße! Ich bleibe immer wieder stehen und bewundere die winzigen Balkone, die an den Häusern über der Straße hängen und so einladend verloren aussehen. Eine kleine Wohnung in einer Seitenstraße von Paris, mit genau solch einem Balkon, das klingt für mich wie ein Traum. Wie wunderbar muss es sein, morgens auf diesen Balkon zu treten, die Sonne über den Dächern der Stadt aufgehen zu sehen und ein bisschen zu schreiben. Dazu ein Café au Lait an einem winzigen, kleinen Holztisch, den man mit viel Mühe auf den Balkon platziert hat. Nie habe ich mir so viele Gedanken über Balkone gemacht, aber jetzt laufe ich – fast wie Hans im Glück – mit dem Blick nach oben gerichtet durch die Straßen und wünsche mir nichts mehr, als einmal eine Wohnung mit so einem Balkon zu haben. Wenn auch nur für ein kurzes Kapitel in meinem Leben.
Ich liebe meine Heimatstadt Stuttgart wirklich über alles, habe alle sechzehn Jahre meines Lebens dort verbracht, aber mit welchem Recht sich eine Stadt – außer Paris – überhaupt noch »Stadt« nennen darf, ist mir schleierhaft. Selbst das Verlaufen in Paris ist magisch, weil man Orte entdeckt, die man sonst verpasst hätte, und verzaubert lächelnd stehen bleibt. Das kann ich schon bestätigen, denn auf der Suche nach der Métro-Station habe ich mich zweieinhalbmal verirrt. Beim Versuch, nach dem Weg zu fragen, muss ich feststellen, dass mein Schul-Französisch zwar für die Bemerkung ausreicht, dass die Katze auf dem Tisch und der Affe im Baum ist, aber bei Weitem nicht dafür geeignet ist, um in Paris cool und lässig zu wirken. Dabei will ich nur so schnell wie möglich zu Alain.
Trotzdem gelingt es mir, unbeschadet die richtige Station zu finden. Jetzt sitze ich in einer Métro – was so viel cooler als U-Bahn klingt – und werde ordentlich durchgeschüttelt, während die Waggons in wahnsinniger Geschwindigkeit über die Schienen sausen. Ich klammere mich an meinen Sitz, weil ich mir eher wie in einem Fahrgeschäft in Disneyland vorkomme als in einem öffentlichen Verkehrsmittel, in dem auch Kinder unter zwölf Jahren mitfahren dürfen. Dabei beobachte ich die Pariser, die lässig dasitzen, in ihr Handy tippen, Zeitung lesen und entweder keine Todesangst kennen oder einfach selbst im Angesicht des Endes so cool wirken. Beides ist denkbar. Paris is the new Cool.
Während ich durch die Pariser Tunnels geschaukelt werde, stelle ich mir Alains Gesicht vor, wenn er die Tür öffnet und mich sieht. Die Planung für diese Reise hat genau zwei Stunden und sechsundzwanzig Minuten betragen. Natürlich habe ich ihn nicht vorgewarnt. Natürlich habe ich meine Eltern angeflunkert. Ich sagte, dass ich bei seiner Schwester im Zimmer übernachten würde, er wüsste, dass ich komme, und sie müssten sich wirklich keine Sorgen machen. Die Zugfahrt mit dem TGV würde ja nur knapp etwas über drei Stunden dauern und er würde mich direkt am Gleis abholen. Begeistert waren meine Eltern zwar nicht, aber ich habe die »Wir-haben-uns-so-lange-nicht-gesehen«-Karte gezogen.
Und schon hatte ich die Zustimmung, die ich mir erhoffte. Ich habe gebucht, den Rucksack gepackt – und jetzt bin ich hier. Solche Trips sind immer aufregend. Dieser hier ganz besonders. Nicht nur wegen Alain, sondern vor allem wegen dieser Stadt. Nur noch drei Stationen und (laut Google Maps) fünf Minuten Fußweg, dann darf ich ihn endlich wieder umarmen, küssen und ansehen: Alain, den wohl schönsten Typen in ganz Paris!
