Inge Podbrecky

Unsichtbare Architektur

Bauen im Austrofaschismus: Wien 1933/1934–1938

Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte

Publikationsreihe des Vereins für Geschichte der Stadt Wien
Herausgeberin: Susanne Claudine Pils
Band 61

Inge Podbrecky

Unsichtbare Architektur

Bauen im Austrofaschismus: Wien 1933/1934–1938

 

 

 

© 2020 by Verein für Geschichte der Stadt Wien und Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

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ISBN 978-3-7065-6102-0

Satz und Umschlag: StudienVerlag/Maria Strobl – www.gestro.at

Titelbild: Blick in die Operngasse, Entwurf Eugen Kastner und Fritz Waage; Wien im Aufbau, Assanierungsbauten, Wien 135, 51.

Alle Abbildungen ohne Quellenangaben sind Fotos der Autorin.

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlungoder direkt unter www.studienverlag.at

 

 

 

 

 

Für wohlwollende Unterstützung beim Zustandekommen dieser Arbeit danke ich dem Archiv für Baukunst Innsbruck, Margarete Huber †, Wolfgang Huber, Pedro Kramreiter, Sabine Plakolm-Forsthuber, Martin Reinhart, Tamara Scarpellini, Georg Steinmetzer und Johann Zolles.

Meinem Mann Christian Mayer bin ich nicht nur für unsere inhaltlichen und methodischen Gespräche dankbar, sondern auch und vor allem für seine liebevolle Unterstützung, Ermutigung und Geduld während des Schreibvorgangs.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

DER DEUTSCHE KATHOLIKENTAG 1933 IN WIEN ALS AUFTAKT DIE PROTAGONISTEN BETRETEN DIE BÜHNE

DAMNATIO MEMORIAE UND „GEWOLLTE“ DENKMALE

Das „Heldendenkmal“ im Burgtor

1934. Aus den Augen, aus dem Sinn? Eilige Denkmalbeseitigungen

Die Dollfußdenkmäler

Katholisch-dynastische Denkmäler für Marco d’Aviano und Kaiser Franz Joseph

Resümee

KIRCHLICHE BAUTEN

Die Vorgeschichte: Wiener Sakralbauten der 1920er und frühen 1930er Jahre und der Einfluss der katholischen Reformbewegungen

Die „Gottesburgen“: Kirchenbau im Austrofaschismus

Evangelisch: Die Zwinglikirche

Resümee

ÖFFENTLICHE BAUTEN, INFRASTRUKTUR, STÄDTEBAU

Partei- und Staatsbauten

Schulgebäude

Straßen-, Brücken- und Bahnbauten

Städtebauliche Projekte außerhalb der Assanierungsgebiete: Maria am Gestade und der Platz vor der Votivkirche

Bahninfrastruktur

Telefonie- und Postbauten

Industriebau

Resümee

WOHNBAU

Hochbauten

Geschosswohnbauten

Familienasyle

Kommunale Geschosswohnbauten/Gemeindebauten

Assanierungsbau: Hochbauten

Zum Vergleich: Nicht geförderte Geschosswohnbauten

Flachbau

Assanierungsbau: Flachbauten/Zweifamilienhäuser

Zum Vergleich: Nicht-geförderte Eigenheime der 1930er Jahre

Siedlungen

Resümee

AUSSENREPRÄSENTATION: ÖSTERREICHISCHE BAUTEN UND AUSSTELLUNGEN IM AUSLAND

Ausstellungseinrichtungen im Ausland

Weitere Bauten im Ausland

Resümee

PERSONEN, KÜNSTLERVEREINIGUNGEN, INSTITUTIONEN

Resümee

„GIBT ES EINE AUSTROFASCHISTISCHE ARCHITEKTUR?“

Literatur- und Quellenverzeichnis

Literatur

Quellen

Liste der verwendeten Zeitungen und Zeitschriften

Abkürzungen

Personenregister

Einleitung

In der Tautenhayngasse 28 im 15. Bezirk steht ein recht wienerischer Wohnbau: Vier Trakte um einen geräumigen, begrünten Hof mit einem einzigen Zugang, an der Ecke ein flach gedeckter Turm (Abbildung 1).

Abbildung 1: Franz Wiesmann, Wien 17, Tautenhayngasse 28, 1936 (Foto Bundesdenkmalamt/Bettina Neubauer-Pregl)

Abbildung 2: Ludwig Davidoff, Elderschhof, Wien 2, 1930/1931 (Foto Bundesdenkmalamt/Bettina Neubauer-Pregl)

Die Fassaden sind schlicht, die Fenster einfach eingeschnitten, ohne Rahmungen. Ihr Rhythmus gliedert die Fassaden und zeigt Lage und Funktion der Räume dahinter an. Im Inneren liegen kleine Wohnungen mit Vorzimmer, Wohnküche, WC und Zimmer. Ein „Gemeindebau“ der 1920er Jahre, wie es scheint (Abbildung 2). Die Einordnung fällt leicht, denn die Wohnbauten des Roten Wien sind im Stadtbild so präsent, dass das Identifizieren sozialdemokratischer Gebäude mitsamt ihrer dahinter stehenden Ideologie geradezu reflexartig erfolgt: Die Geschlossenheit der Anlage gegen die umgebenden Straßen, die Enklave des abgeschirmten Hofs, die expressive Geste des Turms, die No-Nonsense-Fassaden, sogar die Inschrift „Erbaut von der Gemeinde Wien im Jahr 1936.“

Aber 1936? Mitten im Austrofaschismus erbaut, in einer Epoche, an deren Beginn die blutige Niederschlagung der Wiener Sozialdemokratie gestanden war, die zwischen 1919 und 1934 mehr als sechzigtausend Wohnungen in ihren städtischen Wohnbauten geschaffen hatte?

Wie ist das möglich? Der austrofaschistische Wohnbau sieht auf den ersten Blick aus wie jener seines politischen Gegners (Abbildung 2). Nach einer kurzen Verunsicherung sucht man nach Mitteln der Unterscheidung. Lassen sich am Gebäude Hinweise auf faschistische Inhalte finden? Und wenn ja, welchen Regeln folgen sie?

Die Architektur selbst bietet keinen einzigen Anhaltspunkt für eine Identifizierung als austrofaschistischer Bau. Allerdings war anstelle der heutigen Bauinschrift ursprünglich, wie ein historisches Foto zeigt, „Familienasyl St. Engelbert“ zu lesen (Abbildung 3). Diese Asyle waren ein Sondertyp des austrofaschistischen Wohnbaus, auf den später noch eingegangen wird.1 An der Turmfassade ist auch Kunst-am-Bau angebracht, eine Figur, wie das auch an sozialdemokratischen Gemeindebauten üblich war. Dargestellt ist hier aber ein Bischof, mit Mitra, Stab und einem Kind, eine sakrale Figur, wie sie im antiklerikalen sozialdemokratischen Wien nicht akzeptabel gewesen wäre (Abbildung 4):

Abbildung 3: Franz Wiesmann, Ehemaliges Familienasyl St. Engelbert (WIEN IM AUFBAU, Familienasyle)

Abbildung 4: Anton Endstorfer, Hl. Engelbert (Wien im Aufbau, Familienasyle, 21)

Es ist der heilige Engelbert, Namenspatron des 1934 ermordeten und im Austrofaschismus nahezu heiligmäßig verehrten Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß. Diese Figur ist das einzige Distinktionsmerkmal, das heute noch einen eindeutigen ideologischen Hinweis gibt: Der Austrofaschismus war ein Klerikalfaschismus, und der Dollfuß-Personenkult war Staatskult, getragen von Regierung, Kirche und Institutionen.

