Prolog

Ich bin behindert. Damit meine ich nicht dieses 0815-Facebook-Gehabe von wegen »ich bin ja so behindaaat #yolo #swag #hashtag«, nein, ich bin wirklich behindert. Volle Möhre – mit Rollstuhl und allem Drum und Dran. Kann froh sein, dass ich inzwischen wieder alleine aufs Klo gehen kann. Yay.

Das war nicht immer so (das mit dem Behindert-Sein).

Es gab mal eine Zeit, da war ich ein ganz normales Mädchen. Hübsch, hatte viele Freunde, ging zur Schule, hing auf Facebook rum und rauchte nicht.

Ich wollte Balletttänzerin werden; tja. Kann ich jetzt vergessen. Auch den Leuten von der Modelagentur mussten meine Eltern absagen.

Ich stell mir das ja genial vor: Eben noch Feuer und Flamme von wegen Laufsteg und New York Fashion Week und dann da anrufen: »Ja, ne. Sorry. Geht jetzt nicht mehr. Ja. Das tut uns sehr leid. Unsere Tochter ist nur derzeit etwas indisponiert.«

Indisponiert hieß im Koma. Und zwar fast acht Monate. War 'ne schöne Scheiße. Über den fehlenden Schulstoff komm ich hinweg; über die verpasste Staffel »Britain's Got Talent« eher weniger. Nicht zu vergessen, dass ich mich in der Zeit nicht bewegt habe.

Heißt nur leider im Umkehrschluss so viel wie: Bye-bye, Modelkarriere und Farewell, Royal Ballet School. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass Leute gerne dabei zusehen, wie jemand mit dem Rollstuhl über den Laufsteg fährt. Von meiner ganz persönlichen Interpretation von »Schwanensee auf Rädern« will ich gar nicht erst anfangen.

Für mich ist das im Grunde genommen okay. Ich hab mich nicht drum gerissen, aber … Okay, streichen wir das.

Ich hasse es.

Im Rollstuhl zu sitzen. Nicht tanzen zu können. Alles. Seit drei Wochen bin ich wieder daheim und versuche darüber hinwegzukommen, dass meine Karriere zu Ende ist, bevor sie überhaupt angefangen hat. Ich hatte nie einen Plan B. Wieso nicht? – Ganz einfach, weil ich das, was ich mir vornehme, auch durchziehe.

Während andere nachmittags irgendwie weggegangen sind, hab ich im Studio trainiert, bis ich kein Gefühl mehr in den Zehen hatte. Primaballerina – das war der Plan. Modeln? Nicht mein Traumjob, aber, wenn man schon auf der Straße angelabert wird, sagt man zu dem Nebeneinkommen natürlich nicht nein.

So viel also dazu.

Ich hasse es, wenn etwas nicht nach Plan läuft. Generell bin ich ohne Ziel ziemlich scheiße dran. Mein ganzes Leben ist nämlich eine einzige Checkliste. Ich habe für alles eine Checkliste.

Meine morgendliche Routine. Fürs Lernen. Hausarbeit. Mein Leben. Letztere liegt jetzt zerfetzt im Müll. Da, wo sie hingehört – so wie meine ganze, verkackte Existenz. Ich bin nicht depressiv oder so, aber Realist.

Rollstuhl bedeutet kein Ballett. Kein Ballett bedeutet irgendein Random-Job, der mir sowieso keinen Spaß machen wird. Das bedeutet Standardlebenslauf ohne besondere Ereignisse. Gleich: Beschissen.

Ich könnte damit leben. Wirklich! Wenn da nicht meine blöde Tante Clara wäre, deren größte Leidenschaft es ist, andere auf ihre Fehler hinzuweisen. Das ist mir bisher nie aufgefallen, weil ich wirklich bemüht war, immer alles perfekt zu machen, aber jetzt, wo ich im Rollstuhl sitze, lässt sie keine Gelegenheit aus, mich darüber zu informieren, wie überflüssig ich eigentlich bin.

Ich wohne zusammen mit meinen Eltern und meiner Großmutter väterlicherseits in einem dieser Wohnblocks im College Bank Way in Rochdale, einer langweiligen Kleinstadt nordöstlich von Manchester.

Mein Dad heißt Arthur und redet nicht sonderlich viel und – um ehrlich zu sein – das ist schon fast alles, was ich über ihn weiß. Er arbeitet quasi vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, um uns irgendwie am Leben zu erhalten.

Meine Mum heißt Ella und stammt aus Deutschland. Die beiden haben dort gelebt, bis ich sechs wurde, danach sind wir nach England gezogen, weil meine Grandma krank wurde.

Grandma Margret ist ungefähr neunzig Jahre alt. So genau weiß das keiner von uns – am wenigsten sie selbst. Sie leidet an Demenz, was eigentlich ganz okay ist. Es ist nicht einfach für uns, aber sie führt ein glückliches Leben. Ich meine, hey – sie lernt jeden Tag neue Leute kennen.

Man kann sie eigentlich gut alleine lassen. Maximal einmal im Monat büxt sie aus und terrorisiert das Dorf, aber inzwischen kennt sie jeder Feuerwehrmann und jede Person im Umkreis von zehn Meilen.

Das eigentliche Problem in der Geschichte bin also ich. Weil ich quasi Invalidin bin (und die ersten zwei Wochen nicht mal alleine zur Toilette konnte), musste meine Mum ihre Stelle als Anwaltsgehilfin kündigen und arbeitet jetzt nur noch halbtags bei ASDA an der Kasse. Ich könnte mir keine bessere Mutter vorstellen, weil ich weiß, wie schwierig das alles für sie ist und wie viel sie für mich tut, aber manchmal treibt sie das mit dem Verhätscheln ein wenig zu weit.

Das findet auch meine Tante Clara, die Schwester meines Dads, die regelmäßig vorbeikommt, um zu sehen, ob Grandma noch nicht gestorben ist.

Sie führt das »perfekte« Leben und hat selbst keine Kinder, was sie aber in keiner Weise daran hindert, sich in das Leben anderer Leute, vorzugsweise in das ihrer Schwägerin, einzumischen. Grundsätzlich verabscheut sie alles, was nur Arbeit macht, ohne im Gegenzug etwas dafür zu leisten. Also Grandma Margret und mich; wobei erstere ja quasi eine Berechtigung dafür hat, weil sie alt ist. Ich dagegen mache nur Arbeit und existiere zu allem Überfluss auch noch, was sie mir bei jeder Gelegenheit unter die Nase reiben muss.

Ich bin schuld, dass die Familie jetzt finanziell mehr belastet wird. Ich bin schuld, dass mein Dad mehr arbeiten muss. Ich bin schuld, dass meine Mum nun im »niederen Dienstleistungsgewerbe« anheuern muss (Herrgott, das klingt fast, als müsste sie anschaffen gehen). Aber so gerne ich Tante Clara auch überhöre und so sehr ich ihr ständiges Gemecker auch verabscheue, muss ich ihr doch im tiefsten Inneren recht geben.

Ich bin eine Belastung für meine Mutter. Ich kann wirklich nichts zum allgemeinen Wohl beitragen. Ich bin überflüssig.

Ich weiß nichts mit meinem Leben anzufangen. Ich bin zu blöd, um laufen zu lernen und ehrlich gesagt hab ich in dieser ganzen scheiß Situation überhaupt keinen Bock auf Garnichts.

