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ÜBER DIE AUTORIN

Jessica Soffer, geboren 1985, wuchs in New York City auf und lebte eine Zeit lang in Costa Rica. Sie schloss ihr Studium mit dem Master of Fine Arts ab und war Rechercheassistentin von Nicole Krauss. Ihre Texte wurden unter anderem im Granta Magazine und in der Vogue veröffentlicht. Morgen vielleicht ist Jessica Soffers erster Roman.

ÜBER DAS BUCH

Wenn Lorca kocht, ist sie glücklich, nur dann kann sie das Leben richtig genießen. Und nur dann fühlt sie sich mit ihrer unnahbaren Mutter verbunden. Auf der Suche nach deren verloren gegangenem Lieblingsrezept trifft Lorca auf die verwitwete Victoria. Bald merken die beiden, dass sie mehr zu einen scheint als die Liebe zum Kochen.
Ein herzzerreißender und herzerwärmender Roman über die Sehnsucht, die Liebe, die Küche und New York.

»Jessica Soffers Prosa ist beherrscht und erfrischend, prägnant und melodisch. Die Autorin ist bereits angekommen, und ihr steht ein ganzes Orchester an Talent zur Verfügung.«

Colum McCann

Für meinen Vater, der mir beigebracht hat,
ruhig zu sitzen und meiner Fantasie freien Lauf zu lassen.
Für meine Mutter, die mir beigebracht hat, nicht nur
rumzusitzen, sondern meine Fantasie in Worte zu fassen.
Ohne euch würde es dieses Buch nicht geben.

Und für Alex, mein Herz.

Lorca

Ich tat, als wäre ich in die Zeitung vertieft. Wenn ich nichts sagte, würde meine Mutter vielleicht aufhören, mich so wütend anzustarren, mir ein Loch ins Gesicht zu brennen.

Ich war früher nach Hause geschickt worden.

Obwohl ich mich nicht absichtlich hatte erwischen lassen, galt mein erster Gedanke, als Rektorin Hidalgo »suspendiert« sagte, meiner Mutter, wie sie vom Geruch selbstgebackener Croissants aufwacht. Ich sah mich in einer Schürze das heiße Gebäck in einem Brotkorb hoch übereinanderstapeln, daneben die Cranberry-Salbei-Butter, die ich schnell angerührt hatte. Auf einmal war ich glücklich, hoffnungsvoll und malte mir die Zeit aus, die wir zusammen verbringen könnten.

Dann kam ich von der Schule nach Hause. Sie weigerte sich, mir in die Augen zu schauen. Ich belastete sie eher, als dass ich sie enttäuschte – so kam es mir vor.

»Kanetha hat deiner Lehrerin erzählt, dass du zugedröhnt aussahst«, sagte meine Mutter, knabberte an einem Fingernagel und betrachtete ihn dann in aller Seelenruhe, so als sprächen wir über die Reste von gestern. Sie hatte sich ein grünes Handtuch um den Kopf gewickelt, und ihre langen, schimmernden Beine waren mit Sommersprossen übersät, die ich leider nicht geerbt hatte. Genauso wenig wie ihre perfekt geschwungenen Augenbrauen, die den fedrigen Flossen ihres berühmten gebratenen Barsches ähnelten.

Ich schwieg. Sie auch. Ich musste mich zusammenreißen, um nichts zu sagen. Ich redete zu viel, wenn ich aufgebracht war. Meistens fragte ich sie dann, ob sie mich lieb hatte. Meistens bekam ich keine Antwort.

»Kanetha ist so was von scheinheilig«, gab ich zurück. »Sie schreibt Formeln auf Taschentücher und tut dann so, als ob sie sich die Nase putzt, wenn wir eine Arbeit schreiben.«

Noch mehr Worte wollten aus mir heraus. Das Schweigen meiner Mutter nagte an mir. Ich wollte ihr erzählen, dass Kanetha manchmal keine Unterwäsche trug und im Geschichtsunterricht vor den Jungs ihren Rock hochzog. Kanetha Jackson, achte Klasse, Wichtigtuerin. Sie hatte erzählt, ich hätte in der Kabine gestanden und nichts »gemacht«. Also hatte sie die Tür mit ihren Neonturnschuhen aufgetreten. Ich hatte sie überhaupt nicht bemerkt. Das blöde Kabinenschloss war kaputt gewesen. Sie ertappte mich mit hochgezogenem Rock, heruntergelassener Strumpfhose, Fuß auf der Klobrille, Obstmesser am Oberschenkel. Ihre Lippen waren mit Fruchtsaft verschmiert.

Ich wollte meine Mutter fragen, ob sie wusste, dass es ihr Obstmesser war. Das gute Tojiro DP, ihr zweitliebstes Messer. Ich hatte es heute Morgen aus der Küche mitgehen lassen.

»Ich war nicht zugedröhnt«, verteidigte ich mich. »Ich hab noch nie Drogen genommen.«

Ich hielt den Atem an und blickte auf die Traueranzeigen vor mir. Mort Kramish, verdienter Hämatologe und Einmachkünstler, im Alter von 79 Jahren verstorben. Noch immer Schweigen. Es brodelte in meiner Mutter, ich konnte es spüren, ohne sie anzusehen. Ich gab nach.

»Es geht mir gut«, beteuerte ich und war mir nicht sicher, ob ich wollte, dass sie mir glaubte. »Ich machs nicht noch mal.« Sie sollte sagen, versprich es mir. Ich wartete darauf. Sie schlug mir die Zeitung aus der Hand, sodass sie eingerissen auf meinen Knien zusammenfiel. Meine Mutter stand auf. Ihre Hände waren Knoblauchknollen, eng an die Seiten gepresst.

»Ich hätte dich genauso gut in New Hampshire lassen können. Du hättest ohne alles, ohne irgendjemanden aufwachsen können.«

Sie meinte damit, sie hätte mich bei meinem Vater lassen können. Manchmal nannte sie ihn Pudding. »Er ist so nützlich wie Pudding aus der Tüte«, verkündete sie dann.

»Ich bin eine gute Mutter«, sagte sie so leise, dass es eher einem Ausatmen glich.

»Ich weiß«, erwiderte ich. »Du bist eine tolle Mutter. Darum geht es gar nicht.«

Hör auf. Hör auf. Hör auf. Hör auf zu reden.

Es tat mir leid, und es tat mir nicht leid. Ich spürte den Drang, sie zu umarmen, und ließ es bleiben. Ich ermahnte mich, nicht so egoistisch zu sein. Sie war so eingespannt. Sie hatte »fünfunddreißig Mitarbeiter und einen tadellosen Ruf in der Gastronomieszene zu verteidigen«.

Das Handtuch saß auf ihrem Kopf wie eine Schildkröte, die mit den Füßen strampelte und ihr das Ohr umbog. Sie hatte makellose Fesseln. Ihre Augen hatten die Farbe einer uralten Kiefer. Wenn sie weinte, dann lautlos, so wie die Frauen im Film. Ich dagegen heulte Rotz und Wasser. Tante Lou behauptete, wenn ich weinte, sähe ich aus, als müsste ich mich gleich übergeben.

