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Sören Prescher ist Jahrgang 1978, verheiratet und wohnt mit seiner Familie in Nürnberg. Er veröffentlichte Kurzgeschichten und Gedichte in zahlreichen Anthologien. Nach dem Psycho-Drama „Superior“ (Brendle-Verlag) und dem Militärthriller „Der Fall Nemesis“ (Voodoo Press Verlag) erschien im Fabylon Verlag als erste Zusammenarbeit mit Tobias Bachmann der Kriminalroman „Sherlock Holmes taucht ab“ – in dem vorliegenden Roman kommt es als Anspielung darauf zu einer kurzen Begegnung zwischen Charlie Grant und dem großen Detektiv. Zudem veröffentlichte Prescher mit der Novelle „STEAMPUNK - Erinnerungen an Morgen“ in der gleichnamigen Anthologie die Vorgeschichte zu dem hier vorliegenden Steampunk-Roman.
In dieser Reihe sind bereits erschienen:
Band 1: STEAMPUNK – Erinnerungen an Morgen, Hrsg. Alisha Bionda
Band 2: STEAMPUNK EROTICS – Der Ritt auf der Maschine, Hrsg. Alisha Bionda
Band 3: ARGENTUM NOCTIS, Guido Krain
Band 4: DER FLUG DES ARCHIMEDES, Sören Prescher
Band 5: DIE SECRET INTELLIGENCE IHRER MAJESTÄT, Thomas Neumeier (Erotischer SteamPunk)
Die Vorgeschichte zu diesem Roman mit dem Titel „Erinnerungen an Morgen“ ist in der gleichnamigen Anthologie – Band 1 dieser Reihe – ebenfalls als Printausgabe und als eBook zu beziehen.
Umschlagbild: Crossvalley Smith
Reihe SteamPunk herausgegeben von Alisha Bionda
© der Print-Ausgabe 2014 by Fabylon Verlag
© des eBooks 2014 by fabEbooks
ISBN: 978-3-943570-39-7
Hinweis: Die Printausgabe (ISBN 978-3-927071-72-8) enthält Illustrationen von Crossvalley Smith.
Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten.
www.fabylon-verlag.de
Für Oliver, Noah, Lara und Jonah
Verliert niemals die Zukunft aus den Augen
Die Welle schwappte über die Reling und sein Mageninhalt ins Meer. Angewidert wischte sich Nigel Harris den Mund ab. Er wünschte sich zurück nach Plymouth, oder besser gleich nach London. Zurück in sein Haus, wo er mit beiden Füßen auf der Erde stand und die Luft nicht salzig schmeckte. Es ärgerte ihn, sich überhaupt auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben.
Dabei hatte es anfangs völlig anders ausgesehen. Lord Wilmington hatte ihn gebeten, für seine nächste Schatzsuche ein Gefährt zu konstruieren, mit dem er in klippenübersäten Gewässern tauchen konnte. Kein Wort davon, dass er selbst mit an Bord sein sollte. Andererseits war er der Erbauer und behob etwaige technische Schwierigkeiten am schnellsten. Außerdem hatte ihm Wilmington ein hübsches Sümmchen geboten. Dennoch wünschte er, es hätte einen anderen Weg gegeben. Irgendetwas Magenschonenderes.
Eine besonders große Welle ließ den Bug der Aronnax erzittern. Für einen kurzen Moment war Harris überzeugt, der Kapitän würde die Kontrolle über das Transportschiff verlieren, aber in der Steuerkabine verzogen Nicoll und seine rechte Hand Barbicane nicht einmal die Miene. War ein derart hoher Wellengang normal für sie? Harris war nicht sicher, ob er die Antwort wissen wollte. Kapitän Nicoll war ein verrückter Hund, der vermutlich auf einer Kanonenkugel geritten wäre, wenn ihn jemand dazu herausgefordert hätte. Wilmington hatte nicht nur gut über ihn gesprochen. Trotzdem war er der ideale Mann, um das Schiff ins Grenzgebiet zwischen Englischen Kanal und Atlantik zu steuern.
Als weitere schwere Wellen gegen das Schiff klatschten, kehrte Harris in seine Kabine zurück. Die frische Luft hatte ihm eindeutig nicht gegen die Seekrankheit geholfen. Außerdem sah es nicht so aus, als würden sie in Kürze ihr Ziel erreichen. Selbst wenn, einen Tauchgang bei solchen Wellen hätte vermutlich nicht einmal der Kapitän zugelassen.
Auf dem Weg zum Unterdeck kam ihm Percy Stafford entgegen. Ein Enddreißiger – also gerade mal zehn Jahre jünger als er – aber mit noch immer pechschwarzen Haaren und einem stets dümmlichen Grinsen. Mit seinen ausgeprägten Wangenknochen und der breiten Nase erinnerte er ihn immer an einen Hamster. Harris mochte ihn nicht. Und das nicht bloß, weil sich der Mann obsessiv mit der Bibel beschäftigte, sondern ungefragt jeden daran teilhaben ließ.
Aber laut Wilmington war er ein guter Kartenleser. Auch jetzt trug er unter dem Arm zwei zusammengerollte Seekarten, dazu eine mehrere Tage alte Ausgabe des Daily Telegraph. Harris sah, dass April 1890 auf dem Titelblatt stand. Der Rest wurde vom Arm verdeckt.
„Ich hoffe, die Fahrt dauert nicht mehr allzu lang“, sagte Harris.