Wenn mich meine Mutter nicht zwangsernähren würde, wäre ich schon längst verhungert, weil ich selbst essen zu anstrengend finde. Wiederhole: Ich bin nicht depressiv, ich bin Realist.

Und aktuell sehen meine Chancen nicht gerade gut aus. Ich habe mir die Freiheit genommen, dazu eine Liste anzufertigen. Hab ja eh nichts Besseres zu tun.

Gründe für meine schlechte Laune:

•  Kann nicht laufen.

•  Bin überflüssig.

•  Keine Karriereaussichten.

•  Belastung für meine Mutter.

•  Keiner meldet sich.

Sieht doch alles ganz gut aus. Dass sich keiner meldet, sollte mich eigentlich nicht wundern. Ich war schließlich fast ein Jahr lang nicht auf Facebook, Instagram oder Twitter unterwegs und bin damit gesellschaftlich tot.

Ich habe keinen Bock auf Schule, auch wenn mich meine Mutter immer wieder dazu überreden will, und um ehrlich zu sein, will ich auch nicht wissen, was da für Reaktionen kommen, wenn ich mit meinem stylischen Rollstuhl über den Schulhof rolle. Da bringt auch das Sitzkissen im Gucci Print nichts, das mir meine Tante genäht hat.

Es klingt krass, aber ich hab echt Schiss davor, dass ich erstmal 'ne volle Breitseite kassiere, wenn ich da auftauche und plötzlich anders bin.

Über solche Leute hab ich mich früher mit meinen Mädels ja auch immer lustig gemacht, warum sollten sie's also jetzt lassen, bloß, weil ich nun der Depp war. Für mehr als ein

Freu mich so, dass du wieder da bist, Schatz xoxo

auf meinen ersten Twitter-Post, seit ich wieder aufgewacht bin, hat's sowieso nicht gereicht. Meine große Auferstehung … selbst Jesus hatte zwölf Follower.

Fazit: Keine Freunde. Keine Karriere. Keinen Bock.

Und dazu noch eine Tante, die das unheimliche Talent hat, genau dann aufzutauchen, wenns gerade sowieso scheiße ist.

Nach drei Wochen außerhalb des Krankenhauses bin ich, Lefke Sherwin, also zu dem Entschluss gekommen, meinem Leben ein Ende zu setzen.

Wieso? Weil ich keinen Sinn mehr darin sehe, weiterzuleben und weil ich doch sowieso überflüssig bin.

Außer meinen Eltern wird mich sowieso niemand vermissen, und das auch nur so lange, bis sie merken, wie viel Geld sie auf einmal zur Verfügung haben werden.

Ich mache das nicht, weil ich depressiv bin, sondern weil es neutral realistisch gesehen das Beste für alle Beteiligten ist. Zeit für eine neue Checkliste.

Thema: Suizid.

Das Internet liefert verschiedene Ansätze für einen Suizid, aber die meisten fallen für mich flach, weil ich alleine nicht aus dem Haus komme. Außerdem wird empfohlen, eine Windel anzuziehen, da man sich beim Sterben wohl automatisch erleichtert – eine Maßnahme, um seinen Verwandten das Leben ein wenig zu erleichtern. Allerdings bin ich nach wie vor ein Verfechter der Aussage, die Würde des Menschen sei unantastbar, also lasse ich diese Option mal schön offen.

Überhaupt ist es interessant, wie viel einem das Internet zu diesem Thema liefert und wie wenig das alles mit irgendwelchen Selbsthilfegruppen oder Telefonseelsorgern einhergeht.

Ich frage mich sowieso, ob jemand generell mal auf solche Hotlines zurückgegriffen hat. Mal ehrlich. Wie arm muss man dran sein, wenn man da anruft?! Außerdem: wenn man sich doch wirklich sicher ist, dass man sich umbringen will – und das bin ich – dann wird so ein komischer Kauz am Telefon doch auch nichts dran ändern können.

Zufrieden mit meiner Arbeit mache ich das Browserfenster zu und gehe nochmal meine Checkliste durch.

Jap. Steht alles soweit.

Dann drucke ich auch noch meinen Abschiedsbrief aus.

Unser Drucker, der ungefähr so alt wie meine Grandma ist, wird es mir danken, dass ich ihn in Zukunft nicht mehr mit meinen Anfragen belästige. Er klingt gequält, als er die mehrfach auf Rechtschreibung und Grammatik geprüften Seiten ausspuckt. Der komplette Tisch wackelt und ich muss einige Stoßgebete schicken, während sich der Gute mit meinem letzten Auftrag abmüht.

Nicht, dass ich irgendwie gläubig wäre. Bei meiner Recherche habe ich zwar einiges zum Thema »Vertrau dich Gott an und dir wirds besser gehen« gefunden, aber darauf kann ich gut und gerne verzichten. Solange nicht innerhalb der nächsten zwei Minuten ein komischer Typ mit langen Haaren und Bart in mein Zimmer kommt und meine Beine wieder betriebsfähig macht, tu ich 'nen Scheiß.

Der Drucker ist fertig und ich betrachte zufrieden mein Werk, falte es zusammen und stecke es in den Umschlag, auf den ich »Mum« schreibe.

Darüber, wo ich den Brief am besten hinlegen soll, konnten mir auch die unendlichen Weiten des Internets (zumindest die Google-Ergebnisse bis Seite acht) keine eindeutige Auskunft geben, also werfe ich ihn einfach aufs Bett.

Das World Wide Web schlägt außerdem vor, dass man sich bewusst von allem verabschieden sollte, aber ich werde bestimmt nicht in Kindergartenmanier jedem Kuscheltier und jeder Faser meiner Tapete Lebewohl sagen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die auch ganz gut ohne mich zurechtkommen.

Gibt außerdem sowieso nicht viel zum Verabschieden. Mein Zimmer ist karg. Ich habe immer darauf geachtet, keinen Besuch einzuladen – die sollen ja nicht auf die Idee kommen, ich wäre arm oder so. Außerdem ziehe ich es vor, Dinge, die andere nichts angehen, für mich zu behalten. Und dazu gehört mein Zimmer, mitsamt dem Poster meiner ersten Schwanenseeaufführung in Manchester, der Pinnwand mit den wichtigsten Checklisten und meiner One-Direction-Bettwäsche.

Ich weiß nicht, ob ich die Jungs hasse oder mag, weil ich noch nie ein Lied von ihnen gehört habe, aber das ist das einzige »sinnvolle« Geschenk, das ich je von meiner Grandma bekommen habe und deshalb halte ich es in Ehren. Seit sie dement ist, habe ich von ihr nur seltsame Dinge gekriegt: eine alte Patronenhülse, eine kaputte Taschenuhr, einen David-Beckham-Pappaufsteller und ein halb volles Päckchen Taschentücher von einer Marke, die es seit den 1980ern nicht mehr gibt – keine Ahnung, wo sie das Zeug aufgetrieben hat.

Aber auch diese Sachen habe ich aufbewahrt. David Beckham fristet allerdings im Kleiderschrank sein Dasein – ich hasse Fußball. An der Wand hängt sonst nur noch ein Poster von Beethoven im Stil von Andy Warhol und meine ersten Ballettschuhe in Größe dreiunddreißig. Sonst wüsste ich auch gar nichts, was ich hätte aufhängen können. Ich habe keine richtigen Lieblingsbands und für irgendwelche Selfies sind mir die Druckkosten zu hoch.