Der Entwurf zum Gebäude Tautenhayngasse stammte von Architekt Franz Wiesmann, der von 1914 bis nach dem Zweiten Weltkrieg im Stadtbauamt arbeitete und der bis dahin bereits sieben Gemeindebauten für das Rote Wien entworfen hatte, die sich formal nur wenig von unserem Gebäude unterscheiden.2

Erst durch das Wissen um das Distinktionsmerkmal der Bischofsfigur wird das Gebäude in der Tautenhayngasse als Produkt einer autoritären Ideologie erkennbar. Ansonsten wurde es im Gewand des verhassten politischen Gegners, der Sozialdemokratie, gestaltet. Angesichts der unübersehbaren Präsenz der roten „Gemeindebauten“ im Stadtbild sah sich das neue Regime zur Fortsetzung der Wohnbauaktivität mit eigenen Projekten gezwungen, die auf der Basis einer ideologischen Gegenposition konzipiert werden mussten.3

Zunächst eine wichtige Klarstellung: Der Austrofaschismus, auch als „Ständestaat“ bezeichnet, also die Periode zwischen der Ausschaltung des Parlaments 1933 und dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland im März 1938, wird nicht selten als ein Vorspiel zur Nazidiktatur beziehungsweise als eine Art lokale Variante interpretiert. Dies trifft keineswegs zu, obwohl Merkmale wie Antiparlamentarismus, Ablehnung der Demokratie und Antimarxismus beiden Regimen gemeinsam waren. Der Austrofaschismus war aber im Unterschied zum Nazifaschismus ein katholischer, fortschrittsskeptischer, ständisch organisierter und zwar deutschnationaler, aber zugleich österreichpatriotischer Faschismus, im „Sinne einer Einbeziehung eines in welchem Grade auch immer autonomen oder souveränen Österreich in eine deutsche Nation.“4 Im Inneren kämpfte der Austrofaschismus daher gegen zwei Gegner, die Sozialdemokratie und den Konkurrenzfaschismus der Nationalsozialisten; 1933 wurden NSDAP und Kommunistische Partei in Österreich verboten, 1934 die SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei).

Nach 1945 verschwand der Austrofaschismus aus der öffentlichen Debatte, nicht zuletzt wegen der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit der seinerzeit erbittert verfeindeten „roten“ und „schwarzen“ politischen Lager. Die Zweite Republik „begann ihre Erfolgsgeschichte mit einer Amnesie“.5 Seit damals wurden auch die Architekturgeschichte und die Präsenz und Permanenz der Bauten jener Zeit ausgeblendet, obwohl die Architekten des Ständestaats kontinuierlich bis lang in die Nachkriegszeit hinein bauten und entwarfen. Die Devise scheint nicht „Aus den Augen, aus dem Sinn“ gewesen zu sein, sondern „Aus den Köpfen, aus dem Sinn“, denn mitsamt der austrofaschistischen Periode wurde auch der Entstehungszusammenhang ihrer erhaltenen Gebäude vergessen: Sie existieren gewissermaßen inkognito und werden heute einfach nicht mehr als Repräsentanten ihrer Epoche erkannt, was umgekehrt deren Verdrängen weiterhin erleichtert. Diese Architektur mitsamt ihrer Konnotierung durch Kontextualisierung wieder erkennbar zu machen und damit ein Bewusstsein für jene Epoche und ihre kritische Rezeption zu schaffen, ist eines der Ziele dieses Buchs.

Abgesehen von vereinzelten früheren Arbeiten widmete sich die Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren dem Thema Austrofaschismus.6 Die Kunst- und Architekturgeschichte brauchte dazu deutlich länger. 1962 sprach der 1920 in Wien geborene Architekturhistoriker Eduard Sekler den 1930er Jahren zunächst eine nennenswerte österreichische Architekturproduktion überhaupt ab, mit dem Hinweis, er könne diesem „distasteful interval“ der österreichischen Geschichte nicht mit dem nötigen „dispassionate judgement“ begegnen.7 Noch lange danach gerieten Personen, die sich mit der Kunst autoritärer Systeme wissenschaftlich befassten, unter Rechtfertigungsdruck,8 sei es, dass ein moralisches Urteil über das politische System auf die Qualität der Kunstproduktion ausgedehnt wurde wie bei Sekler, sei es, dass angenommen wurde, ein solches Interesse könne nur auf Sympathie basieren (die primitivere Variante).

Es gab und gibt neben den jeweils vorrangig von der Forschung ausgewählten, bearbeiteten und erforschten Feldern und Themen andere, die aus den unterschiedlichsten Gründen im Hintergrund belassen werden und mangels Attraktivität vernachlässigt bleiben. Irene Nierhaus hat darauf hingewiesen dass eine „an der Genre-, Portrait- und Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts und an der Heimatkunst orientierte [künstlerische Produktion] in den zwanziger und dreißiger Jahren überall vorhanden [war]. Durch die Assoziation mit dem Faschismus, in dem sie zur Vertreterin von Kunst schlechthin hochschwappte, wurde diese Vorliebe vom kunsthistorischen Gedächtnis unterschlagen – obschon sie zum Ausstellungsbild des gesamten Zeitraums gehörte und in breitem Maß rezipiert wurde.“9 Ähnliches gilt noch immer für die österreichische Architektur der austrofaschistischen Epoche; das Bild der Wiener Architektur der Zwischenkriegszeit ist heute überwiegend eine Erfolgsgeschichte der Moderne bis 1932 (Eröffnung der Wiener Werkbundsiedlung), die parallel dazu weiter bestehenden konservativen Strömungen wurden von der Forschung weitgehend ausblendet.