Ich legte eine Hand auf meinen Oberschenkel und wünschte mir, sie würde es vergessen. Der Schorf glich Granatapfelsamen, klein und prall.

»Du warst schon immer so«, sagte sie.

Meine Mutter erzählte oft, ich sei schon als Baby empfindlich gewesen. Nach jedem Streit, nachdem sie geschrien, ein Glas schwarzer Oliven an die Wand geworfen oder meinem Vater – ungelogen – eine ganze Flasche Thymianöl über den Kopf gekippt hatte, sei sie an mein Bettchen gekommen. Ich hätte auf dem Rücken gelegen. Alles sei in Ordnung gewesen, bis auf meine winzigen Finger und Zehen, die so fest zusammengekrümmt waren wie Farnspitzen. Sie musste sie einen nach dem anderen lösen. Meine Nägel hinterließen klitzekleine Abdrücke in den weichen Handballen. Sie fragte sich, woher so ein kleines Ding eine derartige Kraft nahm.

»Ich hatte gehofft, dass es sich von selbst erledigen würde«, sagte sie jetzt, und ich wünschte mir, wieder klein zu sein.

Ich hätte vorsichtiger sein können. Ich hätte in eine Kabine gehen sollen, die sich abschließen ließ.

Sie ging zum Gefrierschrank, und für eine Sekunde schöpfte ich neuen Mut. Ich dachte, jetzt vergibt sie mir. Jetzt holt sie den Blätterteig heraus. Jetzt backen wir Schweinsohren mit Zimt. Stattdessen griff sie nach einer Flasche Wodka und steckte sie sich in die Tasche ihres Morgenmantels. Immer, wenn es so schien, als würde sie gleich losschreien, blieb sie still.

»Du hast doch keine Ahnung«, sagte sie. »Womit hab ich das nur verdient?«

Mir wurde übel. Ich hatte ihr nie zur Last fallen wollen. Ich wusch ihre Wäsche. Ich rollte ihre Socken zu Schneckenhäusern zusammen. Schnecken in Kräuterbutter. Gratinierte Schnecken.

»Du kommst aufs Internat«, sagte sie. »Rektorin Hidalgo kennt da jemanden. Für das zweite Halbjahr ist ein Platz für dich reserviert, du hast also den ganzen Dezember, um deine Sachen hier zu regeln.«

»Nein«, protestierte ich. Meine Mutter hatte mir schon den Rücken zugewandt.

Ich wollte mich setzen, merkte aber, dass ich schon saß. Ich bekam keine Luft mehr.

Sie nahm das schnurlose Telefon von der Küchentheke und wählte, als wäre das Telefon an allem schuld. Sie rief Tante Lou an. Sie sagte kein Wort, bis sie im anderen Zimmer verschwunden war. Ich wollte mich wirklich entschuldigen. Ich würde mich ändern. Ich biss mir auf die Unterlippe, bis sie beinahe aufplatzte. Es lief mir kalt den Rücken herunter. Ich bemerkte einen dunklen Fleck auf dem Sofa, wo der Kopf meiner Mutter gelegen haben musste. Ich vergrub mein Gesicht darin. Ihr staubigsüßes Shampoo.

»Bitte schick mich nicht weg.«

Im selben Moment, als hätte sie mich gehört, rief meine Mutter aus dem anderen Zimmer: »Und denk gar nicht erst daran, dir wehzutun, solange ich hier drin bin.«

Beim ersten Mal war ich sechs. Ich buk einen Geburtstagskuchen für meine Mutter und rutschte aus, als ich ihn in den Ofen stellen wollte. Ich verbrannte mir beide Hände an der mittleren Schiene. Im ersten Moment überraschte mich der Schmerz, riss mich mit wie eine Welle. Ich fing den Schrei in meiner Kehle, aber Tränen schossen mir in die Augen. Ich war wie unter Schock, bis ich die Schritte meiner Mutter hörte und merkte, dass ich meine Hände ausgestreckt hatte, um es noch mal zu machen, die Hitze noch mal zu berühren, mitgerissen zu werden, dann gab der Rost nach. Der Kuchenteig spritzte wie Erbrochenes. Es waren frische Himbeeren darin. Sie kam in die Küche.

»Gott, Lorca«, sagte sie, als sie die Schweinerei entdeckte.

Sie reagierte so unbeteiligt, als hätte ich Erdnussbutter auf ihre Bluse gekleckert: »Hol dir einen Eisbeutel, Schätzchen.« Das war alles. Sie hielt die Todesanzeigen in der einen Hand, eine geschälte Karotte in der anderen. Ich wollte sie fragen, ob sie mich lieb hatte. Sie rief nach meinem Vater. Er war draußen gewesen, Holz hacken, und mit Splittern und Spänen übersät. Ich musste meine Hände auf die Arbeitsplatte legen und ihm den Schaden zeigen.

»Ganz ruhig, mein Schatz. Ganz ruhig«, sagte er. Ich hatte kein Bedürfnis nach seinem Mitgefühl, aber er hatte das Bedürfnis, es loszuwerden. Seine Augen wurden schon vom Hinsehen feucht. »Aua, mein Schatz.«

Meine Mutter war verschwunden.

»Ist nicht so schlimm«, versicherte ich ihm. »Wirklich, ist nicht so schlimm.«

Er meinte es gut, aber das war mir völlig egal. Ich gab vor, aufs Klo zu müssen, und lief die Treppe hinauf, während ich versuchte, mich zu erinnern, wie ich es angestellt hatte. Ich sehnte mich danach, mir die Haut noch mal zu verbrennen. Und noch mal.

Danach kamen Glühbirnen, Fahrradspeichen und Staubsauger, gefolgt von Autotüren, Heißklebepistolen und zerbrochenen Flaschen, die mir vom Straßenrand zublitzten. Im Sommer der Grill, der bis weit nach dem Abendessen glühend heiß blieb, lange nachdem alle zu Bett gegangen waren.

Damals hätte ich es nicht erklären können. Ich begriff das Bedürfnis nicht, das Verlangen. Hätte meine Mutter an jenem Tag allerdings einfach einen Eisbeutel geholt, ihn in ein Handtuch gewickelt, mich auf den Schoß genommen und gewiegt, in mein Haar geflüstert und meine Finger gekühlt, dann wäre es sicher anders gekommen. Der Schmerz hätte nachgelassen, ich hätte ihn verarbeiten können. Er hätte mich nicht ständig traktiert wie eine wütende Wespe.

Meine Eltern stritten andauernd. Ich kann mich daran erinnern, wie ihre Stimmen während der sieben Jahre, die wir zusammen in New Hampshire wohnten, bei Sonnenaufgang regelmäßig kratzig und müde wurden. Es ging dabei nie um mich. Es ging um sie, einer beschwerte sich über den anderen. Meine Mutter nannte meinen Vater Weichei. Mein Vater bat meine Mutter, nicht so gemein zu sein. Er flehte sie an. Ich hörte jedes Mal genau zu und wartete darauf, dass mein Name fiel. Aber es passierte nie.