Stafford schaffte es nur schlecht, ein schadenfrohes Schmunzeln zu verbergen. „Heute ist der Wellengang besonders hoch. Das bekommt nicht jedem. Aber in einigen Stunden erreichen wir das Ziel. Dann muss nur noch Petrus mitspielen. Sind Sie eigentlich aufgeregt?“
„Weswegen?“
„Na, ob Ihre Wundermaschine funktioniert. Schon vor Lord Wilmington haben hier viele nach Schätzen gesucht. Jeder ist gescheitert.“
„Keine Sorge. Was ich konstruiere, funktioniert. Mein Tauchgerät ist für alles gerüstet. Sie werden verblüfft sein, wozu die Dampfkraft heutzutage imstande ist.“
„Ich lasse mich gern verblüffen“, sagte Stafford und schaffte es, selbst dabei arrogant zu lächeln. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen. Der Kapitän erwartet mich.“
Harris ließ ihn vorbei. Was bildete sich der Bursche überhaupt ein? Einfach seine Konstruktion in Frage zu stellen! Dennoch hatte Stafford nicht völlig Unrecht. Nie zuvor war es jemandem gelungen, an dieser Stelle zu tauchen. Außerdem war das Tauchgerät vorab lediglich im Londoner Hafen getestet worden. Was, wenn der Antrieb aussetzte oder das Druckluftsystem versagte? Unsicher strich sich Harris über die ergrauten Schläfen. Er durfte sich nicht verrückt machen lassen. Bisher hatte jede Maschine funktioniert. Weshalb sollte es diesmal anders sein?
Er war froh, als er die Kajütentür hinter sich schloss. Aus den Augen, aus dem Sinn, hoffte er und streckte sich auf dem Bett aus. Noch immer rumorte sein Magen bei jedem Schaukeln. Wie lang sollte das noch so weitergehen?
In diesem Moment erzitterte das Schiff unter einer besonders starken Welle. Harris’ Magen verkrampfte sich. Sekundenlang befürchtete er, sich zu übergeben, und hielt sich die Hand vor den Mund. Es stellte sich als falscher Alarm heraus, das Übelkeitsgefühl jedoch blieb. Erschöpft schloss er die Augen und sehnte sich nach Schlaf. Wenigstens bis sich der Wellengang und damit sein Bauch beruhigt hatten. Doch die Worte des Lackaffen stellten sich als äußerst resistent heraus.
Noch einmal ging er sämtliche Details durch. Die Oberfläche war perfekt genietet worden. Wasser drang sicherlich keines ein. Die Fenster entstammten einer speziellen walisischen Glaserei und sollten selbst einem Felsbrocken standhalten. Sicherheitshalber überdachte er sämtliche technischen Arbeitsschritte des Unterwasserbootes. Als ihm nichts einfiel, überlegte er, das Tauchgerät direkt zu kontrollieren, konnte sich aber nicht aufraffen. Bevor sich Harris versah, döste er ein.
Ein lautes Klopfen riss ihn aus dem Schlaf. Irritiert richtete er sich auf und trottete zur Zimmertür, öffnete sie und erblickte den blonden Schiffsjungen. „Lord Wilmington bittet Sie, zum Kapitän zu kommen. Wir haben den Zielort erreicht.“
Harris strich sich über das Gesicht, um die letzte Schläfrigkeit abzuschütteln, und folgte dem Jungen zum Steuerhaus.
Kapitän Nicoll stand mit dem Rücken zu ihm, sodass Lord Wilmington die Neuankömmlinge zuerst bemerkte. Er war ein hochgewachsener Mann in den Vierzigern, der Harris um beinahe zwei Köpfe überragte und deutlich kräftiger als der hagere Ingenieur aussah. Auch in Sachen Kleidung schienen sie Welten zu trennen. Wilmington trug einen grauen Anzug, wie es vermutlich Mode war. Harris genügte es, dass sein Körper mit Stoff bedeckt war und die Kleidung möglichst bequem saß.
„Ah, Ingenieur Harris, es freut mich, dass Sie sofort gekommen sind. Laut unserem Kartographen ...“, er deutete auf den hinteren Teil des Raums, wo Percy Stafford mit einem Lineal über die Karte gebeugt stand, „… haben wir die Stelle erreicht, an der Jan Peters’ Piratenschiff gesunken sein soll.“
Bei den Worten drehte sich der bärtige Kapitän um und der Kartenleser schaute auf. Für den Schiffsjungen hingegen war es das Zeichen, das Steuerhaus zu verlassen. Harris nickte jedem Anwesenden zu und war erleichtert, dass es keine Welle mehr schaffte, über die Reling vorzudringen. „Das freut mich zu hören. Wie ich Sie kenne, wollen Sie vermutlich unverzüglich mit dem Tauchmanöver beginnen. Aber vielleicht sollten wir warten, bis sich das Meer noch weiter beruhigt hat.“
„Völlig still wird es nie sein“, sagte der Kapitän. „Meiner Meinung nach herrschen ideale Bedingungen.“
Harris setzte zu einem weiteren Kommentar an, als hinter ihm Schritte zum Steuerhaus hinaufpolterten. Sie gehörten dem Seemann Barbicane, einem grobschlächtigen Mann mit Bart und Oberarmen so dick wie Harris’ Oberschenkel. „Wir haben Anker geworfen. Zur Sicherheit lasse ich die Wassertiefe ausloten, aber da rechne ich mit keinen Problemen.“
„Danke, Impey.“ Nicoll wandte sich an Harris. „Da hören Sie es. Alle sind bereit.“
Noch einmal überprüfte Harris Wind- und Wellenstärke. Er fand nichts, was gegen den Vorschlag des Kapitäns sprach. „Also gut. An mir soll es nicht liegen. Wie steht es um Ihre Männer?“
„Sie treffen uns in wenigen Minuten direkt an der Krake.“
Der Kartograph schmunzelte über die Bezeichnung, hielt sich mit Kommentaren aber zurück. Harris warf einen letzten Blick aufs Meer und bat Wilmington und Nicoll, ihm zu folgen.
Nicolls Männer hatten sowohl die Abdeckplane als auch die Halteseile gelöst und verstauten sie in der schweren Truhe neben der Kranvorrichtung. Stolz wie ein frisch poliertes Denkmal stand die Konstruktion vor der Lasthebemaschine. Der Anblick wärmte Harris’ Herz. Für einen Moment spürte er etwas, das an Vatergefühle grenzte. Vielleicht war es seit der Geburt seiner Tochter das erste Mal, dass er etwas derartig Starkes fühlte.