Que reste-t-il de nos amours
Was bleibt uns denn noch
von unsrer Liebe
Das Haus von Alains Eltern liegt im 6. Stadtbezirk, dem Arrondissement du Luxembourg, das als Wissenschafts- und Kulturviertel gilt. Mein Herz schlägt wie verrückt, als ich mir die großen und schicken Häuser ansehe. Hier sieht Paris nicht mehr ganz so aus wie in meinem Kopf. Viel edler. Die Kopfsteinpflastergassen werden durch breitere Straßen abgelöst, die mich noch kleiner erscheinen lassen. Die verbeulten Peugeots und klapprigen Citroëns, die mir vorhin hupend entgegenkamen, sind hier durch schickere Automarken ersetzt worden. Mit meinem Rucksack passe ich so gar nicht in dieses Bild. Zu meiner Enttäuschung gibt es hier gar nicht so viele kleine Balkone, wie ich erhofft hatte. Hier wirkt es so, als wäre Paris doch nur eine weitere Großstadt – glattgebügelt, um nicht weiter aufzufallen. Weniger Charme, mehr Chic. Fast könnte man meinen, hier würde die Stadt all das verstecken, was sie eigentlich für mich ausmacht. Einige argwöhnische Blicke treffen mich, und ich ahne, die Leute sind kurz davor, die Polizei zu rufen, weil sie mich für eine kriminelle Streunerin halten, die wohl eine Übernachtungsmöglichkeit in einem der edlen Vorgärten ausspäht. Dabei suche ich nur die richtige Hausnummer, um endlich meinen Freund zu überraschen. Das würde ich den Leuten zu gerne erklären, aber dafür bin ich a) zu aufgeregt, und b) befürchte ich, dass sie es mir ohnehin nicht glauben würden. Die Erleichterung steht mir ins Gesicht geschrieben, als ich Hausnummer 48 entdecke. Gleich erhalte ich eine Art Aufenthaltsgenehmigung für dieses schicke Pariser Viertel. Ich gehöre dazu und fahre dann auch total todesmutig und cool mit der Métro, weil man mir nicht mehr anmerken wird, eine Touristin zu sein. Bald werde auch ich Pariserin sein.
Mit zittrigen Fingern drücke ich auf die Klingel und spüre, wie mein ganzer Körper die hektische Interpretation einer Samba tanzen will. Meine Knie sind weich, mein Herzschlag ist zu schnell, mein Lächeln zu breit und die Aufregung kaum auszuhalten. Schritte sind hinter der Tür zu hören, begleitet von Stimmen. Der Countdown in meinem Kopf erreicht endlich den Höhepunkt:
Trois!
Deux!!
Un!!!
Die Tür wird geöffnet …
»Oui?«
Jemand hat, ganz ohne meine Erlaubnis, die Notbremse in meinem Herzen gezogen. Mein Puls verlangsamt sich rapide und sehr bedrohlich. Ich kann fast spüren, wie das Blut meinen Kopf verlässt.
Das ist nicht Alain. Sondern ein bildhübsches Mädchen – in meinem Alter! – mit einer Porzellanhaut, den klarsten grünen Augen, die ich jemals gesehen habe, mit blonden Haaren und der perfekten Nase. Sie trägt eine niedliche Bluse mit goldenem Kragen und einen schwarzen Rock, der knapp über die Knie geht und ihre langen Beine ins perfekte Licht rückt. Dazu die schwarzen Ballerinas mit einer kleinen, goldenen Schleife. So könnte sie jetzt sofort von einem Helikopter abgeholt und zu den Filmfestspielen nach Cannes geflogen werden, wo sie den roten Teppich einweiht. Ich hingegen sehe aus, als hätte ich meinen Wanderrucksack in aller Eile gepackt, mir meine Jeans und Turnschuhe angezogen und dazu noch meine Haare auf der Zugfahrt eine Party epischen Ausmaßes auf meinem Kopf feiern lassen. Sind mir denn alle Französinnen genetisch überlegen, was Schönheit und Stil angeht? Selten habe ich mich so durchschnittlich gefühlt. Was ich mir aber nicht anmerken lasse. Ich schenke ihr ein freundliches Lächeln und stelle mich vor.