Ich löse die Handbremse meines Rollstuhls und fahre vor meinen Kleiderschrank, in dessen Tür ein Spiegel hängt. Meine Mum ist seit sieben auf der Arbeit. Als sie mich heute Morgen geweckt hat, habe ich sie darum gebeten, mir etwas Anständiges anzuziehen. Vermutlich hat sie gehofft, ich würde endlich das Haus verlassen, aber eigentlich hat das einen ganz einfachen Grund:

Ich will in Würde sterben. Und das heißt, nicht im weißen Frotteebademantel, den mein Dad mal in einem Hotel hat mitgehen lassen und der, seit ich aus dem Krankenhaus bin, quasi an mir festgewachsen ist.

Ich bürste mir noch einmal über die Haare und betrachte mich. Ich bin hübsch – groß und dünn, wie man es als Model oder Ballerina sein muss. Dazu die typisch englische Haut mit den Sommersprossen, mit der ich schon beim ersten Sonnenstrahl beinahe in Flammen aufgehe.

Meine Haare sind schulterlang, leicht gewellt und erdbeerblond. Rothaarig zu sein ist ein Segen – aber nicht in England. In meiner Grundschulzeit bin ich deswegen gehänselt worden, bis ich gelernt hab mich zu wehren und lieber die anderen zu hänseln. Mein Gesicht ist oval mit hohen Wangenknochen und großen, leicht schrägen, grünblauen Augen, die ich von meiner Grandma habe.

Generell sehe ich ihr ähnlicher als meinen beiden Eltern. Die schmale Stupsnase und die vollen Lippen habe ich auch von ihr. Wenn sie mir Bilder von früher zeigt, ist unsere Ähnlichkeit schon beinahe schockierend, auch wenn sie nie so groß war wie ich.

Sie sagt dann immer ganz stolz, dass ich irgendwann genauso eine Herzensbrecherin werde wie sie. Ich habe nur immer gehofft, dass das die Demenz nicht einschließt. Gut, dass sich das jetzt erledigt hat.

Ob ich eine Herzensbrecherin bin, kann ich übrigens nicht sagen, aber als achtzehnjährige Jungfrau bin ich in meiner Generation so etwas wie die Jeanne D'Arc, der Yoloswagger. Ich habe nie viel darauf gegeben – weder darauf, ein Yoloswagger zu sein, noch auf Teufel komm raus mit irgendeinem Schwachmaten anzubändeln, bloß um zwei Wochen später via Twitter mitteilen zu können, wie er mir das Herz gebrochen hat. Was aber auch nicht bedeutet, dass ich an den einzig Richtigen und die große Liebe und den ganzen Scheiß glaube.

Das einzige Mal, dass ich wirklich für jemanden geschwärmt habe, war irgendwann in der Siebten oder Achten gewesen. Er hieß Ryan Seymour und es gab eigentlich kein Mädchen, das nicht auf ihn stand. Er war der typische Schürzenjäger, ließ vorne rum alle abblitzen und gab sich unnahbar, während er im Hintergrund die halbe Stadt flachlegte.

Man überlege sich das mal, der Kerl war damals sechzehn, hallo?! Jedenfalls war es ganz schnell aus mit der Schwärmerei, als Holly Kingston überall rumerzählt hat, dass sie ihm in der Toilette der Turnhalle einen geblasen hat. Damals – wir waren höchstens zwölf – wusste keiner, was Blasen eigentlich heißt – ich glaube, am wenigsten sie selbst – und als ich es daheim dann bei Google eingegeben hab, war es auch schon aus mit der Schwärmerei.

Seither habe ich nie wieder einen Fuß in diese Mädchentoilette gesetzt, auch wenn ich inzwischen so weit bin, zu wissen, dass jemandem einen zu blasen eine ganz normale Sache ist. Soviel also zu meinem Liebesleben – auch ein Bereich, in dem ich absolut nichts vermissen werde.

Bevor ich aus dem Zimmer rolle, schaue ich auf die Uhr. Eine alte Gewohnheit meiner Morgen-Checkliste, um zu überprüfen, dass ich ja auf die Minute pünktlich bin. 10:01 am 2. März.

Keine Ahnung, ob das ein guter Tag für einen Selbstmord ist. Meine Tante ist die Esoterikfanatikerin in der Familie, aber ich habe keine Lust, sie deshalb anzurufen. Ich bin Zwilling – sofern das eine Bedeutung hat – und mein Facebook-Horoskop hat mir gesagt, dass der Tag heute einige Überraschungen für mich bereithält. Ich kann es kaum abwarten.

1.

Türen aufzubekommen ist ein lästiger Vorgang, wenn man im Rollstuhl sitzt. Ich muss erst seitlich dranrollen, um an die Klinke zu kommen, dabei aber aufpassen, mir nicht selbst im Weg zu stehen. Dann muss ich es schaffen, die Klinke runterzudrücken, ohne mit der Schnauze voran auf dem Boden zu landen.

Mit etwas Übung gelingt es mir sogar, dass die Tür in einem aufschwingt, ohne am Ende laut gegen die Wand zu scheppern. Anschließend durchrollen, Klinke festhalten und im Rückwärtsgang das Ding sorgfältig zuziehen. Für Außenstehende muss ich dabei aussehen wie einer dieser Industrieroboter, die Autos zusammenschweißen – nur sehr viel langsamer – und würde ich heute nicht mein Leben beenden, hätte ich meine Mutter früher oder später darum gebeten, mir eine Armverlängerung zu besorgen. Am besten einen dieser Greifer, mit dem die Kleinkriminellen im Springfield Park den Müll einsammeln.

Als klar war, dass man mich aus dem Krankenhaus entlassen würde, hatten wir Glück – oder Pech –, dass unsere Wohnung quasi barrierefrei ist. Meine Mum musste nur das schwere Sideboard entsorgen, das bei uns in der Diele rumstand und eh keinen nennenswerten Zweck erfüllt hatte, außer die Netzhaut eines jeden zu verätzen, der es länger als zwei Sekunden anstarrte. Der Schrank war ein Geschenk der Sorte Eiche rustikal und wir waren alle untröstlich, als Tante Clara es wieder an sich nehmen musste.

Jetzt kann ich mich also absolut frei in der Wohnung bewegen. Nicht, dass das wirklich spannend wäre. Mein Zimmer ist am Ende der Diele. Von dort aus geht es links ins Badezimmer, daneben zum Gästeklo und direkt neben der Haustür auf der gleichen Seite ist das Schlafzimmer meiner Eltern. Auf der rechten Seite ist die Küche mit einer kleinen Essecke (meistens esse ich eh im Zimmer), dann unser Wohnzimmer und von dort aus kommt man in die ›Stube‹ von Grandma Margret.

Jetzt höre ich aus dem Wohnzimmer nur die Titelmelodie von Countdown. Zum großen Erbe meiner Grandma gehört eine Sammlung mit Videokassetten, die die ersten tausend Folgen zeigen und die sie sich jetzt immer wieder ansieht. Damit kann man sie für Stunden beschäftigen. Während ich bei einigen Episoden schon mitreden kann, ist es für sie immer wieder eine neue Erfahrung.