»Wie hältst du so ein mieses kleines Leben bloß aus?«, wollte sie wissen.

»Es ist doch kein mieses kleines Leben«, antwortete er bemüht leise. »So ist es eben auf dem Land. Du wolltest doch hierherziehen.«

»Es kommt mir so vor, als ob wir hier draußen überhaupt nicht existieren«, beklagte sie sich. »Wie soll ich mich dabei fühlen? Wie soll ich hier überleben?«

In der zweiten Klasse beobachteten wir in Sachkunde siedendes Wasser. Als dichter Dampf aus dem Messkolben schoss, lehnte ich mich nach vorne. Ich ließ die Hitze an meinem Hals lecken. Sie war so stark, dass ich würgen musste. Ich schwankte und fiel fast vom Stuhl. Auf dem langen Flur zum Rektorat war es still, bis auf meine Schritte auf dem unebenen grauen Teppichboden und das wilde Hämmern meines Pulses an der Stelle, an der ich mich verbrannt hatte. Ich fasste mir an den Hals. Blasen wie aus rohem Eigelb waren entstanden. Bald würde es zur Pause klingeln. Ich ging schneller.

Meine Mutter kam mich abholen. Sie sagte nichts. Ich dagegen konnte nicht aufhören zu reden.

Ich erzählte ihr, jemand hätte mich geschubst.

Dann erzählte ich ihr, ich wäre ausgerutscht und in den Dampf gefallen.

Dann erzählte ich ihr, ich hätte nach etwas greifen wollen.

Dann erzählte ich ihr, mein Lehrer hätte mich dazu aufgefordert.

Sie ging auf dem Parkplatz fünf Schritte vor mir. Ihre Tasche schlug ihr gegen die Beine. Ich konnte kaum mithalten.

Ich erklärte ihr, es sei keine Absicht gewesen, da blieb sie abrupt stehen, drehte sich um und schaute mich an. Sie machte »ha«, und es klang sarkastisch. Als stieße sie ein Maiskorn hervor, das ihr in der Kehle stecken geblieben war, und dann sagte sie gar nichts mehr.

Wenn ich jedes Mal zehn Cent bekäme, wenn ich sagte, es sei »keine Absicht gewesen«, könnte ich das gesamte Käsesortiment bei Saxelby aufkaufen. Wenn etwas meine Mutter hätte glücklich machen können, dann das. Sie mochte den stinkigen am liebsten, den, der einem den Mund verzieht und die Nasenhaare kräuselt.

Eines Wintermorgens, ungefähr ein Jahr später, wachte ich von ihrem Geschrei auf. Ich rannte in die Küche. Mein Vater knallte die bleichen, zu Fäusten geballten Hände auf die Küchentheke. Er traf eine Flasche mit grünem Hustensaft, die davonschlitterte und auf dem Boden in Scherben zersprang.

»Es reicht«, stieß er hervor. »Es reicht, verdammt noch mal.«

Meine Mutter erzählte, mein Vater war damals aus dem Haus gestürmt, weil sie bei French Hen in Manchester achthundert Dollar ausgegeben hatte – sie hatte Räucherlachs, Blauflossenthunfisch und Löffelstörkaviar bestellt –, und er meinte, sie solle sich deswegen schlecht fühlen. Und weil sie ihm auf gar keinen Fall das letzte Wort überlassen wollte, hatte schließlich sie ihre Koffer gepackt.

Ich lief tief in den Wald hinter unserem Haus und schrie, bis ich keuchend und benommen auf die Knie sank. Die Bäume über mir waren kahl und verzweigt wie Straßen auf einer Landkarte. Als ich nach Hause kam, sprach mich meine Mutter auf meine roten Augen an, und ich behauptete, ich hätte im Moos Kopfstand geübt, und vielleicht seien davon ein paar Äderchen geplatzt.

Sie stopfte unsere Klamotten in Müllbeutel, wobei sie mir erzählte, dass sie ihre Haare schon seit Längerem dunkler färben wollte, mein Vater aber immer dagegen gewesen sei. Sie kniff sich vor dem Spiegel in die Wangen.

»Auf jeden Fall«, bekräftigte sie. »Auf jeden Fall färbe ich sie mir dunkler.«

Ich wünschte mir die ganze Zeit eine warme Katze, die auf meinem Schoß sitzen könnte. Meine Mutter war allergisch gegen Katzen und konnte sie nicht ausstehen. »Die kann man nicht mal für eine Vorspeise gebrauchen«, meinte sie. »Wozu sollen die bitte gut sein?«

Kurz bevor wir gingen, rief sie ihre Eltern an.

»Daddy«, sagte sie. Ich hatte sie dieses Wort noch nie benutzen hören. »Ich brauche ein bisschen Geld. Bei Lorca und mir wird sich einiges verändern. Es reicht uns hier.«

An diesem Tag fuhren wir mit den Töpfen, Messern und Induktionspfannen meiner Mutter auf dem Rücksitz von New Hampshire nach New York City, die Mülltüten hinten so hoch gestapelt, dass sie kein Licht mehr hereinließen.

Ich sagte: »Ich muss am Montag ein Buch vorstellen.«

Sie erwiderte: »Es gibt Schlimmeres im Leben.«

Ich stimmte ihr zu und dachte daran, wie sie »uns« zu ihrem Vater gesagt hatte. Wie mir das geschmeichelt hatte. Wie ich sie nicht enttäuschen wollte.

Draußen war es märzgrau, und die Fenster beschlugen von innen. Als ich gerade mit dem Finger etwas an die Scheibe schreiben wollte, schaltete sie die Lüftung tausend Mal ein und wieder aus. Die Lüftung gab ein surrendes Geräusch von sich, im ersten Moment klang es wie Französisch. Meine Mutter fand, es gebe keinen Grund für uns, in Kuh Hampshire zu bleiben. So nannte sie es, Kuh Hampshire. Es machte meinen Vater wahnsinnig. Er war in Kuh Hampshire aufgewachsen. Meine Mutter sagte, sie wolle wieder in einer kulinarischen Liga mitspielen, wo Pizza Hut nicht die Krönung des feinen Geschmacks darstelle. Wieder ein Leben haben. Mich auf eine Schule schicken, wo die Kinder nicht alle miteinander verwandt waren und die Eltern noch Zähne hatten. Sie warf mir in regelmäßigen Abständen Blicke zu, die Zuversicht signalisieren sollten, aber ihre Mundwinkel zuckten dabei.

»Hast du mich lieb?«, fragte sie. »Es wird alles wieder gut, das weißt du doch, oder?«

Wenn ich ihr nicht zustimmte, würde sie auch auf mich böse werden.

»Es ist doch schon alles gut«, antwortete ich und hielt den Atem an, damit meine Stimme nicht so zitterte.

