Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem

Der gute Ton und die feine Sitte

Vierte, verbesserte Auflage

Saga

Vorwort.

Motto:

»Bleibt natürlich!«

Die Legende erzählt, dass der Apostel Johannes, als sein hohes Alter ihm das Lehr- und Predigtamt unmöglich machte, sich dennoch hinaustragen liess unter seine andächtige Gemeinde und inmitten derselben durch unablässige Wiederholung der Worte: »Kindlein, liebt einander« die Grundlehre des Christentums zusammenfasste.

Die Legende fiel mir ein, als ich obiges Motto niederschrieb, denn auch die ganze Lehre vom »Guten Ton und der feinen Sitte« liegt in den wenigen Worten: »Bleibt natürlich!« Nun gibt es ja freilich auch eine Natürlichkeit, die der guten Sitte sehr entbehrt; dass es aber in diesem Sinne nicht gemeint ist, brauche ich wohl nicht besonders zu versichern, wohl aber, dass die feinste Sitte und der beste Ton unerträglich werden, wenn sie angelernt und gekünstelt, nicht aber natürlich sind.

Hierin ist meines Erachtens der wunde Punkt all der bisher erschienenen Werke über dieses Thema zu suchen. Die Literatur über den »guten Ton« ist, seit Knigges „Umgang mit Menschen“ erschien, mehr und mehr angewachsen, und viele dieser Werke sind in ihrer Art meisterhaft, sie gereichen jeder Bibliothek zur Zierde. Aber sie haben fast alle denselben Fehler, dass sie durch zu viel Beiwerk den Lernenden verwirren und dadurch unsicher machen, ihn der Natürlichkeit bei der Anwendung des Gelernten berauben. Denn wir dürfen nie vergessen, dass ein Lehrbuch über den »Guten Ton und die feine Sitte« nicht für die geschrieben ist, denen dieselben schon in der Kinderstube zur zweiten Natur anerzogen, sondern für die bestimmt ist, die sich durch Talent und Fleiss hinaufgerungen haben in die Kreise der Gebildeten und diesen nun auch in bezug auf die feine Sitte ebenbürtig werden wollen.

In diesem Sinne entstand auf Anregung der Verlagshandlung dieses Büchlein, das in der klaren und leichtfasslichen Form des Katechismus eine Anleitung geben will, sich die in den Kreisen der Gebildeten unerlässlichen Formen anzueignen. Möchten unsere Bemühungen, das Werkchen nützlich und praktisch zu gestalten, von Erfolg gekrönt sein, um diesen aber zu erreichen, muss der Lernende uns in die Hand arbeiten, indem er natürlich bleibt, d. h. nicht glaubt, das ihm Fehlende durch geziertes Wesen und geschnörkelte Worte ersetzen oder vertuschen zu können. Denn der gute Ton und die feine Sitte vertragen weit eher einen Verstoss aus Unwissenheit als ein Surrogat, dessen Firnis die Unnatur ist, die allzeit nicht nur abstossend, sondern geradezu lächerlich wirkt. Darum also, ihr, die ihr den guten Ton und die feine Sitte zu besitzen wünscht: bleibt natürlich! Ihr werdet euer Ziel viel eher erreichen, wenn ihr die persönliche Natürlichkeit gewissermassen als das Blatt betrachtet, auf welches ihr das Gesetz des guten Tons in euer Gedächtnis schreibt, denn noch niemals hat sich jemand dem Zauber entziehen können, den die Natürlichkeit verleiht. Ein Künstler, der nicht natürlich ist in der Ausübung seiner Kunst, wird niemals anders als äusserlich wirken können, wie viel mehr muss dann nicht der Künstler des guten Tones bemüht sein, die Natürlichkeit zu bewahren, die ihn erst über die Maschine erhebt und ihn den Kreisen, mit denen er gleichwertig verkehren will, menschlich nahe bringt.

Also, bleibt natürlich, dann kann auch ich froh auf den Erfolg dieses Büchleins vertrauen.

Eufemia von Adlersfeld,
geb. Gräfin Ballestrem.

I. Allgemeines.

1. Was versteht man unter gutem Ton und feinen Sitten?

Man versteht darunter den Anstandsbegriff der zivilisierten Welt, der, wenn auch vielleicht bei den verschiedenen Nationen in manchen Dingen abweichend, sich in demselben Grundgedanken begegnet und damit ein unverkennbares Bindeglied zwischen den Gebildeten ist, gleichviel, welche Sprache dieselben reden.

2. Ist es unbedingt notwendig, sich die Kenntnis des guten Tons und der feinen Sitte anzueignen?

Gewiss. Diese Kenntnis ist sogar ganz unerlässlich, wenn man in den Kreisen der Gebildeten nicht nur geduldet, sondern als einer der ihrigen aufgenommen sein will.