Er konnte nicht anders, als liebevoll über die genieteten Außenwände zu streichen. Lächelnd erinnerte er sich, wie viele schweißtreibende Tage es gekostet hatte, alles zusammenzusetzen. Ohne die tatkräftige Unterstützung von Wilmingtons Arbeitern hätte es sicher Jahre gedauert und nicht bloß einige Monate. Aber an bezahlter, tüchtiger Arbeitskraft hatte es dank des technikbegeisterten Lords nie gemangelt.
„Die Krake ist wunderschön“, sagte Wilmington.
Trotz des nicht abwegigen Vergleichs missfiel Harris der Name. Zugegeben, er hatte sich beim Bau ein wenig von den Tieren inspirieren lassen. Aber wie jeder Biologe wusste, besaßen diese Meeresbewohner in der Regel acht Fangarme – und nicht sechs, wie es bei der Konstruktion der Fall war. Vier Beine zur Fortbewegung auf dem unebenen Meeresgrund und zwei weitere, um Gegenstände zu untersuchen und zur Unterseite der Tauchkabine zu bringen, um sie der Crew zu übergeben.
Harris betrachtete die an Augen erinnernden Fenster, durch die selbst ihn die Konstruktion an einen überdimensionalen Kopf erinnerte. Oder eben an einen Kraken. Er für seinen Teil fand sie einfach nur praktisch. Außerdem waren sie ebenso notwendig wie die Lichtmaschinen an Ober- und Unterseite, um überhaupt etwas auf dem Meeresgrund zu erkennen.
Er vergewisserte sich, dass die Kessel der Dampfmaschine genug vorgeheizt waren, um in Betrieb genommen zu werden. Sie waren genauso bereit wie die Sauerstoff-Druckluftbehälter. Die Tauchcrew hatte ganze Arbeit geleistet. Zufrieden kehrte er zu Wilmington und Nicoll zurück.
„Alles in Ordnung mit der Maschine?“
„Soweit ich sehe, schon.“
„Dann kann der Tauchgang ja beginnen.“
Wie aufs Stichwort kamen drei Männer in olivfarbener Arbeitskleidung auf sie zu. Unweigerlich lächelte Harris. Dies waren seine Jungs. Die Leute, die er ausgebildet hatte. Alles, was sie auf dem Meeresgrund mit der Maschine anstellten, hatten sie von ihm gelernt. Sie kannten sämtliche Kniffe und wussten, worauf sie achten mussten.
„Das ist Ihre letzte Chance, Harris“, sagte Wilmington. „Noch kann einer der Anderen hierbleiben und Sie gehen mit auf Erkundungstour.“
„Danke, aber ich lehne auch diesmal lieber ab. Meiner Meinung nach sind die drei Gentlemen deutlich besser dafür geeignet als ich.“
„Es gibt eben Theoretiker und Praktiker.“ Nicoll kratzte sich ausgiebig seinen dichten Bart. „Sind Sie bereit für Ihren Einsatz?“, fragte er, an die Taucher gewandt.
Alle drei nickten.
„Gibt es noch etwas, das wir über den Piraten wissen sollten?“, wollte der Mann in der Mitte wissen. Ein kerniger Bursche namens Adams, den Harris als Anführer der Besatzung kennengelernt hatte.
Wilmington blähte die Wangen auf. „Wie Sie wissen, stützen wir uns ausschließlich auf Jan Peters’ Aufzeichnungen. Wenn er in seinem Tagebuch nicht diese Längen- und Breitengrade angegeben hätte, befänden wir uns nicht hier. Freiwillig hat er die Schatzkisten nicht über Bord gehen lassen. Aber mit der englischen Marine im Nacken blieb ihm keine andere Wahl. Angeblich soll er danach versucht haben, die Kisten zu bergen, ist aber immer gescheitert. Eine Wassertiefe von zweihundert Fuß oder mehr ist eben kein Pappenstiel.“
„Da bräuchte er wohl die Lungen eines Pottwals“, meinte Nicoll.
„Und dessen dicke Haut. Vergessen Sie den Druck in dieser Meerestiefe nicht. Wenn da ein Taucher zu schnell nach oben schwimmt, ist es aus mit ihm“, sagte Harris, blieb aber unbeachtet.
„In den hundertzwanzig Jahren, die seither vergangen sind, betätigten sich ständig Leute als Schatzsucher, erfolgreich war aber niemand. Ohne Ingenieur Harris’ speziell dafür konstruiertes Unterwasserfahrzeug hätte ich es wohl ebenfalls nicht versucht. So aber bin ich recht zuversichtlich.“
„Das sind zu viele Lorbeeren“, erwiderte Harris. „Warten wir erst einmal ab, was die Männer auf dem Meeresgrund finden.“ Wilmington winkte ab, als wäre es eine Lappalie.
Aus dem hinteren Teil der Fregatte näherte sich ein Matrose mit einem riesigen tropfenden Bündel in der Hand. Harris erkannte darin eine Lotschnur. „Ich habe die Wassertiefe überprüft, Kapitän“, sagte der Matrose und schien erst jetzt wahrzunehmen, dass weitere Personen neben dem Schiffsführer standen. „Bis zum Grund sind es ... äh … ungefähr zweihundertzehn Fuß.“
„Also der Wert, von dem wir ausgegangen sind“, sagte Wilmington. „Alles passt perfekt.“ Er schaute auffordernd zu Harris, der das Lächeln aber nicht erwiderte. Es war nicht seine Art, vorab zu jubeln.
„Vielen Dank.“ Nicoll verabschiedete den Matrosen und gab Adams und seinen beiden Tauchkollegen ein Zeichen, sich zur Krake zu begeben.