»Alles bis auf deinen Vater«, fuhr sie fort. »So ein Waschlappen. Verlieb dich nie in einen Waschlappen. Verlieb dich in jemanden, der stärker ist als du, oder am besten gar nicht.«

Ich nickte.

Ich hatte Räucherlachs, Kaviar und Thunfisch in Kühltaschen auf dem Schoß. Ich kniff mir in den Oberschenkel, bis mein Gesicht rot anlief. Ich konnte es im Seitenspiegel sehen. Meine Mutter blickte stur geradeaus, die Hände fest am Lenkrad, die Knöchel weiß wie Tapiokaperlen.

»Weichei«, wiederholte sie immer wieder. »Gottverdammtes Weichei.«

Den Rest der dritten Klasse verpasste ich.

Wir zogen bei Tante Lou ein. Sie war nicht die richtige Schwester meiner Mutter, da meine Mutter adoptiert war und Tante Lou nicht. Meine Mutter sagte gerne, das erkläre alles – obwohl sie im selben Haus auf Long Island aufgewachsen waren, sich von denselben Eltern Geld geliehen hatten, auf dieselbe Schule gegangen waren, abends dieselben pampigen Mahlzeiten und sonntags zusammen chinesisch gegessen hatten.

Tante Lou wohnte auf der Upper West Side in einer Dreizimmerwohnung, die nach Duftkerzen und Staub roch. Sie hatte ein Zimmer an einen Austauschstudenten vermietet, der zufällig gerade ausgezogen war. Ich schlief in seinem Zimmer, einem kleinen, dunklen Raum, dessen klapperndes Fenster zum von Neonröhren erleuchteten Treppenhaus des gegenüberliegenden Gebäudes hinausging. Ich entdeckte Streichholzbriefchen und Bonbonpapiere, die er zurückgelassen hatte. Tante Lou putzte nie. Meine Mutter schlief im Wohnzimmer, das auch als Diele, Arbeitszimmer, Küche und Esszimmer fungierte.

In unserer ersten Nacht dort stand ich um drei Uhr morgens auf und ging ins Wohnzimmer, wo die beiden immer noch redeten, und fragte sie, ob sie nicht müde seien. Sie umarmten sich theatralisch.

»Spielst du bereits die Hausherrin?«, fragte Tante Lou. »Du bist doch gerade erst hier eingezogen.«

Sie lachten. Meine Mutter hätte mich verteidigen können. Sie ließ es bleiben. Ich wollte ihr anbieten, ein Käseomelett für sie zuzubereiten, so, wie sie es mochte. Ich ließ es bleiben. Ich redete mir ein, wir würden nur vorübergehend dort wohnen.

Im Bett kaute ich an den Fingernägeln, bis ich Blut schmeckte. Ich ging im Kopf wieder und wieder meine Buchvorstellung durch, bis ich einschlief. Die Brücke nach Terabithia. Leslie war auch neu gewesen. Ihr Ertrinken hatte Jess das Herz gebrochen.

An diesem Abend blieben die beiden wach bis zum Morgengrauen und tranken ein Glas Rotwein nach dem anderen. Meine Mutter probierte dasselbe Rezept auf sieben verschiedene Arten aus, wobei sie mit den Ellbogen voller Mehl Notizen anfertigte. Tante Lou lästerte über die Frau an ihrem Nachbarschreibtisch und aschte auf die Seiten der Fernsehzeitung.

Am nächsten Morgen erwachte ich vom Piepton eines zurücksetzenden Lasters.

Ich fragte: »Dad?«, bevor mir wieder einfiel, wo ich mich befand. Mein Vater besaß einen alten Pick-up-Truck, dessen hintere Stoßstange vor lauter Rost wie ein gebrochener Kiefer herunterhing. Als wir gegangen waren, war außerdem der rechte Scheinwerfer eingeschlagen gewesen. Alles, was er besaß, war kaputt.

Im Wohnzimmer steckte ein Pfannenwender in der Sofaritze, der Geruch von Butter und Zwiebeln hing in der Luft, Kartoffelschalen bildeten eine Spur auf dem Teppich, Pfannen stapelten sich in der Spüle. Meine Mutter streckte mir einen dampfenden Holzlöffel entgegen, bevor ich irgendetwas sagen konnte.

»Mehr Schnittlauch«, befand ich, und wartete gespannt.

Sie nickte ernst.

Einen Augenblick lang waren wir Verbündete.

Meine Mutter war auf die renommierteste Kochschule gegangen, hatte einen James-Beard-Preis gewonnen und »keinen schlechten Ruf« gehabt, bevor sie meinen Vater heiratete und nach Kuh Hampshire zog. Als wir nach New York gingen, fand sie daher schneller einen Job, als man »Vichyssoise« sagen konnte. Küchen- und Kreativchefin bei Le Canard Capricieux. Der Zagat gab ihnen eine siebenundzwanzig. In diesem Jahr schrieb die berühmte Restaurantkritikerin Gael Greene, meine Mutter habe »dem Croque Monsieur endlich wieder zu Ehren verholfen«.

Für mich fand sie über den Sommer eine Nachhilfelehrerin, die mit ihrem Vornamen angeredet werden wollte: Neon. Sie roch wie ein Stinktier und blieb nie so lange, wie meine Mutter sie bezahlt hatte. Sie murmelte immer: »Das weißt du doch schon alles«, während sie die Bücher durchblätterte.

Ich fragte meine Mutter immer wieder, wo ich im Herbst zur Schule gehen würde.

»Kind«, antwortete sie. »Ich brauche das einfach für mich.«

Danach hatte ich nicht gefragt.

»Jede Frau sollte eine Karriere haben. Ein Leben.«

Danach hatte ich nicht gefragt.

»Dein Vater hat mich daran gehindert.«

Ich wollte nicht, dass sie über ihn sprach.

»Er hat meine Karriere kleingeredet. Man kann in New Hampshire keine Köchin sein. Das weiß doch jeder. Sogar er wusste das. Aber ihm gefiel New Hampshire. Seine Wurzeln, seine Wurzeln, bla, bla, bla. Seine blöden, armseligen Wurzeln. New Hampshire über alles. Er hat mir dauernd vorgeworfen, ich würde mich nicht genug bemühen.«

An dem Punkt war sie meistens den Tränen nah. Seine Wurzeln waren mein Großvater, der in einem Altenheim wohnte, jeden Linda nannte und nach parfümiertem Klopapier roch. Ich war ihm zweimal begegnet, und beide Male hielt meine Mutter mich so fest umklammert, dass sie sich mit mir nach vorne beugte, als ich ihn umarmte. Sie behauptete, er sei ungebildet, aber ich verstand nicht, was sie damit meinte.

»Glaubst du, ich hätte mich nicht bemüht?«, fragte sie, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ich habe mich mehr bemüht als alle anderen zusammen.«

Ich nickte so heftig, dass ich beinahe ein Schleudertrauma bekam.

»Ich muss das einfach für mich machen«, sagte sie. »Für alle Frauen.«

Sie redete viel über Frauen.