Nur wenige Arbeiten haben sich überblicksartig und vorwiegend aus der Perspektive der Geschichtswissenschaften mit dem Bauen im Austrofaschismus befasst. Franz Baltzarek hat 1974 die Geschichte Wiens zwischen 1934 und 1938 anhand der Quellen aufgearbeitet und ist dabei auf wirtschaftliche und politische Aspekte des austrofaschistischen Bauprogramms der Hauptstadt eingegangen.10 Friedrich Achleitner hat in dem Text „Gibt es eine austrofaschistische Architektur?“ 1981 die Frage nach einem gemeinsamen künstlerischen Nenner der Architekturproduktion jener Jahre gestellt,11 und Barbara Fellers Diplomarbeit von 1991 verdanken wir eine umfassende ideologisch-politische Kontextualisierung der Wiener Bautätigkeit 1933–1938. Ein für die Aufarbeitung besonders wichtiges Ereignis war die 1994 von Jan Tabor organisierte Ausstellung „Kunst und Diktatur“ im Wiener Künstlerhaus, die erstmals die Kunst, Architektur und Kulturpolitik autoritärer Systeme vergleichend untersuchte. Im Katalog wurden die Schwerpunkte austrofaschistischen Bauens erstmals umfassend vorgestellt, und in der Folge entstanden mehrere monografische Arbeiten zu Großprojekten des Austrofaschismus, wie Georg Rigeles Bücher zu den Verkehrsbauten, ein unpubliziertes Manuskript der Kunsthistorikerin Sabine Plakolm-Forsthuber zu den Kirchenbauten12 und mehrere monografische Arbeiten zur „Seipel-Dollfuß-Kirche“ (eigentlich Neufünfhauser Pfarrkirche, Wien).13 Die Historikerin Lucile Dreidemy beschäftigte sich kürzlich in ihrer Untersuchung der Zeugnisse des Dollfuß-Mythos mit einigen Bauten jener Ära, und Matthias Trinkaus untersuchte die Wohnbaupolitik.14 Zuletzt behandelte der Historiker Andreas Suttner das Thema „Bauen im schwarzen Wien“.15 Einige typengeschichtlich Arbeiten, wie zum Beispiel Ulrike Zimmerls Diplomarbeit zu den Wiener Siedlungen aus 1998, thematisieren die entsprechende austrofaschistische Produktion, während Architektenmonografien wie etwa Wilfried Poschs Holzmeister-Buch oder Christa Harlanders Arbeit über Robert Kramreiter auf den politischen Aspekt der jeweiligen Viten und Werke nicht allzu prominent eingehen.16 Erst 2018 legte Birgit Knauer mit ihrer Analyse der Assanierungsbauten und ihres Kontexts eine kunsthistorische Detailstudie vor.17

Was bisher völlig fehlt, ist eine typenübergreifende kunst- beziehungsweise architektur-historische Untersuchung aus der Perspektive möglicher politischer Intentionen und Konnotationen sowie in der Folge eine Deutungsgeschichte der austrofaschistischen Architektur quer durch Typologien, Bauaufgaben und Institutionen. Dies will das vorliegende Buch leisten.

Dazu ist es nötig, Identifikationsmerkmale austrofaschistischer Architektur zu benennen. Diese könnten zum Beispiel in einem formalästhetischen Programm festgehalten worden sein, das ihre Merkmale definiert und Vokabel mit Sinn auflädt, denn der Machthaber ist es, der bestimmt, was ein Zeichen im Diskurs zu bedeuten hat. Im Idealfall bestünde ein Manifest, ein Manual zum Erkennen, Wiedererkennen und Interpretieren charakteristischer Merkmale. Auch andere ausformulierte Materialien, zum Beispiel Gesetze, Bauordnungen, Dokumente der Stadtplanung oder Förderungsrichtlinien, können Auskunft über programmatische Grundlagen geben.

Zur Frage eines ästhetischen Programms besteht in der bisherigen Forschung ein einhelliger Konsens, dass es ein solches nicht gegeben habe, wie es überhaupt eine verbindliche totalitäre Architektursprache nicht zu geben scheint: „Es existiert die weit verbreitete Meinung, dass ähnliche politische Regime eine ähnliche Kunst hervorbringen. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt als das.“18 Friedrich Achleitner schreibt, dass „es diese Ideologien [die Faschismen, d. A.] zu keinen architektonischen Programmen gebracht haben.“ Faschistische Bewegungen hätten wenig Zeit gehabt, ihre Architekturen ideologisch genau zu programmieren.19 Auch Barbara Feller stellt fest, dass es ein austrofaschistisches Architekturprogramm im Sinn einer Absichtserklärung nicht gegeben habe. „Vordergründig scheint das Bauen somit in der Ideologie des Austrofaschismus für die Selbstdarstellung wenig bedeutsam gewesen zu sein.“20 Hier sind historische Texte zur Kulturpolitik auf Aussagen zu überprüfen, die möglicherweise auch auf die Architektur anwendbar sind.

Gibt es kein Programm, sprechen die Regulierungsinstrumente, die die äußeren Bedingungen für das Bauen auf der Grundlage des politischen Systems festlegen, eine deutliche Sprache. In ihrer Schwerpunktsetzung fokussieren sie die Prioritäten des Regimes und die in der Folge getroffenen ideologisch motivierten Präferenzen, die einen Vorrang bestimmter Bauaufgaben und bestimmter gestalterischer Entscheidungen gegenüber anderen festlegen, zum Beispiel: Der 1934 gegründete und aus Mitteln der Stadt Wien dotierte Assanierungsfonds wurde geschaffen, um Neubauten anstelle von „verkehrsbehindernden“ und „ungesunden“ Altbauten zu fördern, eine Maßnahme, deren Vorbilder in den Assanierungsprojekten von Mussolinis Italien lagen, das bis 1936 als „Schutzmacht“ und Verbündeter Österreich auftrat. Hier haben politische Affinitäten unter Umständen auch formale Annäherungen zur Folge gehabt. – Eine baubehördliche Prüfung von Clemens Holzmeisters Projekt für ein Haus der Vaterländischen Front am Ballhausplatz ging mit formaler Kritik an der Gestaltung des Gebäudes im historischen Kontext des Platzes einher. Was wurde als passend, was als unpassend empfunden, und mit welcher Begründung? – Auch ein bundesweites Programm für den Straßenbau und -ausbau, das eine Förderung des Individualverkehrs und des Tourismus mit einer Glorifizierung der österreichischen Landschaft als patriotismusförderndes Element kombinierte, lässt Schlüsse auf Prioritäten zu, die im Sinn einer Ideologie interpretiert werden können. – Für die Außenrepräsentation Österreichs auf internationalen Ausstellungen mussten Entscheidungen getroffen werden. Wie wollte sich das Regime im Ausland präsentieren? All diese Bedingungen ergeben in Summe einen Subtext, der programmatische Rahmenbedingungen suggeriert.