Schweigend, aber noch immer stolz wie ein Vater beobachtete Harris, wie die Männer im Bauch des Tauchgefährts verschwanden. Zuerst nahm Adams auf seinem Sitz Platz, danach folgten die beiden Anderen. Sekunden darauf erfüllte ein vertrautes Surren die Luft. Harris strahlte. Was gab es Schöneres, als das Ergebnis seiner aufopfernden Arbeit in Aktion zu erleben?
Ein kurzer Ruck ging durch die sechs Arme, dann setzten sich die hinteren vier in Bewegung, um die Kabine in ihrem Zentrum emporzuheben. Kurz sah es aus, als wären die Eisenarme der Aufgabe nicht gewachsen, aber dann stemmten sie die schwere Kugel mühelos in die Höhe.
Als sich die Krake mit einem metallisch klingenden Poltern vorwärtsbewegte, stockte Harris vor Erregung der Atem. Der Schiffsboden erzitterte unter jedem Schritt und verstärkte das beeindruckende Gefühl.
Die Maschine erreichte den Teil der Reling, an dem Nicolls Männer die Brüstung entfernt hatten, um einen reibungslosen Abgang zu gewährleisten. Für einen Augenblick erschien es ihm, als würde die Konstruktion kurz zum Abschied winken. Genug Humor dafür traute er Adams zu.
Das Tauchgerät steuerte vorwärts, bis die Gliedmaßen den Halt verloren und unbeholfen nach vorn kippten. Harris’ Herzschlag setzte für einen Moment aus. In seiner Vorstellung hatte dieser Schritt deutlich eleganter ausgesehen. Hoffentlich war nichts schiefgegangen!
Zusammen mit Wilmington und dem Kapitän eilte er zur Reling. Nach einer weiteren Schrecksekunde atmete er auf. Die Maschine schwamm mit der richtigen Seite nach oben auf der Meeresoberfläche. Was bedeutete, dass sich die Tanks mit Wasser füllten, wodurch das Objekt gemächlich tiefer sank.
Das hohe Metallgewicht drückte die Konstruktion zusätzlich hinab. Bevor er sich versah, war die Hälfte davon bereits im Meer verschwunden. Als der Rest in Wasserkontakt kam, schaltete Adams die Scheinwerfer an.
Harris verfolgte seine Erfindung, bis nichts mehr außer aufsteigenden Wasserblasen zu sehen war. Obwohl alles nach Plan verlaufen war, sorgte er sich um die Crew. Was, wenn da unten etwas geschah, womit niemand rechnete?
„Entspannen Sie sich.“ Wilmington klopfte ihm auf die Schulter. „Es wird alles gut gehen. Sie haben die Mannschaft ausführlich instruiert. Außerdem sind es erfahrene Seeleute.“
Vermutlich hatte der Lord Recht, dennoch fiel es Harris schwer, seinen Blick von der Wasseroberfläche abzuwenden. Doch nach einigen Minuten und nachdem sich der Kapitän längst ins Steuerhaus zurückgezogen hatte, ließ auch seine Nervosität nach. Im Moment gab es nichts, was er tun konnte.
„Ich bin gespannt, wann wir die Krake wiedersehen.“ Wilmington stellte sich mit dem Rücken zur Seeseite.
„Der Sauerstoffvorrat reicht für acht Stunden.“
„So lang wird es hoffentlich nicht dauern. Aber während wir auf die Rückkehr warten, könnten wir ein wenig plaudern. Ich finde, es ist an der Zeit, sich über unser nächstes Projekt Gedanken zu machen.“ Harris ahnte, was gleich folgen würde, und wünschte, der Lord würde die nächsten Worte nicht aussprechen. Doch vergeblich: „Wäre jetzt nicht der ideale Zeitpunkt, um den Flugkörper zu entwickeln, über den wir uns so oft unterhalten haben?“
Harris seufzte. „Und jedes Mal habe ich Ihnen gesagt, dass ich ein solches Gefährt nicht konstruieren werde. Die Risiken sind einfach zu hoch. Sich auf dem Land und zu Wasser fortzubewegen, ist eine Sache. Egal, was passiert, es bleibt im überschaubaren Rahmen. Aber durch die Luft zu fliegen? Damit ist man völlig losgelöst von allem Irdischen. Es gibt nichts mehr, woran man sich im Notfall halten könnte.“
„Seien Sie nicht immer so negativ. Lassen Sie die Risiken meine Sorgen sein. Ich würde nichts Waghalsiges unternehmen. Sie wissen, wie sehr ich an diesem Projekt hänge. Von London nach Paris zu fliegen, war von jeher mein Traum. Oder meinetwegen auch bloß bis nach Holland oder Preußen. Hauptsache, es ist das Festland.“
„Eben weil Sie so sehr an der Sache hängen, habe ich Bedenken. Gern konstruiere ich Ihnen weitere Maschinen für den See- und Landweg, aber nichts, was Sie durch die Lüfte trägt.“
„Ist das Ihr letztes Wort?“
„Mir sind nicht einmal Ballonfahrten geheuer. Der Mensch sollte bei den Dingen bleiben, die für ihn erreichbar sind.“
„Ich bedaure, dass Sie das so sehen.“ Wilmington versuchte nicht einmal, die Enttäuschung zu verbergen, und schaute Harris an, als hätte dieser ihn zum Tode verurteilt. Aber was hatte der Lord erwartet? Dass er im Freudentaumel einfach seine Prinzipien über Bord warf? Wie oft hatten sie diese Unterhaltung geführt? Dreimal? Viermal? Stets mit dem gleichen Ergebnis. Weshalb sollte es dieses Mal anders sein? Einige Sekunden lang blieb Wilmington noch neben ihm stehen, dann ging er zum Schiffsbug und würdigte Harris keines weiteren Blickes mehr.