»Hier hast du meine Kreditkarte. Meld dich irgendwo zum Ballett an.«

»Ich wollte doch nur wissen, wo ich zur Schule gehe«, erwiderte ich.

Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Ich versuchte, die Tränen in meiner Brust gefangen zu halten, bevor sie meine Augen erreichen konnten.

Im Jahr nach unserem Umzug nach New York ging ich in die vierte Klasse einer staatlichen Schule, wo alles verriegelt und vergittert war und es einen Metalldetektor gab, aber weit und breit keinen Baum. Die Wachfrau riet mir, meinen roten Regenmantel auf links zu tragen, wenn ich mich nicht zur Zielscheibe für die Crips machen wolle, die immer noch aktiv seien, nur damit ich es wüsste. »Die Chips?«, fragte ich.

»Herr im Himmel«, seufzte die Wachfrau, schüttelte den Kopf und legte die Hände wie zum Gebet zusammen.

Weil ich weiß war und Jüdin und außerdem die einzige weiße Jüdin, die in unserem Viertel auf eine staatliche Schule ging, wurde ich Latke genannt, und das war nicht nett gemeint. Alle hielten mich für eine Streberin, weil ich über Federico García Lorca gesprochen hatte, als ich mich vorstellen sollte. Ein Junge namens Jesus rief aus der letzten Reihe: »Machen dich Gedichte heiß?« Sie kriegten sich kaum noch ein. Mein Sandwich für die Mittagspause mit handgemachtem Epoisses, mit dem ich die ganze Cafeteria vollstank, machte es auch nicht gerade besser.

Auf dem Heimweg am ersten Tag trug ich keinen Regenmantel, obwohl es schüttete. Ich gönnte mir ein Keramikmesser bei Williams-Sonoma. Es gab zwei für zwanzig Dollar. Diese Messer sind zwar empfindlich, aber dafür auch ziemlich scharf. Ich benutzte sie immer, wenn meine Mutter zu lange wegblieb, nicht nach meinen Hausaufgaben fragte, mich nicht zurückküsste, wenn ich ihr einen Abschiedskuss gab, oder nicht bemerkte, wenn ich ihr zum Geburtstag vier neue Eissorten kreiert hatte, an denen alles aus rein biologischem Anbau war.

Irgendwann rief meine Geschichtslehrerin Mrs Weiss bei uns an, um besorgt nachzufragen, ob zu Hause alles in Ordnung sei. Ich hätte es wissen müssen. Zweimal hatte sie mich schon gefragt, wie das Blut auf meine Rechtschreibtests gelangt war. Es stammte von meinen Handgelenken. »Der Höhenunterschied«, hatte ich geschwindelt und dabei meine Nase berührt. Sie war nicht blöd. Sie hatte sich nach benutzten Taschentüchern umgesehen und gefragt, ob wir in New Hampshire auf einem Berg gewohnt hätten. »Mhm«, log ich. »Alles bestens.«

Tante Lou verpasste mir Hausarrest und schickte mich auf mein Zimmer. »Warum rufen deine Lehrer hier an?«, wollte sie wissen, als hätte ich irgendein sorgsam bewahrtes Geheimnis preisgegeben, als züchteten wir bedrohte Vogelarten oder horteten menschliche Körperteile im Gefrierschrank. Es sei schließlich ihre Wohnung, und sie habe schon recht, kommentierte meine Mutter und zuckte mit den Schultern, während sie das neueste Kochbuch von Mario Batali durchblätterte. »Hör auf deine Tante. Sie tut uns einen Riesengefallen, uns hier wohnen zu lassen. Wir können doch wenigstens versuchen, sie nicht zusätzlich zu belasten.«

»Ich mach das doch gerne«, wehrte Lou ab, aber ich wusste, dass sie damit nur meine Mutter meinte.

Wir zogen nie bei Tante Lou aus. Auch nicht, nachdem meine Mutter eine Gehaltserhöhung bekommen hatte. Nicht mal nach der zweiten. Ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass es keine Frage des Geldes war. Ich war schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Meiner Mutter gefiel es, dass Lou abends mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern auf sie wartete. Es spielte keine Rolle, wann meine Mutter nach Hause kam. Oder wann Lou, ganz seriös in Rock und Blazer, zu ihrem Job als Anwaltssekretärin erscheinen musste, den sie nie kündigen würde. Lou trank eine ganze Kanne Kaffee, um wach zu bleiben und bereit zu sein für alles, über das meine Mutter sprechen wollte. Ich wartete allerdings auch auf sie. (Nicht, dass es jemanden interessiert hätte.) Aber ich war nicht müde. Ich brauchte keinen Kaffee. Und ich hätte ihr eine heiße Schokolade gekocht, so wie sie sie mochte, mit einer ordentlichen Prise Salz.

Von da an über die ersten Jahre der Mittelstufe bis heute änderte sich eigentlich nicht viel. Gute und schlechte Jahre folgten aufeinander. Meine Mutter war manchmal warmherzig und dann wieder sehr kalt. Ich wartete die ganze Zeit. Zuversicht und Verzweiflung wechselten einander ab. Unaufhörlich. An und aus. An und aus. Aber mein Verlangen ließ nicht nach. Die Hoffnungsfetzen flatterten in mir wie Motten, die zwischen Fenster und Fliegengitter gefangen sind. Ich wollte den Schmerz. Wollte ihn. Wollte ihn. Er war das einzig Beständige. Er half mir zu atmen, und manchmal noch mehr. Manchmal war er mein Atem. Und Ruhe und Trost und etwas, auf das ich mich freuen konnte. Komm, raunte er mir zu. Und ich kam. Ich rannte. Komm her und ruh dich aus.

Hätte sich jemand die Mühe gemacht, mein Zimmer zu durchsuchen, wäre man auf Folgendes gestoßen: Rasierklingen in den Aufschlägen meiner alten Jeans, chirurgische Pinzetten – zwei Stück –, versteckt unter den Einlegesohlen meiner alten Turnschuhe, Feuerzeuge unter meinem Bett und Streichhölzer, die sich als Lesezeichen in einem Buch tarnten, das ich schon ewig nicht mehr angerührt hatte. Mit einer Flamme konnte ich langsame Kreise um meinen Bauchnabel ziehen, bis ich so gut wie nichts mehr spürte.

Jetzt, da ich wegen Kanetha Jackson zu Hause war, hörte ich meine Mutter im Schlafzimmer mit Tante Lou telefonieren.

»Du hast so recht. Ich habe mein Bestes gegeben. Ich habe alles versucht. Ich muss loslassen und andere helfen lassen.«

Ich war erschöpft wie nie zuvor. Ich legte mich hin. Ich sah mich im Internat und stellte mir all die Kabinen vor, die man bestimmt nicht abschließen konnte. Ich sah mich fünf Kilometer eine dunkle, gewundene Straße entlanglaufen, nur um etwas Ruhe zu finden. Um den Handschuh abzustreifen und mir mit einem Taschenmesser in die Fingerspitzen zu schneiden wie in einen Teig vorm Backen. Dann dachte ich an meine Mutter, alleine mit Tante Lou, die keine Ahnung hatte, wie sie sich um sie kümmern musste. Ich war diejenige, die ihre Gewürze auffüllte, wenn sie zur Neige gingen. Ich zupfte ihre Haare aus dem Duschabfluss. Ich stellte ihr jeden Abend ein Glas Gurkenwasser ans Bett. Es war jeden Morgen leer.

