INHALT

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. INHALTSWARNUNG
  8. TYCHOS PLAYLIST
  9. KAPITEL 1
  10. KAPITEL 2
  11. KAPITEL 3
  12. KAPITEL 4
  13. KAPITEL 5
  14. KAPITEL 6
  15. KAPITEL 7
  16. KAPITEL 8
  17. KAPITEL 9
  18. KAPITEL 10
  19. KAPITEL 11
  20. KAPITEL 12
  21. KAPITEL 13
  22. KAPITEL 14
  23. KAPITEL 15
  24. KAPITEL 16
  25. KAPITEL 17
  26. KAPITEL 18
  27. KAPITEL 19
  28. KAPITEL 20
  29. KAPITEL 21
  30. KAPITEL 22
  31. KAPITEL 23
  32. KAPITEL 24
  33. KAPITEL 25
  34. KAPITEL 26
  35. KAPITEL 27
  36. KAPITEL 28
  37. KAPITEL 29
  38. KAPITEL 30
  39. KAPITEL 31
  40. KAPITEL 32
  41. KAPITEL 33
  42. KAPITEL 34
  43. KAPITEL 35
  44. ENDE
  45. DANKSAGUNG

Über dieses Buch

Band 1 der Reihe »Food Universe«

Tycho ist als Nachfahrin alter Götter übermenschlich stark. Besonders, wenn sie Alkohol trinkt. Nicht schlecht, um sich als Barkeeperin in New York gegen zwielichtige Typen zu behaupten. Damit niemand von ihrer Herkunft erfährt, muss sie selbst ihren Kindheitsfreund Logan auf Distanz halten. Doch dann taucht die gutaussehende Grayson auf und behauptet, ihr Geheimnis zu kennen. Und als Tycho kurz darauf von einer Sekte entführt wird, die ihre Kräfte für sich beanspruchen will, bleibt ihr nichts anderes übrig, als Grayson zu vertrauen …

Über die Autorin

Marie Graßhoff, geboren 1990 in Halberstadt/Harz, studierte in Mainz Buchwissenschaft und Linguistik. Anschließend arbeitete sie einige Jahre als Social-Media-Managerin bei einer großen Agentur, mittlerweile ist sie als freiberufliche Autorin und Grafikdesignerin tätig und lebt in Leipzig. Mit ihrem Fantasy-Epos Kernstaub stand sie auf der Shortlist des SERAPH Literaturpreises 2016 in der Kategorie »Bester Independent-Autor«.

Roman

Für Reshi, Elodin und Eivor

Dieses Buch enthält explizite Darstellungen von Gewalt, Gewalt gegenüber Frauen, selbstverletzendem Verhalten, suizidalem Gedankengut und Alkoholkonsum.

Ihr entscheidet selbst, wie ihr damit umgeht. Sind diese Themen für euch schwierig oder besonders emotional aufgeladen, passt auf euch auf.

SOHN – Hard Liquor

Rangleklods – Dry Me Out

Apashe – Majesty

Ben Khan – Drive (Part 1)

Raveyards – The Pack

Sevdaliza – Marilyn Monroe

Breton – Got Well Soon

Mura Masa, Bonzai – What if I go?

Alby Daniels – This Dawn

Son Lux – Labor

Twenty One Pilots – Jumpsuit

Panama – It’s Not Over

TOKiMONSTA, Anderson .Paak, KRANE – Put It Down

BANKS – Warm Water (Snakehips Remix)

Rob Bailey & The Hustle Standard – Try ’n Hold Me Back

Hælos – Dust

Modeselektor, Thom Yorke – The White Flash

Flume, kai – Never be like you

Rangleklods – Broke

Passion Pit – Constant Conversations

Haywyre – Sculpted

WAS ICH IN DER NACHT SEHE

Diese Welt fürchtet mich nicht. Zwischen acht Milliarden Seelen gehen selbst Bestien in der Masse unter. Würden die Menschen sehen, wer ich wirklich bin, wäre New York ein Schlachtfeld, in dessen Rauchfahnen ich triumphierend auf den Leichen meiner Feinde stehe. Würden sie sehen, wer ich wirklich bin, würden sie Krieg gegen mich führen. Sie alle gegen mich allein.

Und sie würden verlieren.