Lustig ist eigentlich nur, dass man sie damit beeindrucken kann, wenn man die Lösungen zu ganz besonders schwierigen Rätseln quasi sofort parat hat – aber das wird spätestens dann langweilig, wenn man das Rätsel zum fünften Mal am selben Tag hört.

In einer komplexen Verrenkung angle ich mir meinen Trenchcoat vom Kleiderhaken und muss mich danach erst mal kurz verschnaufen. Aus Leistungssportlerin wird invalide Kettenraucherin – ich hasse mein Leben.

Um meine Grandma zu sehen, müsste ich ins Wohnzimmer rollen, also belasse ich es dabei, mich nur verbal abzumelden – sie mag es sowieso nicht, wenn man sie beim Fernsehen stört.

»Ich geh spazieren, Grandma.«

»Ist gut, Schatz«, ob ich nun spazieren gehe oder zum Gangbang mit Adolf Hitler, Mussolini, Stalin und Mao Zedong, macht für sie keinen Unterschied, »denk dran, Harold sein Futter rauszustellen, hörst du?«

»Is gut«; Harold ist ihr Kater, der von einem Auto überfahren wurde, bevor ich überhaupt auf der Welt war, aber egal, wie oft man ihr sagt, dass das Viech schon lange unter der Erde ist, nutzt sie jede Gelegenheit, um beiläufig zu erwähnen, dass das Kerlchen sich bester Gesundheit erfreut. An ganz üblen Tagen, an solchen, an denen sie weder mich noch meine Mum erkennen will, bildet sie sich auch gerne ein, dass wir zwei Katzen haben, die sich bis aufs Blut bekriegen.

Die Haustür aufzubekommen ist schwieriger. Zusätzlich zum Greifer sollte ich meine Mutter um einen kleinen Elektromotor für den Rollstuhl bitten. Es ist das erste Mal seit dem Koma, dass ich die Wohnung verlasse. Die Tür geht schwerer auf als die meines Zimmers und ich schaffe es nur, indem ich meinen Fuß im Spalt versenke. Immerhin schließt sie sich automatisch hinter mir.

Auf dem Korridor, von dem die verschiedenen Wohnungen abzweigen, muss ich mich wieder verschnaufen. Das dauert lästig lange. Ich habe panische Angst davor, dass einer der Nachbarn mich anfällt und in ein Gespräch verwickelt. Die meisten von ihnen kenne ich nur vom Sehen, aber auf unserm Stockwerk lebt Mrs Clackett, eine Witwe mittleren Alters, die über jede Kakerlake in unserem Gebäudekomplex eine eigene Akte führt.

Außerdem hält sie mir fünf Jahre später immer noch vor, dass ich sie morgens einmal zu leise begrüßt habe. Das war der einzige Morgen, an dem ich je verschlafen hatte, weil der Strom nachts ausgefallen war und mein Wecker sich deaktiviert hatte, und ich hatte weiß Gott Besseres zu tun, als mich auf die Lautstärke zu konzentrieren, mit der ich ihr das übliche »Mornin'« entgegen schleuderte. Ich kam übrigens genau zwei Minuten zu spät in der Schule an.

Als mein Puls wieder einigermaßen normal schlägt und ich mich in meine Jacke gekämpft habe, rolle ich zum Aufzug. Das ist das Praktische an diesem Gebäude. Absolut behindertengerecht mit Aufzug und Rampe am Eingang. Quasi Gottes Wartezimmer mit Ausblick.

Ich drücke auf den Knopf und rolle mich hinein, als sich die Tür mit einem »Bing« öffnet. Der Knopf mit einem »R« drauf leuchtet auf, als ich darauf drücke. Türen schließen. Ab aufs Dach.

Ich muss an den Stairway to Heaven denken und frage mich, ob es da oben auch eine behindertengerechte Alternative gibt. Nur für den Fall, dass ich diesen blöden Rollstuhl auch mit ins Nachleben nehmen muss, vorausgesetzt das große Danach existiert überhaupt.

Zum Dach sind es nur zwei Stockwerke. Dreißig Sekunden, dann verlasse ich den Aufzug schon wieder. Zum ersten Mal seit Wochen atme ich wieder Frischluft. Die Sonne scheint, das sollte man nutzen – gerade in England. Eigentlich ein viel zu guter Tag zum Sterben.

Die Aussicht hier oben ist klasse. Vor dem Koma bin ich oft hier raufgekommen, um fürs Ballett zu üben, wenn mir unten mal wieder die Decke auf den Kopf gefallen ist, was bei einer dementen Großmutter durchaus mal vorkommen kann. Zu meinen Füßen – Pardon, zu meinen Rädern – liegt Rochdale, der perfekte Mix aus Charme und Langeweile.

Es gibt kein einziges Gebäude, das stilistisch irgendwie zum Nachbarhaus passt. Eine kunterbunte Ansammlung verschiedener Stile. Typisch britische Backsteinmonumente neben Plattenbauten und irgendwo mittendrin die viktorianische Town Hall, deren hoher Turm ein wenig an den Big Ben erinnert. Rechts von mir ein paar Meilen weg ist meine Schule: die Montgomery Mitchell High-School, kurz MMHS. Dazwischen der ASDA, wo meine Mutter arbeitet.

Nachts kann man in der Richtung die Lichtspiegelungen Manchesters in den Wolken sehen. Dazwischen liegen allerdings noch einige Meilen Hügelland, durch das sich alte Mauerreste ziehen, von denen ich früher dachte, sie seien die Überreste antiker Zivilisationen. Inzwischen weiß ich, dass die Leute nur zu faul sind, um die Zäune zu erneuern, die oft noch ihre Urahnen erbaut haben.

Der Wind kommt aus Südwesten, wo hinter noch mehr Hügeln Liverpool liegt, bevor man dann irgendwann in Wales ankommen würde. So weit sind wir allerdings nie gefahren.

Liverpool ist das Standardausflugsziel meiner Schule. Den Vortrag im Beatles Museum hab ich mindestens so oft gehört wie die Führung in der Rochdale Town Hall: Ich weiß also so ziemlich alles, was man über die Beatles oder Baumwollverarbeitung wissen muss.

Bringt mir jetzt auch nichts mehr, weil ich ja gleich sterbe. Unschlüssig manövriere ich meinen Rollstuhl zum Rand des flachen Daches und hieve mich umständlich aus dem Sitz, um mich auf der Balustrade niederzulassen, die nicht einmal ein Kleinkind im Krabbelalter aufhalten würde.

Es ist anstrengend, so normal zu sitzen, ohne Rückenlehne. Nicht einmal daran ist mein Körper mehr gewohnt. Man könnte meinen, ich hätte abends Probleme mit dem Einschlafen, so unausgelastet wie ich bin, aber Sitzen ist für mich seit dem Koma zu einer Art Leistungssport geworden.

Mein Blick streift über den Horizont und ich lausche einen Augenblick lang der Kleinstadtsinfonie, die von hier oben aus unendlich weit entfernt klingt.

Laut Internet müsste ich jetzt mein ganzes Leben Revue passieren lassen, aber dazu ist mein Kopf viel zu leer. Der Wind spielt mit meinen Haaren und ich spüre absolut gar nichts. Die naheliegenden Emotionen wie Angst, Trauer oder Erleichterung sind nicht einmal als Ahnung vorhanden.