3. Hängt denn die Wertschätzung des Menschen von seiner Kenntnis der äusseren Formen ab?

In gewissem Sinne, ja. Denn der innerlich rohe Mensch ohne Bildung wird seine Natur auch nach aussen hin durch ein rohes Benehmen verraten, während ein sonst Ungebildeter, aber vornehm und gütig Denkender wohl rauh und ungeschickt sich benehmen kann, kaum aber verletzend für das feinere Gefühl anderer.

4. Gleicht die Kenntnis des guten Tones diese Gegensätze aus?

Äusserlich und oberflächlich — vielleicht. Innerlich schon schwerer, da die äussere Form nur dann wirksam sein kann, wenn sie mit der inneren Veredlung Schritt hält.

5. Liegt zwischen der Beantwortung dieser und der vorigen Frage nicht ein Widerspruch?

Ein Widerspruch wohl kaum, aber ein Vergleich, der sich am klarsten durch das Gleichnis vom echten und vom unechten Schmucke verständlich macht: das unechte Geschmeide ist nur vergoldet und nutzt sich bei der ersten Gelegenheit ab; das echte Gold aber wird nur poliert, um seinen Wert auch äusserlich zu zeigen. Dieses Buch ist in dem redlichen Bestreben verfasst, durch seinen Inhalt nicht nur äusserlich zu vergolden, sondern das von seinen Schlacken befreite Gold zu polieren.

6. Wie erlangt man am sichersten und schnellsten die Kenntnis des guten Tons?

Jedenfalls im engeren Verkehr mit Menschen von Erziehung. Wo aber die Verbindungen dazu fehlen, sollte man sich durch die aufmerksame Lektüre der darauf bezüglichen Bücher das Fehlende zu erwerben suchen, ehe man sich in die Kreise des guten Tons und der feinen Sitte begibt.

7. Warum vorher?

Weil nicht alle geneigt sind, die in diesem Falle gebotene Nachsicht walten zu lassen, und sich der Neuling in diesen Kreisen unnötig bitteren Demütigungen aussetzen würde.

8. Ist diese Nachsichtslosigkeit ein Zeichen des guten Tons?

Durchaus nicht, denn zum guten Tone gehört auch das feine Verständnis für die Lage des Neulings und die Bereitwilligkeit, ihm, statt ihn zu demütigen, über die Schwierigkeiten hinwegzuhelfen. Die Entschuldigung der Nachsichtslosen, sie hätten zu verlangen, dass ein Mensch nicht ohne die Kenntnis der Form, die den Gebildeten kennzeichnet, in ihre Kreise käme, entbehrt indes, wenn auch der Nächstenliebe, so doch nicht ganz der Berechtigung. Die mangelhafte Form in manchen Dingen (bei Tisch z. B.) ist für die Zusehenden oft eine unerträgliche Qual, und darum kann nur der gute Rat, sich vor dem Eintritt in die feingebildeten Kreise deren Formen anzueignen, dringend wiederholt werden.

9. Darf sich kein Mensch ungestraft über die leere äussere Form hinwegsetzen?

Gewiss nicht; wenigstens sollte die absichtliche Missachtung und Verletzung der äussern Form nicht ungestraft bleiben, denn diese ist der Kitt, der die gute Gesellschaft verbindet, ihre Leidenschaften im Zügel hält und ihr die Überlegenheit verleiht, die sie trotz aller Schmähungen der Umstürzler zweifellos geniesst. Wer sich also in geistigem Hochmut und der Überhebung seiner gänzlich missverstandenen Menschenwürde über die äussere Form hinwegsetzen will, zerschneidet das Tischtuch zwischen sich und den Kreisen, die vermöge ihrer inneren und äusseren Bildung dazu berufen sind, die Stützen des Thrones, des Staates und der Kirche, mit einem Worte, der Ruhe und Ordnung zu sein.

10. Findet man nicht trotzdem oft in den besten Kreisen Leute, die geradezu etwas darin suchen, den guten Ton zu verletzen?

Dies ist leider sehr häufig der Fall bei solchen, die sich durch einen berühmten Namen oder durch sonst welchen Vorzug der Geburt oder der Stellung weit über den anderen stehend glauben. Die gute Gesellschaft ist aber an solchen, sie nur in Misskredit bei ihren Widersachern bringenden Mitgliedern selbst schuld, wenn sie sich deren Ungezogenheiten gefallen lässt.