Gestalterische und konzeptuelle Präferenzen lassen sich grundsätzlich an Gebäuden und Projekten ablesen. Welche Charakteristika treten zwischen 1933 und 1938 gehäuft oder wiederholt auf, wie sind sie kodiert, und wurden sie im zeitgenössischen Kontext auch abseits der standardisierten staatlichen Hoheitszeichen im intendierten Sinn verstanden? In diesem Fall sind nicht Texte, sondern die Bauten selbst die Dokumente, Medien im Sinn Michel Foucaults.21 Hier ist ein genauer Befund der Gebäude wichtig, denn eine Verkürzung auf allgemein für „faschistisch“ gehaltene Merkmale wie zum Beispiel große Dimensionen, Ordnung, Achsen und Symmetrie oder die Verwendung klassizistischer Formen ist ebenso unrichtig wie gefährlich.22 Ein Beispiel: Peter Behrens’ 1911 erbaute Deutsche Botschaft in St. Petersburg (Abbildung 5) wurde „formal und inhaltlich als Vorstufe für die NS-Architektur angesehen“.23

Abbildung 5: Peter Behrens, Deutsche Botschaft, Sankt Petersburg, 1911/1912 (historische Ansichtskarte)

Tatsächlich berichtete Behrens aber selbst, er habe den Bau kulturpolitisch an den Vorgaben des Deutschen Werkbunds orientiert, der damals auch international als Synonym für die künstlerische und kunstpolitische Elite Deutschlands und seine Vormachtstellung innerhalb der Avantgarde anerkannt war.24 Erst die Quellenkenntnis stellt in diesem Fall die ursprüngliche Konnotation richtig. Auch Josef Hoffmanns neoklassizistischer österreichischer Pavillon für die Kölner Werkbundausstellung 1914 war keineswegs „präfaschistisch“;25 eine solche Qualifikation ex post hätte eine faschistische Gesinnung beim späteren Mitläufer Hoffmann bereits im Jahr 1914 vorausgesetzt.

Von einer voreiligen Qualifizierung einzelner Elemente als „faschistisch“ wird daher abzusehen sein. Erst der Befund der Gebäude, der in der Folge nach typlogischen Kriterien durchgeführt wird, kann Auskunft über eventuelle Symbolbedeutungen geben. Es ist also nötig, Gemeinsamkeiten an den austrofaschistischen Bauten festzustellen, sie zu benennen, Häufungen, aber auch Vermeidungen festzustellen, um gegebenenfalls eine „gebaute Ideologie“ nachzuweisen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die zeitgenössische Rezeption von Architektur durch die Medien; sie gibt Auskunft darüber, ob und wie das gängige architektonische Zeichensystem im Entstehungs- und historischen Rezeptionskontext verstanden wurde. In diesen Zusammenhang gehört auch die zeitgenössische ideologische Interpretation der 1933 bereits konstituierten internationalen architektonischen Moderne: Wie modern wollte und konnte sich ein konservativ-autoritäres politisches System präsentieren, und was waren eventuelle gestalterische Alternativen?

Eine weitere Möglichkeit besteht in der Überprüfung der an der Architekturproduktion beteiligten Personen. Fehlt ein formales Programm, kommt dem Gestaltungsanteil, den die Planer selbst auf der Basis ihrer Ausbildung, ihrer Erfahrung, ihres beruflichen Werdegangs und vielleicht auch ihrer persönlichen politischen Einstellung einbringen, umso höhere Bedeutung zu. Die meisten im Austrofaschismus beschäftigten Architekten (Architektinnen waren sehr rar und erhielten keine großen offiziellen Aufträge) standen 1933 bereits mitten in der Praxis – allen voran Clemens Holzmeister, der mit dem Krematorium einen wichtigen sozialdemokratischen Identifikationsbau entworfen hatte und schon 1933 als Parteigänger des sich faschisierenden Regimes und bald auch als politischer Funktionär aktiv wurde. Kein Preisgericht, keine Jury, keine Kommission sollte bis 1938 ohne ihn auskommen.26 1938 entzog sich Holzmeister den Nazis durch Verbleib in der Türkei, so dass er nach Kriegsende in Österreich als politisch unbelastet an seine früheren Erfolge anschließen konnte. – Eine so lange Permanenz über mehrere politische Systeme hinweg war nicht unbedingt eine Ausnahme: Robert Kramreiter, ein enger Mitarbeiter des deutschen Kirchenbauers Dominikus Böhm, brachte – ähnlich wie Holzmeister – seine deutschen Erfahrungen nach Österreich mit, wo er vorwiegend im Kirchenbau tätig war. 1938 ging er nach Spanien, wo er für die Botschaft des Deutschen Reichs baute, um nach 1945 wieder im österreichischen Kirchenbau Fuß zu fassen.27 – Viele Mitarbeiter des Wiener Stadtbauamts, die dort teilweise noch vor 1918 eingetreten waren, blieben bis nach 1945 in ihren Positionen zum Beispiel Franz Wiesmann, Erich Leischner und Karl Ehn.28 Zahlreiche Architektenkarrieren, die im Austrofaschismus begannen, verliefen nach 1945 höchst erfolgreich – etwa jene von Georg Lippert. – Viele fortschrittliche Architekten, meist jüdischer Herkunft und/oder politisch links orientiert, verließen in den 1930ern das Land, als sich eine ohnedies latent vorhandene antisemitische Stimmung immer deutlicher und drohender breit machte.29 Josef Frank, 1932 mit der Wiener Werkbundsiedlung auf dem Zenit seines Erfolges und spiritus rector der fortschrittlichen Fraktion des Österreichischen Werkbunds, ging 1933/1934 nach Schweden, hielt aber noch Kontakte nach Österreich. „Haus und Garten“, ein Einrichtungshaus, das Frank zusammen mit Oskar Wlach in Wien betrieb, bestand noch bis 1938 und wurde dann „arisiert“.

Bei der Architekturproduktion der Jahre 1933–1938 soll differenziert werden zwischen der vom Staat, von der Einheitspartei Vaterländische Front (VF) und den Institutionen gewollter Architektur und solcher, die auf dem privaten Sektor produziert wurde. Gibt es deutliche formale Unterschiede? Kommt es zu Überschneidungen und Überlagerungen, zum Beispiel durch die Architektenpersönlichkeiten? Wurde die Vergabe von Förderungen von bestimmten Parametern abhängig gemacht? Einen besonderen Bereich bildet die Kirche als Auftraggeberin. Sie hatte sich sehr zu ihrem eigenen Vorteil vom Staat vereinnahmen lassen. Ihre Projekte wurden selten staatlich finanziert, dienten aber als willkommener Hintergrund für Staatsaktionen und Präsenz der Politik. – Über die gebaute Architektur hinaus gab es eine Reihe unrealisierter Projekte und auch eine Flut an ephemeren Aktionen, sorgfältig inszenierte Massenveranstaltungen wie den Katholikentag 1933 oder das Dollfuß-Begräbnis, außerdem kirchliche und profane Prozessionen, Umzüge, Feste etc., deren minuziöse Gestaltung und Regie ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur visuellen Kultur des Austrofaschismus lieferte.