»Bonjour. Je m’appelle Emma …«
Als würde die Nennung meines Namens genügen, um das große Fragezeichen in den großen, klaren Augen des Mädchens auszulöschen. Alain hat eine Schwester, allerdings ist die erst fünf Jahre. Ich brauche nicht Sherlock Holmes an meiner Seite, um zu erkennen, dass dieses Mädchen nicht seine Schwester ist. Sie zuckt gelangweilt die Schultern.
»Oui?«
Okay. »Emma« lautet also schon mal nicht das Passwort in dieses Haus, denn das Mädchen verschränkt nur genervt die Arme vor der Brust und mustert mich.
»Ich bin hier, weil ich Alain besuchen will …«
Dabei werfe ich noch mal schnell einen Blick auf mein Handy, um die Peinlichkeit einer Verwechslung der Hausnummern auszuschließen. Aber nein, das ist seine Adresse. Ohne Zweifel.
»Un moment!«
Sie macht einen Schritt zurück, schließt die Tür bis auf einen Spalt und ruft nach Alain. Mein Kopf fühlt sich etwas merkwürdig an. Mir ist ein bisschen schwindelig, gerne würde ich mich irgendwo festhalten, bevorzugt an Alain, der dieser Zicke mal erklären sollte, dass ich seine Freundin aus Deutschland bin, die er ganz schrecklich vermisst und deren Besuch ihn überirdisch freut. Denn genau das wird jetzt passieren. Auch wenn die leise Stimme in meinem Hinterkopf mir fiese Zweifel einflöst.
Nein! Alles ist gut. Sie ist eine Schulfreundin, die nur hier ist, weil sie mit ihm lernt.
In den Ferien?
An einem Samstag??
Völlig normal für verantwortungsbewusste und lernbegierige Siebzehnjährige!
Oh die Lügen, die unser Gehirn ausspuckt, wenn wir die Wahrheit nicht hören oder sehen wollen. Meine Hände werden feucht, dafür trocknet mein Mund aus. Ich versuche mich an einem coolen Gesichtsausdruck, als die Tür wieder geöffnet wird und endlich Alains Gesicht auftaucht. Kurzer Freudensprung meines Herzens. Er sieht selbst jetzt so unglaublich gut aus, als hätten seine Eltern den Namen »Alain« nur deswegen gewählt, weil sie gewusst haben, dass er wie eine Inkarnation von – genau! – Alain Delon aussehen wird. Er trägt schwarze Jeans, einen schlichten, grauen Strickpullover, und seine Haare sehen aus, als wären sie mit einer Schablone um sein Gesicht gemalt worden. Nicht eine Haarsträhne hat sich verirrt. Sofort muss ich lächeln.
»Bonjour, Alain!«
Meine Stimme klingt viel zu dünn und unsicher. Seine Augen sehen mich an, als wäre ich eine Fata Morgana, die plötzliche Erscheinung einer Palme inklusive Oase in der Wüste. Ich warte auf die Freude, die Begeisterung, das Lächeln und die Grübchen. Doch Alains Miene bleibt regungslos, nur seine Augen weiten sich, als er begreift, dass ich wirklich hier bin. Die blonde Finalistin von France’s Next Topmodel schiebt sich neben ihn in den Türrahmen und hakt demonstrativ ihren Arm bei ihm unter. Sogleich spuckt mein Hirn die nächste Wohlfühllüge aus.
Gut, das hat noch nichts zu bedeuten! Franzosen küssen sich zur Begrüßung auch übertriebene zwei Mal.
»Emma …«
Begeisterung klingt anders. Gleich wird er mich fragen, ob ich reinkommen will.
»Ja. Emma. Ich bin’s.«
Das klang in meinem Kopf schon nicht besonders cool, ausgesprochen klingt es wie die schlechte Nummer eines Stand-up-Comedians. Mein Französisch ist allerdings besser, als ich angenommen habe, denn während Blondie sich zu Alain dreht, verstehe ich jedes Wort.