Nach einer halben Stunde an der Reling zog sich Harris in seine Unterkunft zurück und widmete sich seinen Aufzeichnungen. Schließlich stellte das Unterfangen auch für ihn Neuland dar und war von der wissenschaftlichen Seite höchst interessant. Kurzzeitig bedauerte er es tatsächlich, die Expedition nicht begleitet zu haben. Wer wusste schon, was für fremdartige Tiere und Pflanzen da unten existierten? Möglicherweise gab es auf dem Meeresgrund unerforschte Höhlen oder wertvolle Rohstoffe, die nur darauf warteten, aufgespürt zu werden. Doch schnell erinnerte er sich wieder an seinen nervösen Magen und daran, dass er eher ein Mann der Worte als der Tat war. Es war besser, wenn jeder das erledigte, wovon er am meisten verstand.
Leises Klopfen riss ihn aus der Konzentration. Nur Sekunden darauf befand er sich mit dem Schiffsjungen auf dem Weg zur Hebevorrichtung. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Matrosen zuerst der Mannschaft in die beiden Rettungsboote halfen und anschließend Seile am Rumpf der Krake befestigten. Während die Männer über Strickleitern zum Schiff hinaufkletterten, gab der Kapitän das Zeichen, die Kranvorrichtung in Gang zu setzen.
Augenblicklich wurde das Tauchgerät in Richtung der Aronnax gezogen und Harris beobachtete, wie das Wasser aus den Tauchtanks ins Meer zurückfloss. Nebenbei sah er, wie Lord Wilmington und Kartograph Stafford zusammen mit etlichen anderen Männern zur Reling eilten, um die Taucher in Empfang zu nehmen. Auch Harris gierte danach, jedes Detail zu erfahren. Trotzdem beobachtete er abwartend, wie die Männer und die Maschine an Bord zurückkehrten. Sobald aber die Hebevorrichtung das Tauchgerät auf den Boden zurückgestellt hatte, hielt auch ihn nichts mehr zurück.
„Dort gibt es Fische in allen Farben und Formen“, schwärmte Adams. „Grün bis schwarz, flach bis oval. Dazu farnartige Pflanzen und Büsche. Wäre der Boden nicht dermaßen zerklüftet, hätten wir glatt angenommen, wir befänden uns im Englischen Garten. So sah es aus, als würden wir auf dem Mond laufen.“
„Was ist mit dem Piratenschatz?“, fragte einer der Neugierigen. Überraschenderweise war es nicht Wilmington. Aber dessen wissbegieriger Blick verriet, dass ihm ähnliche Worte auf der Zunge lagen.
„Wir haben etwas gefunden. Eine Truhe, um genau zu sein. Sie befindet sich in der Maschine.“
Automatisch wanderten sämtliche Blicke zur Krake.
„Was ist mit dem Rest?“ Wilmington wirkte irritiert.
„Mehr gab es nicht“, sagte Adams. „Wir haben den Meeresgrund Yard für Yard abgesucht. Aber abgesehen von einigem Geröll gab es nichts außer dieser Kiste.“
„Was für Geröll?“
„Abfälle, die man von anderen Schiffen über Bord gekippt hat. Selbst den Unrat haben wir durchsucht. Glauben Sie mir, da war absolut nichts von Bedeutung.“
„Was ist mit der Truhe?“, fragte ein Matrose.
„Ja, genau, was ist mit der Truhe?“, wollte auch der Rest wissen.
„Die war ganz schön schwer“, antwortete Adams.
„Ist es wirklich die Piratenkiste?“
„Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden“, sagte der Lord. Die Worte wurden mit Beifall begrüßt. Adams kletterte ins Innere und betätigte einige Hebel, während seine Kollegen zur Unterseite des Gefährts krochen, um einen breiten Gegenstand in Empfang zu nehmen und über das Deck zu schleifen.
Um mehr sehen zu können, drängte sich Harris zwischen den Matrosen hindurch. Einige knurrten verärgert, wichen aber zurück, sobald sie ihn erkannten. Die Truhe stand nur noch einen knappen Yard von ihm entfernt und wurde nicht nur von Lord Wilmington aufmerksam begutachtet. Von hinten drängelte die Besatzung heran, sodass Harris die Ellenbogen einsetzte, um seine Position zu behaupten.
„Ruhig, meine Herren!“, rief Nicoll mit mahnender Stimme. Harris entdeckte ihn auf der gegenüberliegenden Seite. Vermutlich bedauerte er es, den Unterwasserfund nicht ins Steuerhaus transportiert haben zu lassen.
Wie aus dem Nichts zauberte Adams ein Stemmeisen hervor und setzte es am Verschluss der Truhe an. Das aufgeweichte Holz brach und das Vorhängeschloss polterte zu Boden. Als Lord Wilmington die Kiste öffnete, ging ein Raunen durch die Menge. Auch Harris hielt seine Aufregung nur mühsam im Zaum. Unzählige Goldmünzen funkelten ihn an, dazu goldene Trinkbecher und Schmuckstücke.
„Alter Schwede“, staunte Nicoll.
„Das wird dem Grimmigen Jan überhaupt nicht gefallen.“ Wilmington tauchte die Hand in die Goldstücke. Eine Münze fiel aus der Truhe und rollte in die Menge. Unverzüglich stürzte sich ein Dutzend Matrosen darauf.
Harris beachtete sie kaum. Die Truhe selbst interessierte ihn deutlich mehr. Der Kistenboden war mit verlöteter Bleifolie ausgekleidet und die Innenseite zusätzlich mit Papier beklebt worden. Vermutlich hatte man es mit Firnis überzogen, um es wasserundurchlässig zu machen. Reichlich viel Aufwand für Goldmünzen, die ohnehin nicht rosten, dachte er verwundert.
Wilmington zog zuerst einen vergoldeten Sextanten, dann einen mit Edelsteinen besetzten Armreif heraus. Nichts davon interessierte Harris. Er schaute allerdings auf, als Wilmington ein ledernes Bündel zutage förderte.
„Was ist das?“, fragte der Kapitän.