Ich schwinge ein Bein über den Abgrund. Wird schon richtig sein. Meine Zehen kribbeln ein wenig, aber ansonsten deutet nichts auf einen Adrenalinrausch hin. Ich hatte noch nie Höhenangst, aber irgendwie habe ich gehofft, dass mich siebzig Meter Luftlinie wenigstens etwas fühlen lassen würden … Siebzig Meter sind eine Schätzung. Das Internet liefert keine Anhaltspunkte, wie hoch das Wohngebäude ist, in dem ich mich befinde.

Das Hochhaus gehört zu einem Komplex aus den Sechzigern, den man hier als die ›Seven Sisters‹ bezeichnet und die neben unserer Town Hall eine Art Wahrzeichen darstellen. Kein besonders schönes und auch nichts, was man auf Postkarten wiedererkennen würde. Vielleicht ändert sich das mit der Schlagzeile, dass sich ein behindertes Mädchen vom Dach gestürzt hat. Ein weiterer Grund fragwürdiger Berühmtheit einer sonst unbedeutenden, englischen Kleinstadt, die zuletzt 2012 wegen der Rochdale Sex Trafficking Gang in den Medien war.

Schade, dass ich es nicht rausfinden werde, denn ich werde jetzt springen.

Ich schwinge das zweite Bein über das Geländer und bleibe am Rand sitzen. Das Kribbeln, das sich in dem Moment durch meinen Nacken zieht, überrascht mich kurz, ist aber eigentlich nur ein nüchternes Zeichen dafür, dass ich noch nicht komplett den Verstand verloren habe. Angst zu haben, ist nur realistisch.

»Also dann …«, murmle ich leise.

Vielleicht nicht die besten letzten Worte. Ich sollte mir etwas Tiefgründiges überlegen. Es ist ja nicht so, dass mir hier oben irgendjemand zuhört, aber ich will nicht unbedingt mit so etwas Nichtssagendem wie also dann aus der Welt scheiden. Dann hätte ich ja auch gleich im Bademantel springen können.

»Danke für eure Aufmerksamkeit«, die Worte klingen fremd in meinem Mund. Nein, zu selbstverliebt.

»Machts gut und danke für den vielen Fisch«, nein, das kennt die halbe Welt ja schon.

»Ich springe jetzt«, peinlich. Wenn meine Schauspiellehrerin mich so sehen würde, würde sie sich das mit dem A auf dem Zeugnis nochmal überlegen. Ich schüttle irritiert den Kopf. Was tue ich hier überhaupt? Stört doch sowieso keinen.

»Scheiß drauf«, ja, das sind doch mal ein paar sinnvolle letzte Worte.

»Hast du dir das auch gut überlegt?«, der Fehler in dieser ganzen Situation: wenn man seine letzten Worte macht, in der Absicht vom Dach zu springen, erwartet man nicht mehr viel vom Leben. Erst recht keine Antwort. Absolut und sowas von keine Antwort.

Es ist Dienstagmorgen, kurz nach zehn. Ganz England arbeitet, geht zur Schule, schläft oder schaut fern. Keiner, wirklich keiner hat das Recht, sich auf dem Dach eines Hochhauses aufzuhalten und anderen Leuten beim Selbstmord zuzusehen. Ich ziehe scharf Luft ein und wappne mich, um diesem Vollpfosten, der es wagt, mich vom Sterben abzuhalten, gleich den Einlauf seines Lebens zu verpassen; dann wende ich den Kopf um.

Kurz kocht in mir der Gedanke hoch, dass ich vielleicht schon gesprungen bin und diese Erscheinung auf eine Art Restlichtphänomen zurückzuführen ist. Oder es gibt Gott und den Himmel wirklich, ich bin draufgegangen und der Typ, der da hinter mir sitzt, ist der Engel, der mich in Empfang nimmt.

Fakt ist: Beide Optionen sind eigentlich völliger Bullshit, weil ich mir – von einem subjektiven Standpunkt aus – ziemlich lebendig vorkomme.

Fakt ist auch: Der Kerl, der mich gerade vom Sterben abhält, sieht verdammt gut aus. Seine Haut ist leicht gebräunt und schwarze Haare stehen vom Wind zerzaust in alle Richtungen ab. Die vollen Lippen hat er zu einem schiefen Lächeln verzogen, das auch seine mandelförmigen, braunen Augen erreicht.

Der leichte Bartschatten betont seine hervorstehenden Wangenknochen – ohne hätte ich vermutlich das unstillbare Bedürfnis, ihm den Kopf zu tätscheln. Mir fällt auf, dass er das weiße Hemd falsch zugeknöpft hat und es nur auf einer Seite in der dunklen Jeans steckt, während er wie eine Statue in der Gegend rumsteht und mich neugierig mustert.

Meine kurze, absolut präpubertäre Sprachlosigkeit verfliegt, als ich ihm unverwandt in die Augen schaue und er der Macht meines Blickes beinahe sofort ausweicht. Die Art, wie er dann seine Hände knetet, erinnert mich ein bisschen an einen Vorschüler, der was ausgefressen hat.

»Also nicht, dass ich dazu berechtigt wäre zu urteilen«, beinahe erwarte ich, dass er herumdruckst, aber es klingt einfach nur sachlich, »aber für jemanden, der gleich den Löffel abgeben will, wirkst du ziemlich unentschlossen.«

»Sag mal, gehts noch?!«, die Gehässigkeit lässt meine Stimme hysterisch klingen, aber er zuckt nicht einmal darunter zusammen, »was glaubst du, wer du bist, hier einfach so aufzutauchen und meine ganzen Pläne durcheinanderzubringen?!«

»Nun, ich weiß nicht, inwieweit mein Name zu deiner Entscheidung beiträgt, aber ich bin Louis Stradley. Nett, dich kennenzulernen.«

Ohne den Blick zu heben, streckt er mir die Hand entgegen.

»Ganz egal, was du genommen hast, lass in Zukunft die Finger davon.«

»Ich hatte Rührei mit Bacon zum Frühstück, wenn du das meinst«, ich spüre, wie meine Mimik mir komplett außer Kontrolle gerät und mein Kopf vor Fassungslosigkeit in einer spastischen Bewegung nach links und rechts zuckt.

»Hör zu, es ist mir verdammt egal, was du heute gefuttert hast. Wenn du nun die Güte besitzen würdest, mich hier in Ruhe draufgehen zu lassen.«

»Ach so«, für den Bruchteil einer Sekunde hebt er den Blick, lächelt schüchtern und schaut dann wieder weg, »sag das doch gleich. Lass dich von mir nicht stören.«

Ich öffne den Mund, um noch etwas zu sagen. Aber das wäre vermutlich vergeudete Liebesmüh. Im Krankenhaus sind mir ja ein paar besondere Menschen untergekommen, aber so etwas hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt.

Whatever. Tun wir einfach so, als wäre er nicht da. Als wäre dieser Louis mir nie begegnet. Als wäre ich komplett alleine auf dem Dach. Ohne ihn. Ohne diesen Kerl. Ohne Louis.

Ich wende mich wieder dem Abgrund zu. Wenigstens sterbe ich in dem Wissen, dass es Menschen gibt, die noch ärmer dran sind als ich. Um so drauf zu sein, muss er als Kind einige Male zu heiß gebadet worden sein.