»Tu savait qu’elle venait?«
Nein, er wusste nicht, dass ich komme. Das ist der Sinn einer Überraschung, du Pute!
»Chloé, je …«
Chloé? Sie heißt allen Ernstes Chloé? Ist Coco Chanel vielleicht zu viel Klischee gewesen? Ihre Eltern haben wirklich ganze Arbeit geleistet, um rothaarigen, zu klein geratenen Mädchen mit einer Neigung zur Begeisterung für verstorbene amerikanische Autoren richtig eins auszuwischen! Ich komme mir unglaublich fehl am Platz vor, als wäre ich aus einer RTL-Vorabendserie in einen französischen Arthaus-Film gestolpert. Chloé stellt die Fragen, die auch in meinem Kopf rumschwirren, nur hören sie sich bei ihr so an, als würde Elizabeth Taylor Richard Burton zur Rede stellen. Und zwar am Ende der zweiten Ehe. Ich versuche, den französischen Flüchen zu folgen, und höre angestrengt hin, verstehe aber nicht recht.
Ich verstehe eigentlich schon.
Ich kapiere das nur nicht!
Sie ist sauer, weil sie endlich geschnallt hat, dass er sie mit mir – dem Rotschopf aus l’Allemagne – betrogen hat. Dieses Gefühl sollte sich bei mir auch einstellen: die Betrogene zu sein. Doch als ich Chloés schriller Stimme weiter zuhöre, erfahre ich, dass die beiden seit knapp zwei Jahren ein Paar sind. Das ist in unserem Alter eine halbe Ewigkeit! Alles verliert an Bedeutung und Geschwindigkeit. Mein Leben fällt kurzzeitig in eine Art Lähmungszustand. Ich höre nur die Worte wie ein leiser werdendes Echo in meinem Kopf. Zwei Jahre!? Wie soll ich da mit knapp zwei Monaten mithalten, in denen wir uns nicht gesehen haben?
»Deux ans, Alain! Deux ans!«
Meine Augen füllen sich mit Tränen, obwohl ich das nicht will. Wut brodelt in mir und frisst sich in meinen Magen, begleitet von einem bitteren Geschmack. Du bist nicht die Betrogene!, scheint mir eine gehässige innere Stimme zuzuflüstern. Es fehlt nur noch das hysterische Kichern, dann habe ich den letzten Funken Selbstbeherrschung verloren.
Wie konnte ich nur so dumm sein? Wann habe ich beschlossen, ausschließlich auf mein Herz zu hören und den Verstand mit allen Zweifeln und Warnungen aufzugeben? Das passiert, wenn man an die große Liebe aus den Romanen und Buchverfilmungen glaubt. Genau deshalb passiert das! Wie gerne würde ich sagen, dass mich Alain mit Chloé betrogen hat – dann könnte mein Herz jetzt und hier zerbrechen, auf den Stufen zu diesem unglaublich schicken Haus in Paris, und ich könnte mich in aller Ruhe selbst bemitleiden, weinen und zurück nach Hause verschwinden, wo hoffentlich niemand von dieser Episode meines Lebens erfahren wird. Doch machen wir uns nichts vor, es ist viel schlimmer als das: Alain hat mich nicht einfach nur die letzten Monate belogen, mir Hoffnungen auf eine Zukunft ohne Chancen und sich bestimmt auch noch bei seinen Freunden über mich lustig gemacht. Nein. Er hat Chloé mit mir betrogen!
Ich bin so was von deutlich die Person, die aber auch rein gar nichts in diesem perfekten Arthaus-Film zu suchen hat. Meine Wut, die sich gegen Alain und Chloé richten sollte, wendet sich allerdings gerade ziemlich bitter und zielgerichtet gegen mich selbst. Weil ich dämlich bin. Unfassbar dämlich! Die wenigen Facebook-Freunde, das neue Profil dort, die Tatsache, dass er nie ans Handy gegangen ist, wenn ich ihn angerufen habe, die Ausrede, wir könnten leider doch nicht zusammen nach Nizza, weil seine Eltern das Haus an Freunde vermietet hätten … Alles nur ein Fake!