11. Was ist dagegen zu tun?

Abhilfe gegen anmassendes und lümmelhaftes Betragen einzelner lässt sich sehr gut und sicher dadurch schaffen, dass man mit rücksichtsloser, aber stets in den Grenzen der Höflichkeit bleibender Schärfe gegen die Verletzung des guten Tones auftritt, und dadurch erziehend auf die Ungezogenen wirkt. Das Taktgefühl wird die richtige Form der Zurechtweisung in dem vorliegenden Falle mit Sicherheit finden und genau wissen, wann und wo sie in scherzhafte, scharfe, zuredende oder empörte Worte zu kleiden ist.

12. Das Taktgefühl ist demnach auch eine Bedingung des guten Tons und der feinen Sitte?

Es ist eine Hauptbedingung desselben; und nicht nur das, es ist fast eine Lebensbedingung, denn nichts wird mehr gefürchtet und gemieden, als ein taktloser Mensch, der mit unfehlbarer Sicherheit immer den wunden oder schmerzhaften Punkt berührt, wo er mit andern zusammentrifft.

13. Was versteht man unter „Takt“?

Man versteht darunter das Geschick, Gespräche, Andeutungen und Fragen zu vermeiden, die dem andern aus irgendwelchem Grunde peinlich sind, sowie ihn nicht mit Personen zusammenzubringen, von denen man weiss, dass er ihnen nicht gern begegnet. Der taktvolle Mensch wird auch, wenn er, ohne es zu wollen, das Gefühl eines andern verletzt hat, durch eine kurze herzliche Entschuldigung, eine geschickte Wendung des Themas oder was sonst die Situation ergibt, sein Versehen gut zu machen suchen, unter allen Umständen aber vermeiden, durch ein Zuviel die Sache zu verschlimmern.

14. Ist das Taktgefühl angeboren oder lässt es sich auf irgend eine Weise erwerben?

Es lässt sich durch einen festen und guten Willen fast jede Eigenschaft anerziehen, so dass sie zur Gewohnheit wird. Den angeborenen Takt wird in vollkommenem Sinne der anerzogene wohl kaum ersetzen können, weil er ein wesenloser Begriff und ein Gefühl ist, für das nicht alle Naturen gleichartig besaitet sind. Doch wird, wie gesagt, ein redlicher und fester Wille den psychischen Mangel erfolgreich bekämpfen können.

15. Hat der gute Ton für alle die gleichen Gesetze?

Nur insofern, als er von allen Anstand, Takt und gute Manieren ohne Ausnahme verlangt. Aber da sich bekanntlich nicht eines für alle schickt, wie z. B. einem jungen Mädchen in Gesellschaft andere Dinge obliegen als einer Greisin, und ein General sich anders benehmen muss als ein Leutnant, so hat der gute Ton für jedes Alter und für jede Lebensstellung seine besonderen Gesetze.

16. Ist es notwendig, dieselben alle zu kennen.

Da es meines Wissens für die verschiedenen Lebensalter und Stände keine gedruckten Verhaltungsmassregeln gibt, so wird man am besten tun, sich durch persönliche Beobachtung die Kenntnis dieser Gesetze anzueignen. Die vorliegenden Blätter enthalten die für jeden gebildeten Menschen notwendigen Anstandsregeln für alle die Lagen, in die der Verkehr mit der guten Gesellschaft ihn bringt; die kleinen Abweichungen für die verschiedenen Stände ergeben sich daraus von selbst und sind unschwer zu bemerken.

17. Ist es notwendig, diese Anstandsregeln genau zu befolgen?

Da die Verfasserin sich bemüht hat, ihren Katechismus des guten Tons und der feinen Sitte von jedem verwirrenden Ballast freizuhalten und veraltete Anstandsbegriffe oder solche, die nur von lächerlicher Prüderie diktiert waren, gar nicht darin aufgenommen hat, so wird es sich empfehlen, das Gesagte als notwendig und dringend gefordert anzusehen.

18. Worauf bezieht sich der Ausdruck: veraltete Anstandsbegriffe?

Es würde zu weit führen, diese zu erklären. Man vertraue der Verfasserin, dass es sich auf nichts wesentliches bezieht, auf nichts, was den Anstand an sich beeinflussen könnte. Jede Zeit hat ihre Zeichen, auch im geselligen Verkehr; es ist unsere Aufgabe zu sagen, was die Gegenwart von dem Gebildeten fordert, nicht was man in vergangenen Zeitabschnitten von ihm gefordert hat.