Ich ging mit zwei Tassen dampfendem Tee in Lous Zimmer. Meine Mutter lag auf dem Himmelbett, die Beine angewinkelt und eine Hand über den Augen, als ob sie grelles Licht abwehrte. Ein tauendes Kühlpad hing in ihrer Armbeuge und tropfte auf das goldfarbene Laken. Im Fernsehen verkaufte Wolfgang Puck Pfannen, Schürzen und Steakmesser. Ich musste sie davon überzeugen, dass ich sie damit nie wieder belasten würde. Ich würde sie nicht noch mal blamieren. Außerdem musste ich sie davon überzeugen, dass sie ohne mich nicht leben konnte.

»Fang bitte gar nicht erst an«, sagte sie, bevor ich den Mund aufmachen konnte.

»Ich habe Tee gekocht«, erwiderte ich.

Sie setzte sich auf. Ich gab ihr den mit dem schöneren Braunton. Sie nahm ihn vorsichtig in die Hand, als ob sie krank und äußerst zerbrechlich wäre, und trank einen Schluck. Nur ich bekam diese Seite von ihr zu sehen, aufgelöst und verletzlich, zögernd und wehmütig, ein hauchzartes Karamellplättchen. Draußen in der Welt war sie völlig anders. Sie bellte Befehle im Restaurant. Wenn sie ging, machte sie große, bestimmte Schritte, sodass die Leute sich jedes Mal nach ihr umdrehten und sich fragten, ob sie etwas verpasst hätten.

Aber nicht bei mir. Bei mir war sie anders, weicher und entspannter, was nur einer der Gründe war, warum ich sie nie würde verlassen können. Ich musste ihre verborgene Seite schützen. Wenn ich das nicht schaffte, würde sie vielleicht verschwinden, und was dann? Ich würde es nicht so weit kommen lassen. Das war meine Aufgabe als Tochter. Das redete ich mir zumindest ein.

Jetzt lächelte sie, den Mund voller Tee, und ich war wie beflügelt. Sie konnte mir das Gefühl geben, ich würde den Raum erleuchten, wenn auch nur für eine Sekunde. Ich hatte das Internat schon wieder vergessen. Als die Erinnerung zurückkam, wurde ich leicht panisch. Ich setzte mich auf das Bett und rückte so nah zu ihr hin, dass sich unsere Füße berührten. Ich tat so, als wäre es nichts Besonderes, und stellte mir vor, wir würden öfter so sitzen.

Sie zog ihre Füße weg.

»Schick mich nicht fort«, bat ich und merkte zu spät, dass es unmöglich war, nicht verzweifelt zu klingen.

»Du bist eine Gefahr für dich und andere«, erklärte sie und verscheuchte eine unsichtbare Fliege.

»Stimmt doch gar nicht«, setzte ich an, brach aber sofort wieder ab. Es war besser zu schweigen. Wenn ich etwas in meinem Leben gelernt hatte, dann das.

»Du solltest mal sehen, wie sie mich in deiner Schule alle angucken«, fuhr sie fort. »Die ganzen Sesselfurzer mit ihren Bügelfalten.« Sie roch am Tee. Ich wartete auf eine Bemerkung zum Tee, auf die ich eingehen konnte. Ich wusste eine Menge über Earl Grey – ich brauchte nur ihr Stichwort.

»Ich musste ihnen Gutscheine fürs Restaurant ausstellen«, sagte sie.

Sie schüttelte den Kopf. Ich ließ meinen hängen. Ich zog die Füße an und machte mich so klein ich konnte, um nicht zu sehr in ihren Bereich einzudringen, sie aber auch nicht allein zu lassen. Sie war nicht gern allein. Selbst wenn ich sie verärgert hatte, wollte sie manchmal, dass ich mich zu ihr setzte – um dann so zu tun, als wäre ich nicht da. Es war eine Art Halbstrafe.

»Ich könnte doch noch mal zur Schulpsychologin gehen«, schlug ich vor. Ich war schon öfter dort gewesen, aber es hatte meine Mutter wahnsinnig gemacht. Sie wollte jedes Mal wissen, was die Frau mich gefragt hatte, was ich ihr erzählt hatte, was sie darauf erwidert hatte. Ich ahnte, dass es da ein Geheimnis gab, das ich besser für mich behalten sollte, ich war mir nur nicht so sicher, was es war. Also erzählte ich der Frau so gut wie gar nichts. »Es war wohl nur eine Phase«, hatte sie am Ende befunden und einen Zettel unterschrieben, den ich meiner Klassenlehrerin geben sollte. »Ich habe wirklich den Eindruck, dass es dir besser geht.«

»Nur eine Phase«, hatte ich überzeugt zugestimmt.

»Lorca, Lorca, Lorca«, seufzte meine Mutter. »Wenn das funktionieren würde, säßen wir dann jetzt hier? Du bist schon in der achten Klasse. Langsam ist es nicht mehr lustig.«

Ich war so vorsichtig gewesen. So oft hatte es niemand bemerkt. Hundertmal. Zillionenmal, hatte ich das Gefühl.

»Ja«, stimmte ich zu, als stünde nichts auf dem Spiel. »Klar.«

Meine Mutter ging nicht weiter darauf ein und suchte nach der Fernbedienung. Sie drehte die Lautstärke auf, bis sie mich nicht mal mehr hätte hören können, wenn ich gerufen hätte. Sie sah konzentriert und mit gebeugtem Rücken fern, die Teetasse nah am Mund. Tante Lous Zimmer stank nach künstlichem Vanillearoma.

»Es tut mir leid«, sagte ich gegen den Fernsehlärm.

»Es tut mir leid«, wiederholte ich lauter.

»Mom«, sagte ich, aber nichts geschah.

»Es tut mir so leid!«, rief ich. »Schick mich nicht weg.«

Dieses Mal musste sie mich gehört haben, aber sie reagierte nicht. Ich traute mich nicht, sie zu berühren, weil ich sie nicht erschrecken wollte. Dann stellte sie den Fernseher leiser.

Sie legte sich hin. Ich legte mich daneben, aber ihr Gesicht sah dabei nicht so komisch zerknautscht aus wie meins. Ihre Beschaffenheit war anders, sie sah sogar direkt nach dem Aufstehen wunderschön aus, bei unerträglicher Hitze und Kälte, selbst wenn sie auf dem Kopf stand.

»Ich könnte zu Dad ziehen«, sagte ich.

Sie machte ein Geräusch, als hätte ihr jemand in die Rippen geschlagen.