Aber sie sehen mich nicht wirklich. Sie sehen eine junge Studentin in zerrissenen Strumpfhosen und einer viel zu dünnen Jacke, die ihre Schlüssel umklammernd durch die Upper West Side taumelt. Im Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos ist das Blut, das von meinen aufgeplatzten Fingerknöcheln in den Matsch fällt, kaum zu erkennen. Ich wickle die Ärmel meines Oberteils trotzdem enger um meine Hände, weil ich keine Spuren hinterlassen will.

Wenn ich morgen aufwache, werde ich froh sein, unsichtbar geblieben zu sein. Ich weiß es, ich habe es im Lauf der Zeit gelernt.

Es ist endlos anstrengend, mich Schritt für Schritt an der zweiundneunzigsten Straße entlang auf mein Wohnhaus zuzuschieben. Die Autos schlittern langsam durch den Schnee über die Kreuzung, als ich den Fußgängerweg am Broadway überquere. Ich sehe mich nicht nach ihnen um.

Nur noch ein Block.

Meine Beine fühlen sich tonnenschwer an, so sehr muss ich sie davon überzeugen, mich nur voranzutragen. Ich würde viel lieber rennen. Viel lieber auf etwas einschlagen, egal was. Viel lieber Verletzungen spüren, egal ob berstende Knochen unter meinen Fäusten oder meine eigenen, unter einem Aufprall von Körper auf Körper erschütternd.

Fast hoffe ich, dass eine der verlorenen Personen, die mir über den Weg laufen, sich herausnimmt, ein Wort zu mir zu sagen. Ein einfaches »Hey, Schätzchen« würde mir als Rechtfertigung reichen, mich selbst zu vergessen.

Aber mich spricht niemand an. Natürlich nicht. Selbst in der U-Bahn hat mich niemand eines zweiten Blickes gewürdigt.

Das Geräusch entfernter Sirenen erregt als gebürtige New Yorkerin meine Aufmerksamkeit nicht, aber es verschafft mir trotzdem ein kribbelndes Gefühl der Aufregung, mir vorzustellen, wohin die Polizei- und Krankenwagen wohl unterwegs sind. Mein alkoholgeschwängerter Atem wirft heiße Wolken in die Luft. Ich stelle mir vor, dass er das auch tun würde, wenn es nicht so klirrend kalt wäre. Das angestrengte Heben und Senken meiner Brust ist weniger Atmen als vielmehr etwas, das herauszubrechen droht. Wie ein Schrei, den ich nicht über meine Lippen lassen kann.

Ich versuche, mein Tempo zu beschleunigen, als mir klar wird, dass ich die Kontrolle wieder verliere. Aber meine Sicht ist zu verwischt, und mein Gleichgewichtssinn reißt mich ständig in die eine oder andere Richtung, sodass ich dem kaum entgegensteuern kann. Der Gestank der dampfenden Abflüsse und der vom Schnee bedeckten Müllbeutel, die an den Seiten der Gebäude aufeinandergestapelt sind, steigert die Übelkeit, die wie ein Kloß in meiner Kehle sitzt. Ich nehme sogar noch den metallisch dreckigen Geruch der U-Bahn wahr, der tief in meine Kleidung eingedrungen ist.

Um den Brechreiz zu unterdrücken, hebe ich meine Hand und presse die blutigen Fingerkuppen auf meine Lippen. Die rote Flüssigkeit ist noch warm.

Als ich das Blut rieche, spüre ich den Puls des Krieges durch meine Adern rauschen. Ich liebe es, wie mein Herzschlag sich beschleunigt, wie mein Atem heiß in der Nachtluft vibriert. Ich liebe die Erinnerung an Verzweiflung in fremden Augen und ehrliche Schreie aus erschütterten Kehlen. Ich kann die Vibrationen der Erde noch auf meiner Haut spüren, kurz bevor der Asphalt unter meinen Knöcheln zerbarst.

Ich brauche mehr davon. Ich brauche mehr. Jetzt.

Sobald sich dieser Gedanke manifestiert, reiße ich meine Hand fort und balle sie zur Faust.

So sehr bin ich auf meine Innenwelt konzentriert, dass ich fast an der Eingangstür des alten Hotels vorbeilaufe, in dem ich wohne. Als ich es realisiere, bleibe ich stehen und schaue die drei vereisten Treppenstufen an.