Dieser miese Alain Delon für Arme versucht inzwischen, eine sehr aufgebrachte Elizabeth Chloé Taylor zu beschwichtigen. Er probiert es mit französischen Zauberworten, die bei mir funktioniert haben, dabei blickt er sie aus großen, traurigen, blauen Augen an und versucht verzweifelt das zu retten, was er unbedingt behalten will.
Und das bin nicht ich.
Mit mir redet nämlich niemand. Niemand versucht mich zu beschwichtigen oder zu umarmen. Auch nicht, als die erste Träne über meine Wimper die Wange entlangkullert und in die Tiefe stürzt. Mein genialer Plan, mit dem ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollte, erweist sich in der Realität als preisverdächtige Blamage, gebrochenes Herz inklusive. Man muss einer Frau selten sagen, wann es Zeit für den Abschied ist. Aber ich hätte schon vor zwei Minuten gehen und mir so noch ein bisschen Würde bewahren sollen. Stattdessen sehe ich Chloé dabei zu, wie sie ihre Jacke holt, es ist natürlich eine todschicke, schwarze Lederjacke mit zarten, goldenen Nieten, für die ich sie fast mehr beneide als für Alain. Dem verpasst sie übrigens eine schallende Ohrfeige. Danach wirft sie mir einen bösen Blick zu und schreitet die Straße entlang von dannen, vorbei an den großen Bäumen, die theatralisch ihre Blätter verlieren. Ich stehe noch immer rum wie bestellt und nicht abgeholt und überlege, wann genau ich den perfekten Zeitpunkt für meinen glorreichen Abgang verpasst habe. Da drängelt sich Alain an mir vorbei und rennt Chloé nach.
»Chloé! Chloé!«
Er wird sie ohne Zweifel einholen, weil sie das so will. Er wird sich entschuldigen, immer und immer wieder. Sie wird ihm verzeihen, weil sie das so will. Und ich stehe mit Rucksack, ohne Übernachtungsmöglichkeit und einem ziemlich bösen Herzschmerz vor der geschlossenen Tür eines Hauses, in das ich nie auch nur einen Fuß setzen werde. Dabei gebe ich mir große Mühe, nicht zu weinen. Was mir nicht gelingt. Zögernd und planlos setze ich mich in Bewegung und renne schließlich die Straße in die andere Richtung davon. Hinter mir höre ich keine Schritte. Niemand ruft verzweifelt meinen Namen, um mich vom Gehen abzuhalten. Ich laufe einfach nur davon.
Je ne sais pas pourquoi
Ich weiß nicht, warum
Liebes Paris!
Ich habe ein kleines Problem: Ich sitze fest. In einem Tagtraum, aus dem ich nicht aufwachen kann, weil er wahr geworden ist. Ich bin hier bei Dir und ich habe einen Rucksack voller Träume und Hoffnungen im Gepäck. Nur leider weiß ich nicht, wohin damit – und wie es weitergehen soll. Mein französischer Freund hat sich als absoluter Vollidiot geoutet und mir bleibt die Rolle der abservierten naiven Nuss. Alles ziemlich doof gelaufen, wie Du Dir denken kannst. Jetzt habe ich keinen Plan B, aber dafür verheulte Augen und ein angeknackstes Herz. Ich finde es ja schön, dass Du gegen Abend noch mal eine Schippe Romantik drauflegst mit süßen Lichterketten in kleinen Gassen, Straßenmusikern, die Hits wie Moon River spielen, und dass Du den blinkenden Eiffelturm in der Ferne auffährst, aber weißt Du: Im Moment tut das alles ziemlich weh! Wenn es Dir also nicht zu viel ausmachen würde, könntest Du vielleicht einfach nur eine stinknormale Großstadt sein? Mit verletztem Herzen ist so viel Romantik echt schwer zu ertragen.