»Genau«, gab sie zurück. »Weil er immer so gut aufpasst. Du könntest dich verdammt noch mal umbringen, während er draußen sitzt und aus einem beschissenen Baum eine blöde Giraffe schnitzt.«

Es war nur ein Vorschlag gewesen. Ich war mir schon vorher klar gewesen, dass sie etwas dagegen haben würde.

»Warum hab ich es nur so schwer?«, seufzte sie und wandte den Blick ab.

In Wirklichkeit war meine Mutter eine Zauberin. Sie konnte einfach so verschwinden. Wenn ich nicht die letzte Hoffnung aufgeben wollte, bei ihr zu bleiben, musste ich ihr einen Grund geben, zurückzukehren.

Es gab nur eine Sache, die meine Mutter wirklich glücklich machte: Essen. Um Geld zu sparen, hatte sie in New Hampshire die Heizung abgestellt und den Ofen dauerhaft laufen lassen, während sie vier verschiedene Rote-Bete-Suppen zubereitete. Sie trug Granatapfelparfüm. Im Supermarkt verhielt sie sich wie eine Ameise, die einen Hügel zusammenträgt. Nachts schlief sie mit Joghurt und Honig im Gesicht.

Essen bedeutete meiner Mutter alles. Hin und wieder fragte ich mich, ob sie meinen Vater nur wegen seines Nachnamens geheiratet hatte: Seltzer. Ihr Mädchenname war nicht ihr wirklicher Name, sie war ja adoptiert. Also suchte sie sich einen Nachnamen, der für den einzigen Teil ihrer selbst stand, der sich echt anfühlte: Essen. Und Selters war das Geheimnis ihrer zarten Crêpes, der vollkommenen französischen Zwiebeltarte und des buchstäblich glitzernden Brathühnchens.

Wenn ich normal wäre, hätte ich ...

1. Rektorin Hidalgo angerufen,

2. um Vergebung gebettelt,

3. versprochen, zweimal die Woche zur Schulpsychologin zu gehen,

4. Kanetha Jackson einen Brief geschrieben, in dem ich ihr vermittelte, wie leid es mir täte, sie erschreckt zu haben,

5. eine Rede darüber vorbereitet, dass Kinder Phasen durchmachen, auch mal dumme Sachen ausprobieren, und, nachdem sie Mist gebaut und eine wertvolle Lektion gelernt haben, wieder normal werden – so wie ich – und

6. sie meiner Mutter und Tante Lou vorgetragen.

Stattdessen ging ich früh ins Bett. Es war hoffnungslos. Vor ein paar Stunden hatte ich eine Quiche mit Waldpilzen gebacken, um meiner Mutter zu zeigen, dass sie mich nicht wegschicken durfte. Sogar mit selbstgemachtem Boden. Als sie einen holzigen Thymianzweig zwischen ihren Zähnen hervorzog, gab sie keinen Kommentar von sich. War auch nicht nötig.

Ein knorriges Kraut war schuld daran, dass ich aufs Internat musste.

Ich wälzte mich hin und her. Meine Mutter und Lou schauten im Wohnzimmer fern, sahen aber eigentlich überhaupt nicht hin und drehten den Ton auch nicht leiser.

Tante Lou sagte: »Alles hat seinen Grund, Nancy.«

Ich hörte meine Mutter fragen: »Was für einen Grund?«

Tante Lou mochte diesen Satz. Sie benutzte ihn oft. Wenn sie wütend war – etwa weil sie ihre MetroCard verloren oder sich die Haare gefärbt hatte und das Ergebnis nicht ihrer Vorstellung entsprach –, schloss sie die Augen und machte die Yogi-Atmung. So nannte sie es. Sie hatte vor zwanzig Jahren mal einen einzigen Yogakurs besucht, tat aber so, als hätte er ihr Leben verändert.

»Alles hat seinen Grund«, sagte sie dauernd vor sich hin, den Rücken gerade, Daumen und Zeigefinger zu einem O geformt. »Alles hat seinen Grund.«

Weil ich über die Jahre hinweg mein Gehör geschult hatte, konnte ich Tante Lou flüstern hören: »Schhh.« Ich hörte ihre Hand über den Rücken meiner Mutter fahren. Plötzlich fing mein Rücken an zu jucken. Ich versuchte, mich selbst am Rücken zu streicheln, aber rein physisch war es nicht möglich.

Ich schaute auf die Schnittwunde an meinem Oberschenkel, und Schuldgefühle überkamen mich. Ich drehte mich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im Kissen.

Wenn Tante Lou meiner Mutter nichts zu erzählen hatte, begann sie ein Spiel, das sie sich von mir abgeschaut hatte.

»Wenn du für den Rest deines Lebens nur noch ein Gericht essen könntest, was würdest du dir aussuchen?«, fragte sie jetzt.

»Bauernbrot mit Butter und haufenweise schwarzen Trüffeln.«

»Welchen Gegenstand würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?«

»Ein Allzweckmesser.«

»Mit wem würdest du unbedingt mal zu Mittag essen wollen?«

»Mit dem Mann von Julia Child, schließlich hat sie ihn offenbar nicht in die Flucht schlagen können«, entschied meine Mutter.

»Was war das Beste, das du jemals gegessen hast?«

Poulet rôti. Ich war mir sicher, meine Mutter würde Poulet rôti von L’Ami Louis in Paris sagen, weil sie dort neben Jacques Chirac gesessen und er zu ihr gesagt hatte, wenn sie Köchin sei, könne sie ihm sicher etwas kochen. Und das hatte sie dann auch getan. Sie war in die Küche gegangen und hatte etwas Köstliches kreiert. Seitdem benutzten sie dort neben Entenschmalz zusätzlich Gänseschmalz für die Bratkartoffeln, weil sie es so gemacht hatte.

Meine Lippen formten »Poulet rôti« ins Kissen. Aber meine Mutter schwieg. Sie hätte weiterreden können, etwas von sich geben, während sie überlegte. Aber sie blieb still. Lou störte sich nicht weiter daran.

»Masgouf«, antwortete sie schließlich. »In so einem irakischen Restaurant, das es nicht mehr gibt.«

Ich fuhr auf. Ich klappte den Mund wieder zu. Beinahe hätte ich laut gerufen: »Was?« Aber sie war noch nicht fertig.

»Ich war mit ihrem Vater dort, vor Jahren.« Ich stellte mir vor, wie sie mit dem Daumen in Richtung meines Zimmers gestikulierte. »Die Begleitung war so interessant wie trocknende Farbe, aber das Essen war fantastisch. Nicht von dieser Welt.«

»Und?«, fragte Lou.

»Und«, sagte meine Mutter. »Vor ein paar Jahren bin ich noch mal hingegangen, nur um zu gucken, und da war es geschlossen. Es war ganz leer und traurig. Nur ein Silbertablett stand auf dem Boden, daran erinnere ich mich noch. Hat mir das Herz gebrochen.«

»Masgouf?«, fragte Lou.