Wilmington antwortete nicht, sondern war damit beschäftigt, die Schnur um das Bündel zu lösen. Nicolls Taschenmesser half ihm dabei. „Ein Buch“, stellte er fest. Harris sah, dass die Seiten mit handschriftlichen Zeilen gefüllt waren.
„Offenbar ein Tagebuch“, vermutete Wilmington. „Nein, ein Physikbuch. Hier ist von Archimedes und den Hebelgesetzen die Rede. Und dort geht es um Kinematik und Dynamik. Ich glaube, das ist eher etwas für Sie, Herr Ingenieur.“
Irritiert streckte Harris die Hand aus. Doch so schnell wollte sich der Lord nicht von dem Buch trennen.
„Was, beim Barte Neptuns, hat der Grimmige Jan mit Physikaufzeichnungen zu schaffen?“, fragte Nicolls.
„Vielleicht verstand er nicht, worum es in den Zeilen ging“, überlegte Wilmington. „Schließlich war er ein Deutscher und alles ist auf Englisch verfasst. Er dachte beim Anblick der vielen Formeln und Gleichungen wahrscheinlich, er hätte den Heiligen Gral gefunden.“
„Oder es besaß persönlichen Wert für ihn“, warf Nicoll ein. „Das sollten wir uns genauer anschauen.“
„Am besten übernehmen Sie das, Mister Harris.“ Wilmington reichte ihm das Werk.
„Was meine Mannschaft betrifft“, rief der Kapitän. „Sie haben genug gesehen, meine Herren. Alle zurück auf ihre Posten. Wir veranstalten hier schließlich kein Teekränzchen.“
Maulend setzte sich die Menge in Bewegung. Wer davon letztendlich die Münze gefunden hatte, wusste Harris nicht. Zu sehen war sie jedenfalls nicht mehr.
„Die Truhe bringen wir am besten ins Steuerhaus“, schlug Nicoll vor. „Da haben wir genug Ruhe und Licht, um alles zu überprüfen. Die Dämmerung setzt bald ein.“
„Eine hervorragende Idee.“ Wilmington verschloss die Kiste und gab den Tauchern ein Zeichen, sie zu tragen. Harris beobachtete sie einen Moment lang, widmete sich dann aber dem Buch in seinen Händen.
Auf der ersten Seite stand, dass der Verfasser ein gewisser Dr. Henry Curton war. Auf Anhieb sagte ihm der Name nichts. Ein Gelehrter in Sachen Physik dürfte er folglich nicht sein. Dennoch beschäftigte er sich ausgiebig mit den Grundlagen der Mechanik. Allgemein bekannte Prinzipien und Gesetze wurden erläutert. Nichts wirklich Neues oder Grenzwertiges. Harris kam es vor, als hätte jemand Daten aus einem Lehrbuch kopiert. Irritiert überblätterte er die nächsten Seiten, bis eine Art Tagebuch begann. Wie passte das ins Bild?
Ein Keuchen riss ihn aus den Gedanken. Er schaute auf und sah, wie die Taucher die schwere Truhe zum Steuerhaus hinaufbuckelten. Mit jedem Schritt schienen sie mehr in die Knie zu gehen.
„Nun mal nicht so langsam, meine Herren“, rief der Kapitän. „Haben Sie heute Morgen nicht gefrühstückt oder ist Ihnen Ihre Kraft auf dem Meeresboden verloren gegangen?“
Adams ächzte mühsam. Die anderen beiden fletschten die Zähne. Lächelnd schritt Lord Wilmington voran und öffnete die Kabinentür, damit die Männer ohne Probleme eintreten konnten. Doch stattdessen drängte sich zuerst Nicoll ins Steuerhaus. Die Männer stöhnten, sagten aber nichts.
Kaum hatten sie die Kabine betreten, ließen die Taucher die Kiste zu Boden sinken und streckten sich. Bei Adams knackte es höchst bedrohlich im Rücken.
„Ich wusste, Sie würden was finden“, rief Kartograph Stafford und kam, um die Truhe zu begutachten. „Gott ist immer bei denjenigen, die über sich hinauswachsen.“
„Sie und Ihre Predigersprüche.“ Barbicane trat vor die Kiste. Seinem Blick nach zu urteilen, überlegte er vermutlich, ob er das Fundstück auch hätte allein tragen können.
„Zumindest hat er Recht, was unser Glück betrifft“, widersprach Wilmington. Nebenbei öffnete er den Verschluss und fuhr ein weiteres Mal durch die Goldmünzen. „Dies scheint eine der gesuchten Piratenkisten zu sein. Von anderen Schätzen weiß ich an diesem Breitengrad nichts.“
„Merkwürdig ist nur, dass der Grimmige Jan immer von mehreren Kisten sprach.“
„Möglicherweise war das reines Wunschdenken.“ Adams tupfte sich die Stirn mit einem Stofftaschentuch ab. „Das Halunkenpack ist dafür bekannt, gern zu übertreiben. Auf dem Meeresgrund befanden sich jedenfalls keine weiteren Truhen.“
„Dafür ist diese umso voller.“ Nicoll schien seinen Blick kaum von den Münzen abwenden zu können. Auch Barbicane und Stafford gingen beinahe die Augen über. Sie jauchzten und hätten den Schatz sicher gern selbst berührt.
Harris hingegen stand nach wie vor unschlüssig da. Seiner Haushaltskasse hätte ein solcher Fund zweifellos gutgetan. Dennoch stand außer Frage, dass er auch nur einen Penny davon sah. Außerdem galt es, deutlich wichtigere Dinge zu klären. Allem voran, was es mit dem ominösen Buch auf sich hatte. Zuvor wollte er sich aber noch bei einer anderen Sache vergewissern. „Gab es während des Tauchgangs Komplikationen?“
Irritiert schaute Adams ihn an. Ist das im Moment nicht unwichtig?, schien sein Blick zu fragen. „Im Grunde genommen nicht. Das heißt, bis auf einmal, als sich Seegras in der Schraube verwickelt hatte.“
Erschrocken riss Harris die Augen auf, doch Adams winkte ab. „Einen Moment lang sah es eng aus, aber das Gras löste sich von allein und die Fahrt ging normal weiter. Davon abgesehen gab es keine besonderen Vorkommnisse. Die Instrumente und Anzeigen funktionierten alle einwandfrei. Sie haben da ganze Arbeit geleistet, Sir.“
Harris nickte dankbar. Gern hätte er ihm weitere Fragen gestellt, aber der Anblick des Goldes reizte Adams deutlich mehr. Selbst während der kurzen Ausführung hatte er kaum zwei Sekunden lang nicht dorthin geblickt.