Zur Beziehung zwischen Politik und Kunst in autoritären Systemen hat Susan Sontag angemerkt, dass nicht die Kunst politischen Zwecken untergeordnet wurde, sondern dass „die Politik sich die Rhetorik der Kunst aneignete.“30 Das stimmt jedenfalls für das faschistische Italien, wo die Politik die Architektur als Staatskunst für sich zu vereinnahmen verstand.31 In der Türkei bediente sich die Regierung mit Clemens Holzmeisters fertig konzipierter Staatsarchitektur eines programmatischen Kulturimports aus Mitteleuropa.32 – Sontags Annahme setzt die Existenz einer verständlichen künstlerischen Rhetorik voraus. Am oben gezeigten Wiener Beispiel, dem Wohnbau in der Tautenhayngasse, war dies allerdings die formale Rhetorik des politischen Gegners Sozialdemokratie. Absicht oder Verlegenheit? Einzelfall oder Regel? Hat diese Rhetorik die älteren sozialdemokratischen Inhalte kommuniziert, oder wurde sie mit den geringfügigen Veränderungen (Schrift und Figur) als austrofaschistisch verstanden?

Nach einer Untersuchung der oben aufgezeigten Fragen in typologischen Blöcken will diese Arbeit Friedrich Achleitners Frage, ob es denn eine austrofaschistische Architektur überhaupt gegeben hat, beantworten. Diese Antwort ist wichtig, denn sie kann einerseits eine von der Kunstgeschichte weitgehend vergessene Epoche wieder sichtbar machen und andererseits einen Beitrag zur komplizierten Problematik einer Architektur autoritärer Systeme liefern. Wichtig ist die Antwort auch, weil die Architektur der 1930er Jahre auch Hinweise auf mögliche Kontinuitäten (aber auch Brüche) aufzeigen kann, die in die zweite Nachkriegszeit hinein reichen.

Historischer Hintergrund33

Seit Mitte 1921 wurde die junge Republik Österreich von konservativen Koalitionen regiert, während die Bundeshauptstadt Wien schon seit 1919 sozialdemokratisch war. Wien konnte bis 1933/1934 ein umfangreiches soziales, politisches und kulturelles Reformprogramm umsetzen, das insbesondere durch seine überragende Wohnbauleistung Weltgeltung erlangte.34 Das Verhältnis zum Bund war spannungsreich, die Gegensätze zwischen urbaner, sozialdemokratisch dominierter Großstadt und katholisch-agrarisch-konservativer Landbevölkerung allzu groß. Auf Bundesebene gewannen im Lauf der 1920er Jahre die rechten paramilitärischen Heimwehren oder Heimatschutz-Verbände35 zunehmend politischen Einfluss. Sie waren nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie zur Verhinderung der Bildung von Räterepubliken und zur Grenzsicherung entstanden. Als Gegenpol dazu gründeten die Sozialdemokraten den Republikanischen Schutzbund. Die sich radikalisierende politische Stimmung eskalierte 1927 mit den Julidemonstrationen gegen das Urteil im Schattendorf-Prozess, bei dem Angehörige einer Heimwehrgruppe freigesprochen wurden, die eine sozialdemokratische Versammlung beschossen, zwei Personen (darunter ein Kind) getötet und fünf Personen verletzt hatten. In den Auseinandersetzungen, in denen die Polizei mit Waffen gegen die DemonstrantInnen vorging, verloren 84 Protestierende und fünf Polizisten ihr Leben. 1929 unterstrich der christlichsoziale Bundeskanzler Seipel die Bedeutung der Heimwehren für die Befreiung der Demokratie „von der Parteienherrschaft“ und deutete damit bereits die Hoffnung auf ein Ende des Parteienstaats an.36 1930 formulierten die Heimwehren im „Korneuburger Eid“ ihre Absage an die parlamentarische Demokratie und ihre Hoffnung auf einen autoritären, ständisch organisierten Führerstaat. In Folge der Weltwirtschaftskrise verschlechterte sich um 1931 die wirtschaftliche Situation in Österreich. Durch die Annahme der Lausanner Anleihe 1932 akzeptierte Österreich neuerlich ein Anschlussverbot an Deutschland.

Im Juni 1932 sprach der Justizminister und spätere Kanzler Kurt Schuschnigg bereits eine Parlamentsausschaltung an.37 Benito Mussolini, an einem Pufferstaat zwischen Italien und Nazideutschland interessiert, förderte die Faschisierungsbestrebungen in Österreich, versorgte die Heimwehren mit Waffen und forderte Dollfuß zur Zerschlagung der Sozialdemokratie auf.38

Am 4. März 1933 traten während einer Sitzung im österreichischen Parlament alle drei Parlamentspräsidenten zurück. Diese Blockade nützte die Regierung Dollfuß zur Anwendung von Notverordnungen auf der Basis des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes von 1917. Damit begann in Österreich der von Konservativen und Heimwehr erhoffte politische Umbau, der alles verändern sollte und der dennoch nicht durch die Revolution einer oppositionellen Gruppe, sondern durch die Kontinuität der Macht geschah: Die amtierende demokratisch gewählte Regierung, bestehend aus Christlichsozialen, Landbund und Heimatblock, baute das Land mit Unterstützung der Heimwehren von einer parlamentarischen Demokratie zur autoritären Diktatur um. Hilfestellung dabei gaben Exekutive und Kirche. Harmonisierung statt Klassenkampf, die Ausschaltung des Mehrparteiensystems und sein Ersatz durch die vom Vorbild des italienischen Partito Nazionale Fascista angeregte Einheitspartei Vaterländische Front, der Katholizismus als Staatsreligion, der Rückgriff auf die mittelalterliche berufsständische Gesellschaftsordnung und ein fanatischer Antibolschewismus bildeten die ideologische Basis eines Regimes, das als einziges in Europa auch einen Konkurrenzfaschismus im eigenen Land zu bekämpfen hatte, nämlich den des Nationalsozialismus.39 Im September 1933 hielt Bundeskanzler Dollfuß seine programmatische „Trabrennplatzrede“, in der er die zentralen Themen der nächsten Jahre ansprach: Antiliberalismus, Antimarxismus, Antidemokratismus, Antinazismus, Deutschtum, Katholizismus, Einparteienstaat und Umbau zu einer berufsständischen Gesellschaftsordnung nach Vorbild der Zeit vor der Aufklärung.40 Nach dem italienischen Vorbild wurde diese Rede als „österreichischer Marsch auf Rom“ apostrophiert.41 Zugleich fand in Wien der Deutsche Katholikentag statt, so dass die Kirche als Stützpfeiler des Regimes in einer Art Doppelveranstaltung in den Vordergrund gestellt wurde, obwohl man nicht müde wurde, den unpolitischen Charakter des Katholikentags zu betonen.

Während die Faschisierung auf Bundesebene 1933 voranschritt, blieb Wien zunächst für fast ein Jahr weiterhin die verhasste rote Enklave im schwarzen Österreich. Wien war aber auch Bundeshauptstadt und geriet damit in die paradoxe Situation, 1933 einige der ersten, wichtigsten und richtungsbestimmenden Manifestationen der sich faschisierenden Regierung erleben zu müssen.