Ach, wie schön es doch ist, normal zu sein. Aber nicht mehr lange. Denn mein Leben ist bald vorbei. Sobald ich springe.

Ich brauche nur noch ein paar letzte Worte. Dazu werde ich in mich gehen und ganz auf meine innere Stimme zu hören. Wie eine Schauspielübung. Ich lasse mich fallen und lausche in meine Seele. Darauf, was mein Unterbewusstsein mir zu sagen hat.

»Wenn es deine Entscheidung in irgendeiner Weise beeinflusst, deine Geschwindigkeit beim Aufprall wird – wenn wir von einem freien Fall ausgehen – bei etwa 133 Stundenkilometern liegen.«

Ich sage nichts, sondern wende ihm vernichtend meinen Blick zu. Den buchstäblichen Schlag mit dem Zaunpfahl ignoriert er getrost.

»Das ist natürlich der Einfachheit halber nur eine ideale Rechnung, aber ich schätze, dass du es trotzdem mindestens auf Tempo hundert schaffst. Wenn du mir Zeit gibst, die Wetterdaten zu recherchieren, kann ich dir auch was Genaueres sagen.«

»Hast du nicht eben gesagt, dass du nicht stören wolltest?«, ich versuche es mit Gelassenheit. Soll ja bei so manch einem harten Fall echte Wunder gewirkt haben.

»Ach so«, offensichtlich aber nicht bei diesem Exemplar, »klar, ja. Nur sitzt du jetzt schon seit zehn Minuten und … einundzwanzig Sekunden hier.«

»Stalkst du mich?«

»Falls es dich beruhigt, ich war zuerst hier.«

Wieso hab ich ihn dann nicht bemerkt? Geistig werfe ich gerade Dartpfeile auf sein hübsches Gesicht.

»Whatever«, ich versuche ihn auszublenden. Der Abgrund ruft. Inzwischen wird mir außerdem kalt, noch ein Grund, das schnell über die Bühne zu bringen … Wo war ich? Ach ja. Letzte Worte.

»Jetzt bin ich der Tod, Zerstörer der Welten«, etwas melodramatisch, nicht ganz passend, aber irgendwie episch. Und im Übrigen das Beste, was mir auf die Schnelle einfällt.

»Ist das nicht von Oppenheimer?«, jetzt kennt die Nervensäge auch noch Physiker – das Leben muss es wohl heute noch einmal besonders gut mit mir meinen.

»Ey«, bisher hatte er das Glück, unter dem Segen meiner engelsgleichen Geduld gestanden zu haben, aber wenn das so weitergeht, werde ich mich in meinen Rollstuhl schwingen und ihn überfahren, »wieso gehst du nicht wie andere Kinder in die Schule und klugscheißerst da?«

»Ich bin dreiundzwanzig«, erwidert er nüchtern. Natürlich. Körperlich vielleicht.

»Dann bist du alt genug, irgendwem anders auf den Sack zu gehen. Was machst du überhaupt hier?!«

»Tauben fotografieren«, erst jetzt fällt mir die Spiegelreflex auf, die er um den Hals trägt.

»Tauben?!«

»Eigentlich mag ich Enten lieber, aber ich war heut Morgen schon im Park.«

Ey. Scheiß auf Fegefeuer, schlimmer als das hier kann es gar nicht werden.

»Ich werde jetzt springen«, keine Ahnung, zu wem ich das eigentlich sage, aber Mister Störenfried fühlt sich natürlich sofort angesprochen:

»Das hast du vorhin schon gesagt. Ich weiß, es ist deine Sache, aber bist du nicht auch der Meinung, dass du etwas vorschnell handelst?«

Was mich total entwaffnet, ist die Tatsache, dass er nicht diesen typischen Seelsorger-Tonfall draufhat. Alles aus seinem Mund klingt wie eine nüchterne Feststellung, als würde er aus einer Dissertation vorlesen. Eine Erörterung, nicht mehr.

»Ich … bin mir sicher«, fuck. Ich hab gezögert. Natürlich bin ich mir sicher. Ich hab eine Checkliste gemacht und alle Punkte abgehakt. Niemand war je besser auf einen Suizid vorbereitet als ich es in diesem Moment bin.

»Wieso springst du dann nicht?«

»Weil du störst«, zische ich störrisch, »wieso bist du überhaupt noch hier?«

»Weil ich darauf warte, dass du dich entscheidest. Mit deinem Geschrei verjagst du nämlich die Tauben.«

»Echt jetzt?! Du machst mir die letzten Minuten meines Lebens zur Hölle, weil du ein paar Tauben fotografieren willst?!«

»Genau genommen warte ich hier nur und tue alles in meiner Macht Stehende, um deine Entscheidung zu beschleunigen.«

»Wieso verschwindest du dann nicht einfach?!«

»Hm?«, das lässt ihn kurz die Stirn runzeln, »Moment, darüber muss ich nachdenken.«

Für so einen bräuchte man eine Facepalm, die glatt durch den Schädel durchgeht. Während er also darüber nachdenkt, warum er mich nicht einfach in Ruhe lassen kann, überlege ich mir, wieso zur Hölle ich mir das überhaupt gebe.

Ich kenne diesen Spinner nicht, hab ihn weder in der Schule noch sonst irgendwo gesehen. Auf mich wirkt er, als stamme er von einem anderen Planeten. Während er nachdenkt, hat er den Kopf schief gelegt und fixiert starr irgendeinen Punkt am Horizont. Seine Lippen bewegen sich, als spräche er mit sich selbst – wenn er das plötzlich laut machen würde, würde mich das nicht im Geringsten überraschen.

»Ich glaube, ich bin noch hier, weil ich gerne wissen will, warum du springen willst.«

Okay. Tief. Durchatmen. Karma. Denk, an dein Karma, Lefke. Stell dir einfach vor, du redest mit einem Kindergartenkind. Nur wie erklärt man bitte einem Vorschüler, warum man Selbstmord begehen will?

»Kannst du dir das nicht denken?«, ich nicke in Richtung meines Rollstuhls.

»Das ist ein Rollstuhl«, stellt er nüchtern fest, »aus der Tatsache, dass du hier sitzt, schließe ich, dass du nicht querschnittsgelähmt bist.«

»Gut kombiniert, Watson.«

»Oh, du magst Sherlock Holmes?«

Ich bin baff. Einfach. Nur. WTF. Ohne Worte. Verständnislos schüttle ich den Kopf, kneife die Augen zusammen und versuche, meine Kinnlade wieder nach oben zu bekommen, während ich mir überlege, was ich im Leben alles verbrochen haben könnte, um das hier zu verdienen.

»Oh entschuldige. Das ist vielleicht doch etwas persönlich, ich weiß noch nicht mal, wie du heißt.«

»Lefke«, mein Mund bewegt sich mechanisch. Eigentlich will ich ihm meinen Namen gar nicht sagen, sondern nur noch springen.

»Lefke?«, er ist der erste Mensch in diesem Land, der es schafft, meinen Vornamen richtig auszusprechen. Seit ich hier lebe, hab ich mich eigentlich schon an Läfkii gewöhnt.