„Was haben Sie denn da Schönes?“, fragte Percy Stafford neben ihm und lugte neugierig auf das Buch. Wilmington winkte ab. „Der alte Schinken lag ebenfalls in der Kiste. Offenbar ein Notiz- und Physikbuch.“
„Was sucht denn so etwas auf dem Meeresgrund?“, fragte Stafford.
„Meiner Meinung nach gehört es genau dorthin“, antwortete Nicolls lachend. Harris überhörte die Spitze und blätterte zu den ersten Seiten zurück, auf denen es um die Mechanik ging. Er wollte nicht, dass Stafford seine neugierige Nase in die anderen Aufzeichnungen steckte.
„Es werden eine Reihe von Gesetzen und Formeln aufgeführt. Entweder war der Pirat nebenbei Physiker oder er wusste nicht genau, was er in Händen hielt. Vermutlich hat er das Buch bei einem seiner Raubzüge erbeutet und nahm an, es wäre wertvoll.“
„Und, ist es das?“, fragte Stafford. Sein Blick unterschied sich kaum von dem Wilmingtons.
„Soweit ich bisher gesehen habe, nicht. Weder werden brisante Thesen aufgestellt noch gibt es ungewöhnliche Betrachtungsweisen. Es sind nur Fachtexte von und über Newton, Galilei und andere Koryphäen der Wissenschaft.“
„Ist das Buch sehr alt?“
„Nicht einmal das. Abgesehen davon sind es bloß private Aufzeichnungen eines Mannes, der sich für Physik interessierte. Wären es wichtige Abhandlungen eines Fachmanns, könnte man dem Buch einen gewissen Wert zusprechen, aber der Verfasser ist niemand, von dem ich je gehört habe. Und wie Sie wissen, meine Herren, beschäftige ich mich seit etlicher Zeit mit der Materie.“
Einen Herzschlag lang fühlte er sich schuldig, die anderen Aufzeichnungen nicht zu erwähnen, aber weder für Wilmington noch für jemand anderen im Raum dürfte es von Interesse sein.
„Also ist es im Grunde genommen wertlos?“, folgerte der Lord.
„So würde ich eine wissenschaftliche Abhandlung zwar nie bezeichnen, aber für Ihre Zwecke dürfte es wenig relevant sein. Mich hingegen weiß das Buch durchaus zu begeistern. Es ist, als würde ich in meinen alten Studienunterlagen schmökern.“
„Sie können es gern behalten, falls Sie darauf hinauswollten.“ Wilmington fuhr mit der Hand ein weiteres Mal durch die Münzen. „Ich bin hiermit deutlich besser bedient.“
Nicoll und Barbicane lachten, als wäre es ein grandioser Scherz. Banausen, dachte Harris, freute sich aber insgeheim, das Thema so geschickt gelenkt zu haben. Irgendetwas an diesem Buch war besonders, er wusste nur noch nicht, was.
Die Blicke sämtlicher Anwesenden waren inzwischen auf den Lord und die Schatzkiste fixiert. Selbst der allzu neugierige Percy Stafford war durch das Gold genug abgelenkt, dass Harris wieder bedenkenlos in dem Buch vorblätterte. Automatisch erhöhte sich dabei sein Herzschlag, als würde er etwas Verbotenes tun.
Nach den Physikgrundlagen begann der Autor damit, sich selbst vorzustellen. Die Sätze halfen, ein ungefähres Bild über den Mann zu bekommen, warfen aber gleichzeitig weitere Fragen auf. Zunächst ging es um die Kindheit in London, gefolgt vom Besuch einer Londoner Privatschule und seiner Zeit an der Universität, wo er Medizin und Philosophie studierte und mit den Lehren eines gewissen Franz Anton Mesmer in Kontakt kam. Besonders dessen Magnetismus animalis hatte es ihm angetan.
Plötzlich jedoch gab es einen Sprung innerhalb des Textes und nicht mehr Henry Curton war die Hauptperson, sondern ein offenbar gleichaltriger Mann, der mit seinem strengen Vater nicht klarkam und froh war, nach Beendigung der Schule nach Cambridge zu wechseln, um dort Ingenieurwissenschaften zu studieren.
Allein die Erwähnung der Universität hob Harris’ Mundwinkel. Und das nicht bloß, weil dies die Hochschule war, an der Isaac Newton studiert hatte. Der Mann ist mir schon sympathisch, fand er und dachte an seine eigene Zeit in Cambridge. An seinen Zimmernachbarn und daran, wie er seine spätere Frau kennengelernt hatte. Wie lang lag das zurück? Fünfundzwanzig Jahre? Eine Menge war seither geschehen und leider nicht nur Gutes. Aber dies waren weder der richtige Ort noch die richtige Zeit, um in die Vergangenheit abzutauchen.
Auch in den Aufzeichnungen ging es um die Studentenzeit. Der Zimmernachbar drängte den Studenten zum Ausgehen, bis sich dieser regelrecht vor ihm versteckte und in der Bibliothek oder in den nahe befindlichen Park zum Lernen zurückzog. Anders hätte er sein Studium sicherlich nie geschafft, obwohl ihn das Ingenieurwesen und alles Technische von jeher fasziniert hatten. Trotzdem war er froh über die Beharrlichkeit seines Zimmernachbarn, weil er so zwangsweise zu sozialen Kontakten kam, die er sonst sicher vernachlässigt hätte.