Ich war schon längst aus dem Bett, stand barfuß am Bücherregal und raste durch die Register von The Joy of Cooking, Cook Everything und schließlich Recipes from All Over. Mit Erfolg. »Traditionelles irakisches Fischgericht, gegrillt mit Tamarinden und/oder Zitrone, Salz und Pfeffer«, flüsterte ich laut, fassungslos.

»Es war himmlisch«, schwärmte meine Mutter. »Einfach himmlisch. Ich habe so oft versucht, es nachzukochen.«

Einen Moment lang sah ich Punkte. Ich hätte mein Leben auf Poulet rôti verwettet. Manchmal malte ich mir solche dramatischen Szenarien aus. Meine Mutter wird entführt, wenn ich nicht genau sagen kann, wie viel Milch sie in den Tee gibt. Oder wann genau sie aufwacht. Oder in wie vielen Sekunden sie das Ei wendet.

»Kennst du diesen Spruch, dass das Leben die Kunst nachahmt?«, fuhr sie fort. »Das Leben ahmt Masgouf nach. Der Fisch war so köstlich, so zart, wir haben ihn mit den Fingern gegessen. Einen Augenblick lang war ich überzeugt, dass das Leben so einfach sein könnte.«

Sie war glücklich gewesen. Masgouf machte meine Mutter glücklich.

Auf einmal fühlte ich mich, als hätte ich alles verpasst. Hatte ich sie nie gefragt? Hatte ich ihr nie direkt die Frage aller Fragen gestellt, nach ihrem allerliebsten Lieblingsessen? Vielleicht nicht. Vielleicht war ich nur davon ausgegangen. Wovon war ich noch ausgegangen? Vertraute sie etwa nur Lou die ganze Wahrheit an? Vielleicht gab sie mir einfach die Antworten, die ihr am wenigsten abverlangten. Als ich einmal mehr über L’Ami Louis hatte wissen wollen, sagte sie nur: »Vanity Fair hat einen klasse Artikel drüber geschrieben. Schau dir den mal an.«

Und da kam mir die Idee. Wenn ich meine Mutter glücklich machen wollte, musste ich das Rezept finden und das Gericht für sie zubereiten. Alles würde gut werden. Ich wäre es wert, nicht weggeschickt zu werden. Ich könnte ihr das eine Gericht zaubern, das ihr am besten schmeckte, das sie am glücklichsten machte.

Vor ein paar Jahren war ich schon mal so wild entschlossen gewesen. Es war erst Dezember, aber wir hatten schon zwei Schneestürme gehabt, und meine Mutter verkündete, wenn das so weiterginge, würde sie sich aus dem Fenster stürzen. Da fiel mir ein, wir könnten doch nach Kalifornien ziehen, und für ungefähr zehn Sekunden kam ich mir richtig genial vor. Wir könnten Avocadobäume pflanzen und jeden Morgen Tangelosaft trinken. Am Wochenende könnten wir die Küste hochfahren und uns im French Laundry fürstlich bedienen lassen. Sie könnte ein innovatives Bistro eröffnen, das die französische Haute Cuisine mit der Neuen Amerikanischen Küche vereinte. Alice Waters würde uns zum Brunch zu sich nach Hause einladen und wäre sprachlos vom Dessert meiner Mutter, das sie aus vier alten Pflaumensorten zubereitete. Aber Kalifornien war eine alberne Idee. Sie würde Tante Lou nie verlassen. Wir würden nie allein sein. Wir hätten natürlich auch nach Florida ziehen können, das immerhin so ähnlich ist wie Kalifornien. Aber das ging nicht, wegen Bubbie. Sie kamen nicht miteinander aus. Meine Mutter sagte immer: »Ich brauche sie so dringend wie ein Loch im Kopf. Keine kreative Faser im Leib, die Frau.« Trotzdem rief Bubbie jede Woche einmal, zweimal, dreimal an und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter – vor allem seitdem Pops gestorben war. Meine Mutter machte dann jedes Mal ein Gesicht, als hätte gerade jemand ihr Soufflé zum Einfallen gebracht, und klagte: »Sie versteht mich nicht. Hat sie noch nie.«

Meine Mutter hatte nie versucht, ihre biologischen Eltern zu finden. Sie wollte es nicht, hatte Lou gesagt. Lou hatte ihre Hilfe angeboten, vorgeschlagen, sie könnten zusammen abhauen und sie suchen. Aber meine Mutter hatte abgelehnt. Sie muss so wütend auf sie gewesen sein. Es kam öfter vor, dass Leute zu mir sagten: »Mit deiner Mutter will ich nicht auf Kriegsfuß stehen.« Fleisch gart noch weiter, wenn man es von der Flamme nimmt, meine Mutter aber konnte sich von einer Sekunde auf die andere abstellen.

Lou hatte eingeräumt, dass es wahrscheinlich zum Besten war. »Sie würde uns fehlen«, erklärte sie.

»Wenn sie ihre Eltern finden würde, wären wir nicht mehr die wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Sie wären neu und unberührt, und wir wären immer noch bloß wir.«

Bisher war ich immer nur auf dumme Ideen gekommen. Aber diese war genial. Masgouf war perfekt. Einfach. Es war kein Hirngespinst. Es war machbar. Und sie wäre vielleicht wieder glücklich. Ich war bis auf Weiteres suspendiert worden, das hieß mindestens bis zu den Weihnachtsferien in zwei Wochen. Also hatte ich genug Zeit, meine Sachen hier zu regeln. So wie sie gesagt hatte.

An diesem Abend schlief ich Pläne schmiedend ein – und im Traum war ich nicht alleine unterwegs. Blot, ein Junge, der in der Buchhandlung auf der 84. Straße arbeitete, war mein Komplize. Ich hatte seinen Namen noch nie ausgesprochen, aber wenn jemand mal draufkäme, mich zu fragen, ob ich in jemanden verknallt wäre, hätte ich, ohne zu zögern, geantwortet: »Ja. In Blot.« Schon bei dem Gedanken wurden meine Eingeweide zu Rhabarbermarmelade – süß und klebrig und voller Stückchen –, und meine Kehle verengte sich, sodass ich einen ganz trockenen Mund bekam.

In meinem Plan trugen wir braune Lederrucksäcke und Stoffschuhe, liefen abends durch den Central Park und über den Times Square, schauten bei orientalischen Restaurants vorbei, probierten dieses und jenes und machten uns Notizen auf einem gelben Block. Unsere Rucksäcke hüpften auf unseren Rücken wie gutgelaunte Kleinkinder, und wenn ich abends rotwangig und erschöpft nach Hause kam, wollte meine Mutter unbedingt wissen, was ich im Schilde führte. Ich erklärte, es sei eine Überraschung, und sie fragte: »Tatsächlich?«, als ob ich ihr einen Gefallen täte. Sie war geduldig und stolz. Sie nahm mein Gesicht in die Hände, um mich genauer anzuschauen, und ich wandte errötend meinen Blick ab. Ich hatte etwas richtig gemacht, und wir wussten es beide.