»Meine Mum kommt aus Deutschland«, führe ich weiter aus. Grund dafür? Ich habe keine Ahnung. Reaktion? Fehlanzeige. Normalerweise kommt auf diese Aussage immer ein »Cool, das ist doch da, wo Adolf Hitler war« oder schlimmstenfalls eine außergewöhnliche Darbietung eines schlecht auswendig gelernten deutschen Satzes. Darauf folgt dann üblicherweise ein geheucheltes Lachen meinerseits, um zu verbergen, wie ich die Augen verdrehe.

Ich weiß nicht, ob ich das Schweigen als peinlich oder angenehm empfinden soll. Es ist irgendwie beides. Obwohl nein. Wenn ich es mir recht überlege, ist es einfach nur peinlich. Der Typ braucht sich ja nicht einzubilden, dass er in mir auch nur irgendeine andere Gefühlsregung auslöst als Brechreiz.

Typen wie ihm hab ich vor dem Koma immer das Essensgeld geklaut.

»Sonst noch was?«, frage ich, weil mir dieses Geduldsspiel langsam lästig wird.

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«

Er erinnert mich irgendwie an einen Roboter. Wie Wall-E, nur, dass selbst die kleine Blechbüchse mehr Emotionen in ihrer Stimme hat als dieser Kerl.

»Ich hab keinen Bock mehr – auf leben, meine ich«, o bitte, lass ihn Ruhe geben.

»Das verstehe ich nicht.«

»Was gibts denn da nicht zu verstehen?«

»Suizid ist der Vorgang, absichtlich den eigenen Tod zu verursachen und oft eine Folge von Verzweiflung. Häufige Gründe hierfür …«

»Ja. Danke. Ich kenne den Wikipedia-Artikel«, nicht den exakten Wortlaut, aber der Kerl anscheinend schon, »komm zur Sache.«

»Du bist jung und nett.«

War er die letzten fünfzehn Minuten woanders als ich?

»Außerdem bist du hübsch.«

Das hat er jetzt nicht wirklich gesagt … Ich spüre, wie meine Wangen zu glühen beginnen.

»Sei mir nicht böse, aber irgendwie wirkst du auf mich nicht wie jemand, der gleich Selbstmord begehen will.«

Ich versuche, dieses niedliche Lächeln zu ignorieren, als er arglos mit den Schultern zuckt, und wieder zur Vernunft zu kommen.

»Nicht, dass ich damit besonders viel Erfahrung hätte, nur …«

Er wird immer leiser, als würde allein mein Blick die Luft aus seinen Lungen pressen. Wäre praktisch, wenn ich ihn damit auch einfach vom Dach befördern könnte. Das Schlimme ist, durch sein ganzes Gerede ist mir jetzt doch tatsächlich die Lust aufs Sterben vergangen. Klasse, kein Bock aufs Verrecken und genau so wenig aufs Leben, kann ja jetzt nur noch bergauf gehen.

»Du hast echt 'ne Schraube locker«, murmle ich fassungslos. Er lacht leise auf und reibt sich verlegen den Hinterkopf, als hätte ich ihm damit irgendein Kompliment gemacht.

»Nicht nur eine«, gesteht er schüchtern.

Eine Sekunde. Eine einzige verdammte Sekunde lang kommt mir der Gedanke, dass er eigentlich nur ein zutiefst missverstandener Kerl ist, der das Herz am rechten Fleck hat.

Bam. Sekunde. Vorbei. Die Stimme der Vernunft pustet die sentimentale Lefke einfach vom Dach und ich würde ihr am liebsten gleich hinterher springen; aber leider tut sie das am liebsten unter dem Deckmantel der Anonymität und den hat der Wind leider mit weggeweht, als dieser Geistesgestörte mit seinen Tauben aufgetaucht ist. Gott, der Typ macht mich fertig. Ich fange schon an, unnötige Metaphern zu benutzen.

Eins ist mir allerdings in der Zeit, in der wir uns jetzt schon wieder angeschwiegen haben, klargeworden: So kann ich definitiv nicht arbeiten.

»Was machst du da?«

»Mich in den Rollstuhl setzen, was sonst?!«, zische ich gereizt, als ich meine Beine mit viel Kraft wieder auf die sichere Seite hieve.

»Warte, ich helf dir.«

»Wag es ja nicht«, knurre ich so böse, dass es sogar bei ihm Eindruck schindet. Er bleibt stocksteif stehen und beobachtet mich nur neugierig dabei, wie ich den Rollstuhl zu mir ziehe und meine fünfzig Kilo Kampfgewicht hineinwuchte.

»Heißt das, du springst nicht?«

Wie. Kann. Ein. Mensch. So. Fucking. Naiv. Sein?!

»Doch, ich will nur ein bisschen Anlauf nehmen«, ich werfe ihm einen meiner vernichtenden Blicke zu, als ich an ihm vorbeirolle und spiele kurz mit dem Gedanken ihn tatsächlich zu überfahren. Zusätzlich zu Greifarm und Elektromotor muss mir meine Mutter unbedingt noch Geländereifen mit Spikes bringen, damit ich für solche Situationen in Zukunft gewappnet bin.

»Also nein?«

»Ja, natürlich heißt das nein.«

Er tapst mir hinterher, als ich mich zum Aufzug fortbewege. Immerhin besitzt er die Freundlichkeit, mich nicht anzuschieben.

»Wieso?«

»Hast du's bald? Erst meckern, dass ich springen will, jetzt bleib ich schon am Leben und das ist auch wieder nicht in Ordnung. Kann mans dir überhaupt irgendwie recht machen?«

»Ich finds gut, dass du nicht springst. Wirklich. Mich wundert nur, woher dieser plötzliche Gedankenwandel kommt.«

Gedankenwandel? Memo an mich: Erst mit einem Wörterbuch erschlagen und DANN überfahren.

»Mir ist die Lust vergangen.«

»Cool, das heißt wir sehen uns mal wieder?«

Der Fahrstuhl kommt. Oh, Gott sei Dank. In den Metallkasten zu rollen fühlt sich an wie eine Umarmung. Ich überlege, ob ich ihm nochmal klarmachen soll, wie sehr er mich an meinem verkrüppelten Arsch lecken kann, aber da er mir quasi – wenn auch gegen meinen Willen – das Leben gerettet hat, will ich nett sein.

»Klar. Am besten gleich morgen.«

Ja. Das ist Sarkasmus, weil Mord leider illegal ist. Ich werde morgen einfach einen zweiten Versuch starten. Gleich um sieben, sobald meine Mum aus dem Haus ist, während er noch im Park ist und Enten fotografiert.

»Tremendous!«, die Art, wie er das Wort ausspricht, lässt mich kurz innehalten. Meine Hand schwebt über dem Knopf für mein Stockwerk. Einen Augenblick lang kann ich meinen eigenen Herzschlag spüren, dann schüttle ich verwirrt den Kopf.

Den Kerl könnte man nicht mal in 'ne Anstalt bringen, weil er alle Insassen zur Verzweiflung bringen würde. Creepy as fuck.

Mit sanfter Gewalt drücke ich den Knopf und die Türen beginnen sich zu schließen. Gott. Sei. Dank.

»Dann bis morgen, Lefke.«

»Ja, bis morgen«, wie heißt er nochmal? Keine Ahnung. Ist auch egal. Türe zu. Affe tot.

Fassen wir diese fünfzehn Minuten unter dem Begriff »Wahnvorstellungen« zusammen, machen einen Haken daneben und legen sie da hin, wo kein Mensch sie je wiederfindet.