Die endgültige und blutige Ausschaltung der Sozialdemokratie erfolgte mit dem Bürgerkrieg vom 12. Februar 1934 durch Polizei, Bundesheer und Heimwehren. Wiener Gemeindebauten wurden beschossen, etwa 1.600 Menschen starben. Bürgermeister Karl Seitz wurde vom Rathaus weg verhaftet, die Institutionen und Medien der Sozialdemokratie sowie die Partei selbst aufgelöst und verboten, Protagonisten des Widerstands gefangengesetzt oder standrechtlich ermordet.42

In Wien wurde bereits am 13. Februar 1934 der Christlichsoziale Richard Schmitz als Bürgermeister eingesetzt; schon am 31. März, ein Monat vor der neuen Bundesverfassung, wurde eine neue ständische und autoritäre Stadtverfassung erlassen. Schmitz hielt eine Antrittsrede, in der er einen zentralen Bezugspunkt des Austrofaschismus thematisierte: Er wollte an die Epoche des christlichsozialen Bürgermeisters Karl Lueger anschließen, die in der Geschichte der Stadt Wien „am hellsten erstrahlte“.43 Die Stützen des Regimes waren der bürgerliche Mittelstand, die katholische Kirche, das Militär und die Heimwehren.44 Rasch wurde eine Stadtvertretung eingesetzt und ein Investitionsprogramm beschlossen, das unter anderem den Bau der Höhenstraße, der Wientalstraße und ein Assanierungsprogramm umfasste, das die bürgerliche Mittelschicht, kleine Industrielle, Kleingewerbe und Handwerk, Beamte und Hausbesitzer als Zielgruppe favorisierte.45

Bei dieser Gelegenheit wurden einige sozialdemokratische Gesetze, wie die zweckbestimmte Wohnbausteuer, aber auch Steuern auf Reitpferde, Kutschen und Hausgehilfinnen oberschichtfreundlich zurückgenommen.46

Bereits im März 1934 erfolgte mit der Unterzeichnung der Römischen Protokolle eine Vereinbarung zwischen Österreich, Italien und dem faschistischen Ungarn unter Horthy zur verstärkten wirtschaftlichen Zusammenarbeit, die Italiens Einfluss im Donauraum sicherte.

1934 wurde die neue österreichische Verfassung just am 1. Mai, dem Feiertag des politischen Gegners Sozialdemokratie, eingesetzt und in den Folgejahren als Jahrestag der Verfassungsverkündung, Tag der Arbeit und Muttertag gefeiert.47 „Im Namen Gottes, des Allmächtigen“ deklarierte sie Österreich als „ christlichen deutschen Staat auf ständischer Grundlage.“48 Damit war die parlamentarische Demokratie in Österreich offiziell beendet. Es gab nur mehr die von der Bundesregierung unter Dollfuß 1933 gegründete Einheitspartei „Vaterländische Front.“ Es folgte die Institutionalisierung einer Reihe repressiver Maßnahmen, unter anderem die Einweisung politischer Gegner in „Anhaltelager“, der Ausbau des Sicherheitsapparates, die Einführung von Sondergerichten und Doppelbestrafungen.49

Eine wichtige Zäsur in der Geschichte des Austrofaschismus war die Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß während des nationalsozialistischen Putschversuchs im Juli 1934. Unter Dollfuß’ Nachfolger, Bundeskanzler Schuschnigg, wurde ein veritabler Dollfuß-Kult initiiert, der sich in einer Fülle von Denkmälern, Straßenumbenennungen und Gedenkveranstaltungen mit zahlreichen Bezügen auf Jahrestage und Jubiläen in ganz Österreich niederschlug und der den toten Kanzler mit Hilfe der Kirche in den Rang eines inoffiziellen vaterländischen Märtyrers erhob. Sogar von Wundern wurde berichtet, man setzte sich für eine Seligsprechung von Dollfuß ein.50

Neben Dollfuß- und Lueger-Verehrung gab es einige weitere zentrale Bezugspunkte für ein „Österreich-Bewusstsein“, das das Regime zur Wahrung der österreichischen Eigenständigkeit und als Abgrenzung gegen Deutschland zu schaffen bemüht war. Dazu gehört die Beschwörung der habsburgischen Vergangenheit im Sinn des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – katholisch-gegenreformatorisch-“abendländisch“ im Gegensatz zu „protestantisch-preußisch oder heidnisch-nationalsozialistisch“51 und zugleich ein eigenes österreichisches, katholisches und vor allem kulturell begründetes „Deutschtum“ propagierend. Für das „Österreich-Bewusstsein“ wurden Traditionen in Kunst, Literatur, Musik und Wissenschaft ebenso instrumentiert wie die österreichische Landschaft. Bevorzugte Bezugsepochen waren das Barock, traditionell als besonders glorreiche Epoche österreichischer Geschichte rezipiert, und das Biedermeier als vermeintliche Epoche bürgerlicher Behaglichkeit.

Bundeskanzler Schuschnigg betonte weiterhin die Eigenständigkeit Österreichs. Als Mussolini Ende 1935 einen völkerrechtswidrigen Eroberungskrieg gegen Abessinien begann, unterstützte Österreich die Sanktionen des Völkerbunds gegen Italien nicht und geriet zunehmend in Isolation.52 Italien erhielt Beistand von Deutschland, und 1936 formierte sich die „Achse Berlin-Rom.“ Ein deutsch-österreichisches Abkommen vom Juli 1936 sicherte Österreich weiterhin Selbständigkeit zu, in einem Zusatzabkommen, dem „Gentlemen-Agreement“, wurde jedoch umfassende deutsche wirtschaftliche und politische Einmischung vereinbart. Schuschnigg unterzeichnete im Februar 1938 bei Hitler in Berchtesgaden ein Abkommen, das umfangreiche Zugeständnisse an Deutschland machte: Österreichische Nazi wurde amnestiert und legalisiert, der Nationalsozialist Arthur Seyss-Inquart wurde als Innenminister in die Regierung aufgenommen. Schuschnigg plante für den 13. März 1938 eine Volksabstimmung zur Selbständigkeit Österreichs, die durch den Einmarsch deutscher Truppen in Österreich am 11./12. März verhindert wurde. Seyss-Inquart wurde zum Regierungschef ernannt und vollzog umgehend die Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich. Damit war der „Anschluss“ Österreichs an Deutschland vollzogen.

DER DEUTSCHE KATHOLIKENTAG 1933 IN WIEN ALS AUFTAKT DIE PROTAGONISTEN BETRETEN DIE BÜHNE

Im Jahr seiner Konstituierung präsentierte das austrofaschistische Regime unter Bundeskanzler Dollfuß eine Reihe von Interventionen baulicher, aber auch ephemerer und szenischer Art, die – vorwiegend in der Bundeshauptstadt – die Richtung für die folgenden Jahre festlegten, Symbole und Rituale installierten und zentrale Bezugspunkte und Themen definierten. Umzüge, Prozessionen und Feste des Jahres 1933 und ihre architektonische und szenische Umsetzung illustrieren diese Neuinterpretation und Überschreibung des bis dahin sozialdemokratisch besetzen Stadtraums der Hauptstadt besonders deutlich. Zugleich wurde die katholische Kirche als tragende Säule des Politischen Katholizismus und damit des neuen Regimes effektvoll und nachdrücklich positioniert.