Die Menschen sehen mich nicht wirklich. Sie sehen eine knapp bekleidete Studentin, die so betrunken ist, dass sie dreimal auf die Fresse fällt, während sie versucht, ihre Haustür zu erreichen.

Ich kralle mich an das eiserne Geländer und schlittere mit meinen glatten Sohlen über die oberste Stufe, bis ich genügend Halt gefunden habe, um meinen Schlüssel ins Schloss zu rammen. Ich lasse mich gegen die Tür fallen, doch bevor ich einen Schritt in das Gebäude machen kann, fährt ein eiskalter Schauer über meinen Rücken, und ich erstarre.

Es kribbelt in meinem Nacken, und eine Hand an der alten Türklinke haltend wende ich mich um. Da ist etwas in der Dunkelheit zwischen den Gebäuden. Ich sehe es nicht, aber ich weiß es. Ein unbestimmtes Dunkel, verschmolzen mit der Schwärze der Nacht.

Für einige Sekunden starre ich in die Gasse zwischen den hohen Gebäuden. Dann löse ich mich von dem Anblick und trete endlich in den Flur.

Durchatmen. Das muss Einbildung gewesen sein, auch wenn die Härchen in meinem Nacken noch aufgerichtet sind.

Die Tür fliegt laut knarzend hinter mir ins Schloss, und das unangenehme Prickeln auf meiner Haut verschwindet sofort. Das flackernde Deckenlicht in der ehemaligen Empfangshalle brennt Tag und Nacht. Die Motten an den kühlweißen Neonröhren überleben hier sogar den Winter. Der Seitengang, der zum Fahrstuhl führt, dreht sich um sich selbst. Ich drücke auf den Knopf und schlafe fast im Stehen ein, während ich mich frage, ob ich über die Treppen nicht schneller im sechzehnten Stock gewesen wäre.

Als die Türen, von denen die mintfarbene Lackierung abblättert, sich endlich öffnen, kippe ich nach vorn und stütze mich am kühlen Metall ab. Die Innenwände des alten Aufzugs sind mit so viel Schmutz verkrustet, dass ein paar Blutspuren vermutlich gar nicht auffallen. Auch nicht auf dem feuchten Boden, wo sich Eisbrocken, Schlamm und Steine vermischen.

Der muffige Geruch des alten Teppichs schlägt mir entgegen, als ich nach einer weiteren Ewigkeit hinaustrete. Mich durch den Flur nach vorn schiebend, strenge ich mich an, nicht umzufallen, weil der ranzige Teppich so verlockend weich aussieht, und mich gleichzeitig nicht zu übergeben, weil irgendein abstoßend herzhafter Geruch aus einer Wohnung dringt. Nur noch ein paar Schritte.

Nur noch ein paar …

Ich kippe ein Stück nach vorn, kann mich aber an meinem Türrahmen abfangen. Beim ersten Versuch, das Schloss mit dem Schlüssel zu treffen, versage ich kläglich.

Warum fühle ich mich so beobachtet? Es interessiert sowieso niemanden, was ich treibe. Und es ist auch nicht das erste Mal, dass ich so nach Hause komme.

Als ich nach etlichen Versuchen endlich das Klicken vernehme und den Schlüssel herumdrehe, stolpere ich erleichtert nach vorn. Dieser Druck, der sich in meiner Brust gestaut hat, ist noch immer so deutlich zu spüren, dass er mich zu zerbrechen droht. Aber jetzt habe ihn nicht nur in mir, sondern auch in dieser Wohnung eingeschlossen.

Die alte Holztür fällt hinter mir ins Schloss. Ich fummle die rostige Sicherheitskette angestrengt in den Riegel und taste nach dem Lichtschalter. Nachdem die kühle Deckenlampe angesprungen ist, wanke ich zu meiner kleinen Kochecke. Im Schrank unter der Spüle steht ein Glas mit Scherben, aus dem ich, eine Hand an der Anrichte festgeklammert, eine herausziehe.

Ich halte die linke Hand über das Waschbecken, setze die Scherbe in der Innenfläche an und drücke zu. Der Schmerz durchfährt mich vom Scheitel bis in die Sohle, als ich das Glas über die weiche, helle Haut ziehe.