Gleichzeitig vermerken wir geistig, vor einem weiteren Suizidversuch zu prüfen, ob Privatsphäre gewährleistet ist.

Und auch wenn das wahrscheinlich Humbug ist, werde ich das Haus nicht verlassen, solange in meinem Horoskop etwas von »Überraschungen« steht.

Davon hatte ich heute nämlich eine Überdosis. Alle Hoffnung ruht also nun auf dem zweiten Anlauf. Also dann, auf ein Neues.

2.

»Wie war überhaupt dein Tag gestern?«

Ich will meiner Mum ihre Neugier wirklich nicht übelnehmen. Sie ist besorgt, wie alle anderen Mütter auch, vor allem jetzt, wo ich behindert bin.

»Gut«, murre ich und trinke meinen Kaffee. Nachdem mich gestern nicht einmal Countdown und eine Runde Mühle mit meiner Grandma wieder auf andere Gedanken bringen konnten, hab ich mich schon um halb fünf, als meine Mum nach Hause kam, auf mein Zimmer verzogen, um irgendwie das Trauma vom Dach zu verarbeiten.

Meine Mutter kauft mir die vermeidliche Erschöpfung ab –immerhin habe ich ja das erste Mal das Haus verlassen. Sie denkt vermutlich, ich hätte mit ein paar Zwergen einen Drachen getötet. Keine weiteren Fragen. Gott sei Dank.

Eingeschlafen bin ich trotzdem erst gegen eins, weil ich noch sehr lange damit beschäftigt war, mich zu bemitleiden und mir selbst das Versprechen abzunehmen, mich heute beim zweiten und letzten Versuch von nichts auf der Welt abhalten zu lassen.

Aktuell gibt es allerdings eine mittelgroße Verzögerung, weil meine Mutter mit ihrer Arbeitskollegin die Schicht getauscht hat und deshalb später anfangen kann. Natürlich sagt sie mir das erst, nachdem ich mich völlig umsonst um halb sieben aus dem Bett gequält habe.

Der Kaffee ist kochend heiß, aber ich würde mich darüber nie beschweren, weil der Schmerz oft das Einzige ist, das mich unmittelbar nach dem Aufstehen bei Bewusstsein hält. Ich bin vieles, aber kein Morgenmensch. Noch so ein Punkt, in dem ich eindeutig nach meiner Grandma komme. Die sieht man nämlich frühestens um zehn. Meine Eltern sind dagegen diejenigen, die auch am Sonntag 6:40 am die Kaffeemaschine anwerfen und damit jenen den Schlaf rauben, die am Vorabend erst um zwei nach Hause gekommen sind.

»Gehst du heute wieder raus?«

»Wonach siehts denn aus?!«, das kann sie sich ja wohl denken. Sonst wäre ich kaum zu so einer unchristlichen Zeit von alleine aufgestanden und hätte mich von ihr in normale Kleidung packen lassen.

»Sei nicht immer so gereizt«, lässt sie mich darauf nur kühl wissen. Meine Mutter ist der absolute Gutmensch. Solche vorsichtigen Aufforderungen sind das härteste, was sie an Erziehungsmethoden zustande bringt, weil sie es einfach grundsätzlich mit jedem gut meint. Sogar mit Tante Clara.

»Deine Tante hat sich für heute Mittag angekündigt« – und bei Gott, niemand mag Tante Clara. Nicht mal ihr eigener Ehemann.

Harris Buntingford ist die leibhaftige Inkarnation der britischen Vorurteile. Außerdem ist er fett – sehr fett, irgendein hohes Tier in einer Versicherungsfirma in Manchester und liebt seinen Garten. »Garten« bezeichnet in diesem Teil Englands eine kleine Grasfläche von etwa der Größe einer Parklücke.

Meiner Meinung nach ist sein akribisch getrimmter Rasen – ich schwörs, der Kerl geht nach dem Mähen nochmal mit der Nagelschere drüber – Tante Claras und sein Ersatz für Kinder. Die haben die beiden nämlich nicht – kosten ja schließlich Geld.

Geld, das sie dreimal im Jahr für einen Urlaub verplempern. Schön in die Sonne, da wo sich der Engländer am wohlsten fühlt. Spanien ist quasi unser natürlicher Lebensraum, sodass wir ganze Pilgerreisen dahin unternehmen müssen. Morgens um neun einen Liegestuhl gesucht, der nicht schon von einem Deutschen reserviert wurde, und dann ohne Sonnencreme gut durchbrutzeln lassen. Ab und zu ein Bier draufschütten, damit die Kruste schön springt – und voilà, man kann sich ungefähr vorstellen, wie Tantchen und Onkelchen nach ihren Trips aussehen.

Um auch wirklich sämtliche Klischees abzudecken, liebt er Fußball (Manchester United), anstehen und hasst Iren oder wenn man ihm zur Teatime kein Cucumber-Sandwich serviert.

Zur großen Ankündigung, dass mein Tantchen heute vorbeischaut, kann ich also nur sagen: »Ach, wie schön.«

Hoch anrechnen sollte man ihr allerdings, dass sie sich angemeldet hat. Sie ist eine dieser fahrenden Make-Up-Vertreterinnen und leider macht sie auch bei uns Überraschungsbesuche.

Ich bemühe mich nett zu meiner Mutter zu sein, weil ich weiß, was sie meinetwegen alles durchmachen muss, aber bei meiner Tante hört der Spaß auf. An Mums Stelle hätte ich diesen Papagei schon längst aus unserem Haus verbannt.

Papagei ist auch so ein Spitzname, der sehr bezeichnend für Tante Clara ist. Sie mag es gerne bunt. Ihr kompletter Kleiderschrank ist mit Desigual-Klamotten zugemüllt (meiner Meinung nach sieht das meiste davon aus, als wäre man mit der Nähmaschine einmal durch die Altkleidersammlung gefahren) und sie liebt diese Haartücher, die man eigentlich schon seit den Fünfzigern nicht mehr trägt.

»Sei bitte nett zu ihr.«

»Klar, Mum«, bis dahin bin ich zwar schon tot, aber wenn mir Tante Clara in der Hölle begegnet, werde ich ganz bestimmt nett zu ihr sein. Nicht. Denn ich hasse diesen aufgeblasenen Vogel. Wenn sie mir also im Nachleben begegnen sollte, werde ich sagen: »Ladies und gentlemen, die Jagdsaison ist eröffnet.«

Ich bin ein asoziales Miststück. War ich schon immer. Ich bin immer die, die direkt danebensteht, wenn ein Mitschüler ins Klo getunkt wird und die sich als eine der ersten das Maul zerreißt, wenn Alice Taunton mal wieder einen ihrer modischen Fauxpas begeht – und ja, das passiert andauernd – trotz Schuluniform.

Die Hierarchie in unserer Schule ist wie die an jeder anderen High-School auch. Sei cool und du gehörst dazu. Lästern, die richtigen Klamotten tragen, soziale Netzwerke, die passende Musik und wissen, wo dein Platz ist – voilà, Existenz gesichert.

Ich habe nie mit Alice gesprochen, aber entweder ist sie zu blöd, dieses Prinzip zu verstehen, oder sie gibt einfach 'nen Scheiß drauf, wie diese Gothic-Kids – allerdings wollen nicht mal die sie dabeihaben.