Eine erste Gelegenheit zur umfassenden Selbstinszenierung der neuen Machthaber bot der Deutsche Katholikentag, der im September 1933, ein halbes Jahr nach der Ausschaltung des Parlaments, in Wien stattfand. Der Zeitpunkt war geschickt gewählt: Am 12. September 1933 jährte sich der Entsatz von Wien zum 250. Mal. 1683 hatte eine Allianz deutscher Fürsten mit dem polnischen König das osmanische Heer, das Wien belagerte, vertrieben – ein Sieg, der seither als Sieg des Christentums gegen den Islam und als Rettung des Abendlandes gefeiert wurde und mit dem Thema des Katholikentags, „Christus und das Abendland“, konform ging. Zugleich konnte man im Rahmen des gesamtdeutschen Charakters der Veranstaltung mit dem Türkensiegbezug die historische Vormachtstellung Österreichs unter den deutschsprachigen Ländern thematisieren. Der Katholikentag wurde geschickt mit Kanzler Dollfuß’ politischer „Trabrennplatzrede“, den Jubiläen zu 250 Jahre Türkenbefreiung 1683 und 500 Jahre Vollendung des Stephansdoms sowie mit dem ersten Generalappell der neu gegründeten Einheitspartei, der Vaterländischen Front, kombiniert.

Das sozialdemokratische Wien wurde in den ersten Herbsttagen 1933 mit einer Fülle kirchlich-politischer Veranstaltungen überschwemmt, die umfangreich in den Medien angekündigt und kommentiert und im Radio übertragen wurden.53 Die Feierlichkeiten begannen am 8. September mit dem Empfang des päpstlichen Kardinallegaten durch Kardinal Innitzer und die Regierung. Abends erfolgte die offizielle Eröffnung vor der Karlskirche, bei der „Österreichs katholische und deutsche Sendung“ und seine Funktion als „Mittler zwischen Nord und Süd“ thematisiert wurden.54 Bei dieser Gelegenheit trat auch der Präsident des Katholikentags, der Architekt Clemens Holzmeister, in offizieller Funktion auf. Am Abend des 9. September fand eine Männerprozession vom Stephansdom über die Kärntner Straße und die Ringstraße statt, die bei der Votivkirche endete (Abbildung 6). Am 10. September folgte eine Messe im Schönbrunner Schlosspark. Am Montag, dem 11. September gab es eine Gedenkveranstaltung für den Kapuzinerpater Marco d’Aviano, der in der Entsatzschlacht von Wien 1683 eine Rolle gespielt hatte. Nachmittags fand der erste Generalappell der neuen Einheitspartei, der Vaterländischen Front, statt; bei dieser Gelegenheit hielt Dollfuß seine Grundsatzrede auf dem Trabrennplatz im Prater, die ebenfalls vom staatlichen Radiosender RAVAG übertragen wurde. Am 13. September wurde der Katholikentag im Stadion festlich geschlossen. Dazu gab es eine Reihe von Rahmenveranstaltungen – Ausstellungen christlicher Kunst in der Albertina, im Diözesanmuseum, im Künstlerhaus, in der Secession usw.55 „Parsifal“ in der Staatsoper und zahlreiche sogenannte Weihespiele an verschiedenen Orten ergänzten das Programm. Die sozialdemokratische Stadtregierung weigerte sich bei dieser Gelegenheit – der 12. September, Tag des „Türkensiegs“, war von der Bundesregierung zum Feiertag erklärt worden –, den Angestellten ihrer Betriebe arbeitsfrei zu geben.56 – Der Katholikentag war eine Art Konzentrat, das nahezu vollständig die zentralen politischen Themen der Folgejahre öffentlich deklarierte und inszenatorisch und medial vorstellte. Außerdem kamen Institutionen, Personen und Orte ins Spiel, die bis 1938, aber teilweise auch bis weit in die zweite Nachkriegszeit hinein als zentrale Parameter der politischen Kultur wirksam sein sollten. Dabei erstaunt, wie früh zahlreiche Institutionen, wie zum Beispiel die Künstlervereinigungen, auf den neuen politischen Zug aufsprangen (siehe dazu Seite 293 ff.).

Abbildung 6: Ceno Kosak, Entwurf für die Männerprozession am Katholikentag 1933 mit Reitern und Herolden (Profil 1933, 253)

Abbildung 7: Karlskirche, Dekoration zum Katholikentag (Profil 1933, 254)

Eines der zentralen Themen des Austrofaschismus war der Politische Katholizismus, der Primat der katholischen Kirche und ihr traditionelles Naheverhältnis zur Christlichsozialen Partei. Der Katholizismus, getragen von der ländlichen Bevölkerung, von Teilen des Kleinbürgertums, vom Adel und von jenen Akademikern, die über die katholische Leo-Gesellschaft57 oder über den Cartellverband rasch an Einfluss gewannen, war eine der wesentlichen Stützen des Regimes.58 Dieses begründete seine Maßnahmen unter anderem mit der Enzyklika „Quadragesimo anno“, mit der Papst Pius XI. sowohl eine berufsständische Gesellschaftsordnung favorisiert als auch Kommunismus und Sozialismus nachdrücklich und entschieden abgelehnt hatte.

Mit der Ersten Republik hatte die Kirche ihren traditionellen Schutzherren, den Kaiser, verloren. Die traditionelle habsburgische Unterstützung der katholischen Gegenreformation war das Bindeglied zum neuen Regime, dessen Vergangenheitsverliebtheit und Kirchentreue in der Dynastie ein Sinnbild für „gottgewollte“ Herrschaftskontinuität und eine hierarchische Gesellschaftsordnung erkennen wollte. Der 1932 eingesetzte Wiener Erzbischof Theodor Innitzer (1875–1955), 1929/1930 Sozialminister im Kabinett Schober II und seit 1933 Kardinal,59 war Repräsentant eines Episkopats, das seit Anfang 1933 den faschistischen Umbau Österreichs unter Berufung auf „Quadragesimo Anno“ begrüßt und gefördert hatte. Zur Unterstützung des Regimes hatte die Bischofskonferenz den Rückzug von Priestern aus der Politik beschlossen; die Regierung Dollfuß war ihr ein „Garant für die Interessen der Kirche, deshalb fielen die Gründe weg, weshalb Geistliche Mandate oder sonstige politische Positionen innehaben“ sollten. Sogar nach dem harten Vorgehen bei den Februarkämpfen 1934 sollte die Kirche die Regierung weiterhin unterstützen.60 Die Kirche wurde in den Jahren des Austrofaschismus auch im öffentlichen Leben omnipräsent: Kein Fest, keine Eröffnung, keine Zeremonie, keine politische Manifestation sollte in den folgenden Jahren ohne Messe, Weihe, Prozession oder Segnung auskommen. Eine staatlich gesteuerte Rekatholisierung, eine neue Gegenreformation, ein „neuer Kreuzzug“ wurde eingeleitet, und die Kircheneintritte stiegen zwischen 1933 und 1934 von etwa 1.400 auf fast 33 000.61 Einen besonderen Stellenwert hatte in diesem Zusammenhang die Christkönigsverehrung, die mit dem 1925 installierten Christkönigsfest belebt wurde und die zahlreiche Bezugspunkte für eine Ästhetisierung des Führermythos bot.62