Nicht zu tief, nicht zu tief, ich muss die Hand noch benutzen! Aber Himmel, der Schmerz fühlt sich so gut an, dass meine Knie weich werden und ich ein Stück am Küchenschrank hinabsinke, mich gerade so an der Anrichte halten kann, während das Blut den Abfluss hinunterrinnt.

Als die erste Welle vorüber ist, lasse ich die Scherbe fallen. Sie hat an einigen Stellen meine Finger der rechten Hand verletzt. Ich habe es gar nicht bemerkt.

Es gelingt mir, mich wieder aufrechter hinzustellen, um dem Blut zuzusehen, das in die Spüle läuft. Tropfen für Tropfen, nahezu meditativ. Und es riecht so gut.

Langsam führe ich die Hand an mein Gesicht, schließe die Augen und fahre mir von der Stirn bis ans Kinn. Die Feuchtigkeit auf meiner brennenden Haut fühlt sich nach Geborgenheit an. Ich spüre die Vergangenheit darin. All die Gewalt, die Zerstörung, den Sex, die Musik.

Ich starre eine Weile in das alte Waschbecken, bevor meine Knie endgültig nachgeben und ich mich mit letzter Kraft umdrehe, um mich an die kleine Küchenzeile zu lehnen.

Die Hand auszuwählen war keine gute Idee. Wie rechtfertige ich das morgen vor Logan? Er wird mir nicht glauben, dass es schon wieder ein Missgeschick in der Bar war.

Und wie bin ich eigentlich nach Hause gekommen? War ich nicht gerade noch in Harlem? Was habe ich getan? Ist jemand ums Leben gekommen?

Ich schaue auf meine Finger hinab und denke für einige Sekunden darüber nach. Nein. Nein, ich glaube nicht. Daran würde ich mich erinnern.

Aber ich erinnere mich an … Erde. Rohrleitungen. Autosirenen. Ich werde es morgen in den Nachrichten sehen.

Mein Herzschlag beruhigt sich langsam, als würde die Dunkelheit mit meinem Blut aus meinem Körper fließen. Sie macht Platz für klarere Gedanken. Den Gedanken, dass ich es vermutlich nicht mal mehr schaffe, aufzustehen, um mich ins Bett zu legen, obwohl es nur wenige Schritte dorthin sind. Den Gedanken, dass ich auf Logans Nachrichten antworten sollte, wenn ich vermeiden möchte, dass er hier morgen auf der Schwelle steht.

Und den Gedanken, den ich eigentlich in der hintersten Ecke meines Bewusstseins verschließen wollte. Dass ich mir wünsche, jemand wäre hier.

Jemand könnte …

Wie von allein gleitet mein Blick von meinen Handflächen zum Tisch in der anderen Ecke meiner winzigen Wohnung. Hinter einem halbleeren Pizzakarton steht ein gerahmtes Foto. Ein kleines Mädchen sitzt auf dem Schoß seines Vaters. Gemeinsam mit seiner Mutter und Großmutter grinst es in die Kamera. Die Erwachsenen halten das Kind so fest im Arm, als könnte ihre Bindung niemals zerstört werden. Als würden sie für immer da sein, um es zu beschützen.

Ich schließe die Augen, habe nicht einmal die Energie, um aufzustehen und das Bild umzudrehen. Nachts ist es so viel schmerzvoller, an meine Eltern zu denken, als am Tag.

Was ist aus mir geworden? Ich denke nicht, dass meine Familie gewollt hätte, dass es so weit kommt. Dass sie gutheißen würde, was ich tue und wer ich bin.

Andererseits ist sie nicht mehr hier.

Ich bin allein.

Mein Atem beschleunigt sich wieder, aber nun fühlt es sich an wie eine Last, die auf meine Lunge drückt. Ich kann nicht mehr atmen, so sehr versuche ich, gegen den Kloß in meinem Hals anzukämpfen. Wenn ich mich jetzt verliere … wenn ich jetzt das Haus verlasse, um der Welt zu zeigen, was ich wirklich bin, wäre das wirklich so schrecklich, wie ich befürchte? Es gäbe kein Zurück, aber vielleicht brauche ich genau das: keinen Ausweg mehr. Ein finaler Ausbruch aus diesem Gefängnis, das ich selbst geschaffen habe.