19. Welchen Einfluss hat die Gegenwart auf die Regeln des Anstandes?

Wer fein beobachtet, dem wird es nicht entgangen sein, dass der gesellige Verkehr sich nach und nach gegen früher viel zwangloser, d. h. viel natürlicher gestaltet hat, und das entschieden zu seinem Vorteil. Dies ist zweifellos der allgemeinen Zeiiströmung zuzuschreiben, die in Kunst, Wissenschaft und Leben nach der Natur strebt und in allem danach trachtet, Vorurteile zu besiegen. Man hört heute oft ältere Leute sagen: „Das hätte man zu meiner Zeit nicht sagen und tun dürfen.“ Aber als diese Leute jung waren, sagten ihre Eltern sicherlich dasselbe. Die Zeit ändert eben die Ansichten über vieles im Leben; noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hätte kein regierender Fürst seinen Erben auf dieselbe Schulbank mit dem Sohne seines ersten besten Untertans gesetzt, und während heute der unbeschränkte Gebrauch eines Taschentuches jedem Gebildeten zur Pflicht gemacht wird und kein Mensch sich wundert, dieses notwendige Wäschestück in einer Hand zu sehen, so gab es eine Zeit, wo das blosse Wort »Taschentuch« schon für unanständig galt und der Gebrauch desselben nur nach dem Verlassen des Zimmers gestattet war. Selbst heute noch trifft man Leute, die förmlich unter dem Tisch verschwinden, wenn sie sich die Nase putzen wollen, damit nur um Gotteswillen kein Mensch das Taschentuch sieht. Man muss daher bemüht sein, nicht hinter der Zeit zurückzubleiben, und sorgsam darauf zu achten, was sie von uns fordert; nur wenn man mit der Zeit geht, schreitet sie nicht über uns weg, und das allein kann uns, wenn wir älter werden, vor Ärger und Enttäuschung bewahren und vor dem so oft gehörten: „Das verstehe ich nicht mehr, das war zu meiner Zeit anders.“ Der Allgemeinbegriff über den guten Ton ist wohl zu allen Zeiten derselbe geblieben, aber der gute Ton selbst ist gottlob natürlicher geworden. Wenn trotzdem ein vor einigen Jahren erschienenes Lehrbuch über den Anstand verbietet, von »Beinen« zu sprechen, weil das unanständig sei, und das schlichte »Ja« für rüde erklärt und durch das gezierte »Allerdings« ersetzt haben will, so können wir mit dem besten Gewissen nur den guten Rat geben, sich durch solch übertriebene und unnatürliche Anstandsregeln nicht irreführen zu lassen. Denn wenn es schon unanständig wäre, von Beinen zu sprechen, so wäre es dies von Beinkleidern erst recht, und ein Mensch, der gar vom Hosenbandorden spricht, wäre ein abschreckendes Beispiel für alle Jünger des guten Tons. Dennoch ist es noch niemand eingefallen, diese höchste englische Dekoration den »Unaussprechlichen Bandorden« zu nennen.

20. Gibt es nicht eine Menge lächerlicher und veralteter Anstandsregeln, die heute noch in Kraft sind?

Gewiss gibt es unter den Geboten des guten Tons noch eine Menge üppig wuchernden Unkrautes, das der einzelne zwar nicht zu entfernen die Macht hat, wohl aber die Zeit. So lange diese zopfigen Regeln aber noch bestehen und man deren Beachtung von uns fordert, müssen wir uns ihnen fügen, besonders, wenn man ein Neuling im Salon ist. Eine freiere Anwendung aller Regeln des guten Tons darf sich nur der gestatten, der für ein Muster desselben gilt.

21. Und warum nur ein solcher?

Weil nur genaue Kenner des guten Tones wissen können, wie weit sie im Überschreiten seiner Regeln gehen dürfen, ohne den notwendigen und wohltätigen Zwang derselben zu gefährden.

22. Warum ist dieser Zwang notwendig?

Weil es wunderbare Blüten treiben würde, wenn es einem jeden überlassen wäre, sich die Gesetze des Anstandes nach seinen eigenen Ansichten zu reformieren und zur Anwendung zu bringen. Die Gesellschaft würde bald einem Freistaate ohne Sitten und Gesetze gleichen, einer absoluten Anarchie im schlimmsten Sinne des Wortes. Für jeden geordneten Staat ist der Zwang der Gesetze eine dringende Notwendigkeit; ebenso sind für eine gebildete Gesellschaft im weitern Sinne Gesetze des guten Tons und der feinen Sitte unerlässlich. Selbst wilde Völker haben fast ausnahmslos gewisse Begriffe und Gesetze des Anstandes in ihrem Sinne; wir, die wir auf der Höhe der Kultur zu stehen uns rühmen, sollten daher gar nicht den Wunsch hegen, uns von einem Zwange zu befreien, der unsere Sitten nur verfeinern und uns auf eine höhere Stufe der Kultur heben kann.