Paris, mein Paris! Ich habe alles über Dich gelesen und mich verliebt, bevor ich Dich überhaupt das erste Mal gesehen habe. Jetzt leide ich an Liebeskummer. Ist das nicht total albern? Von Jungs habe ich erst mal die Nase voll. Ganz besonders von Alain, der sich jede Wette gerade mit Chloé versöhnt. Weil ich sonst nicht weiterweiß, habe ich mir ein Hostel gesucht, das richtig günstig und trotzdem sauber sein soll. Und es liegt in Montmartre! Das muss ein Zeichen sein.
Bis bald,
Deine Emma
Dann klappe ich mein Notizbuch zu und atme tief durch. Ja, Alain hat mich belogen. Das ist endgültig in mein Bewusstsein gesickert. Jetzt ist er weg, weil er Chloé hinterhergerannt ist, und ich bin in seiner Stadt total alleine. Das ging mir alles viel zu schnell. So enden doch keine Beziehungen. Nicht mal Affären. Wo ist mein großer Auftritt geblieben, bei dem ich ihm alles an den Kopf werfen kann, was ungesagt geblieben ist? In einem Kapitel wird eine Beziehung abgehandelt und zack! boom! geht es weiter. Ernsthaft? Kein klärendes Gespräch, kein Wutanfall, keine Vorwürfe. Nein, ich wurde zur Zuschauerin degradiert und muss jetzt zusehen, wie ich die Fetzen meiner Selbstachtung zusammenflicke und damit weitermache. Ich schicke meiner Mama schnell eine Nachricht via WhatsApp, in der ich erkläre, alles sei gut, ich wäre nur schrecklich müde und würde mich morgen melden. Ich könnte ihnen auch die Wahrheit sagen, aber dazu bin ich noch nicht bereit. Nein, ganz sicher bin ich noch nicht bereit, mit verheulten Augen nach Hause zurückzugehen. Nur zur Sicherheit werfe ich einen Blick auf mein Handy. Wäre ja möglich, dass Alain zumindest einen Funken Anstand hat und zumindest mal nach meinem Befinden fragt. Immerhin bin ich alleine in einer mir (in der Realität) gänzlich fremden Stadt. Doch da ist nichts. Keine Nachricht. Nichts! Okay, Fokus weg vom Handy. Wo sind die positiven Strohhalme, an die ich mich jetzt klammern kann? Zumindest das Hostel ist einigermaßen sauber, allerdings mit zahlreichen trinkfreudigen Australiern vollgepackt. Mein Bett in einem der wenigen Einzelzimmer ist so schmal, dass ich rausfalle, wenn ich mich zu schnell drehe. Trotzdem bin ich froh, die Tür hinter mir abschließen zu können und endlich einen Moment für mich alleine zu haben.
Ich starre auf meinen Rucksack, in den ich nicht nur zu wenig Klamotten, sondern vor allem zu viele Bücher gepackt habe. Zur Sicherheit habe ich auch noch ganz viel Hoffnung, Träume und Schmetterlinge hineingestopft. Jetzt komme ich mir unglaublich dämlich vor. Als hätten alle um mich herum, sogar meine Mutter, mich gewarnt und das große Ganze gesehen, mit all den Stolperfallen und dem bösen Ende. Sicher, man muss mir nicht erzählen, in welchem Harry-Potter-Teil Professor Dumbledore stirbt. Aber ein Spoiler bezüglich meines eigenen Lebens, wäre das wirklich so falsch gewesen? Danke auch, liebes Universum!
Erschöpft lasse ich mich auf das Bett fallen und wünsche mir, es so schnell nicht mehr verlassen zu müssen. Dieses winzige Hostelzimmer ist meine Festung. Hier kann ich mich verstecken und mir überlegen, wie es weitergehen soll. Wie ich mich nach den Herbstferien den gehässigen Kommentaren meiner Mitschülerinnen stellen werde. Die fiesen Sprüche hinter meinem Rücken habe ich natürlich auch vorher gehört, weil sie stets dafür gesorgt haben, dass es nicht unbemerkt an mir vorbeigeht. Schnell ziehe ich mir das Kissen über den Kopf und spiele mit dem Gedanken, die kompletten Ferientage hier zu verbringen. Ein guter Plan? Ein verdammt guter Plan!