Darauf läuft es doch sowieso hinaus, oder? Ich werde es nicht ewig in mir behalten können. Das ist keine Frage danach, ob es passiert, sondern wann.

Also … warum nicht jetzt? Ich … ich würde so gern einfach loslassen.

Einem Impuls folgend taste ich mit zitternden Fingern nach meinem Handy und ziehe es aus der kleinen Tasche, die um meinen Körper geschlungen ist. Mir ist nicht danach, aber im Laufe der Jahre habe ich diese Bewegung nahezu automatisiert. Als wäre sie etwas, das mein Körper automatisch ausführt, wenn es zu eskalieren droht.

Die Panzerglasfolie ist von oben bis unten zersplittert, doch davon abgesehen scheint es noch zu funktionieren. Unter den Splittern zeigt mir der Startscreen Dutzende verpasster Nachrichten an. Ich kneife die Augen zusammen, um zumindest grob zu erkennen, wovon sie handeln. Anfragen für Lerngruppen, Partys, unwichtig … und Logan.

Logan, 12:58: Hey, wie geht’s dir?

Logan, 01:04: Wie war deine Schicht?

Darauf kann ich morgen antworten. Ich schiebe die Nachrichten weg und klicke in die Favoritenliste in meinen Kontakten. Nur ein einziger Name ist dort eingespeichert:

Dr. Ethan Williams.

Ich klicke und hoffe, dass ich getroffen habe, als die verschwommene Anrufoberfläche sich öffnet. Ein Freizeichen. Meine Hände beben, und meine Arme fühlen sich plötzlich so schwer an, dass es mir kaum gelingt, das kleine Gerät an mein Ohr zu heben. Der Schmerz in meiner Hand ist auch nicht stark genug, um mir beim Fokussieren zu helfen.

Noch ein Freizeichen. Ich halte es nicht mehr aus. Ich halte es nicht mehr aus!

Ein weiteres Freizeichen, dann endlich aufgeregtes Keuchen. Ethans Stimme klingt endlos weit weg. Als stamme sie aus einer Welt, zu der ich gar nicht mehr gehöre.

»Tycho? Geht es dir gut?«

»Ich …« Mein Blick fällt auf die Spitzen meiner Haare. Auf die hellblonden Strähnen ist Blut getropft.

»Tycho?« Die Stimme kommt etwas näher.

»Ja, ich … Was?«

»Geht es dir gut? Warum hast du angerufen?« Er klingt noch außer Atem, dabei sollte er diese Anrufe mitten in der Nacht gewohnt sein. »Hattest du wieder eine Panikattacke?«

Ich spüre das Blut warm von meiner Handfläche aus über meine Finger rinnen. Es tropft an meinem Handy hinab in meinen Schoß und meine Haare. Sobald ich mich beruhigt habe, muss ich die Wunde versorgen. Aber noch tut der Schmerz zu gut.

»Was ist passiert?«

»Ich …« Ich atme tief durch und schließe die Augen. Mein Atem riecht nach Whiskey. Seine Stimme beruhigt mich, auch wenn ich ihm nicht die Wahrheit sagen kann. »Ich habe wieder an meine Eltern gedacht«, bringe ich über die Lippen.

»Wie fühlst du dich?«

Ich sinke ein Stück weiter hinab. Dieser alte, plattgetretene Teppich ist so weich, wie es ein Bett nicht sein könnte. »Nicht gut«, murmele ich.

»Wo bist du gerade?«

»In meiner Wohnung.«

»Bist du schon die ganze Nacht zu Hause?«

»Ich komme gerade von der Arbeit.«

»Und auf dem Weg hast du an deine Eltern gedacht?«

Ich zögere, bevor ich mir ein »Ja« abringe. Ich sinke weiter hinunter und stütze mich auf meinem Unterarm ab. Bevor ich einschlafe, sollte ich mich nach Pflastern umsehen. Aber nun, da der Knoten in meiner Brust sich langsam löst, bin ich auf einen Schlag so endlos müde, dass ich nicht weiß, ob ich es noch schaffe.

»Warum rufst du an?«

»Ich musste eine Stimme hören.« Ich atme angestrengt, als mein Kopf endlich den Boden berührt. »Ich glaube, ich verliere den Verstand.«

Ethan sagt etwas, aber ich kann es nicht mehr hören.