Das kommt mir alles bekannt vor, überlegte Harris.
Aus ihm nicht nachvollziehbaren Gründen fing Curton eine Seite weiter mit physikalischen Gleichungen über Ursache und Wirkung an und ging dann unvermittelt zu seinen eigenen Tagebuchaufzeichnungen über. Die abrupten Themenwechsel machten es schwer, den Notizen zu folgen. Vor allem, da es auf einmal um Krankenhausarbeiten in der Abteilung für Geisteserkrankungen und magnetische Experimente ging. Noch verzwickter wurde die Angelegenheit durch einen Satz am unteren Seitenende: Im Jahr 1837 begann ich, selbst zu mesmerisieren.
Dass mesmerisieren ein alter Ausdruck für hypnotisieren war, wusste Harris selbst als Laie. Soweit ihm bekannt war, wurden noch vor wenigen Jahren Hypnoseexperimente mit Magnetismus in Verbindung gebracht. Doch dies alles war nebensächlich. Viel bedeutender war die Jahreszahl.
Hatte Wilmington nicht gesagt, dass der Pirat vor hundertzwanzig Jahren in diesem Gewässer sein Unwesen getrieben hatte? Das Jahr 1837 lag jedoch erst dreiundfünfzig Jahre zurück.
Die Haare in seinem Nacken sträubten sich. Bevor er sich versah, hatte die Gänsehaut seinen gesamten Körper erfasst. Seine Gedanken versuchten eine Rechnung zu erstellen, wie Wilmingtons Aussage und die Aufzeichnungen in eine Gleichung passten. Vergeblich.
Spontan fielen ihm nur zwei mögliche Lösungen ein: Entweder erlaubte sich hier jemand einen Scherz. Oder die Kiste stammte definitiv nicht von Jan Peters. Aber wem gehörte sie dann und wie gelangte sie auf den Meeresgrund?
Sein Mund wurde trocken und für einen Augenblick war Harris hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, seine Erkenntnis den Anderen mitzuteilen, oder stillschweigend zu ergründen, welche Geheimnisse die Aufzeichnungen noch enthielten.
Die Neugierde überwog und er las weiter, wie der inzwischen zum Doktor promovierte Henry Curton einige Sitzungen schilderte, in denen er versucht hatte, verschiedenen Menschen bei ihren Problemen zu helfen. Curton vertrat die These, dass viele gesundheitliche Beschwerden vom Gehirn ausgingen und mit erlebten Dingen zusammenhingen, die der Geist noch nicht richtig verarbeitet hatte. Harris war zwar alles andere als ein Fachmann auf diesem Gebiet, fand jedoch, dass dies für 1837 eine ziemlich fortschrittliche Annahme war. Wurden diese Thesen nicht erst vor wenigen Jahren veröffentlicht?
Eine Seite weiter war wieder von dem Studenten in Cambridge die Rede und davon, wie er eine Frau namens Victoria kennengelernt hatte und mit ihr zusammen als studierter Ingenieur nach London gegangen war. Das kann nicht sein, durchzuckte es Harris, meine Frau hieß Victoria! Und ich ging nach dem Studium nach London. Sein Herzschlag raste. Von Minute zu Minute fühlte er sich unwohler. Hastig blätterte er zu den vorherigen Aufzeichnungen über den Ingenieur zurück. Die Angaben stimmten ebenfalls mit seinem Leben überein. Ein Zufall?
Einmal mehr überlegte er, ob sich hier jemand einen Scherz erlaubte. Aber er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Wilmington das Buch aus der Truhe genommen hatte. Und vor dem Tauchgang hatte sich mit Sicherheit keine Kiste in der Tauchmaschine befunden. Doch welche andere Erklärung gab es?
„Alles in Ordnung?“
Verunsichert schaute Harris auf und wusste im ersten Moment nicht, wer gemeint war. „Na, mit Ihnen“, sagte Stafford. „Sie sehen sehr blass aus. Wollen Sie sich setzen?“
Nun schauten auch die anderen Anwesenden in seine Richtung. Wilmington hörte auf, in der Truhe herumzukramen.
„Ja, alles bestens. Ich war nur in Gedanken. Es ging … um meine Tauchkonstruktion. Ob der Wasserdruck in der Tiefe Auswirkungen auf die Dampfmaschine hat. Das hatte ich vorher gar nicht beachtet.“
„Aber offensichtlich gab es keine Schwierigkeiten“, sagte Nicoll. „Alle drei Taucher sind unversehrt zurückgekehrt.“
„Ja, alles bestens“, pflichtete Adams sofort bei. „Ihre Maschine hat geschnurrt wie ein Kätzchen.“
„Sie machen sich zu viele Sorgen“, meinte Wilmington. „Man muss nicht immer die schlimmste Möglichkeit in Betracht ziehen. Freuen Sie sich einfach, dass alles geglückt ist. Ich habe meinen Schatz und Ihre Dampf-Krake hat funktioniert.“
„Vermutlich haben Sie Recht.“ Harris hoffte, das Thema damit abzuschließen. In derselben Sekunde erkannte er jedoch, welche Gelegenheit sich ihm bot. „Möglicherweise setzt mir auch meine Seekrankheit zu. Oder es ist die Aufregung. Vermutlich ist es am besten, wenn ich mich in meiner Kajüte hinlege.“
„Tun Sie das“, riet Wilmington. „Ihre Ingenieurskunst brauchen wir beim Zählen der Münzen wahrscheinlich nicht.“
Nicoll und Barbicane nickten, einzig Kartograph Stafford schien nicht völlig überzeugt. Um die letzten Zweifel zu ersticken, atmete Harris einige Male schwer und ging mit langsamen Schritten zur Tür. Seine Hand krallte sich fest um das Tagebuch und er hoffte inständig, dass ihn niemand mehr auf die Aufzeichnungen ansprach.