Die Habsburger, insbesondere die Kaiser Ferdinand II. (1578–1637) und Ferdinand III. (1608–1657), hatten eine zentrale Rolle in der Gegenreformation und in der Rekatholisierung gespielt. Daher erfolgte im austrofaschistischen Kontext eine massive symbolische Aufwertung habsburgisch-katholischer Erinnerungsorte, die bereits am Katholikentag ihren Niederschlag fand, der Stephansdom, Karlskirche und Votivkirche, aber auch den Kahlenberg, als zentrale Erinnerungsorte und Brennpunkte habsburgischer Vergangenheit reinstallierte und glorifizierte. Dies kam den Anhängern des Regimes entgegen, rekrutierten sich diese doch aus Verlierern der 1918 ausgerufenen Republik: Entlassene Angehörige der aufgelösten k. u. k. Armee ohne soziale und ökonomische Perspektive, der zumindest offiziell gesellschaftlich entmachtete Adel und kleine Gewerbetreibende sehnten sich nach den Zuständen vor 1918 zurück.

Der Stephansdom ist historisch über eine Initiative Herzog Rudolfs IV. zur Errichtung eines selbständigen, von Passau unabhängigen Wiener Bistums mit den Habsburgern verbunden. Er wurde auch wegen eines bezugsreichen Jubiläums als Ort und Ausgangspunkt zahlreicher Veranstaltungen des Katholikentags gewählt: Am 2. Oktober 1433 war die Kreuzrose auf den Südturm des Doms aufgesetzt worden, was als Vollendungsakt des Dombaus galt. Als Kathedrale und Bischofssitz ist der Dom das Zentrum des katholischen Österreich, als traditionelles österreichisches und Wiener Wahrzeichen der symbolische Mittelpunkt der Stadt, ihre „Herzzone“.63 In Verbindung mit den Habsburgern, als Stiftungsobjekt, Grablege, Ort offizieller Akte und nicht zuletzt als Höhepunkt der österreichischen Gotik war seine symbolische Bedeutung für das Regime unumstritten, wobei all diese Bezüge erst auf die Geschichte des habsburgischen Ausbaus ab dem frühen 14. Jahrhundert abzielten.

Alle großen kirchlichen Zeremonien wurden im Dom abgehalten, die im Austrofaschismus wiederbelebten Fronleichnamsprozessionen, Staatsbegräbnisse und offizielle Messen fanden im Dom statt, und Kanzler Dollfuß sollte 1934 gar vorschlagen, dort zukünftig den Bundespräsidenten von den Bürgermeistern wählen zu lassen: „[…] durch einen feierlichen Staatsakt, vielleicht sogar im historischen Dom zu St. Stephan.“64

Auch der Bezug zur Türkenbefreiung war traditionell am Stephansdom vorhanden. Der Südturm, dessen monumentale Silhouette auch für sich allein bis heute den Dom symbolisiert, hatte bis ins 19. Jahrhundert mehrere Bekrönungen, deren Inschriften – in Nachfolge des legendären „Mondscheins“, einer Kugel mit Halbmond und Stern – Bezug auf die Türkenbefreiung nahmen.65

Anlässlich des Katholikentags druckte die „Reichspost“ am 8. September 1933 auf ihrer Titelseite zum Auftakt des Katholikentags das 1884 am Stephansdom angebrachte Türkenbefreiungsdenkmal von Edmund Hellmer ab (Abbildung 8): Es zeigt eine Mondsichelmadonna, eine gegenreformatorische Ikonografie der Muttergottes, flankiert von Kaiser Leopold I. und Papst Innozenz XI. und brachte damit den Bezugsrahmen der Themen Habsburg/Kirche/Türkenabwehr neuerlich zu Bewusstsein.

Abbildung 8: Titelblatt der „Reichspost“ zum Katholikentag 1933

Ein weiterer wichtiger Bezugsort des Austrofaschismus war die Karlskirche, wo am Abend des 9. September 1933 die Eröffnung des Katholikentags stattfand. Die Karlskirche, „heiliger Tempelbezirk katholischen Glaubens und österreichischer Vergangenheit,“66 eine Stiftung Kaiser Karls VI. zum Ende der Pest und seinem Namenspatron St. Karl Borromäus, einem bedeutenden Heiligen der Gegenreformation, geweiht, bot als traditionell akklamierter Höhepunkt habsburgischer barocker Baukunst den idealen ideologischen und szenischen Hintergrund für den Auftakt. Zwischen den beiden antikisierenden Triumphsäulen der Fassade war ein kolossales Kreuz angebracht, vor dem die Ansprachen gehalten wurden (Abbildung 7).

Vor der Karlskirche wurde ein abendliches Spektakel inszeniert, bei dem eine plötzliche Beleuchtung des Kreuzes für Effekte sorgte.67 Der Kardinal rief die Vertreter „der einzelnen deutschen Stämme und Länder“ auf, die mit vorbereiteten Texten antworteten. Zahlreiche deutsche Katholikinnen und Katholiken waren der Veranstaltung allerdings wegen der von Hitler im Mai 1933 verhängten Tausend-Mark-Sperre, die eine Schwächung der österreichischen Wirtschaft zum Ziel hatte, ferngeblieben.

Betont wurde im Zusammenhang des gesamtdeutschen Katholikentags „Österreichs katholische und deutsche Sendung,“68 die auf eine Identitätsbildung von Österreich als zweiter, „besserer“ deutscher Nation abzielte, natürlich in Abgrenzung zum deutschen Nationalsozialismus, aber auch mit Bezug auf die katholisch-habsburgische Vergangenheit, wobei der „Rettung des christlichen Abendlandes“ in Zusammenhang mit dem Türkensieg 1683 eine besondere Bedeutung zugemessen wurde, konnte man doch das Zusammenwirken katholischer Fürsten unter habsburgischer Führung als Argument für einen Primat Österreichs nutzen. Nicht umsonst titelte die „Reichspost“ dazu: „Reichstag Gottes in Wien.“69

Im Zentrum der Veranstaltung stand die „Eucharistische Prozession der Männer und Jungmänner“ am Abend des 9. September, die vom Stephansdom über die Kärntner Straße und die Ringstraße zur Votivkirche geführt wurde.70 Die Veranstaltung fand, wie so oft im Austrofaschismus (aber nicht nur dort), abends statt, um die Dunkelheit für szenische Lichteffekte zu nutzen.

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